Richard Parker, ???
DAS INTERNET UND DIE FOLGEN:
Erfahrungen und Perspektiven einer britischen Universitätsbibliothek


In einem 1994 erschienenen Aufsatz1 habe ich den Einsatz der EDV in den britischen wissenschaftlichen Bibliotheken beschrieben, wobei ich meine Erfahrungen als Fachreferent in der Geisteswissenschaftlichen Abteilung der Universitätsbibliothek Warwick zum Ausgangspunkt nahm. Hier möchte ich zum Thema Internet in Großbritannien zwei Aspekte anschneiden: zunächst möchte ich diese früheren Bemerkungen von 1994 in Richtung Internet erweitern, zum zweiten eine kurze Einführung in ein großangelegtes Projekt zur Entwicklung von Vernetzung und EDV in den britischen Universitäten, das Electronic Libraries Programme, geben.

Auch hier nehme ich Aspekte der Erfahrungen der UB Warwick als stellvertretend für die britischen wissenschaftlichen Bibliotheken insgesamt. Das bedeutet natürlich eine enorme Verallgemeinerung, denn die Bibliotheken weisen erhebliche Unterschiede untereinander auf. Was die zur Verfügung stehenden Anwendungen angeht, z.B. Netzanschluß, Email- und Internetsoftware, haben diese Ausführungen wahrscheinlich allgemeingültigen Charakter, denn auf diesem Niveau sind, glaube ich, die meisten wissenschaftlichen Bibliotheken einander in etwa ähnlich. Bei der technischen Ausstattung unterscheiden sich die Bibliotheken in der Funktionalität der verfügbaren Hard- und Software. Innerhalb jeder Bibliothek gibt es natürlich auch Unterschiede unter den Fachreferenten, inwieweit sie in den neuen Techniken bewandert sind und mit welchem Grad der Experimentierfreudigkeit sie die neuen Möglichkeiten ausloten.

Also was für ein Bild des Internet haben wir? Was für Dienstleistungen im Internet sind für uns wichtig? Wie werden Internet-Dienstleistungen in den Arbeitsgang eingegliedert? Ich möchte diese Ausführungen zunächst aus der Sicht der Bibliotheksmitarbeiter geben, wobei ich mich auf die Anwendungen im Fachreferat beschränke, anschließend skizziere ich die Internet-Anwendungen, die dem Bibliotheksbenutzer zur Verfügung stehen.

Das Internet aus der Sicht des Fachreferenten

Die technischen Voraussetzungen in der UB Warwick für die Internet-Benutzung dürften für britische Begriffe als ziemlich hochentwickelt gelten.
Alle Fachreferenten (das sind bei uns fast alle "professionellen" Arbeitskräfte, einige aber haben weitere Zuständigkeiten) sind an das Bibliotheksnetz angechlossen und verfügen über einen leistungsstarken PC als Arbeitsplatz, der in der Regel mit Windows-Software ausgestattet ist. Über das Bibliotheksnetz haben wir Anschluß an das Universitätsnetz und darüber hinaus an das britische Wissenschaftsnetz JANET und an das World Wide Web. Die Auskunftsstellen - eine für jeden Fachbereich - sind ebenfalls mit windowsfähigen PCs ausgerüstet. Jeder Fachreferent arbeitet teilzeitlich in der Auskunft für seinen Fachbereich.
Die Bibliothek verfügt über einen besonders gut ausgestatteten Schulungsraum mit 16 Arbeitsplätzen, die sehr gute Anschluß- und Anzeigemöglichkeiten bieten. Alle PCs haben, genau wie die Arbeitsplätze für Mitarbeiter, Anschluß an das World Wide Web.
Email ist für die meisten professionellen Arbeitskräfte jetzt zum wichtigen Kommunikationsmittel geworden, nicht nur nach außen, sondern auch intern. Weitere Anwendungen lassen sich als entweder dienstleistungsbezogen oder von persönlicher Bedeutung beschreiben. Als dienstleistungsorientiert einzustufen wären der Zugriff auf die OPACs anderer Universitäten, viele Emailkontakte, der Zugriff auf externe Datenbanken wie Dialog oder die britischen bibliographischen Datenbanken BIDS, oder die neueren Versuche mit der elektronischen Dokumentenlieferung. Bei diesen Anwendungen steht normalerweise der Benutzer im Hintergrund. Für ihn wird auf diese Ressourcen zugegriffen, sie sind also in diesem Sinne als Bestandteil einer erweiterten Auskunftsfunktion oder Informationsvermittlung der Bibliothek zu verstehen.
Es gibt aber eine Reihe anderer Internetdienste, die nicht zur Erfüllung der Benutzeranfragen eingesetzt werden, die aber für den persönlichen Gebrauch des Fachreferenten wichtig sind: z.B. die Mitgliedschaft in fachbezogenen Mailinglisten oder die Benutzung verschiedener Informationsquellen beruflicher oder fachlicher Art - diejenigen Dienstleistungen also, die zur persönlichen Information des Fachreferenten beitragen, die ihm helfen, auf dem Laufenden zu bleiben, oder die von professioneller Bedeutung sind. Natürlich werden dieselben Dienste zu verschiedenen Zeitpunkten für verschiedene Zwecke eingesetzt.

