Wolfgang Binder
Anforderungen an Internet-basierte Informationssysteme von Bibliotheken


Einleitung

Der Titel meines Vortrags "Anforderungen an Internet-basierte Informationssysteme von Bibliotheken" ist fast gleichlautend mit dem Thema des kürzlich [vom 15. - 17. Januar 1996] in Bielefeld stattgefundenen Workshops "Internet-basierte Informationssysteme der Bibliotheken". Am Ende der insgesamt sehr interessanten Abschlußdiskussion zu dieser Veranstaltung blieben verschiedene Fragen offen, z.B. was Internet-basierte Informationssysteme von Bibliotheken eigentlich sind - ob sie zur Klasse der intellektuell erstellten Informationsdienste gehören, oder ob sie in einem noch genauer zu präzisierenden Sinne Suchmaschinen-Anwendungen sind. Unklarheit herrschte auch in der Frage, was Internet-basierte Informationssysteme eigentlich nachweisen sollten. Ich freue mich, nach der zwischenzeitlichen Denkpause diese Diskussion hier wieder aufnehmen zu können, ohne daß ich den Anspruch erhebe, die Fragen hier abschließend zu beantworten.
Ich möchte nicht verschweigen, daß ich einer Fachreferentengruppe angehöre, die inhaltlich-konzeptionelle Vorgaben für ein Internet-basiertes Informationssystem der nordrhein-westfälischen Hochschulbibliotheken mit Namen IBIS erarbeitet. Die Mitarbeit an nordrhein-westfälischen Projektaktivitäten hat meine Sicht der praktischen Probleme mitbestimmt. Meine Statements zu praktischen Aspekten sollen aber nicht als Information zu IBIS oder zum Planungsstand von IBIS verstanden werden.
Zum Schluß noch eine Anmerkung zur Terminologie: Da der Internet-Bezug klar ist, werde ich anstelle von "Internet-basierten Informationssystemen von Bibliotheken" i.a. die Kurzbezeichnung "bibliothekarische Informationssysteme" verwenden.

Was sollen bibliothekarische Informationssysteme leisten?

  1. Nachweis von und Zugriff auf elektronische Bestände der Bibliotheken
  2. Informations-Service für die bibliothekarische Klientel durch Nachweis "ausgewählter" Internet-Resourcen. Dabei handelt es sich vorzugsweise um Fachinformation, wobei der Terminus "ausgewählt" noch zu präzisieren ist.
Zu a.
Zu den hier angesprochenen elektronischen Beständen gehören zum einen Dokumente (Publikationen), die die Bibliotheken selbst ins Netz geben: Hochschulschriften im bibliographischen Sinne, andere Hochschulpublikationen, urheberrechtlich ungeschützte Literatur in gescannter Form oder als elektronische Kopien, zum anderen elektronische Publikationen, die gekauft oder für die Lizenzrechte erworben wurden. Dies alles ist im Zusammenhang mit der langfristigen Strategie der Bibliotheken zu sehen, sich vom "Depotprinzip", d.h. der lokalen Vorhaltung von Informationen, auf das "Zugriffsprinzip" umzuorientieren. Der Nachweis kooperativ verfügbarer Resourcen, insbesondere der Trägerbibliotheken des Informationssystems, sollte obligatorisch sein. Auf der technischen Seite sind für die kommerziellen Publikationen Mechanismen zur Abrechnung und Zugriffskontrolle vorzusehen, auf die ich hier nicht weiter eingehe.