Die Möglichkeiten des Internet bieten selbstverständlich viele neue Ansätze der Informationsvermittlung. Es versteht sich natürlich auch von selbst, daß eine Ressource nur dann eingesetzt werden kann, wenn man davon weiß und wenn man sie effektiv auszunutzen vermag. Die Wechselwirkung zwischen diesen beiden Aspekten setzt zunehmend alle Fähigkeiten des Fachreferenten auf die Probe. Um die neuen Ressourcen effektiv in den Griff zu bekommen, muß man nach meiner Ansicht vier Elemente in Einklang bringen: man muß

  1. die technische Basis (Hard- und Software) haben, um einen effizienten Zugang zu einem breiten Dienstleistungsspektrum zu ermöglichen;
  2. die technischen Kompetenzen besitzen, um mit den Ressourcen effektiv umzugehen, sie komfortabel und zuversichtlich handhaben zu können;
  3. die Zeit haben, um die technischen Aspekte des Zugangs zu beherrschen, um neue, potentiell wirksame Ressourcen zu entdecken bzw. sich in ein möglichst breit angelegtes Netz potentieller Kontakte einzugliedern;
  4. die intellektuelle Flexibilität besitzen, um das Potential der neuen Ressourcen zu sehen, um auf der Suche nach neuen Lösungen für alte Probleme zu sein.
Diese Faktore setzen insgesamt eine hohe Belastbarkeit des Fachreferenten voraus. Mit Blick auf die technische Basis sind wie gesagt die meisten Mitarbeiter bei uns sehr gut ausgerüstet. Was die technischen Kompetenzen betrifft, sind bei dem rasanten Tempo der Veränderungen steile Lernkurven natürlich nicht zu vermeiden. Einige Kollegen haben hierin eine Art Vorreiterrolle für sich entdeckt, und durch Schulungen untereinander profitieren wir alle davon - zum Beispiel, als es darum ging, den Schulungsraum auszustatten oder die (für uns) neue Vortragssoftware PowerPoint in unsere Benutzerschulungen einzusetzen. Wie in anderen Arbeitsbereichen ist hier die Zusammenarbeit und der Austausch von Erfahrungen unerläßlich. Einige Projekte des gerade anlaufenden Electronic Libraries Programme versprechen, auf diesem Gebiet unentbehrliche Impulse und Unterstützungsansätze zu verwirklichen (siehe unten).
Die zwei letzten Aspekte - Zeitmangel und Flexibilität - lassen sich aber nicht so leicht bewältigen. Insbesondere ist der Zeitmangel zum kritischsten aller Faktoren geworden. Die Arbeitsbelastung scheint immer größer zu werden. Alle Fachreferenten müssen zeitweilig Dienst an der jeweiligen Auskunft für ihren Fachbereich machen, sie müssen sich auch mit traditionellen Arbeitsgängen beschäftigen (Kontakte zum Lehrkörper pflegen, Erwerbungen koordinieren und Buchetats verwalten, Neueingänge systematisieren, Leselisten betreuen). Darüberhinaus sind sie angehalten, sich auf eine radikal neue Arbeitswelt der Technologie einzustellen, in der sie sich scheinbar jeden Tag durch neue Produkte oder neue Anwendungen herausgefordert sehen.
Es ist unmöglich, die Bedeutung der stetigen technologischen und konzeptionellen Neuerungen zu überschätzen. Insbesondere führen die Auswirkungen auf dem Bereich der Benutzerbetreuung und -schulung unweigerlich zu einem radikalen Umdenken hinsichtlich der Zweckmäßigkeit formaler Lehrveranstaltungen. Was sollte man also innerhalb des begrenzten Zeitrahmens lehren, wem, wann, und wie? Die im Fielden-Report 19932 angekündigte neue Rolle des Bibliothekars als Informationsberater und Lehrer von Systemen und Suchtechniken haben wir mit Begeisterung aufgegriffen, zielte sie doch genau in dieselbe Richtung, in die die technischen Möglichkeiten uns sowieso drängten. Das Ausmaß der unaufhaltsamen Veränderungen aber, die wachsende Zahl der zu betreuenden Benutzer und ihre anscheinend grenzenlosen Erwartungen an die Belastbarkeit des Informationssystems Bibliothek fordern von jeder Arbeitskraft ein Höchstmaß an Flexibilität und Einsatzbereitschaft, an der Fähigkeit, auf dem Laufenden zu bleiben, neue Quellen zu ermitteln und sie auskunftswirksam einzusetzen.
In einem Aufsatz in der neuen Internetzeitschrift für Bibliothekare Ariadne beschreibt Bernard Naylor unter dem Titel Das Auge des Orkans3 den Bibliothekar als Schiffer mitten im Informationssturm, den jederzeit der hohe Seegang zu kentern droht. Schon im Bereich der konventionellen Verlagstätigkeit gebe es zu viele Publikationen, es scheine auch keinen Mechanismus zu geben, der der Flut neuer Informationen auf das Netz Einhalt gebieten könne sowie keine Möglichkeit, die ständigen Veränderungen bei den technischen Rahmenbedingungen zu blockieren. Um ihn vor der Gefahr des Ertrinkens in der Informationsflut zu retten, müsse man den Bibliothekar besser schwimmen lehren, indem man zum Beispiel Wege und Mittel finde, aus der Masse der Verlautbarungen diejenigen zu unterscheiden und hervorzuheben, die maßgeblichen Charakter besitzen. Wenn der Sturm am stärksten weht, sei es wichtiger, über Wasser zu bleiben, als einen bestimmten Hafen anzufahren. Zum Schluß plädiert er für ein annehmbares Niveau an Informationswachstum, dafür, Ansätze zur Identifizierung von Qualitätsmerkmalen zu setzen, für Versuche der Ordnungsherstellung im scheinbaren Chaos und für ein Maß an technologischer Stabilität, um den Nutzen zu fördern. Auch auf diesen Gebieten verspricht das Electronic Libraries Programme, wovon gleich die Rede sein wird, wertvolle Basisarbeit zu leisten. Und obwohl es seinen Ausführungen und seinen Schlüssen in keiner Weise Abbruch tut, scheint Mr Naylor das Auge des Sturms mit der höchsten Windstärke gleichzusetzen, als ob man innerhalb der tosenden Böen statt an das eigene Überleben an diese wünschenswerten Ziele zu denken imstande wäre. Dabei ist ihm leider ein eindrucksvolles Gleichnis verlorengegangen. Denn was wirklich am meisten vonnöten ist, ist in ein richtiges Sturmauge zu gelangen, also eine Pause der Windstille und der Erholung mitten im Getöse zu genießen, die genug Zeit gewähren könnte, sich von der Schnelligkeit der technischen Veränderungen zu erholen, um sich über die Bedeutung und die Tragweite der Entwicklungen bewußt zu werden und sie reflektieren zu können. Wie bei anderen früheren Umwälzungen im Prozeß des Kulturtransfers sind mit Hinblick auf diese radikalste aller neueren Technikveränderungen, die Internet heißt, neue Modelle und Methoden des Informationsangebots und der Informationsvermittlung gefordert. Und um zum Gleichnis zurückzukommen: Beim Fortziehen einer solchen heißersehnten Oase der Stille im Sturm gerät man unweigerlich wieder in den Griff des Gewitters, aber auf der anderen Seite eines Sturmauges schlägt der Wind bekanntlich um. Man könnte nur hoffen, daß die Tendenzen, über die man so gründlich nachgedacht hatte, nicht auch selbst plötzlich in die entgegengesetzte Richtung weisen würden.

Das Internet aus der Sicht des Bibliotheksbenutzers

Die meisten britischen wissenschaftlichen Bibliotheken sind auf dem Prinzip der Selbstbedienung durch den Benutzer organisiert. Ihre Bestände sind zum größten Teil in systematischer Freihandaufstellung angeboten, sind also jedermann frei zugänglich. Nur bei der Ausleihe ist der Benutzer auf eine Arbeitskraft angewiesen - in einigen seltenen Bibliotheken auch nicht einmal dann - und wenn er sonst keine Probleme bei der Benutzung verspürt, braucht er keinen Mitarbeiter auch nur anzusprechen. In Warwick sieht man tatsächlich viele Benutzer Tag für Tag in der Bibliothek, sie bitten nie um Hilfe, und man wechselt kein Wort mit ihnen - es sei denn, sie müssen sich zum ersten Mal mit der EDV zurechtfinden. Sobald sie sich an das CD-ROM-Netz heranwagen, stellen sie Fragen über Fragen.
Das Prinzip der freien Zugänglichkeit gilt bei uns auch für die EDV-Dienstleistungen in der Bibliothek, die prinzipiell zweierlei Art sind. Die erste besteht aus rein bibliographischen Dienstleistungen - OPAC oder CD-ROM - die auf Einzelfunktions-PCs angeboten werden und zum Serviceangebot der Bibliothek zählen. Über dieses bibliographische Angebot hinaus aber bietet die Bibliothek auch PC-Arbeitsplätze an, die in die Zuständigkeit des Universitätsrechenzentrums fallen und von welchen man auf alle vernetzten Ressourcen der Universität (und darüberhinaus) Zugang hat - Zugriff auf Textverarbeitungs- und viele weitere Softwarepakete, auf das Universitätsnetz, auf Email, zunehmend auch auf das Internet. Die Nachfrage für diese PCs ist sehr groß - in der Tat so groß, daß das halbe Erdgeschoß der Bibliothek diesen Sommer radikal umgebaut wird, um Platz für weitere 200 PCs freizugeben.

Man kann bei diesen benutzerorientierten EDV-Diensten vier Aspekte des Serviceangebots unterscheiden: zum ersten die Breite der angebotenen Anwendungspalette, zum zweiten die technischen Bedingungen, unter denen der Zugang gewährt bzw. aufrechterhalten wird: wie viele angeschlossene PCs gibt es, zu welchen Tageszeiten sind sie benutzbar, wie strapazierfähig sind die Systeme, wie lange sind die Ausfallzeiten etc. Noch entscheidender vielleicht als dritter Faktor sind die Hilfsstellen, die bei Bedienungsschwierigkeiten zu Rate gezogen werden können. Gleich nach Einrichtung dieser Arbeitsräume in Warwick wurde bemerkbar, daß die nächstbeste bibliotheksinterne Auskunftsstelle auch mit technischen Fragen zum Netz oder zur Textverarbeitung angegangen wurde. Und am vierten (und für den Benutzer gewiß auch am letzten) Platz stehen die Schulungsmöglichkeiten bei den EDV-Dienstleistungen.

Für die Bibliothek sind die zwei letztgenannten Aspekte die springenden Punkte, und sie greifen auf interessante Weise ineinander. Zu den meisten vernetzten Ressourcen stehen dem Benutzer viele Schulungsangebote zur Verfügung: wie man sich in das Netz einloggt oder wie man sein Email-Konto einrichtet; wie man das CD-ROM-Netz benutzt oder in die OPACs anderer Universitäten hineinkommt. Die rein technischen Fragen des Netzzugangs, der Textverarbeitung oder der Rechnerbenutzung fallen in die Schulungszuständigkeit des Rechenzentrums, das neben traditionellen Schulungskursen auch Materialien zur Selbstschulung verkauft. Die anwendungsbezogenen Schulungen (CD-ROM, die bibliographischen Dienste der BIDS-Datenbanken, die Informationsvermittlung im World Wide Web) sind Sache der Bibliothek. Zum Internet oder zur Informationssuche im Web bietet die Bibliothek bis jetzt relativ wenige Schulungen an, aber im Lauf der Zeit verändert sich natürlich die Lage. Was die direkten Hilfsmöglichkeiten angeht, ist es bemerkenswert, daß die Auskunftsstellen der Bibliothek bis jetzt nur wenige Fragen zur Internetbenutzung auffingen. Es lassen sich daraus zwei Schlüsse ziehen: entweder die Benutzer schaffen es von alleine, an die gewünschten Informationen zu kommen oder sie sind sonstwie mit dem Erfolg ihrer Anstrengungen zufrieden, oder aber sie machen von den enormen Möglichkeiten des Web noch keinen nennenswerten Gebrauch. Ich glaube, die erste Alternative ist wahrscheinlicher: sie wissen sich, wie notdürftig auch immer, zu behelfen und glauben, die Sache sei damit geregelt. Denn man weiß aus Schulungen zu anderen Themen, wie groß die Informationsdefizite bei den Benutzern sein können, die zum Beispiel vorher oft mehr schlecht als recht mit den angebotenen CD-ROM-Datenbanken umgegangen sind. Wenn wir also in größerem Umfang Schulungen zum Web anbieten (denn der Bedarf, wenn vielleicht uneingestanden oder noch unartikuliert, besteht sicherlich), dann werden wir in aller Wahrscheinlichkeit von Fragen überhäuft werden. Denn jede Schulung scheint mehr Fragen zu zeitigen, als sie stillt - ob es Bitten um faktische Wiederholung sind oder um Beistand für die ersten selbstgesteuerten Versuche. Die oben als so nötig geforderten Erholungs- und Bedenkzeiten beim rasanten Tempo der technologischen Revolution könnten nach dieser Prognose in noch weitere Ferne zu entrücken drohen, als wir es bereits wahrhaben möchten.

Es gibt aber einige Lichtstreifen am Horizont, einige neue Entwicklungen im Umfeld der Informationsrevolution Internet, die auf eine hoffnungsvollere Prognose schließen lassen. Eine davon ist eine neue Forschungsinitiative, das Electronic Libraries Programme (eLib). Das Programm eLib ist eines der Hauptergebnisse des Follett-Reports 19934, der im Auftrag der universitären Unterhaltsträger die gegenwärtige Situation und die zukünftige Entwicklung der britischen wissenschaftlichen Bibliotheken im Zeitalter der elektronischen Information und der Beschränkung der Bibliotheksetats untersuchte. Unter den Hauptempfehlungen des Reports war die Notwendigkeit, in die EDV zu investieren, damit die Universitätsbibliotheken die bereits auf globaler Ebene stattfindenden Entwicklungen bei der Rechnerleistungsfähigkeit und der Netzinfrastruktur voll ausnutzen können. "Die Ausnutzung der EDV ist unentbehrlich, um die Dienstleistungseffektivität der Bibliothek der Zukunft zu gewähren", so Follett wörtlich. Um diese Einsicht zu verwirklichen, wurde die sogenannte Follett Implementation Group FIGIT (auf deutsch EDV-Umsetzungsgruppe) ins Leben gerufen, die um Projektvorschläge innerhalb von sieben im Follett-Report identifizierten Bereichen ersuchte. Die geförderten Projekte sollten Benutzung und Speicherung von Wissen in wissenschaftlichen Institutionen transformieren und die ersten Schritte auf dem Weg in die elektronische Bibliothek der Zukunft darstellen. £15m (DM 35Mio) wurden von den vier Unterhaltsträgern bereitgestellt, um die Projekte zu finanzieren. An den Projekten beteiligt sind nicht nur Bibliotheken, sondern auch Bibliotheksverbünde, Universitätsinstitute, Bibliotheksschulen, wissenschaftliche Verbände und Gesellschaften, akademische Benutzergruppen, Verleger und Zeitschriftenredaktionen. Einige der Projekte haben auch internationalen Charakter, mit Beteiligung unter anderem von Bibliotheken aus Australien und Deutschland (die Universitätsbibliothek Bielefeld darf hier genannt werden!). Das Programm ist auf drei Jahre angesetzt und besteht aus nunmehr 43 Forschungsprojekten. Die Themenkreise für weitere Projektvorschläge sind bereits angekündigt worden. Weitere Informationen zur Entstehung, Organisation und Direktion des Programms können aus den eLib-Webpages5 entnommen werden. Diese enthalten unter anderem eine komplette Aufzählung der laufenden Projekte sowie Links zu den einschlägigen Pressemitteilungen und zu den Homepages, die für einzelne Projekte aufgestellt worden sind.
Das Programm erstreckt sich auch auf Gebiete außerhalb der traditionellen Bereiche des Bibliothekswesens. Elektronisches Publizieren wird gefördert: der Bereich Elektronische Zeitschriften enthält zwölf Projekte zur Entwicklung neuer Titel sowie zur Untersuchung von Initiativen zwischen Bibliotheken, Benutzerkreisen und Verlegern gedruckter Zeitschriften, um on-line-Versionen ihrer Erzeugnisse zu produzieren. Zwei weitere Themenkreise widmen sich der Elektronischen Dokumentenlieferung und dem On-demand-Publizieren. Die Projekte auf diesen zwei Gebieten wollen gemeinsam eines der begehrtesten Ziele vieler Bibliotheken verwirklichen: eine grundlegende Umstellung ihres Serviceangebots ermöglichen, weg vom Begriff des Bestands, zugunsten des Zugriffs auf die gewünschten Informationen. Denn es ist nicht mehr realistisch, daß eine Bibliothek selbst alle von ihren Benutzern verlangten Informationen bereitstellen kann, zumal diese Informationen in zunehmendem Maße nur durch Datenbankzugriff zur Verfügung gestellt werden können. Die sieben Projekte im Bereich des On-demand-Publizierens wollen Sammlungen maschinenlesbarer Texte aufbauen, die besonders auf die Anforderungen der Studenten im universitären Sektor zugeschnitten werden und die nach Wunsch des Benutzers am Bildschirm gelesen, auf Diskette gespeichert oder ausgedruckt werden können. Die fünf Untersuchungen im Umfeld der Elektronischen Dokumentenlieferung wollen die technischen, juristischen und wirtschaftlichen Hindernisse angehen, die gegenwärtig dieser vielversprechenden Dienstleistung im Wege stehen. Ein Projekt will Fragen des Zugriffs und der Subskription untersuchen, andere sind auf regionaler oder internationaler Basis angelegt, ein anderes will Fragen zur Identifizierung, zum Standortnachweis und zu den elektronischen Bestell- und Lieferungsmöglichkeiten vernetzter Dokumente angehen.
Mit den Projekten im Bereich Zugriff auf vernetzte Ressourcen will eLib das Konzept der fachlich organisierten Erschließungssysteme fördern. Acht Projekte haben es sich zur Aufgabe gemacht, Informationsserver in verschiedenen Fachgebieten aufzubauen, zum Beispiel in den Geschichtswissenschaften, den Kunst-, Architektur- und Medienwissenschaften, den Ingenieurwissenschaften, den Sozialwissenschaften und der Medizin. Weitere zwei Projekte, die insbesondere den Geisteswissenschaften wertvolle Ressourcen anzubieten versprechen, sind dem Bereich Digitalisierung zugeordnet. Eines davon will in Zusammenarbeit zwischen den Universitätsbibliotheken Oxford und Leeds eine Auswahl wichtiger Zeitschriften aus dem 18. und 19. Jahrhundert in maschinenlesbarer Form bereitstellen. Das andere untersucht die Digitalisierung führender Zeitschriften auf dem Fachgebiet Kunst und Design mit dem Ziel der Publikation auf CD-ROM. Dabei müssen zunächst Fragen der Titelauswahl und der Urheberrechtsbedingungen geklärt werden.
Das Programm besteht nicht nur aus den gerade beschriebenen Bereichen, sondern wird von zwei weiteren wichtigen Themenkreisen gleichsam untermauert. Der zentralen Stellung der Ausbildungsbedürfnisse des Bibliothekars wird im Bereich Ausbildung und Current Awareness Rechnung getragen. Im Follett-Report wird dem Bibliothekar in der vernetzten Bibliothek der Zukunft eine erweiterte Schulungsrolle auferlegt, und die fünf Untersuchungen in diesem Bereich versprechen durch national angelegte Projekte zur Identifizierung und Vermittlung eben dieser Schulungsfähigkeiten eine unentbehrliche Unterstützung individueller Anstrengungen zu geben. Einige Projekte wollen über das Netz selbst dem lernenden Bibliothekar die erforderlichen Fähigkeiten und Unterstützung zukommen lassen. Und nicht zuletzt sind im Bereich Rahmenuntersuchungen drei Projekte zu Themen allgemeineren Charakters zusammengefaßt: zum Management dezentraler Informationsquellen, zu den Auswirkungen der elektronischen Bibliothek auf Akademiker und Studenten und zu einer Analyse verschiedener Modelle der Dokumentenlieferung. Weitere gerade in Auftrag gegebene Themenkreise befassen sich mit der bibliographisch nicht leicht nachweisbaren "grauen" Literatur und der Qualitätssicherung.
Viele der bereits angelaufenen Projekte haben offenbar Pilot- oder gar beispielhaften Charakter. Manche sind in sich geschlossen, manche wiederum sind auf die Zusammenarbeit mit einem breiten Interessentenkreis angelegt, einige sind sogar vom Zusammenwirken mit anderen eLib-Projekten abhängig. Dies ist insbesondere bei den Ausbildungsprojekten der Fall. Der Erfolg dieser Projekte hängt auch wesentlich vom Grad der Teilnahme ab, die sie in anderen Institutionen oder gar individuellen Interessenten erwecken können, die sich angesprochen fühlen.
Im Folgenden seien einige Projekte eingehender besprochen, an denen die UB Warwick beteiligt ist. Eines davon ist das Projekt SuperJournal, ein im Bereich Elektronische Zeitschriften angesiedeltes Programm zur Entwicklung neuer Publikationsformen. Das Projekt trägt eine Reihe besonderer Merkmale:

Das Projekt verspricht Vorteile für alle drei Interessengruppen, könnte auch zu einem potentiellen Maßstab der Qualitätsmessung der im Internet angebotenen Zeitschriftenliteratur, wie er oben von Bernard Naylor eingefordert wird, beitragen.
Ein weiteres von der UB Warwick mit angeregtes Projekt im Bereich Ausbildung namens TAPin will durch den Transfer von Netzfähigkeiten von Bibliothekaren an akademische Lehrkräfte die Qualität von Lehre und Forschung zu verbessern versuchen. Das Projekt will in bestimmten Fachbereichen und in Zusammenarbeit mit anderen Bibliotheken der Region erreichen, daß ausgewählte Fachreferenten aktiv zur Ausbildung ihrer akademischen Kollegen in Sachen Internetnutzung beitragen, damit sie in der Lage sind, vernetzte Informationsquellen auf geeignete Weise für ihre Lehr- oder Forschungsbedürfnisse einzusetzen. Zu diesem Zweck muß zuerst sichergestellt werden, daß besagte Fachreferenten selbst die benötigten Fähigkeiten besitzen. Dazu ist eine aktive Zusammenarbeit mit dem von der Universität Hull gesteuerten Projekt EduLib vorgesehen. Dieses Projekt hat zum Ziel, die zur Informationsausnutzung erforderlichen Fähigkeiten zu ermitteln und durch strukurierte Schulungsprogramme interessierte Bibliothekare mit diesen Fähigkeiten auszustatten, damit sie sie wiederum in ihre Schulungen einbringen können.