Zu b.
Den Nachweis von Fachinformation im Internet könnte man auf den ersten Blick als konsequente Fortsetzung der bisherigen bibliothekarischen Aktivitäten in diesem Bereich interpretieren. Dies ist aber so nicht ganz richtig. Bibliotheken haben bisher hauptsächlich nur die Instrumentarien zum Nachweis von Fachinformation bereitgestellt wie Referateorgane oder CD-ROMs. Auch im Bereich der vermittelten Online-Recherchen haben sie nur für den Benutzer recherchiert, aber nicht selbst Datenbanken aufgebaut, nicht selbst die Informationen erschlossen. Bibliothekare haben bestandsunabhängige Erschließungsarbeiten zwar gelegentlich als Individuen wahrgenommen, z.B. durch Erstellen von Bibliographien. Als kooperativ wahrzunehmende Gemeinschaftsaufgabe ist dies aber ein Novum! Die Bibliotheken sind sich bewußt geworden, daß sich Umbrüche im Informations- und Kommunikationsgeschehen anbahnen, von denen sie selbst existentiell betroffen sind. Das Internet-Engagement in Sachen Fachinformation ist Teil des Bemühens der Bibliotheken, ihre neue Rolle zu definieren und sich im Internet mit eigenen Dienstleistungsangeboten zu etablieren.

Ich habe den ersten Punkt - den Zugriff auf elektronische Bibliotheksbestände - hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt und werde mich im folgenden auf den Nachweis von Fachinformation im allgemeinen konzentrieren. Zwei Dinge sollten bei dieser Aufgabe nicht übersehen werden: Nur ein kleiner Teil des Internet betrifft Informationen, um die Bibliotheken sich in der Vergangenheit explizit gekümmert haben, also in irgendeinem Sinne bibliotheksspezifische Materialien. Von daher sollten wir Bibliothekare mit Bescheidenheit und Augenmaß an diese Aufgaben herangehen und nicht mit dem Anspruch, daß gerade wir aufgrund unserer Tradition und Erfahrung berufen und in der Lage sind, Ordnung in das viel zitierte Chaos des Internet zu bringen. (Mich hat im übrigen das Argument von Traugott Koch in seinem Bielefelder Vortrag beeindruckt, daß die Ansprüche, die jetzt an das Internet gestellt werden, im Bereich der Printmedien nicht annähernd realisiert sind).

Zum anderen sollten wir auch sehen, daß wir nicht die einzigen sind, die dieses Feld bestellen:
Im Bereich der Online-Datenbanken haben die Bibliotheken, als wir noch in einer geordneten Informationswelt mit festen Zuständigkeiten lebten, die Ordnungs- und Nachweisfunktionen weitgehend den Fachinformationszentren überlassen. Um die eigentliche Dokumentation der Fachinformationen haben sich seit eh und je in besonderer Weise die Fachgesellschaften gekümmert. Diese haben das Potential des Internet für Angebot und Nachweis wissenschaftlicher Informationen relativ frühzeitig erkannt und sind in diesem Bereich schon sehr aktiv. Dabei repräsentieren sie noch mehr als die Bibliotheken die spezifisch wissenschaftliche Benutzerperspektive.

Als 1994 die "Fachinformation im Internet" als neues bibliothekarisches Aufgabenfeld thematisiert wurde, und auch bereits Projektaktivitäten in dieser Richtung angedacht wurden, habe ich mir erlaubt - natürlich als Privatperson bzw. als Listenmitglied - einige Ansprechpartner der Fachgesellschaften in Sachen Fachinformation via E-Mail um ihre Einschätzung und kritischen Kommentar zu bitten, unter dem Gesichtspunkt einer sinnvollen Bündelung der verschiedenen Aktivitäten. Ich habe u.a. gefragt, inwieweit sie in einer globalen Erschließung von Fachinformationen nach einheitlichen klassifikatorischen oder verbalen Erschließungsmethoden eine sinnvolle Ergänzung zu deren eigenen Aktivitäten sehen würden. Der angesprochene Vertreter der Physik betonte die Übereinstimmung der Zielsetzung und lud ein, sich an einem EG-Projekt zum Aufbau eines Physik-Servers zu beteiligen. Ein sehr kritischer und nachdenklich stimmender Kommentar kam aber von einem Lehrstuhlvertreter des Arbeitskreises Fachinformation der Gesellschaft für Informatik, in dem die Meinung vertreten wurde, daß allein die quantitative Dimension des Vorhabens die Bibliotheken auch bei vorhandener Kompetenz bei weitem überfordern dürfte. (Und dies wurde bereits 1994 geäußert!)