Zum Schluß möchte ich einige allgemeine Internetfragen anschneiden, die von John MacColl, Redakteur der bereits genannten Internetzeitschrift für Bibliothekare Ariadne6, als geeigneter Diskussionsstoff für seine Zeitschrift aufgeworfen worden sind7. Auch Ariadne ist im Bereich Ausbildung ein eLib-Projekt.
Zum Urheberrecht: im Internet hat ein Text keinen soliden Charakter, kann beliebig vervielfältigt und übertragen werden. Der Begriff intellektueller Besitz muß also neu durchdacht werden. Durch Softwareeinsatz können im Einzelfall Internet-Texte vor dem rechtswidrigen Zugriff geschützt werden - aber was geschieht, wenn derselbe Benutzer an darauffolgenden Tagen Aufsätze oder Kapitel aus derselben Publikation abruft? Viele Autoren geben ihre Texte gar nicht erst ins Internet, bevor diese Fragen nicht gelöst werden. Solche Probleme wirken also wie ein Hemmschuh am Informationspotential des Internet.Der Begriff Pflichtexemplar existiert beim elektronischen Text nicht. Wie können Bibliotheken eine wirksame bibliographische Kontrolle einer solchen grauen Literatur durchsetzen?
Wie kann man die Vorteile des Publizierens im Net am wirksamsten fördern? Für viele Akademiker ist der Status am wichtigsten, den sie dadurch ernten, indem ihre Arbeit in einer renommierten Zeitschrift erscheint. Wie können ähnliche Qualitätsmaßstäbe auch für Online- Publikationen gesetzt werden? Das Projekt SuperJournal kann zu solchen Maßstäben beitragen, schafft sie aber nicht von alleine. Denn die Vorteile der Publikation im Net sind vielgestaltig: der Text ist aus dem Zeitrahmen der konventionellen Verlagsproduktion ausgelöst, ist im Volltext durchsuchbar, kann durch die Fußnoten Anschluß an andere Dokumenten herstellen. Andere Forscher können ihre Bemerkungen am Beitrag selbst anhängen, es entsteht also eine Art kollaborative Arbeit.
Wie steht es um die Zukunft der Erwerbungsetats in einer Welt des elektronischen Zugriffs? Werden die Unterhaltsträger bereit sein, die immer teurer werdenden Zeitschriften weiterhin zu bezahlen, wenn man in einem System der Dokumentenlieferung eine leistungsfähige und billigere Alternative hat?
Kann man eine Parallele ziehen zwischen den traditionellen Universitätsbibliotheken und den frühen raumfüllenden Rechnern sehen, diesen Ungeheuern, von weißbekittelten Technikern eifersüchtig betreut, die nur Befugten den Zutritt und die Benutzung gestatteten? Wurden die Bibliothekare nicht häufig auch so gesehen, als wenn sie nur dafür da wären, um den Zugang zu den gewünschten Beständen zu verweigern, indem sie sie mit ihren nur ihnen selbst verständlichen, extrem benutzerunfreundlichen Karteikatalogen schützten?
Jetzt aber, im Zeitalter der elektronischen Bibliothek, ist der Bibliothekar bestens in der Lage, ein ansprechbarer Fachmann der schöpferischen Lösungen für Informationsbedürfnisse zu werden, so wie die Softwarepakete für die Arbeitsplatz-PCs von heute so konzipiert sind, um möglichst intuitiv und benutzerfreundlich zu arbeiten. Der Vergleich ist nicht so weit hergeholt - wir haben die erforderlichen Kompetenzen oder die Gelegenheit, sie uns anzueignen. Wenn wir nur mit der Informationsexplosion im Netz nach Möglichkeit Schritt halten können, wenn wir die neuen Ressourcen evaluieren und den Benutzerbedürfnissen entsprechend einsetzen können, dann (um wieder mit Bernard Naylor zu sprechen) haben wir uns die berufliche Zukunft gesichert.


Literaturhinweise und Links

1 Richard Parker. "Vom Dokumentenverwalter zum Rettungsschwimmer in der Informationsflut: neue Techniken und das Berufsbild des britischen Fachreferenten." ABI-Technik 14.1 (1994): 35-39.

2 John Fielden Consultancy. Supporting expansion: a report on human resource management in academic libraries for the Joint Funding Councils' Libraries Review Group. Bristol, HEFCE, 1993.

3 Bernard Naylor. "The eye of the storm." Ariadne, issue 1(1996).
http://ukoln.bath.ac.uk/ariadne/issue1/bernard/

4 Joint Funding Councils' Libraries Review Group: Report. (Chairman: Prof. Sir Brian Follett). Bristol, HEFCE, 1993.
http://ukoln.bath.ac.uk/follett/follett_report.html

5 http://ukoln.bath.ac.uk/elib/

6 http://ukoln.bath.ac.uk/ariadne/

7 John MacColl. "Reading and skywriting." HIGHER (= Times Higher Education Supplement), 12 January 1996, Multimedia Supplement, p. v.