Welche Informationen sollen nachgewiesen werden?

Ich glaube, daß dieser Stellungnahme falsche Annahmen hinsichtlich der geplanten bibliothekarischen Aktivitäten zugrunde lagen. Dennoch macht sie die Dimension der Aufgabe deutlich, denen wir uns als Bibliotheken möglicherweise gegenüber sehen. Damit stellt sich aber die Frage nach dem sinnvollen Umfang der bibliothekarischen Aktivitäten, insbesondere die Frage, welche Resourcen in bibliothekarischen Informationssystemen angeboten und erschlossen werden sollten. Der thematische Oberbegriff bleibt für mich nach wie vor die Fachinformation, wobei sich die Breite und Tiefe der Erschließung dann immer noch am eigenen Leistungsvermögen und an den Ansprüchen orientieren kann, die von der Benutzerseite her an ein solches System gestellt werden. Bei dem letzteren Punkt ist man natürlich weitgehend auf Spekulationen und Plausibilitätserwägungen angewiesen. Aber dennoch soll ein solcher Versuch hier unternommen werden.

Jeder der sich etwas in den Navigation Tools des Internet auskennt, weiß, daß es an die zehn intellektuell oder halb-intellektuell erstellte Informationsdienste gibt, die Fachinformationen nachweisen, m. a. W. solche, die ausgewählte Resourcen nach Fachzuordnung auflisten (YAHOO, WWW Virtual Library, Magellan u.a.) Die Frage, inwieweit bibliothekarische Informationssysteme selbst der Klasse der "intellektuell erstellten Dienste" zuzurechnen sind, werde ich später noch unter der Überschrift "Intellektuelle vs. maschinelle Verfahren" erörtern. Es wäre nun wenig originell und würde auch dem Benutzer nicht sehr viel bringen, wenn ein bibliothekarisches Informationssystem die genannten Dienste im wörtlichen oder im übertragenen Sinne kopieren würde, also versuchen würde, etwas besser zu sein als andere und sich damit in eine unsinnige Konkurrenz zu bereits vorhandenen Diensten begeben würde. Ein bibliothekarisches Informationssystem sollte vielmehr ein eigenes Profil entwickeln und dabei den Schwerpunkt auf solche Informationsresourcen legen, um die sich Bibliotheken schwerpunktmäßig kümmern, insbesondere also Publikationen. Der bibliothekarische Informationsservice BUBL im UK ist ein gutes Beispiel für einen solchen bibliotheksorientierten Ansatz. Die anderen Informationstypen (z.B. organisatorische, institutionelle, didaktische Informationen) haben in einem Fachinformationsangebot aber gleichfalls ihre Berechtigung. Es sollten aus den genannten Gründen aber nur die wichtigen Resourcen explizit nachgewiesen werden, die übrigen ggf. über Links auf entsprechende vollständige Listen. Ich komme im Detail noch hierauf zurück. Eine solche Konzeption würde ein "rundes" Fachinformationsangebot beinhalten, das aber den spezifischen Nutzererwartungen an ein bibliothekarisches Informationssystem Rechnung trägt.

Ich beginne mit den bibliotheksspezifischen Informationen, die möglichst umfassend nachgewiesen werden sollten. Zu den Publikationen, die hier natürlich hergehören, zählen elektronische Zeitschriften, Bücher, Datensammlungen, Preprint-Archive usw. Im Internet kommen aber noch weitere Informationstypen hinzu: Diskussionslisten, Newsgroups und die sog. FAQs, die sozusagen die Extrakte der Newsgroup-Diskussionen darstellen. Man muß hier die allgemeine Definition zugrunde legen, daß Bibliotheksinformationen alle codifizierten Formen intellektueller Erkenntnis- und Schaffensprozesse umfassen sollten. Ich plädiere dafür, im Prinzip alle elektronischen Publikationen explizit nachzuweisen bis auf "elektronisches Kleinschrifttum", also spezielle Publikationen in der Art von Mitteilungen, Reports usw. Man weist also im wesentlichen das nach, was Bibliotheken in gedruckter Form auch sammeln und nachweisen würden, und läßt das weg, was man in gedruckter Form als "graue Literatur" bezeichnen würde. Bei dem Problem des Weglassens geht es natürlich um die Begriffe "Masse" und "Qualität". Dies ist ein zugegebenermaßen problematischer Punkt, auf den ich später noch zurückkomme. Diskussionslisten und Newsgroups wird man nur in toto nachweisen, also keine einzelnen Beiträge. Bei den FAQs könnte man sich bei Newsgroups mit Niveau auch Einzelnachweise vorstellen. In den Kontext der genannten bibliotheksspezifischen Informationen gehören auch Bibliographien und Datenbanken, beispielsweise WAIS-Datenbanken. Bei dem Versuch, die Zahl der URLs abzuschätzen, die in diesem bibliothekarischen Kernbereich des Informationssytems explizit erfaßt werden könnten, bin ich auf eine Größenordnung von 4000 - 10000 URLs gekommen.

Zu den weiteren Fachinformationen gehören, wie schon erwähnt, organisatorische und institutionelle Informationen, die eine ausgesprochene Domäne der bereits existierenden intellektuell erstellten Dienste sind, und hier nicht schwerpunktmäßig erfaßt zu werden brauchen - mit Ausnahme von Fachbibliotheken, Archiven und Spezialverlagen, die in gewissen Sinne noch dem vorherigen Komplex zuzurechnen sind. Davon abgesehen muß man von der Bedeutung her abwägen, was man explizit aufführt und in welchen Fällen man Links auf vorhandene Listen legt. Die wichtigsten Fachgesellschaften und wissenschaftlichen Organisationen sollten schon aufgeführt werden; lange Listen von Instituten dagegen nicht.

Ein weiterer Komplex umfaßt alles, was mit Lehrangeboten, Fortbildung, Didaktik und Visualisierung zusammenhängt, auch elektronische Museen. Im Bereich Lehrangebote wird man qualifizierte Kurse von Internet-Universitäten explizit aufführen. Es gibt aber auch eine Unmenge Tutorials, K12-Courses usw., die man unmöglich alle nachweisen kann, bei denen man sich also auf eine Auswahl oder den Nachweis von einschlägigen Dokumentationen beschränken muß (da sie in der Regel auch keine wesentlichen fachlichen Erkenntnisse beinhalten). Ähnliches gilt für audiovisuelle Materialien. Bei Informationen, die auch etwas für das Auge bieten und etwas Anregung im trockenen Informationsgeschäft geben, sollte man aber auch nicht zu puristisch sein. Elektronische Museen sollte man i.d.R. nachweisen.

Die folgende Folie [hinten] listet die verschiedenen in Betracht kommenden Informationstypen auf und stellt zugleich einen Vorschlag für die Gliederung einer fachlichen WWW-Seite dar. Diese Übersicht ist natürlich nicht in der Lage, die thematischen Schwerpunkte richtig wiederzugeben, die den besonderen Charakter eines bibliothekarischen Informationssystems ausmachen. Auf dem Bielefelder WWW-Server [http://www.ub.uni-bielefeld.de] können schon einige noch im Aufbau befindliche Seiten besichtigt werden, die mehr oder weniger nach diesem Schema gegliedert sind, z.B. zu den Fachgebieten Sozialwissenschaften und Physik.
Ich komme noch einmal auf einen wesentlichen Punkt, nämlich die Gründe, sehr spezielle Publikationen wegzulassen: