Der Jakobusweg als Therapie? vorgelegt von Beate Brieseck als Dissertation zur Erlangung des Grades einer Doktorin der Philosophie (Dr. phil.) in der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der Universität Dortmund Dortmund 2006 Betreuerin: Prof. Dr. Alexa Franke Betreuer: Prof. Dr. Gerd Hölter 3 Danksagung An erster Stelle möchte ich Frau Prof. Dr. Alexa Franke danken, die mich mit vielen wertvollen Anregungen wissenschaftlich begleitet und gefördert hat. Darüber hinaus prägte sie unsere Zusammenarbeit mit ihrem Entgegenkommen, ihrer Offenheit und ihrem Humor. Diese Atmosphäre ermutigte mich zur Weiterentwicklung und Umsetzung meiner Ideen und war der „Rückenwind“ während dieser langen arbeitsintensiven Zeit. Herrn Prof. Dr. Gerd Hölter danke ich vielmals für das Interesse an meiner Arbeit und für die Betreuung als zweiter Gutachter. Die Gewissheit, auch seinen Rat stets einholen zu können, bestärkte meine Zuversicht in das Gelingen dieses Projektes. Mein besonderer Dank gilt dem St. Marien-Hospital Eickel und Herrn Dr. Matthias Krisor für das Vertrauen sowie für die Bereitstellung von Daten und Literatur. Den befragten Jakobuspilgerinnen und -pilgern der Wanderetappe 2001 danke ich herzlich für ihre Mitwirkung und ihre Offenheit, mit der die Durchführung dieser Untersuchung erst möglich wurde. Gedankt sei auch meinen Kolleginnen und Kollegen für die soziale Unterstützung. Frau Dr. Heidemarie Hoppe danke ich für die Durchsicht des Manuskriptes und für die kreativen Impulse. Ihre Kooperation und ihr Wohlwollen gaben mir besonders in der Schlussphase enormen Aufschwung. Der wissenschaftliche Austausch mit Melanie Kaczerowsky, Sonja Mamys und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Fakultät Rehabilitationswissenschaften an der Universität Dortmund war mir eine große Hilfe. Insbesondere Karin Nachbar unterstützte mich mit ihrem offenen Ohr für meine Fragen und Anliegen. Meiner lieben Freundin Kerstin möchte ich dafür danken, dass sie immer für mich da war. Darüber hinaus trugen ihr unerschöpflicher Fundus an Formulierungsvorschlägen und kreativen Anregungen wesentlich zum Gelingen dieser Arbeit bei. Harry danke ich an dieser Stelle für sein Verständnis und für seine unnachahmliche, humorvolle Art des Korrekturlesens. Meinen Freundinnen und Freunden ein großes Dankeschön für ihre Geduld. Die volle Unterstützung, Nachsicht und Fürsorge im richtigen Moment waren mir wichtige Kraftquellen, mit denen mich meine Eltern auch auf diesem Weg begleiteten. Mein Schlusswort gilt Michael Ortmann, der mir als mein Lebensgefährte mit Rat und Tat zur Seite stand. Er ließ Katastrophen wieder zu alltäglichen Widrigkeiten werden und gab mir mit seiner Liebe und seiner Bodenständigkeit den Halt, den ich zur Fertigstellung dieser Arbeit brauchte. 4 Inhaltsverzeichnis Einleitung 10 Teil I Theoretische und empirische Grundlagen 13 1. Das Jakobuswegprojekt 14 1.1 Der Jakobusweg 14 1.2 Therapeutischer Kontext des Jakobuswegprojektes 18 1.2.1 Das St. Marien-Hospital Eickel 18 1.2.2 Das therapeutische Konzept der Klinik 19 1.3. Das Projekt 29 1.3.1 Die Entstehung 29 1.3.2 Die Projektarbeit 31 2. Das Konzept der Salutogenese 35 2.1 Salutogenese 35 2.2 Salutogenese - Pathogenese Homöostase oder Überwindung der Heterostase? 36 2.3 Das Gesundheits-Krankheits-Kontinuum 37 2.4 Das Kohärenzgefühl 38 2.5 Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit 40 2.6 Wie verhalten sich die drei SOC-Komponenten zueinander? 47 2.7 Widerstandsressourcen 48 2.8 Stressoren 49 2.9 Coping 51 2.10 Zusammenfassung 54 2.11 Das Kohärenzgefühl und psychische Gesundheit 55 2.12 Veränderung des Kohärenzgefühls durch Psychotherapie? 57 Teil II Methodik und Durchführung 61 3. Ableitung von Forschungsfragen 62 3.1 Konzept eines Projektes zur Gesundheitsförderung 62 4. Forschungsfragen 69 5. Hypothesen 70 5.1 Bisheriger Stand der Forschung 70 5.2 Aufstellung der Hypothesen 73 5.2.1 Hypothesen zum Erleben und zur Förderung von Verstehbarkeit 73 5.2.2 Hypothesen zum Erleben und zur Förderung von Handhabbarkeit 79 5 5.2.3 Hypothesen zum Erleben und zur Förderung von Bedeutsamkeit 84 5.2.4 Haupthypothesen zur Jakobuswanderung 91 5.2.5 Haupthypothesen zum Jakobuswegprojekt 92 6. Erhebungsinstrument 93 6.1 Subjektive Theorien 93 6.2 Methodik zur Rekonstruktion Subjektiver Theorien 96 6.3 Grenzen der Methode im Hinblick auf die zu untersuchende Gruppe und die Untersuchungssituation 98 6.4 Modifizierte Forschungsmethodik für die Untersuchung 99 6.4.1 Halbstandardisiertes Interviewverfahren zur Explikation der Subjektiven Theorien 99 6.4.2 Rekonstruktion der Subjektiven Theorien mit Techniken der qualitativen Inhaltsanalyse 101 7. Durchführung der Untersuchung 102 7.1 Die Gruppe der befragten Jakobuspilgerinnen und -pilger 102 7.2 Analyse der Untersuchungssituation 108 8. Auswertung 110 8.1 Qualitative Inhaltsanalyse 110 8.2 Inhaltsanalytisches Ablaufmodell zur Datenauswertung 112 8.2.1 Konkretes Ablaufmodell zur induktiven Kategorienbildung 115 8.2.2 Fallspezifische Auswertung 119 8.2.3 Fallübergreifende Auswertung 120 8.2.4 Bildung von Hauptkategorien fragenspezifisch 121 8.2.5 Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse im Hinblick auf die Teilhypothesen fragenübergreifend 122 8.2.6 Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse im Hinblick auf die Haupthypothesen 122 8.2.7 Erfassung weiterer Aspekte 123 8.3 Diskussion der inhaltsanalytischen Gütekriterien 124 8.3.1 Reliabilität 124 8.3.2 Validität 126 Teil III Ergebnisse 128 9. Ergebnisse zu den offenen Fragen 129 9.1 Was verbinden die Befragten mit dem Begriff Jakobusweg? 129 9.2 Beweggründe zur Teilnahme an der Jakobuswanderung 134 9.3 Auswirkungen der Jakobuswanderung auf die Gesundheit und Wirkungsfaktoren 138 9.4 Die Rolle des Jakobusweges im Gesundungsprozess 152 6 9.5 Die Begegnung zwischen der Wandergruppe und dem therapeutischen Team 157 9.6 Motivationale Faktoren im Jakobuswegprojekt 166 9.7 Salutogene Faktoren im Jakobuswegprojekt 170 10. Ergebnisse zu den Hypothesen 178 10.1 Auswertung der Hypothesen zum Erleben und zur Förderung von Verstehbarkeit 178 10.1.1 Förderung von Verstehbarkeit durch das Erleben von Konsistenz 178 10.1.2 Verstehbarkeit innerhalb der Begegnung zwischen den Teilnehmenden und dem therapeutischen Team 194 10.1.3 Zugewinn an Wissen und Kenntnissen 199 10.1.4 Besseres Verstehen neuer Situationen und Verbesserung des vorausschauenden Denkens 205 10.1.5 Zusammenfassung der Ergebnisse zum Erleben und zur Förderung von Verstehbarkeit 210 10.2 Auswertung der Hypothesen zum Erleben und zur Förderung von Handhabbarkeit 216 10.2.1 Zugewinn an persönlichen Widerstandsressourcen zur Belastungsbalance 216 10.2.2 Stärkung der Zuversicht in die Handhabbarkeit von Anforderungen während der Wanderung 225 10.2.3 Stärkung der Zuversicht in externale Ressourcen durch die Gemeinschaft 228 10.2.4 Erleben von Handhabbarkeit nach der Wanderung durch weiteren Kontakt zur Gruppe 238 10.2.5 Anstieg der Zuversicht in die Handhabbarkeit von Anforderungen 244 10.2.6 Zusammenfassung der Ergebnisse zum Erleben und zur Förderung von Handhabbarkeit 246 10.3 Auswertung der Hypothesen zum Erleben und zur Förderung von Bedeutsamkeit 254 10.3.1 Mehr Lebenssinn durch Freude bereitende, sinnstiftende Aktivitäten 254 10.3.2 Erleben von Mitspracherecht durch das Ausüben wichtiger Aufgaben 263 10.3.3 Teilhabemöglichkeiten an sozial anerkannten Entscheidungs- prozessen 268 10.3.4 Erleben von Bedeutsamkeit durch den historischen, religiösen und kulturellen Hintergrund des Jakobusweges 271 10.3.5 Die Attraktivität des Jakobusweges als Beweggrund zur Teilnahme 277 10.3.6 Anregung zur Introspektion 282 10.3.7 Anstieg der Motivation zum Engagement und Bewertung von Anforderungen als Herausforderungen 288 7 10.3.8 Zusammenfassung der Ergebnisse zum Erleben und zur Förderung von Bedeutsamkeit 293 10.4 Auswertung der Haupthypothesen zum Erleben und zur Förderung von Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit während der Jakobuswanderung 305 10.5 Auswertung der Haupthypothesen zum Erleben und zur Förderung von Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit durch das Jakobuswegprojekt 311 Teil IV Interpretation und Diskussion der Ergebnisse 322 11. Beantwortung der Forschungsfragen 323 11.1 Interpretation der Ergebnisse im Hinblick auf die Wandergruppe 2001 336 11.2 Interpretation der Ergebnisse unter Bezugnahme auf die bisherige Begleitforschung 339 12. Diskussion der Methodik 354 13. Ausblick 359 Teil V Literaturverzeichnis 363 Teil VI Anhang 371 8 Verzeichnis der Tabellen Tabelle 1: Soziodemographische Daten der befragten Jakobuswanderinnen und –wanderer (Jakobuswanderung 2001) 102 Tabelle 2: Daten zur Psychopathologie der befragten Jakobuswanderinnen und -wanderer (Jakobuswanderung 2001) 106 Tabelle 3: Vorlage für fallspezifische Auswertung (induktive Kategorienbildung; erste Reduktion) 120 Tabelle 4: Vorlage für fallübergreifende Auswertung (induktive Kategorienbildung; zweite Reduktion) 121 Tabelle 5: Vorlage für Reduktion zur Hauptkategorie (induktive Kategorienbildung; fragenspezifisch) 121 Tabelle 6: Vorlage zur Auswertung von Teilhypothesen 122 Tabelle 7: Vorlage zur Auswertung von Haupthypothesen 123 Tabelle 8: Auswertung der Frage 1 129 Tabelle 9: Auswertung der Frage 2 134 Tabelle 10: Auswertung der Frage 3 138 Tabelle 11: Auswertung der Frage 3a 139 Tabelle 12: Auswertung der Frage 3b 149 Tabelle 13: Auswertung der Frage 3c 152 Tabelle 14: Auswertung der Frage 3d 153 Tabelle 15: Auswertung der Fragen 4 und 8 157 Tabelle 16: Auswertung der Frage 5 166 Tabelle 17: Auswertung der Frage 5a 170 Tabelle 18: Auswertung der Frage 5b (Handhabbarkeit) 172 Tabelle 19: Auswertung der Frage 5b (Bedeutsamkeit) 174 Tabelle 20: Auswertung der Frage 5b (Verstehbarkeit) 176 Tabelle 21: Auswertung der Hypothese V1.1 179 Tabelle 22: Auswertung der Frage 6a 180 Tabelle 23: Auswertung der Fragen 6a/b (Individuelle Bewertung) 184 Tabelle 24: Auswertung der Hypothese V1.2 188 Tabelle 25: Auswertung der Hypothese V1 (Fragen 7 u. 9) 190 Tabelle 26: Auswertung der Hypothese V2 195 Tabelle 27: Auswertung der Hypothese V3 199 Tabelle 28: Auswertung der Hypothese HW1 (Verstehbarkeit) 206 Tabelle 29: Auswertung der Haupthypothese V 210 Tabelle 30: Erleben und Förderung von Handhabbarkeit während der Wanderung 216 Tabelle 31: Auswertung der Hypothese H1 220 Tabelle 32: Auswertung der Hypothese H2 227 Tabelle 33: Auswertung der Hypothese H3 (Frage 13a) 229 Tabelle 34: Auswertung der Hypothese H3 (Frage 13b) 233 Tabelle 35: Auswertung der Hypothese H3 (Frage 13c) 236 Tabelle 36: Auswertung der Hypothese H4 239 Tabelle 37: Auswertung der Haupthypothese H (Frage 14a) 243 Tabelle 38: Auswertung der Hypothese HW1 (Handhabbarkeit) 245 Tabelle 39: Auswertung der Haupthypothese H 246 Tabelle 40: Erleben und Förderung von Handhabbarkeit nach der Jakobuswanderung durch den Kontakt zur Gruppe 251 9 Tabelle 41: Erleben und Förderung von Handhabbarkeit nach der Jakobus- wanderung 252 Tabelle 42: Auswertung der Hypothese B1 256 Tabelle 43: Auswertung der Hypothese B2 264 Tabelle 44: Auswertung der Hypothese B3 269 Tabelle 45: Auswertung der Hypothese B4 273 Tabelle 46: Auswertung der Hypothese J1 278 Tabelle 47: Auswertung der Hypothese J2 283 Tabelle 48: Auswertung der Hypothese HW1 (Bedeutsamkeit) 289 Tabelle 49: Auswertung der Haupthypothese B 293 Tabelle 50: Erleben und Förderung persönlicher Bedeutsamkeit 302 Tabelle 51: Übertragung von Metaphern und Symbolik in den Alltag 303 Tabelle 52: Der Glaube 304 Tabelle 53: Auswertung der Haupthypothese HW1 (Frage 20) 305 Tabelle 54: Auswertung der Hypothese HW1 (fragenübergreifend) 306 Tabelle 55: Auswertung der Hypothese HW2 (Frage 20d) 308 Tabelle 56: Auswertung der Haupthypothese HW2 (fragenübergreifend) 310 Tabelle 57: Auswertung der Haupthypothese HP1 (Fragen 5a-5b) 312 Tabelle 58: Auswertung der Hypothese HP1 (Frage 21) 313 Tabelle 59: Auswertung der Haupthypothese HP1 (fragenübergreifend) 317 Tabelle 60: Auswertung Hypothese HP2 (Frage 22) 319 Tabelle 61: Auswertung der Haupthypothese HP2 (fragenübergreifend) 321 Tabelle 62: Gruppentherapeutische Faktoren der Wanderungen 1997, 1998 und 2001 345 Tabelle 63: Bewegungstherapeutische Effekte des Wanderns in den Wandergruppen 348 1997, 1998 und 2001 Verzeichnis der Abbildungen Abbildung 1: Interdependenz von ethischen Prinzipien, Strukturen und allgemeinen Normen der Interaktion Aus Aufgehoben in der Gemeinde (S. 121) von Krisor, M., 2005. Bonn: Psychiatrie-Verlag. 20 Abbildung 2: Allgemeines Inhaltsanalytisches Ablaufmodell Aus Qualitative Inhaltsanalyse (S. 54) von Mayring, P., 2000. Weinheim: Deutscher Studien. 112 Abbildung 3: Ablaufmodell zusammenfassender Inhaltsanalyse Aus Qualitative Inhaltsanalyse (S. 60) von Mayring, P., 2000. Weinheim: Deutscher Studien. 116 Abbildung 4: Modell der Qualitäten von Gesundheitssport Aus Intervention und Evaluation im Gesundheitssport und in der Sport- 360 therapie (S. 20) von Brehm et al. (Hrsg.), 2004. Hamburg: Czwalina. 10 Einleitung Im Zuge der Maßnahmen zur Kostendämpfung in der gesetzlichen Krankenversicherung und der Privatisierung von gesundheitlichen Dienst- sowie Vorsorgeleistungen werden Selbstverantwortung, Teilhabe, Mitsprache, Prävention, Gesundheitsförderung und Gesundheitsschutz zu wichtigen Schlüsselbegriffen der Gesundheitspolitik. In diesem Kontext steigt der Bedarf nach gesundungsfördernden Projekten, die nachhaltige Bedingungen für eine optimale Erhaltung, Förderung und Wiederherstellung von Gesundheit schaffen. Forschende im Bereich der Gesundheits- und Sportwissenschaften plädieren dabei für Interventionsmaßnahmen, die die individuelle Erkrankungsgeschichte, die Bedürfnisse und Ressourcen der Betroffenen spezifisch berücksichtigen, um effizient Gesundung zu fördern (Caspari & Bös, 2006). Das Jakobuswegprojekt - ein Wanderprojekt am St. Marien-Hospital Eickel, einer Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Herne - wird seinem Konzept nach diesen Anforderungen gerecht. Das wird in psychiatrischen und psychosozialen Fachkreisen bundesweit und sogar über die Grenzen Deutschlands hinaus hoch anerkannt. Nicht so von den Krankenkassen. Ihr Rückzug aus der Projektfinanzierung bedingt, dass stationäre Patientinnen und Patienten nicht mehr mitwandern können. Für diese Klientel ist das aus verschiedenen Gründen ein großer Verlust. Zum einen wird ihr bei optimalem Zeitpunkt der Therapie der Zugang zu hochwertigen therapeutischen Ressourcen verwehrt. Zum anderen wird damit der Einstieg in das Projekt mit dem Ziel der langfristigen Anbindung deutlich erschwert, denn gerade bei chronisch erkrankten und häufig bewegungsabstinenten Patientinnen und Patienten wird dieses Vorhaben am erfolgreichsten durch die Teilnahme an der Jakobuswanderung während des stationären Aufenthaltes umgesetzt. Momentan wandern ehemalige Patientinnen und Patienten gemeinsam mit einem multiprofessionellen Team der Klinik auf dem Jakobusweg. Die Finanzierung des Projektes gestaltet sich zunehmend durch Spenden sowie durch Eigenleistung seitens der Teilnehmenden. Die Bereitschaft der Jakobuspilgerinnen und -pilger, den hohen Beitrag - trotz ihrer vielfach begrenzten finanziellen Möglichkeiten - zu zahlen, unterstreicht das hohe Potenzial an Sinnerleben im Jakobuswegprojekt. Die Wandergruppe am St. Marien-Hospital Eickel ist fest entschlossen, ihr Ziel zu erreichen. 11 Bis Santiago de Compostela sind es aber noch weit über 700 Kilometer. Bei einem Jahrespensum von etwa 180 km liegen noch vier Etappen vor ihr. Umso mehr gilt es, das Projekt wissenschaftlich zu begleiten, um sein Fortbestehen zu gewährleisten. Ziel der hier vorliegenden qualitativen Untersuchung ist die Erforschung der therapeutischen Effekte des Jakobuswegprojektes und seiner gesundheitsfördernden Bedingungen aus salutogenetischer Perspektive. Dabei wird auch überprüft, ob und inwieweit - gerade unter den außergewöhnlichen Rahmenbedingungen der Jakobus- wanderung - Gesundheit professionell und langfristig gefördert wird. Des Weiteren wird der Frage nachgegangen, welche Faktoren des historischen Pilgerweges, der augenblicklich wieder Tausende von Menschen in Bewegung setzt, per se therapeutisch wirken. Befragt wurden elf Wanderinnen und Wanderer, die im Jahr 2001 auf dem Jakobusweg gegangen sind und die Projektarbeit kennen gelernt haben. Zu diesem Zeitpunkt war die Durchführung des Projektes im Rahmen des stationären Aufenthaltes noch möglich, daher handelte es sich um aktuelle und ehemalige Patientinnen und Patienten der Klinik mit unterschiedlichen psychiatrischen Diagnosen. Für die Evaluation salutogener Faktoren wurde in Anlehnung an das Salutogenesemodell von Aaron Antonovsky (1987/1997) sowie an die Methodik zur Erforschung Subjektiver Theorien nach Groeben & Scheele (1984) und Groeben, Wahl, Schlee & Scheele (1988) ein halbstandardisiertes Interview entwickelt. Die Auswertung der Daten erfolgte mit Techniken der Qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2000). Zur Einführung in die Thematik beginnt Kapitel 1 mit einem historischen Überblick zum Jakobusweg sowie mit der Vorstellung der Projektarbeit. Wichtig war dabei die Darstellung des therapeutischen Kontextes, um aufzuzeigen, unter welchen Rahmenbedingungen die Entstehung solcher Projekte erst möglich wird und nach welchen Modellen zur Gesundheitsförderung das St. Marien-Hospital Eickel arbeitet. In Kapitel 2 wird das Konzept zur Salutogenese mit seiner Relevanz im Hinblick auf die psychische Gesundheit erläutert. Von den theoretischen Grundlagen ausgehend werden im zweiten Teil der Dissertation die Forschungsfragen abgeleitet und entsprechende Hypothesen formuliert. 12 Die Entwicklung des Erhebungsinstruments zur Erfassung der Subjektiven Theorien der Befragten und seine Anwendung in der Untersuchung erfolgen in Kapiteln 6 bis 7. In Kapitel 8 werden die Methodik der qualitativen Inhaltsanalyse und die konkreten Ablaufmodelle zur Datenauswertung erklärt. Der dritte Teil der Untersuchung gliedert sich in die Darstellung der Ergebnisse zu den offenen Fragen (s. Kap. 9) und zu den hypothesengerichteten Fragen (s. Kap. 10). Die Ergebnisse werden dann im Schlussteil im Hinblick auf die Forschungsfragen, die Daten zur Psychopathologie und die soziodemographischen Angaben interpretiert. Darüber hinaus werden die Ergebnisse dieser Untersuchung mit den Erkenntnissen aus der Studie von Krisor und Pfannkuch (1999) verglichen. Die darauf folgende Diskussion der Methodik überprüft, inwiefern die Forschungsmethodik dem Untersuchungsziel gerecht wurde und an welchen Stellen Änderungen nötig sind. Angegeben werden auch Ideen zur Weiterführung der wissenschaftlichen Begleitung. Die Dissertation schließt mit einem Ausblick zur Weiterentwicklung des Jakobusweg- projektes. 13 Teil I Theoretische und empirische Grundlagen 14 1. Das Jakobuswegprojekt 1.1 Der Jakobusweg Seit über tausend Jahren pilgern Menschen unterschiedlichster Nationen, Glaubens- richtungen und Generationen auf dem Jakobusweg. Jakobus der Ältere war ein Jünger Jesu und wurde später mit seinem Bruder Johannes zum Apostel berufen (Mt 4,11). Legendären Berichten nach soll er nach der Himmelfahrt Jesu in Spanien gepredigt haben und dann mit seinen Jüngern nach Jerusalem zurückgekehrt sein (Herbers, 1998). Nach seiner Rückkehr erlitt er, so heißt es weiter, als erster Apostel durch König Herodes das Martyrium. Seine Jünger sollen seinen Leichnam dann mit einem Schiff in sieben Tagen nach Iria Flavia (heute El Padrón), an der spanischen Westküste gelegen, gebracht haben und ihn bei Compostela begraben haben. Das Grab sei zunächst wieder in Vergessenheit geraten, da die Galicier wieder heidnisch geworden seien. Karl der Große (768-814) habe dann im Traum vom heiligen Jakobus den Auftrag erhalten, das Grab wiederzuentdecken und die Sarazenen aus Spanien zu vertreiben. Damit sollte der Weg zum heiligen Jakobus „befreit“ werden. Eine weitere Legende berichtet von der Grabentdeckung durch den Eremiten Pelagius (Herbers & Plötz, 2004; Rabe 2005). Demzufolge führte eine Sternenerscheinung im Nordwesten der Iberischen Halbinsel Pelagius zum Grab des Apostels. Die von ihm entdeckten Reliquien wurden von Bischof Theodomir von Iria Flavia für echt befunden. An dem „Sternenfeld“ („campus stellae“, geläufige Erklärung aber nicht korrekte Ableitung für Compostela; eigentlich von „compostum“, Begräbnisstätte abzuleiten), der Fundstelle der Reliquien, ließ Alfons II., König von Asturien und Léon, zu Ehren Jakobus eine Kirche errichten. Damit war der Grundstein für Santiago de Compostela gelegt. Trotz vieler Zweifel an den legendären Berichten um die Missionstätigkeit des heiligen Jakobus in Spanien, um die Translation (Überführung des Leichnams) sowie um das Auffinden der Begräbnisstätte begann nach der Grabentdeckung um 900 die Pilgerbewegung nach Santiago de Compostela (Herbers & Plötz, 2004). Sowohl das Apostelgrab als auch die Wunderberichte lockten zunächst Pilgernde aus der näheren Umgebung. Im 10. Jahrhundert wurden schon Pilgerinnen und Pilger dokumentiert, die von nördlich der Pyrenäen kamen. Der Einzugsbereich weitete sich immens aus. Während 15 anfangs noch Pilgernde aus Spanien, Frankreich, Italien und Deutschland zu den dominierenden Pilgergruppen zählten, hatte Santiago de Compostela bereits im zwölften Jahrhundert den Stellenwert bisheriger herausragender Pilgerziele wie Rom oder Jerusalem erreicht. Von da an wurden immer häufiger Pilgernde aus England, Skandinavien, dem Ostseeraum sowie Osteuropa beobachtet. Entsprechend konnte Santiago im 15. Jahrhundert als europäischer Pilgerort bezeichnet werden. Die Entwicklung Santiago de Compostelas zu einem berühmten Pilgerort hatte (kirchen-)politische Hintergründe (ausführliche Darstellung z. B. bei Herbers, 1998; Herbers & Plötz, 2004) und wurde durch die zunehmende Spiritualität, die intensivierte Reliquienverehrung und die stärkere Mobilität seit dem hohen Mittelalter gefördert. Entscheidend war auch die mündliche und schriftliche Verbreitung von Wundergeschichten aus dem Liber Sancti Jacobi, dem Buch des heiligen Jakobus. Man führte während der Reconquista Schlachtensiege gegen den islamischen Gegner auf die Hilfe des Jakobus zurück (Herbers, 1998). Bei der Schlacht von Clavijo (844) sei er auf einem weißen Ross reitend als „Matamoros“ (Maurentöter) erschienen und habe in den Kampf eingegriffen (Rabe, 2005; Herbers, 1998). Als „Schlachtenhelfer“ unterstütze er die christlichen Truppen mit dem Schlachtruf „Santiago“ im Kampf gegen die Mauren. Bei der Wiedereroberung der von islamischen Gegnern beherrschten Teile der Iberischen Halbinsel wirkten insbesondere französische Ritter mit (Herbers, 1998). Gelockt wurden die Krieger mit einem päpstlichen Versprechen, welchem zufolge die Kampfleistungen mit dem gleichen Bußstrafennachlass belohnt würden wie bei einer Jerusalemwallfahrt. Neben Kriegern und Kreuzfahrern zog es Angehörige aus verschiedenen sozialen Gruppierungen und Schichten zum Grab des heiligen Jakobus. Ihre Motive zum Pilgern ließen sich kaum verallgemeinern (Herbers, 1998; Plötz 1996), sie erschienen jedoch alle üblicherweise „im religiösen Gewand“ (Herbers, 1998, S. 61). Darüber hinaus war ein Motiv, das sich durch alle Schichten durchzog, der Wunsch nach dem ganz unmittelbaren Kontakt mit Heiligtümern, um eine materiell greifbare Heilsversicherung zu erlangen (Plötz, 1996). Man glaubte stark an die Wunderkraft von sterblichen Überresten sowie von Reliquien Heiliger und erhoffte sich durch Berührungen dieser Heiligtümer Hilfe, Schutz, Ansehen oder Macht zu erhalten (Herbers, 1998; Plötz, 1996). Menschen mit Gebrechen, Krankheiten oder geistig-seelischen Leiden machten dabei einen großen Anteil der Pilgerschaft aus. Die Pilgernden erhofften sich durch diese Bittwallfahrten Hilfe, Genesung 16 oder zumindest Linderung ihres Leids. Die Pilgerscharen, die sich zu einer Bittwallfahrt aufmachten, stiegen darüber hinaus zu Zeiten von Hungersnöten, Epidemien, Natur- oder anderen Katastrophen an. Um wiederum für geschehene Heilung Dank und Opfer zu bringen, brach man zu einer Dankwallfahrt auf. Der Urtyp des christlichen Pilgerns ist die vita peregrinationis oder peregrinatio pro Christo im Sinne von Markus 10, 19-31: Wahrlich ich sage euch: Niemand verläßt um meinetwillen und um des Evangeliums willen Haus, Bruder, Schwester, Mutter, Kind und Acker, ohne daß er alles hundertfach wiedererhält: schon jetzt in dieser Welt – wenn auch unter Verfolgungen – Haus, Bruder, Schwester, Mutter, Kind und Acker in der zukünftigen Welt das ewige Leben. Diese peregrinatio meint die Loslösung von allen heimatlichen, familiären und sonstigen Bindungen und macht aus dem Pilger einen zweiten Christus (Herbers, 1998; Plötz, 1996). Mit dem Pilgern hatte man außerdem durch Buße die Möglichkeit, sein Seelenheil trotz begangener Sünden zu sichern. Dementsprechend wurden sogar Geistliche gegen Bezahlung auf den Weg geschickt, die als sogenannte Berufspilger in Vertretung für das persönliche Seelenheil oder für das von Verstorbenen sorgen sollten. Neben den religiösen oder spirituellen Gründen spielten die pure Reiselust, das Abenteuer, Prestigegedanken, das Fernweh, akute Probleme zu Hause und wirtschaftliche Gründe eine große Rolle. Darüber hinaus wurde im Dienste der Sozialhygiene besonders im Spätmittelalter die Buß- oder Strafwallfahrt verordnet. Die Jakobusbewegung wurde von vornherein durch asturische Könige gefördert. Außerdem wird vermutet, dass das Reformkloster Cluny mit seinem ausgedehnten Netz an Klostertöchtern besonders die Organisation der Jakobuswallfahrten im 11. Jahrhundert unterstützte. Im zwölften Jahrhundert förderten und organisierten andere Institutionen die Pilgerschaft wie zum Beispiel Bischofskirchen, Kanonikergemeinschaften oder Ritterorden. Mit der Ausbreitung des Jakobuskultes entstanden Pilgerführer wie der Liber Sancti Jacobi, Sammlungen von Wundergeschichten, Pilgerlieder und Romanzen. Handwerker, Handels- und Wirtsleute verdienten mit der Jakobuspilgerschaft ihr Geld. Die Architektur und die Kunst war in ganz Europa durch Jakobus geprägt. Kirchen wurden gebaut, die sich 17 eigens für liturgische Feiern mit großen Pilgergruppen eigneten. Zu diesen Pilgerbasiliken gehört übrigens auch die Kathedrale von Santiago de Compostela (entstanden in den Jahren 1078-1211). Die zunehmend verbesserte Betreuung der Pilgernden durch kirchliche und sonstige Institutionen, der Ausbau von Hospizen, die wachsende Mobilität der Menschen und der technische sowie ökonomische Aufschwung sorgten um die Jahrtausendwende für eine Ausbreitung der Pilgerschaft zu einer Massenbewegung. Ein Höhepunkt dieser Bewegung wurde mit der Einführung des Heiligen Jahres erreicht (Herbers & Plötz, 2004). Das Aňo Santo Compostelano wurde ab dem 15. Jahrhundert, abgesehen von wenigen Ausnahmen, kontinuierlich immer dann ausgerufen, wenn der Festtag des Apostels (25. Juli) auf einen Sonntag fiel. Die Heiligen Jahre führten zu einem großen Pilgerandrang in Santiago de Compostela. Allerdings wurden schon zu dieser Zeit kritische Stimmen gegen die Heiligenverehrung und den Reliquienkult lauter. Die Reformation, Religionskriege, der Passzwang, die Überwachung im habsburgischen Spanien sowie Bestimmungen, die besonders wehrpflichtigen Männern Ausreiseverbot auferlegten, trugen dazu bei, die Pilgerströme einzudämmen. Die Französische Revolution, die Säkularisierung, die Auflösung von religiösen Instituten, von Stiftungen u. a. brachten die Pilgerschaft fast zum Erliegen. Ende des 19. Jahrhunderts bestätigte Papst Leo XIII. mit der Bulle „Deus omnipotens“ (1. November 1884) die wiederentdeckten Reste des heiligen Jakobus, die 1589 aus Furcht vor dem englischen Seefahrer und Piraten, Francis Drake, versteckt worden waren, als echt. Zwei Monate später begann das Heilige Jahr 1885. Von da ab kamen zu den Heiligen Jahren wieder Pilgerinnen und Pilger aus großen Teilen Europas (Plötz, 1996). Allerdings war diese Bewegung noch zögerlich. Leichte Ansätze zur Wiederbelebung der Wallfahrten wurden durch den spanischen Bürgerkrieg (1936-1939) beendet (Rabe, 2005), wobei Franco den heiligen Jakobus zur ideologischen Absicherung seiner staatlich-politischen Realitäten und Intentionen vereinnahmte. Mit dem Dekret Nr. 325 vom 21. Juli 1937 wurde der Apostel unter der Diktatur Francos wieder zum Schutzpatron Spaniens ernannt (Plötz, 1996). Die daraufhin wieder aufgenommene Pilgerfahrt zum heiligen Jakob beschränkte sich jedoch überwiegend auf Spanien. Erst ab Mitte der sechziger Jahre begann sie wieder europäischer zu werden. Seit dem Ende des zweiten Jahrtausends breitet 18 sich die Tradition der Fußpilgerschaft wieder enorm aus. 1989 1 verzeichnete das Pilgerbüro in Santiago noch 5760 ausgestellte Compostelas - Urkunden, die Pilgernde bei ihrer Ankunft erhalten. Für diese Urkunden muss man bei einer Fußpilgerschaft anhand der Stempel in seinem Pilgerausweis 100 Kilometer der Strecke nachweisen. Mittlerweile sind die Pilgerzahlen deutlich angestiegen. Im Jahr 2005 wurden 93 924 Pilgerinnen und Pilger registriert. Dabei kamen 76 674 zu Fuß, 16 985 mit dem Fahrrad, 242 zu Pferd und 23 nutzten sonstige Fortbewegungsmittel. Der Europarat erklärte am 23. Oktober 1987 die Jakobuswege zur „Ersten europäischen Kulturstraße“. 1993 nahm die UNESCO den spanischen Jakobusweg und die vier französischen Wege in die Liste des Weltkulturerbes auf. 1.2 Therapeutischer Kontext des Jakobuswegrojektes 1.2.1 Das St. Marien-Hospital Eickel Das St. Marien-Hospital Eickel ist eine Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Die Einrichtung liegt wenige hundert Meter vom Zentrum Eickels, einem Stadtteil der Stadt Herne im Ruhrgebiet, entfernt. Die Einwohnerzahl Hernes beträgt etwa 167 000 2 und mit einer Bevölkerungsdichte von rund 3300 Einwohnerinnen und Einwohnern je Quadratkilometer zählt die Stadt zu den am dichtesten besiedelten Städten in Deutschland. Die Klientel des St. Marien-Hospitals Eickel lebt in einer Region, deren wirtschaftliche Bedeutung durch den Bergbau sowie die Eisen- und Stahlindustrie bestimmt wurde. Die Bergbauvergangenheit prägt noch heute die Mentalität der Menschen und die Architektur der Region. Zu spüren sind auch die Folgen der Krise in der Montanindustrie und des seit 1966 beginnenden tiefgreifenden Strukturwandels, die sich in Herne unter anderem in einer hohen Arbeitslosenquote von rund 19% widerspiegeln. Der Rückzug der Montanindustrie aus Herne geht darüber hinaus mit einer Abwanderung von finanzkräftigen Bürgerinnen und Bürgern sowie mit einer 1 Quelle: Jakobus-Magazin. Ausgabe: September/Oktober, (2006). 2 Quellen: Stadt Herne, der Oberbürgermeister, (2005); Statistische Ämter des Bundes und der Länder, (2005). 19 zunehmenden Überalterung der Bevölkerung einher, was einer positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt entgegenwirkt. Ursprünglich wurde das gesamte Ruhrgebiet mit dem industriellen Aufschwung zur Einwanderungsregion. Entsprechend beträgt der Anteil der ausländischen Mitbürger und Mitbürgerinnen in Herne heute 12% und liegt damit über dem Bundesdurchschnitt von ca. 9%. Seit 1980 hat das St. Marien-Hospital Eickel die psychiatrische Pflichtversorgung für Herne übernommen. Das einstige Allgemeinkrankenhaus wurde ab 1977 nach und nach in eine psychiatrische Klinik umstrukturiert, die heute über 135 vollstationäre Betten, verteilt auf sieben Stationen verfügt. Das Behandlungsspektrum wird erweitert um eine Tagesklinik (15 Plätze), ein Übergangswohnhaus (Medizinische Rehabilitations- einrichtung) mit 16 Plätzen, ein multiprofessionelles Ambulanzteam, vier therapeutische Wohngemeinschaften und ein Krisendienst für die Stadt Herne. Alle Einheiten sind als Knotenpunkte eines psychosozialen Netzwerkes in der Stadt zu verstehen (Krisor, 2005). 1.2.2 Das therapeutische Konzept der Klinik Das Herner Modell einer Gemeindepsychiatrie mit offenen Türen leistet seit 25 Jahren die psychiatrische Pflichtversorgung für die Stadt Herne. Die Klinik arbeitet nach reformpsychiatrischen Ansätzen wie beispielsweise psychothérapie institutionelle (z. B. Ayme, 1994; Hofmann, 1983; Oury, 1976, 1983) und Modellen zur Gesundheitsförderung wie Empowerment (z. B. Keupp, 1999; Lenz, 2001; Krisor, 2002) oder Salutogenese (z. B. Antonovsky 1987/1997; Franke, 2001). Eine ausführliche Darstellung der Theorien, aus denen ein Konzept für die Herner gemeindepsychiatrische Praxis entwickelt wurde, findet sich bei Krisor (2005). In dem Bemühen um eine offene und gewaltfreie Psychiatrie wird sowohl auf eine Aufnahmestation als auch auf eine geschlossene Station verzichtet. Die Klientel wird nicht nach Gesichtpunkten vermeintlicher Homogenität eingeteilt, sondern auf allen Stationen herrscht Heterogenität sowohl hinsichtlich der Diagnosen als auch des Geschlechts, Alters, der Lebenskontexte und des sozioökonomischen Status. Darüber hinaus wird darauf geachtet, dass Zwangsmaßnahmen weitgehend gemieden werden. Dr. Matthias Krisor, der Leitende Arzt der Klinik, kommt in einer aktuellen Publikation diesbezüglich zu dem 20 Schluss: „... dass das Ziel der Gewaltfreiheit in Herne als ein gemeinsam akzeptiertes Qualitätskriterium moderner Gemeindepsychiatrie von Patienten, ihren Angehörigen, politisch und administrativ Verantwortlichen, Repräsentanten von Vereinen, Parteien und Kirchen und vielen anderen gewürdigt wird“ (Krisor, 2005, S. 236). Zur Gewährleistung dieses Qualitätskriteriums ist die Interdependenz von ethischen Prinzipien, allgemeinen Normen der Interaktion und psychiatrischen Strukturelementen (vgl. Krisor & Pfannkuch, 1998; Krisor, 2005) erforderlich, die sich wie folgt darstellen lässt: Abbildung 1: Interdependenz von ethischen Prinzipien, Strukturen und allgemeinen Normen der Interaktion Aus Aufgehoben in der Gemeinde (S. 121) von Krisor, M., 2005. Bonn: Psychiatrie-Verlag. 1. Ethische Prinzipien zum Menschenbild, Krankheits- bzw. Gesundheitsbegriff Die Patientinnen und Patienten sind in Herne keine passiven, zu versorgenden Invaliden, die ihr Schicksal in die Hände der „allwissenden“ Expertinnen und Experten legen. Sie werden als Nutzende der Institution verstanden (vgl. Krisor & Pfannkuch, 1997; Krisor & Pfannkuch, 1998), die diese in Kooperation mit anderen Nutzerinnern und Nutzern (z. B. Therapeuten, Ärzten, der Gemeinde u. a.) gestalten. Darüber hinaus werden sie vom frühesten Zeitpunkt ihres Aufenthaltes in ihrer Eigenaktivität, ihrer Eigenverantwortlichkeit und ihrem Selbsthilfepotential mobilisiert. Die Begegnung zwischen Psychiatrie-Betroffenen und therapeutisch Tätigen basiert auf einem subjektorientierten Menschenbild, das die therapeutische Beziehung und den gesamten therapeutischen Kontext prägt. Eine differenzierte Ausführung des Begriffes 21 Subjektorientierung findet sich bei Krisor (2005). Zur Begriffsklärung verweist er unter anderem auf die Bedeutung von Subjektorientierung aus der Sicht der psychothérapie institutionelle. Dort wird die Begegnung mit dem Anderen - in seiner Einmaligkeit als Person - als Kernelement des Paradigmas verstanden. Für die therapeutische Beziehung bedeutet das dortige Credo „recontrer le sujet“ - dem Subjekt begegnen - unter anderem, dass eine Begegnung zwischen Subjekt und Subjekt geschieht und nicht zwischen einem Subjekt, das ein Objekt behandelt. Diese seitens der französischen Reformpsychiater favorisierte therapeutische Haltung, zu der die Berücksichtigung des sozialen Kontextes sowie laut Krisor auch der unbedingte Respekt vor der Würde der Person, ihrer individuellen Biographie und ihren Bedürfnissen gehört, findet sich auch im Herner Modell wieder. Zu den Konsequenzen für die therapeutische Beziehung und für den gesamten therapeutischen Kontext, der aus einer subjektorientierten Perspektive resultiert, sagt er: Von einem allgemein gültigen, d. h. für jeden Menschen zutreffenden Menschenbild ausgehend, trifft man auf die Person, der Ehre und Anerkennung zukommt; der Person wird unabhängig von ihrem Tun und Lassen Würde zuerkannt. Der Respekt vor der Würde der Person bezieht sich aber auch auf die Symptomatik oder das auffällige Verhalten des kranken Menschen. Häufig repräsentieren die Symptome Anpassungsleistungen, Ergebnisse von Selbstheilungsversuchen und damit Leistungen des Subjekts im Sinne des ‘kleineren Übels’. (Krisor, 2005, S. 88) Diese Möglichkeit, Symptome zu verstehen und die subjektorientierte therapeutische Haltung minimiert repressives Vorgehen gegen abweichendes Verhalten und ist ein wichtiger Aspekt auf dem Weg zu einer gewaltfreien Psychiatrie. Subjektorientierung unterstützt und wird gleichzeitig verstärkt durch: - „Autonomie- und Bedürfnisorientierung, - Kompetenz- und Ressourcenorientierung, - Orientierung an Alltag und Lebenswelt sowie durch - Gesellschaftsorientierung“ (a. a. O., S. 80). Diese aufgeführten Aspekte sind als verschiedene Ebenen des Menschenbildes zu verstehen, zwischen denen Interdependenz besteht. Das Subjekt bzw. die Person steht dabei im Austausch und in Interaktion mit diesen Dimensionen. Dementsprechend wird 22 innerhalb des therapeutischen Konzeptes der bloße Fokus auf die Erkrankung der Patientinnen und Patienten samt einer rein instrumentalistischen, auf Diagnosesysteme (ICD-10; DSM-IV) reduzierten Herangehensweise abgelehnt. „Der Person wird a priori, also unabhängig von ihrem Tun und Lassen, Würde zuerkannt“ (a. a. O., S. 120). Die Subjektorientierung bietet eine Basis, innerhalb derer die Anerkennung und die Würde der Person unterstützt und erleichtert wird. „Der unbedingte Respekt vor der Würde der Person ist einerseits ethische Basis, hat aber andererseits vielfältige praktische Auswirkungen;“ (a. a. O.). Dieser Sachverhalt wird in den nachstehenden Punkten allgemeine Normen der Interaktion und gemeindepsychiatrische Strukturen dargestellt. 2. Allgemeine Normen der Interaktion Die unter Punkt 1 beschriebene subjektorientierte Begegnung hat eine partnerschaftlich geprägte therapeutische Beziehung zur Folge. In dieser Beziehung werden Entmachtungs- und Versorgungsmechanismen negiert (vgl. Krisor 2005). Abgelehnt wird auch eine therapeutische Haltung, innerhalb derer die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Klinik ihre Klientel vorwiegend be-handeln. Vielmehr geht es darum, dass Lösungsvorschläge, Bedürfnisse, Wünsche und Kompetenzen der Patientinnen und Patienten sowie die genannten Aspekte des Menschenbildes in die Therapiegestaltung einfließen. Respektierung der Selbstverantwortlichkeit und ihr Schutz haben oberste Priorität. Diese Interaktionsnormen bewirken in ihrer Gesamtheit einen respektvollen Austausch oder gegebenenfalls eine Ver-handlung zwischen ebenbürtigen Partnern und Partnerinnen, in der die Würde der Person zu jedem Zeitpunkt oder Schweregrad ihrer Erkrankung geachtet wird. Diese therapeutische Haltung gilt also auch oder gerade für die Interaktion mit zwangseingewiesenen Patientinnen und Patienten. Dabei spiegelt sich der Wille zur Kooperation beispielsweise in der Öffnung der Türen auf allen Stationen wider, da sich darin symbolisch ausdrückt, dass zwischenmenschliche Interaktion und Verhandlungswille einer mechanistischen Begrenzung vorzuziehen sind (vgl. Krisor & Pfannkuch, 1998). Der Wunsch nach einem würdevollen, respektvollen, partnerschaftlichen und konstruktiven Miteinander geht ferner aus der Autonomieorientierung innerhalb des therapeutischen Geschehens hervor (Krisor, 2005). Als konzeptionell verankertes Leitmotiv ermöglicht bzw. bewirkt Autonomieorientierung, dass auch „unfreiwillige“ Patientinnen und Patienten weitgehend selbstverantwortlich im therapeutischen Prozess 23 mitwirken können. In der konkreten gemeindepsychiatrischen Praxis kann dieses Anliegen unterschiedlich verwirklicht werden. Bei Patientinnen und Patienten, die per Psych-KG in die Institution eingewiesen wurden, beginnt die Umsetzung der Autonomie- und Bedürfnisorientierung schon mit der Frage: „Was können Sie und was können wir tun, damit die Zeit Ihrer hiesigen Unterbringung für Sie und für uns so erträglich wie möglich und auch so kurz wie möglich gehalten werden kann?“ (Krisor, 2005, S. 112). Autonomieorientierung erfordert - neben der bereits genannten partnerschaftlichen Begegnung innerhalb der therapeutischen Beziehung, des Respekts vor Selbstverantwortung und des Verzichts auf repressive institutionelle Strukturen - „ein breites Spektrum von therapeutischen Aktivitäten mit entsprechenden Wahlmöglichkeiten, ... Möglichkeit zur Mitgestaltung und demokratischen Kontrolle der Institution [sowie die] ... vielfältige Möglichkeit, sich zu artikulieren (z. B. Versammlungen auf Stationsebene, Vollversammlungen, Beiträge für die Hauszeitung, Delegierte etc.)“ (Krisor, 2005, S. 111). Zuzüglich der Aspekte Autonomie- und Bedürfnisorientierung bieten zahlreiche andere Bausteine der Institution Raum für eine Interaktion, innerhalb derer alle Ebenen des Menschenbildes wirksam werden. Am deutlichsten werden Einflüsse der Aspekte des Menschenbildes sowie die Aktivität des Interdependenzschemas in den Ateliers erkennbar. Das Atelier findet einmal wöchentlich statt. Zu den Inhalten dieser Veranstaltung gehören Vorträge oder Diskussionsforen, in denen die Patienten über ein Thema, auf dem sie Experten sind, oder über ein Hobby usw. referieren. Möglich sind auch Exkursionen, Kunstausstellungen oder Musikvorträge sowie andere kulturelle Veranstaltungen, die in der Klinik oder außerhalb der Institution stattfinden können. Die Devise im Atelier lautet: „Der Mensch ist nicht nur krank, wenn er krank ist“ (Krisor, 2005, S. 103). Das bedeutet unter anderem, dass der Mensch beim Eintritt in die Institution nicht auf die bloße Patientenrolle reduziert wird, sondern dass - besonders im Hinblick auf das Atelier - weiterhin seine sozialen Rollen, seine Interessen, Ressourcen und Kompetenzen geachtet werden. Diese Dimensionen einer Person fließen sowohl in den Therapieprozess als auch in die gemeinsame Gestaltung institutioneller Abläufe ein. Im Atelier und auch bei anderen gemeinsamen Aktivitäten (z. B. Ausflügen, Sportveranstaltungen, bei der Gestaltung der hauseigenen Zeitung u. a.) kommt es zum zwischenmenschlichen Austausch, innerhalb dessen alle Ebenen des Menschenbildes der bzw. des Einzelnen allseits realisiert und 24 weiter ausgebaut werden können. Als Tausch für ihren Einsatz erhalten die Beitragenden von der Gemeinschaft insbesondere Anerkennung und Würde. Dieses selbstbild- und selbstwertstabilisierende Feedback ist gerade bei psychischen Erkrankungen, die mit Selbstwertverlust einhergehen, als der gesundungsfördernde Effekt schlechthin zu betrachten. Entsprechend sollte während des psychiatrischen Aufenthaltes an den Ressourcen und Stärken des Menschen angesetzt werden, damit er aus ihnen Kraft für die Therapie gewinnen kann. Ein wesentliches Charakteristikum des Ateliers ist, dass sich hier alle Nutzenden der Institution (auch Besucherinnen und Besucher von außerhalb) begegnen und es zu einer Interaktion kommt, die sich jenseits der klassischen Rollenverteilung zwischen Klinikern bzw. Klinikerinnen und Patienten bzw. Patientinnen sowie Gesunden und Kranken bewegt. So treffen sich der Oberarzt, der Psychoseerkrankte und die Bürgerin aus der Gemeinde vornehmlich als Kunstinteressierte bei einer Vernissage in der Klinik. Der Kaninchenzüchter (in psychiatrischer Behandlung) gibt im Rahmen des Ateliers seine wertvollen Insidererfahrungen an ein gemischtes Forum bestehend aus Einwohnerinnen und Einwohnern der Gemeinde, Patientinnen und Patienten sowie Mitarbeitenden der Klinik weiter. Sie alle kommen zu dieser Veranstaltung, weil sie sich für die Informationen oder für die vortragende Person interessieren. Sie begegnen sich vordergründig in ihrer Rolle als Kaninchenzüchtende oder allgemein als Menschen, die sich für Tiere begeistern usw., jedoch weniger im Rahmen einer klinischen Rollenverteilung. Weitere konkrete Beispiele für Ateliers und ihre Auswirkungen auf den Gesundungsprozess sind bei Krisor (2005) ausgeführt. Im Hinblick auf die hier vorliegende Untersuchung und ihren Bezug zu den Normen der Interaktion ist das Jakobuswegprojekt als Atelier von besonderem Interesse. In der Entstehungsphase des Projektes ermöglichten die konzeptionell verankerten Normen der Interaktion, die den Blick der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf die Interessen und Kompetenzen (sowohl auf Patienten- als auch auf Mitarbeiterseite) zulassen, dass in einem Visitengespräch neben der Reflexion des aktuellen Therapieverlaufes, das Thema „Jakobusweg“ bzw. der berühmte Pilgerort „Santiago de Compostela“ laut wurde. Wie dann die Entwicklung von einem Visitengespräch zu einem Projekt ihren Lauf nahm und mit den Bausteinen der Institution unterstützt wurde, wird in Abschnitt 1.3.1 in dieser Arbeit näher dargestellt. 25 Zur Erläuterung der Normen der Interaktion müssen an dieser Stelle noch die Delegierten angeführt werden. Sie sind die gewählten Vertreterinnen und Vertreter der Interessen, Bedürfnisse oder Anliegen der Patientinnen und Patienten. Als Mitbetroffene schaffen sie Zugänge zu Bedürfnissen und Interessenslagen insbesondere von Patientinnen und Patienten, die sich aufgrund ihrer akuten Erkrankung nicht deutlich genug artikulieren können. Auf diese Weise ermöglichen sie ihnen als ihre Krisenassistenten weitestgehende Autonomie. Die Delegierten vertreten das Mitspracherecht der Patientinnen und Patienten bei der Gestaltung der Institution durch ihre Nutzenden. Sie vertreten die Klinik beim Empfang von Besuchergruppen und bei der Führung der Gäste durch das Haus. Darüber hinaus wirken sie bei Festen in der Gemeinde mit und organisieren eigene Projekte. Eine ausführliche Darstellung der Aufgabengebiete von Delegierten und ihrer konzeptionellen Bedeutung findet sich bei Krisor (2005). 3. Gemeindepsychiatrische Strukturen Als die drei Basiselemente der gemeindepsychiatrischen Strukturen bezeichnet Krisor (2005) den Verzicht auf die Aufnahmestation, die Heterogenität, d. h. die durchmischte Station nach Alter, Erkrankung, sozioökonomischen Status usw. und die offenen Türen auf allen Stationen. Dieser gemeindepsychiatrischen Trias (vgl. Krisor, 1992) wurden im Zuge der Weiterentwicklung des Konzeptes zwei weitere Elemente, nämlich das Atelier und die Delegierten, hinzugefügt (Krisor, 2005). Alle Aspekte der gemeindepsychiatrischen Strukturen stehen in Interdependenz zum Menschenbild und zu den allgemeinen Normen der Interaktion. Zusammengenommen fördern sie den Willen und die Voraussetzungen für die Öffnung der Psychiatrie gegenüber der Gemeinde. Die Integration der Einrichtung in der Gemeinde spiegelt sich bereits in der baulichen Lage der Klinik wider. Unmittelbar an das Klinikgelände angegliedert liegen Wohnhäuser, das Gebäude der Tagesklinik, eine katholische Pfarrkirche, ein Gemeindehaus, ein Friedhof und ein Kindergarten. Die offene Tür symbolisiert dabei u. a. die Öffnung der Psychiatrie für die Gemeinde. Der Verzicht auf eine geschlossene Aufnahmestation, in deren Setting sich psychopathologisches, aggressives Erleben und Verhalten wechselseitig bedingt und potenziert, sowie die therapeutisch induzierte Durchmischung sowohl nach Diagnose als auch nach Akutheit der Erkrankung sorgen für eine weitgehend ruhige und angstfreie Atmosphäre schon beim Eintritt in das Gebäude. Die allgemeinen Normen der Interaktion, 26 die ethischen Prinzipien - das Menschenbild sowie den Krankheits- bzw. Gesundheitsbegriff anbetreffend - fördern zusammen mit den gemeindepsychiatrischen Strukturelementen dieses Milieu in der gesamten Institution. Die Station ist gleichzeitig Aufnahme- und Entlass-Station. Dabei erfahren akut kranke Patientinnen und Patienten kontinuierliche und verlässliche personale Betreuung, die eine haltgebende Funktion hat und hilft, Krisensituationen zu überwinden sowie zu verkürzen. Die offenen Türen lindern dabei insbesondere bei neu aufgenommenen Patientinnen und Patienten Empfindungen der Erniedrigung oder aggressionsfördernde Ohnmachtsgefühle (Krisor & Pfannkuch, 1998). Der Stationsalltag richtet sich nach den Leitmotiven Öffentlichkeit und Normalität. Im klassischen Setting der Akutstation gehen diese Leitmotive unter, und die Subjektivität des Menschen mit seinen sozialen Rollen, seinen Ressourcen oder seinem gesamten Lebenskontext verliert - auch aufgrund der „Sortierung“ nach Krankheitsbildern - an Bedeutung. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, ist in Herne die therapeutisch indizierte Durchmischung konzeptionell verankert. Eine „heterogene Zusammensetzung der Patientinnen und Patienten einer Station fördert Kommunikation und Austausch, vielfältige gemeinsame Aktivitäten sowie ein kollektives Gefühl der Verantwortung im Rahmen der therapeutischen Gemeinschaft.“ (Krisor, 2005, S. 123). Sie arbeitet somit dem Fokus auf gestörtes Verhalten entgegen. Durch Heterogenität wird die Ballung besonders auffälliger psychopathologischer Phänomene aufgeweicht. Nach Krisor hat die „Ausdünnung“ problematischen und angespannten Verhaltens durch das Heterogenitätsprinzip auch eine gewaltpräventive Auswirkung und rückt das Leitmotiv Normalität in den Vordergrund des Stationsalltags. Als weitere Effekte von Heterogenität nennt er (a. a. O., S. 125): „Keine Reduktion der Person auf die Krankenrolle“, „Minderung des Chronifizierungsrisikos“ und „vielfältige Begegnungsmöglichkeiten und Anregungen“. Die Aspekte Delegierte und Atelier wurden bereits unter dem Punkt allgemeine Normen der Interaktion angesprochen. Aus ihrer Funktion als gemeindepsychiatrische Strukturen gehen Krisors Ansicht nach die folgenden positiven Effekte der Delegierten- und Atelierarbeit, die schon seit zwei Jahrzehnten in Herne fest institutionalisiert ist, hervor: - eine demokratische Kontrolle der institutionellen Verhältnisse, - die teilweise Aufhebung der strikten Trennung von drinnen und draußen und damit die Aufweichung des Ausschlusses des psychisch kranken Menschen aus der Gesellschaft, 27 - einen positiven Beitrag beim Erarbeiten eines gemeinsamen Bodens in der therapeutischen Beziehung, auf dem man sich auf gleicher Augenhöhe trifft, - Entwicklung eines positiven Bildes von Gemeindepsychiatrie in der lokalen Öffentlichkeit. (Krisor, 2005, S.122) Zur Entwicklung und Förderung eines positiven Bildes von (Gemeinde-)Psychiatrie in der Öffentlichkeit trägt auch die „Aufhebung“ der Beschäftigungstherapie in der Gemeinde bei. Dazu wurde in Anlehnung an das Konzept „Alltag als Therapie“ (vgl. Hildenbrand, 1991) die Idee entwickelt, einen Teil der Beschäftigungs- und Kreativtherapien aus der Institution auszulagern und die Angebote verstärkt in die Lebenswelt der Patientinnen und Patienten zu integrieren. Dabei wurden die Ressourcen der Gemeinde wie beispielsweise die Volkshochschule, der Stadtsportbund, das hiesige Volksbad, der lokale Sportverein usw. aufgegriffen, um therapeutisch an den Alltag der Patienten anzuknüpfen. Die Öffnung der Psychiatrie bedeutete auch, dass der Gemeinde als Tausch noch mehr Ressourcen der Klinik zur Verfügung gestellt wurden. Die Therapeutinnen und Therapeuten des St. Marien-Hospitals Eickel leiten VHS-Kurse, die auch für Bürgerinnen und Bürger der Stadt Herne und Umgebung zur Verfügung stehen. Die Sportveranstaltung „Spiel, Sport und Bewegung“ wird in der Sporthalle einer lokalen Schule angeboten und ist ein gemeinsames Projekt der Klinik, des Stadtsportbundes und eines Sportvereins. Dabei trainieren Patientinnen und Patienten gemeinsam mit Sportinteressierten aus der Gemeinde unter der Anleitung einer Übungsleiterin des Sportvereins sowie der Mitarbeitenden der Klinik aus dem Bereich der Bewegungs- und Physiotherapie. Der Kurs ist bereits seit zehn Jahren fester Bestandteil des Therapieplans wie auch des Veranstaltungsprogramms des Stadtsportbundes bzw. des Sportvereins. Weitere Beiträge des St. Marien-Hospitals zur Gesundheitsförderung für die Gemeinde, die über psychiatrische und psychotherapeutische Leistungen hinausgehen, werden im Rahmen der sogenannten Herner Gesundheitswoche offenkundig. Hier bieten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Klinik kostenlose Fortbildungsveranstaltungen zur Gesundheitsförderung und Prävention sowie zur Freizeitgestaltung an. Das Programm der Herner Gesundheitswoche beinhaltet beispielsweise seitens der Gemeindepsychiatrie angebotene professionelle Einführungen in das Nordic-Walking oder in das Seidenmalen, Beratungen zum Umgang mit pflegebedürftigen oder verwirrten alten Menschen, Ernährungsberatungen mit ergänzender 28 sportlicher Begleitung sowie von Patienten bzw. Patientinnen gemeinsam mit dem Klinikpersonal organisierte Trainingswanderungen der Jakobuspilgerinnen und -pilger u. a.. Den kontinuierlichen kulturellen Beitrag für die lokale Umgebung leisten die Ateliers, deren Monatsprogramm in der Gemeinde bzw. überregional publiziert wird. Abschließend kann das Folgende festgehalten werden: Die „Aufhebung“ der Beschäftigungstherapie in der Gemeinde: - realisiert und vertieft Subjekt-, Autonomie, und Bedürfnisorientierung, Kompetenz- und Ressourcenorientierung; - fördert unentfremdete Sozialbeziehungen in natürlichen Kontexten (zum Beispiel gemeinsamer Sport im Verein, künstlerische Aktivität im VHS-Kurs) und lässt Psychopathologie in den Hintergrund treten; - fördert ein positives Selbstbild und Selbstsicherheit in der Wahrnehmung (bei besonderen Aktivitäten); - reduziert die eigene Rollenzuschreibung als Psychiatriepatient, diese tritt in den Hintergrund; - fördert den Aufbau informeller Netzwerke und alltagsweltlicher Aktivitäten in der Gemeinde Halt gebende Tagesstrukturierung, die auch in Krisensituationen prophylaktisch wirken kann; - fördert weitere Kooperationsbeziehungen zwischen den Trägern öffentlichen Gemeindelebens und der Gemeindepsychiatrischen Klinik; - trägt zu einem positiveren Bild von Psychiatrie in der Öffentlichkeit bei und erleichtert somit ihre Inanspruchnahme. (Krisor, 2005, S. 161) Die weitestgehende Umsetzung dieser Aspekte sowie des gesamten Interdependenz- schemas erfolgt unter anderem im Jakobuswegprojekt. Die nun folgenden Ausführungen widmen sich der Entstehung und der Organisation des Projektes. 29 1.3 Das Projekt 1.3.1 Die Entstehung „Ich weiß noch, wie (mit hohem Einsatz von Körpersprache) das Schlagwort ‘der Sternenweg’ fiel. - Vier Sterne stehen in einer Linie in Richtung Westen über dem Jakobusweg. Wanderer orientieren sich an ihnen. – Ich glaube, es war das Mystische, das Hoffnungsvolle, ein Hauch von Abenteuer, das der Sternenweg ausstrahlte und das mich faszinierte. Dennoch hätte ich zu diesem Zeitpunkt nie daran gedacht, dass wir diesen Weg einmal tatsächlich begehen würden“ (Möller, 2003, S. 197). So erinnert sich David Möller, der Mitbegründer des Jakobuswegprojektes, an die ersten mentalen Schritte auf dem historischen Pilgerweg, als Ende 1994 der „Jakobusweg“ zum Thema eines Visitengespräches zwischen ihm und Matthias Krisor wurde. Das Thema setzte sich nicht nur in den nachfolgenden Visiten fort, sondern wurde auch zum Gespräch auf der Station. Offenbar nahmen auch andere Patientinnen und Patienten gerne das Angebot wahr, sich mit etwas anderem zu beschäftigen als mit Krankheit und Problemen. Der Jakobuspilger in spe hielt gemeinsam mit Matthias Krisor Ausschau nach Spuren des mittelalterlichen Pilgerweges in der Region. Es kam zu Begegnungen mit interessanten Menschen wie z. B. Schwester Gaudentia, einer Ordensfrau, die ausgerechnet in der Heimatgemeinde des Pilgers lebt und die eine Expertin auf diesem Gebiet ist oder mit Annemarie Schmoranzer, der Autorin des Buches „Wege der Jakobuspilger im Kurkölnischen Sauerland“ (1994) und noch vielen anderen versierten Kennerinnen und Kennern des Jakobusweges (vgl. Möller, 2003). Es sind Menschen, die das Projekt teilweise heute noch unterstützen und die mit den Pilgerinnen und Pilgern am St. Marien- Hospital Eickel eng verbunden sind. Den Begegnungen und Recherchen folgten zwei Ateliers, in denen jeweils ein Videofilm über den historischen Pilgerweg gezeigt wurde. Der Zuwachs an Wissen befähigte Möller inzwischen zur Einführung des Publikums in das Thema, bevor die Filme gezeigt wurden. „Ich weiß noch wie nervös ich war, aber das klappte. Ich hatte meine ersten Erfolgserlebnisse mit dem Jakobusweg-Projekt. Seit langer Zeit habe ich wieder vor einer größeren Gruppe von Menschen gesprochen“ (Möller, 2003, S. 198-199). Mittlerweile wuchs auch der Kreis der Interessierten sowohl auf Patienten- als auch auf Mitarbeiterseite, so dass Ende 1995 das erste Treffen der „Freunde des Jakobusweges“ im 30 Konferenzraum des St. Marien-Hospitals Eickel stattfinden konnte. Der vorerst kleine Interessiertenkreis förderte den Ausbau des Projektes, indem beispielsweise auswärtige Jakobuspilgerinnen und -pilger als Referierende in Ateliers eingeladen wurden (hier und im Folgenden nach Krisor, 2005). Diese berichteten von ihren Erfahrungen auf dem Jakobusweg, den sie in unterschiedlichsten Formen der Fortbewegung bewältigten (z. B. zu Fuß, per Fahrrad oder zu Pferd). So wurde der Funke, der in dem Visitengespräch auf den Patienten übersprang durch Gespräche und Begegnungen mit weiteren Interessierten, durch den Austausch in Ateliers, während der Exkursionen zu anderen Expertinnen und Experten, durch die hauseigene Zeitung immer weiter getragen. Schließlich brach 1996 die erste Gruppe der „Freunde des Jakobusweges Herne-Santiago de Compostela“ zu ihrer Etappe von Köln bis Trier auf. Seitdem befinden sich die Jakobuspilgerinnen und -pilger am St. Marien-Hospital Eickel jedes Jahr mit jeweils rund 18 Teilnehmenden auf dem Weg. Die Krankenkassen erkannten zunächst den gesundungsfördernden Effekt der Pilgerreisen, der unter anderem darin festzumachen war, dass er den Krankenhausaufenthalt häufig verkürzte, und zahlten den täglichen Pflegesatz. Auf diese Weise konnten stationäre Patientinnen und Patienten an der Pilgerreise teilnehmen. Sie machten etwa die Hälfte der Gruppe aus. Bei den weiteren Mitgliedern handelte es sich jeweils um ein multiprofessionelles Team von vier Mitarbeitenden, um ehemalige oder ambulant bzw. tagesklinisch betreute Patientinnen und Patienten. Mit der Begründung, dass die Jakobuswanderung nicht zum Behandlungsspektrum der stationären Therapie gehört, weigern sich die Krankenkassen seit 2003, die Pflegesätze weiter zu entrichten, so dass vollstationäre Patientinnen und Patienten nicht mehr an dem therapeutischen Projekt teilnehmen können. Nach 1996 setzte die Wandergruppe ihren Weg in folgenden Etappen fort: Es ging weiter von Trier bis Toul (1997), von Toul bis Dijon (1998), von Dijon bis Saint-Cyr-le-Chatoux (1999), von Saint-Cyr-le-Chatoux bis Saint Alban-sur-Limagnole (2000), von Saint Alban- sur-Limagnole bis Figeac (2001), von Figeac bis Moissac (2002), von Moissac bis Latrille (2004), von Latrille bis St.-Jean-Pied-de-Port (2005) und im Jahr 2006 erreichten die Jakobuspilgerinnen und -pilger Ventosa in Spanien. 31 1.3.2 Die Projektarbeit Vor und nach der Jakobuswanderung, die jeweils im Spätsommer stattfindet, erfordert die Aufrechterhaltung des Projektes viel Engagement seitens der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Um die körperliche und psychische Fitness der neuen Interessentinnen und Interessenten erproben zu können, werden Trainingswanderungen in der Region angeboten. Die Vorbereitung und Durchführung dieser Wanderungen geschieht in Eigenregie der Gruppe. Diese trifft sich jeden ersten und dritten Mittwoch im Monat, um entsprechende Organisationsarbeiten durchführen zu können. Dabei stellt das Organisationsteam die zuvor erprobte Wanderstrecke (ca. 15-20 km) auf Wanderkarten vor. Die jeweiligen Personen verweisen auf Besichtigungspunkte und organisieren gegebenenfalls Führungen zu diesen Sehenswürdigkeiten. Außerdem zeichnen sie mögliche Rastplätze respektive Parkmöglichkeiten für den begleitenden PKW in die Wanderkarten ein. Mit dem Begleitfahrzeug wurde für die noch nicht trainierten Neuzugänge die Gelegenheit eingeräumt, ein Stück Weg mit dem PKW fahren zu können. Diese Möglichkeit besteht auch während der Jahresetappe in Frankreich und wurde in den logistischen Ablauf der Jakobuswanderung zur physischen aber auch psychischen Entlastung der Anfängerinnen und Anfänger eingeplant. Die Trainingswanderungen haben das Ziel, den Wanderalltag der Jakobuswanderung so authentisch wie möglich abzubilden. Es geht darum, Anwärterinnen und Anwärter schon rechtzeitig in die logistischen Abläufe einzuführen, ihnen die Gelegenheit zu geben, sich im Lesen der Wanderkarten zu erproben sowie Wander- und Gruppenregeln kennen zu lernen. Des Weiteren müssen sich alle Beteiligten miteinander vertraut machen und ihre Gruppenfähigkeit überprüfen. Neben der Trainingswanderungen steht Öffentlichkeitsarbeit im Vordergrund des Projektes. Der Rückzug der Krankenkassen aus der Finanzierung der Pilgerreisen verstärkt den Bedarf an Öffentlichkeitsarbeit und verlangt intensives Bemühen um Sponsorinnen und Sponsoren. Dazu veranstaltet die Gruppe Ateliers oder hält Vorträge in der Volkshochschule. Sie wird auch eingeladen zu Informationsabenden wie z. B. dem traditionellen Kettwiger Santiagoabend, veranstaltet von den Kettwiger Geschichts- und Museumsfreunden e. V. (Leitung Dr. H. G. Engelhardt). Dort tragen Jakobuspilgernde ihre Erfahrungen sowie die ihnen bekannten neuesten Entwicklungen auf dem Jakobusweg zusammen. Neben diesen Informationsveranstaltungen gibt es offizielle Feierlichkeiten zum Jakobusweg, an denen die Pilgergruppe teilnimmt. Beispielsweise waren 32 Vertreterinnen und Vertreter der Gruppe Gäste bei einer Steleneinweihung in Brühl, die von dem Landschaftsverband Rheinland veranstaltet wurde. Die Wanderinnen und Wanderer sind zudem wichtige Referenten bei bedeutenden bundesweiten Tagungen und Kongressen zu psychiatriepolitischen Aspekten. Dort überzeugen sie mit persönlichen Erfahrungsberichten von den gesundungsfördernden Effekten des Jakobuswegprojektes. Die Pilgergruppe sorgt ferner für regelmäßige Publikationen in der hauseigenen Zeitung, in der lokalen aber auch überregionalen Presse und veröffentlicht Erfahrungsberichte in Kongressbänden zum Herner Gemeindepsychiatrischen Gespräch (z. B. Möller, 2003; Wiemers, 2003; Brieseck, 2004; Krisor, 2005). Diese umfassende Öffentlichkeitsarbeit geht mit der Vorbereitung auf die Jahresetappe einher. Die Planung der Pilgerreise im Spätsommer startet schon im Frühjahr. Dabei wird eine Strecke des Jakobusweges von rund 200 Kilometern bestimmt. Eine Kleingruppe ermittelt dann, welche und wie viele Wanderkarten für dieses Stück Weg benötigt werden und markiert die jeweiligen Tagesetappen in diesen Karten. In den Jahren 1996 bis 2003 machten sich daraufhin ein Mitarbeiter und zwei Teilnehmende auf die sogenannte Vortour, um vor Ort die zuvor ermittelten Pensionen oder Hotels auf ihre Tauglichkeit für das Konzept des Projektes zu überprüfen. Es sollte beispielsweise aus therapeutischen Gründen möglich sein, dass die Gruppe gemeinsam zu Abend isst und die französische Esskultur kennen lernen kann. Wichtig ist auch ein Raum, in den sich die Teilnehmenden zur Planung des nächsten Tages gemeinsam zurückziehen können. Räumliche Gegebenheiten sind auch im Hinblick auf regelmäßig stattfindenden gemeinsamen Reflexionsrunden von Bedeutung. Sofern es die zeitaufwändige Buchungsarbeit und die Verhandlungen mit Hoteliers - denn auch der finanzielle Rahmen muss eingehalten werden - zuließen, konnten die Teilnehmenden auf der Vortour noch Informationen zur Kultur und zu den Besonderheiten der Region einholen, mit denen sich die Pilgergruppe noch besser auf die Wanderung vorbereiten konnte. Die Vortour bildete das Fundament für die Umsetzung der Projektkonzeption. Die Organisation der Unterkünfte sowie die Verhandlungen mit Hoteliers stellten dabei einen wesentlichen therapeutischen Schritt dar. Die Kleingruppe übernahm mit dieser Tätigkeit die Verantwortung für die wichtigsten Rahmenbedingungen der gesamten Pilgerreise. Einen wichtigeren und verantwortungsvolleren Posten, als die Gewährleistung einer logistisch optimal gelegenen, komfortablen Unterkunft mit guter Verpflegung und gruppengerechten 33 räumlichen Rahmenbedingungen, die dazu noch den Ansprüchen von 18 Personen gerecht werden sollte, gab es in dem gesamten Projekt nicht. Entsprechend hoch war der therapeutische Effekt anzusiedeln, sofern diese Anforderung erfolgreich bewältigt wurde. Es gab kaum vergleichbare Aufgabengebiete, die so viel Anerkennung und positive Wertschätzung seitens der Gruppe in Aussicht stellten. Umso tragischer ist es, dass auch die Vortour aus Kostengründen eingestellt werden musste. Die gesamte Organisationsarbeit geschieht nun von Herne aus unter Rückgriff auf technische Ressourcen wie den PC oder das Telefon. Im Sommer laufen dann die Vorbereitungen auf Hochtouren an. Vor dem Aufbruch zur Jakobuswanderung werden die Wanderinnen und Wanderer feierlich verabschiedet. Dazu stellt die Pilgergruppe ein Programm zusammen, organisiert die musikalische Begleitung, lädt Sponsorinnen und Sponsoren ein usw.. Auf dieser festlichen Abschiedsfeier erhalten die Wanderinnen und Wanderer ihren traditionellen Pilgersegen und werden mit Grußworten seitens langjähriger Förderer und Förderinnen des Projektes, der Patientinnen und Patienten sowie der Leitung der Klinik, des Psychiatriekoordinators, des Oberbürgermeisters und mit der Wertschätzung vieler bedeutender lokaler Persönlichkeiten und Verbände auf den Weg geschickt. Bisher erreichte die Gruppe nach einer Zwischenübernachtung zunächst in Dijon, später dann in Orléans mit ihren zwei Kleinbussen ihr erstes Hotel. Auf der Etappe 2005 wurde aufgrund der immer längeren Anreise die erste Unterkunft angeflogen und die Fahrzeuge vor Ort gemietet. Während der gesamten Wanderung bezieht die Gruppe zwei Unterkünfte, von denen aus sie ihre jeweilige Tagesetappe ansteuert. Nach einem gemeinsamen typisch französischen Frühstück fahren die Wanderer und Wanderinnen zu einem Supermarkt, um sich mit dem notwendigen Proviant und Wasser für den Tag zu versorgen. Ihr Startpunkt ist am Anfang der Jakobuswanderung der Endpunkt der letzten Jahresetappe. Danach knüpft jede Tagesetappe am Endpunkt der vorangegangenen Tagesetappe an. Um erschöpften Pilgernden während einer Tagestour Erholungsphasen einzuräumen, wird ein Kleinbus zum Ziel der Etappe befördert, während das weitere Fahrzeug die Gruppe von Pausenpunkt zu Pausenpunkt begleitet. Im Zuge der etwa vierzehntägigen Pilgerreise gibt es zwei Ruhetage. Diese Tage dienen vornehmlich der Erholung, sie sind jedoch auch so geplant, dass die Gruppe sich gerade in der Nähe eines berühmten Pilgerortes oder einer interessanten Sehenswürdigkeit befindet, der sie sich eingehend widmen kann. 34 Der Tagesablauf endet immer mit einem gemeinsamen ausgedehnten Abendessen an einer großen Tafel. Das Essen wird von einem Gruppenmitglied mit einem Wort zum Tag eröffnet, und es endet mit einem Schlusswort. Nach der Pilgerreise kehren die Wanderinnen und Wanderer mit vielen Erlebnissen und Eindrücken zurück. In Herne werden sie bereits neugierig erwartet. Erste Reiseberichte werden in der Zeitung der Klinik veröffentlicht, und es geht an die Vorbereitung des Jakobus-Ateliers, in dem die Pilgernden mit Bild- und Filmmaterial ihre Erinnerungen wieder aufleben lassen. Das Jahr der Freunde des Jakobusweges Herne-Santiago de Compostela endet feierlich mit dem Jakobusweihnachtsessen. Dazu stellen alle Beteiligten ein Menu zusammen, das aus den Spezialitäten der jeweiligen Region besteht, die sie während der Wanderung kennen gelernt haben. Diese Gerichte werden gemeinsam zubereitet und an einer festlich gedeckten Tafel verzehrt. Das Menu wird auch hier traditionell mit einem Rückblick auf das vergangene Jahr eröffnet und schließt mit einem Ausblick auf das nächste Jahr. 35 2. Das Konzept der Salutogenese 2.1 Salutogenese Der Begriff „Salutogenese“ (Salus, lat.: Unverletztheit, Heil, Glück; Genese, griech.: Entstehung) wurde von Aaron Antonovsky (1923-1994) geprägt. Der amerikanisch- israelische Medizinsoziologe wollte mit diesem Neologismus den Gegensatz zur im Gesundheitssystem dominierenden pathogenen Orientierung hervorheben. Das pathogenetische Paradigma findet sich im biomedizinischen Modell moderner Industriestaaten wieder und wird von Antonovsky (1993) als solches bezeichnet, da es seinen Fokus auf die Entstehung, den Verlauf und die Therapie von Pathologie legt. Anstatt sich auf die Suche nach Krankheitserregern und Risikofaktoren zu machen und zu überlegen, was den Menschen krank macht oder wie Krankheiten verhütet werden können, stellt sich Salutogenese die Frage, warum und wie es Menschen überhaupt gelingt, gesund zu bleiben - in Anbetracht der Allgegenwärtigkeit pathogener Einflüsse und der Vielzahl an Risikofaktoren. Aaron Antonovsky (1987/1997) fasst die Grundannahmen der salutogenetischen Denkweise in der folgenden Flussmetapher zusammen: ... meine fundamentale philosophische Annahme ist, daß der Fluß der Strom des Lebens ist. Niemand geht sicher am Ufer entlang. Darüber hinaus ist für mich klar, daß ein Großteil des Flusses sowohl im wörtlichen, wie auch im übertragenen Sinne verschmutzt ist. Es gibt Gabelungen im Fluß, die zu leichten Strömungen oder in gefährliche Stromschnellen und Strudel führen. Meine Arbeit ist der Auseinandersetzung folgender Frage gewidmet: Wie wird man, wo immer man sich in dem Fluß befindet, dessen Natur von historischen, soziokulturellen und physikalischen Umweltbedingungen bestimmt wird, ein guter Schwimmer? (S. 92) Die Metapher verdeutlicht, dass wir ständig einer Flut von Stimuli ausgesetzt sind, die von uns Anpassungsleistungen erfordern. Daher macht sich Salutogenese nicht die Beseitigung des Allgegenwärtigen zur Aufgabe und sucht nicht nach der „Wunderwaffe“ gegen Krankheitserreger. Vielmehr konzentriert sich Salutogenese auf die Ressourcen, die die Adaption an eine mit Stressoren permanent angefüllte Umgebung unterstützen, denn wie die Flussmetapher zeigt, müssen wir ständig schwimmen, egal wie stark der Fluss 36 verschmutzt ist und unabhängig davon, ob der Strom des Lebens ruhig fließt oder schneller und gefährlicher wird. Neben Antonovskys Modell, gibt es noch weitere verwandte Konzepte zur Salutogenese wie z. B.: Widerstandsfähigkeit (Kobasa, 1979, 1982), Stamina (Thomas, 1981, Colerick, 1985), Kontrollüberzeugung (Rotter, 1966), Selbstwirksamkeit (Bandura, 1977, 1982) oder gelernter Einfallsreichtum (Rosenbaum, 1988). Diese Konzepte stehen in der Tradition der Stress- und Coping-Forschung nach Lazarus (vgl. Lazarus 1981, Lazarus & Folkmann, 1984). Dabei gilt das Salutogenese-Modell nach Antonovsky als am weitesten entwickelt (Bengel et al., 1998; Franke, 1997). 2.2 Salutogenese - Pathogenese Homöostase oder Überwindung der Heterostase? Antonovsky (1987/1997) sagt, das Kernstück der salutogenetischen Orientierung sei die grundlegende philosophische Sichtweise, der menschliche Organismus befände sich „prototypisch in einem dynamischen Zustand eines heterostatischen Ungleichgewichts“ (S. 124). Ferner führt er an einer anderen Stelle als fundamentales Postulat an, dass „Heterostase, Altern und fortschreitende Entropie die Kerncharakteristika aller lebenden Organismen“ (a. a. O., S. 29) seien. Eben diese Annahme von Heterostase als Normalfall betrachtet er als krassen Gegensatz zur pathogenetischen Orientierung, die von der Homöostase als Regelfall ausgeht. Nach Antonovsky (1993) ist Gesundheit kein sich selbstregulierender normaler Gleichgewichtszustand, der hin und wieder durch ungünstige Faktoren ins Ungleichgewicht gerät. Gesundheit ist ein permanenter Prozess, der sich in einem lebenden Organismus, einem System abspielt. Den Gesetzen der Thermodynamik folgend sind alle Systeme der Kraft der Entropie, der Unordnung, des Chaos und des Zerfalls ausgeliefert. Somit bedarf Gesundheit der ständigen Energie und der Fähigkeit zur negativen Entropie. Dabei befindet sich der Organismus trotz des kontinuierlichen Wiederaufbaus von Ordnung - also von Gesundheit - in einer allgegenwärtigen Tendenz zum Verlust seiner organisierten Strukturen - zum Verlust von Gesundheit. Dementsprechend ist in der salutogenetischen Orientierung Krankheit kein 37 Ausnahmezustand und wird gleichsam mit dem Altern und dem Tod als natürlicher, zum Leben gehörender, Prozess verstanden. 2.3 Das Gesundheits-Krankheits-Kontinuum Der Vergleich des Lebens mit einem Fluss, der nur in eine Richtung fließen kann und das Verstehen des menschlichen Organismus als ein System, das wie alle Systeme fortschreitender Entropie unterliegt, obwohl der Mensch ständig Energie in den Wiederaufbau von Ordnung - von Gesundheit - investiert, implizieren bereits, dass es nach Antonovsky einen Zustand absoluter Gesundheit gar nicht geben kann. Genauso wenig existiert seiner Ansicht nach, so lange wir leben, ein Zustand völliger Krankheit. „Wir sind alle sterblich. Ebenso sind wir alle, solange noch ein Hauch Leben in uns ist, in einem gewissen Ausmaß gesund“ (Antonovsky, 1987/1997, S. 23). Dementsprechend lehnt Antonovsky den im pathogenen Paradigma verankerten dichotomen Ansatz im Verständnis von Gesundheit und Krankheit ab. Anstelle der Betrachtung von Gesundheit und Krankheit als sich zwei ausschließende Zustände schlägt er ein multidimensionales Kontinuum mit den zwei Polen health-ease (Gesundheit/Gesundung) und dease-ease (Ent-Gesundung) vor. Menschen befinden sich je nach momentaner Lebenssituation oder ihrer Biographie respektive ihrer Quellen zur negativen Entropie näher dem Gesundheits- oder dem Ent- Gesundungspol. Darüber hinaus können sie auf einer Dimension des Kontinuums, z. B. auf der psychischen, recht nahe dem Krankheitspol platziert sein, wohingegen sie sich gleichzeitig auf der körperlichen Ebene in der Nähe von health-ease befinden könnten. Im salutogenetischen Konzept sind Gesundheit und Krankheit keine plötzlichen Ereignisse oder Zustände, sondern werden als die Prozesse Gesundung bzw. Ent-Gesundung verstanden, die in der Lebensgeschichte eines Menschen eingebettet sind. Diese Betrachtungsweise wirkt sich nach Antonovsky (1987/1997) wie folgt auf die Behandlung von Krankheiten aus: Die dichotome Klassifizierung von Menschen in „gesund“ oder „krank“ verleitet zu einer eingeschränkten Sichtweise der medizinisch Tätigen auf kranke Menschen. Die Aufmerksamkeit liegt dann auf der Pathologie und deren Behandlung. Vernachlässigt wird jedoch so die Wahrnehmung des Menschen als Person und der 38 Einbezug seiner Lebensgeschichte in die Therapie, also die Geschichte der Ent- Gesundung. Damit fehlt dem Pathogenetiker bzw. der Pathogenetikerin tiefergehendes Verständnis und Wissen, um sich mit den Patientinnen und Patienten dem gesunden Pol des Kontinuums nähern zu können. 2.4 Das Kohärenzgefühl Antonovsky (1987/1997) versteht das Kohärenzgefühl (sense of coherence oder SOC) als eine stabile dispositionale Einstellung einer Person, mit der sie die Welt und das Leben in ihr als kohärent (zusammenhängend und sinnvoll) erlebt. Aus seiner Sicht handelt es sich um eine Hauptdeterminante dafür, welche Position ein Individuum auf dem Gesundheits- Krankheits-Kontinuum erhält. Denn die Ausprägung dieser Weltsicht bestimmt, wie ein Mensch mit Belastungen umgeht und somit auch seine Gesundheit. Antonovsky (1987/1997) definiert das Kohärenzgefühl als: ... eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, daß 1. die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersagbar und erklärbar sind; 2. einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen; 3. diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engagement lohnen. (S.36) Er nennt die drei Teilkomponenten des SOC Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit. Für ein starkes Kohärenzgefühl ist nicht erforderlich, dass der Mensch seine gesamte Umwelt und sein ganzes Leben als überschaubar, handhabbar und bedeutsam wahrnimmt. Es handelt sich vielmehr um eine Orientierung, die sich in den Lebensbereichen auswirkt, die für eine Person von Bedeutung sind. Damit ist gemeint, dass Menschen ihre Umwelt eingrenzen in Bereiche, die ihnen wichtig sind. Was sich außerhalb dieser Bereiche abspielt, interessiert sie nicht – auch wenn sie die Ereignisse dort als verstehbar, handhabbar oder bedeutsam erleben. Manche Menschen setzen ihre Grenzen grundsätzlich 39 weiter, andere wiederum eher enger. Darüber hinaus erfordern unterschiedliche Lebenssituationen, dass der Mensch Grenzen der bedeutsamen Umwelt temporär enger setzen muss, um Anforderungen besser verstehen und handhaben zu können. Diese Grenzen können dann wieder weiter gesetzt werden, sobald die Erweiterung der persönlichen Umwelt um neue wichtige Lebensfelder sinnvoll wird. Sowohl die vorübergehende Beschränkung der persönlichen Umwelt auf das Wesentliche zur besseren Verstehbarkeit und Handhabbarkeit der Lebenssituation als auch die Bereicherung des Lebens um neue sinngebende Dimensionen stärken bei gekonnter Handhabe das SOC. Daher ist zur Aufrechterhaltung einer kohärenten Sichtweise der Welt eine Flexibilität in der Grenzziehung notwendig. Wichtig ist aber nach Antonovsky, dass dabei die eigenen Gefühle, die unmittelbar personalen Beziehungen, die eigene Tätigkeit und existentielle Fragen wie z. B. Tod, unvermeidliches Scheitern, persönliche Fehler, Konflikte und Isolation nicht jenseits der Bedeutungsgrenze eines Menschen liegen. Sollte das der Fall sein, dann ist das ein Indiz für ein geringes Ausmaß an Bedeutsamkeit, und die Erhaltung eines starken SOC ist damit nicht möglich. Wie schon erwähnt, ist das Kohärenzgefühl aus Antonovskys Sicht eine stabile, dauerhafte und generalisierte Orientierung, die in den individuell definierten wichtigen Lebensbereichen zur Geltung kommt. Er betrachtet ihre Entwicklung im Erwachsenenalter (mit ca. 30 Jahren) als abgeschlossen, was bedeutet, dass der individuelle SOC-Wert - ermittelbar durch den von Antonovsky (1987/1997) entwickelten Fragebogen zur Lebensorientierung - im Erwachsenenalter relativ stabil bleibt. Auch wenn zufällige einschneidende Lebensereignisse oder neue soziale Rollen diesen Wert vorübergehend ansteigen lassen, pendelt er sich nach Antonovsky auf das persönliche SOC-Niveau wieder ein. Daher die Bezeichnung dieser globalen Lebensorientierung als ‘durchdringend’, ‘andauernd’ und ‘dennoch dynamisch’. Lediglich Stimuli, die auf lange Sicht (Antonovsky spricht dabei von mehreren Jahren) andere Lebenserfahrungen zur Verfügung stellten, die durch verschiedene Grade von Konsistenz, Belastungsbalance und Teilnahme an sozial anerkannten Entscheidungs- prozessen gekennzeichnet sind, könnten allmählich Veränderungen erfolgen. Mittlerweile gibt es Studien (Callahan & Pincus, 1995; Frenz et al., 1993; Larsson & Kallenberg, 1996; Rimann & Udris, 1998; Sack et al., 1997), die Hinweise auf die Stärkung des Kohärenzgefühls im zunehmenden Alter liefern und Antonovskys Annahme somit in Frage 40 stellen. Jedoch stehen für fundierte Aussagen zur Veränderbarkeit des SOC noch Längsschnittuntersuchungen aus (Franke, 1997; Bengel et al. 1998). 2.5 Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit Die drei Teilkomponenten des Kohärenzgefühls definiert Antonovsky (1987/1997) als Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit. Im Folgenden werden die drei Ebenen erläutert und ihre Entwicklung dargestellt. 1. Verstehbarkeit Diese kognitive Ebene definiert Antonovsky (1987/1997) als: „... das Ausmaß, in welchem man interne und externe Stimuli als kognitiv sinnhaft wahrnimmt, als geordnete, konsistente und klar strukturierte Informationen und nicht als Rauschen – chaotisch, ungeordnet, willkürlich, zufällig und unerklärlich“ (S. 35). Personen mit einem hohen Ausmaß an Verstehbarkeit vertrauen darauf, dass Stimuli, denen sie in Zukunft begegnen, vorhersehbar sein werden. Sollten die Stimuli tatsächlich überraschend auftreten, gehen diese Menschen davon aus, dass diese Stimuli richtig eingeordnet und erklärt werden können. Die Verstehbarkeitskomponente wird im Kindes- im Jugend- und im Erwachsenenalter hauptsächlich durch die Erfahrung von Konsistenz gefördert. In der Kindheit, und zwar schon im Säuglingsalter, überprüfen junge Menschen laut Antonovsky wie junge Forscherinnen und Forscher täglich die Hypothese, dass es Beständigkeit und Kontinuität gibt. Sie erleben, dass sich Dinge wiederholen, wichtige Personen verschwinden können, aber dass - im günstigen Fall - Verlass darauf ist, dass sie wiederkommen. Außerdem werden ihnen Stimuli von innen sowie von außen immer vertrauter und vorhersehbarer. Auf diese Weise gewinnt der Mensch im Kindesalter zunehmend die Überzeugung, „daß Verlaß darauf ist, daß seine physikalische und soziale Umwelt sich nicht ständig verändern“ (Antonovsky, 1987/1997, S. 96). Zur Vermittlung von Konsistenz ist es nach Antonovsky ferner wichtig, dass die Bezugspersonen und die 41 soziale Umwelt des Kindes eine einheitliche Haltung einnehmen, wenn es um die Aussendung von Botschaften geht, die dem Kind einen Orientierungsrahmen bieten sollen. Gemeint sind insbesondere die Vermittlung von Werten oder Regeln sowie die Bewertung seiner Handlungen. Dieses Bedürfnis nach Transparenz, Konsistenz, respektive der einheitlichen Haltung seitens der Umwelt und die Notwendigkeit klarer Botschaften potenziert sich aus Antonovskys Sicht im Jugendalter. Er betrachtet die Adoleszenz als eine Entwicklungsphase, die durch viel Unvorhersehbarkeit, Verwirrung, Selbstzweifel und Unverständnis gekennzeichnet ist. Antonovsky zufolge könnte man sogar erwarten, dass das SOC - unabhängig davon, wie es sich in der Kindheit entwickelte - nun gänzlich durcheinander gerät. Daher müssen die engen Bezugspersonen, die jeweiligen Institutionen und die Gesellschaft zur Gewährleistung eines starken Kohärenzgefühls bei Jugendlichen für Erfahrungsfelder und für eine Umgebung sorgen, in der möglichst viel Transparenz, Konsistenz und vor allem klare Botschaften erlebbar sind. Für das Erwachsenenalter zeigt Antonovsky verschiedene Möglichkeiten zur Erfahrung von Verstehbarkeit auf. So können Erwachsene durch zahlreiche Rollen, die sie einnehmen Vorhersehbarkeit und Konsistenz erleben. Möglich - und im Sinne eines starken Kohärenzgefühls wichtig - sind auch verstehbarkeitsfördernde und konsistente Erfahrungen auf dem Arbeitsplatz. Zu diesen Erfahrungen zählt beispielsweise, dass man seine Position eindeutig definieren kann, dass man die Komplexität seines Aufgabenbereiches beherrscht oder dass man sich seines Aufgabenbereiches sicher ist. Verstehbarkeit und Konsistenz ist sogar in Gruppen erfahrbar, sofern es dort eine einheitliche Kommunikation und ein den Insiderinnen und Insidern verständliches Beziehungsgeflecht gibt. Neben der Erfahrung an Konsistenz ist das Erleben von Verstehbarkeit möglich, wenn es einer Person bei einer Konfrontation mit neuen komplexen Sachzusammenhängen gelingt, diese zu begreifen und richtig einzuordnen. Das kann sie durch den Erwerb neuen Wissens oder durch die Hilfe anderer erreichen. In jedem Fall ergeben diese neuen, als geordnet und strukturiert wahrgenommenen, Informationen dann ein neues Stück „eine[r] Landkarte, die das Vertrauen schafft, daß Landkarten leicht zu lesen sind“ (Antonovsky, 1987/1997, S. 110). 42 2. Handhabbarkeit Die pragmatische Komponente des Kohärenzgefühls bezeichnet Antonovsky als Handhabbarkeit. Unter Handhabbarkeit versteht er: ... das Ausmaß, in dem man wahrnimmt, daß man geeignete Ressourcen zur Verfügung hat, um den Anforderungen zu begegnen, die von den Stimuli, mit denen man konfrontiert wird, ausgehen. ‘Zur Verfügung’ stehen Ressourcen, die man selbst unter Kontrolle hat oder solche, die von legitimierten anderen kontrolliert werden – vom Ehepartner, von Freunden, Kollegen, Gott, der Geschichte, vom Parteiführer oder einem Arzt – von jemandem, auf den man zählen kann, jemandem, dem man vertraut. (Antonovsky, 1987/1997, S. 35) Menschen mit einem hohen Potential an Handhabbarkeit werden sich Antonovskys Einschätzung nach durch problematische Ereignisse nicht in eine Opferrolle gedrängt fühlen oder sich ungerecht behandelt fühlen, sondern werden mit schwierigen Situationen umgehen können und nicht endlos trauern. Das Erleben und die Förderung von Handhabbarkeit geschieht durch die Erfahrung von Belastungsbalance. Damit meint Antonovsky den Ausgleich zwischen Überforderung und Unterforderung. Demnach ist es für die Entwicklung einer Zuversicht in die Handhabbarkeit von Situationen nicht hilfreich, im Leben ständig unterfordert zu sein. Ebenso ungünstig ist die permanente Erfahrung, Anforderungen nicht gewachsen zu sein. Bei Belastungssituationen oder Anforderungen ist nach Antonovsky das Erleben von Handhabbarkeit möglich durch die Wahrnehmung und gegebenenfalls durch die Anwendung der zur Verfügung stehenden Ressourcen. Dabei sind sowohl persönliche Ressourcen gemeint als auch die des Kollektivs oder solche außerhalb des Individuums. Die Entwicklung von Handhabbarkeit im Säuglings- bzw. im Kindesalter lässt sich nach Antonovsky wie folgt darstellen: Eine positive Entwicklung von Handhabbarkeit kann im Prinzip erst dann beginnen, wenn das Kind anfängt, autonom zu handeln und wenn es verschiedene Interaktions- möglichkeiten erworben hat, seinen Bedürfnissen nachzukommen oder diese auszudrücken. Zuvor gibt es zwar auch Erfahrungen der Belastungsbalance, Antonovsky (1987/1997) interpretiert jedoch die Stimuli, die von außen an das Kind herangetragen 43 werden wie z. B. „Forderungen an die Sauberkeitserziehung, die der physiologischen Reife vorausgehen, Vorgehensweisen beim Füttern, die die biologische Realität verletzen und ähnliches“ (S. 97) eher als überfordernd. Im Zuge der wachsenden Fähigkeit zur Autonomie kann das Kind zwischen Interaktionsfertigkeiten wählen. Das Feedback der sozialen Umwelt lässt es dann Kompetenz spüren oder nicht. Da das Machtverhältnis zwischen der sozialen Umwelt und dem Kind weiterhin recht ungleich verteilt ist und die Verletzbarkeit sowie die Abhängigkeit des Kindes ebenso extrem hoch ist, ist die Reaktion der Umwelt auf sein Verhalten entsprechend bedeutsam für die Entwicklung der Zuversicht in die Handhabbarkeit von Anforderungen. Bei Stimuli, die von Innen kommen und bei dem Kind für Überlastung sorgen, schlägt Antonovsky ein ausgeglichenes Muster von Reaktionsmöglichkeiten vor. Die Reaktionsmöglichkeiten, auf die Dinge, die das Kind möchte oder auf die Interaktionen des Kindes können sein: Ablehnung, Lenkung, Ignoranz, Ermunterung oder Bestätigung. Entscheidend bei den Reaktionsmustern seitens seiner engen Bezugspersonen und seiner Umgebung ist auch hier die Konsistenz. Um dem Kind auch bei der Entwicklung der Handhabbarkeitskomponente konsistente Lebenserfahrungen bieten zu können, stellt sich an seine soziale Umwelt die Forderung nach einheitlichen Botschaften und Reaktionsmustern hinsichtlich seines Verhaltens. Für Erfahrungen von Belastungsbalance in diesem Sinne sorgen nach Antonovsky auch Geschlechterrollen oder andere soziale Rollen, denn sie ermöglichen das Erleben von Kompetenz. Ein weiterer wichtiger Einflussfaktor auf die Entwicklung der Handhabbarkeit (und auch auf die anderen Teilkomponenten des Kohärenzgefühls) ist das SOC der Eltern. Eltern mit einem hohen SOC-Wert werden für einen Erfahrungsraum sorgen, innerhalb dessen das Kind weder chronisch unterfordert noch überfordert wird. Sie werden ihrem Kind nach Antonovsky ein Lebensmuster an Erfahrungen bereitstellen, die ihm die Ausprägung eines starken SOC ermöglichen. Wenn überhaupt, dann besteht hier das Risiko der Überforderung, denn diese Eltern werden ihr Kind ständig vor Herausforderungen stellen. Je autonomer wir im Kindesalter werden, desto mehr stellt die soziale Umwelt den Anspruch an uns, dass wir Anforderungen, wenn sie nicht gar zu absurd oder unlösbar sind, erfüllen. In diesem Zusammenhang hat die Erfahrung, dass akzeptiert wird, dass wir einer Anforderung entsprechen können oder eben auch nicht nach Antonovsky eine signifikante Auswirkung auf unsere Belastungsbalance. 44 Seine Ausführungen zur Entwicklung der Handhabbarkeitskomponente in der Adoleszenz leitet Antonovsky (1987/1997) mit folgenden Worten ein: „Das Sturm-und-Drang-Image der Adoleszenz ist in der Tat eine verführerische dramatische Charakterisierung von andauernder Turbulenz, Verwirrung, Selbstzweifeln und Marginalität“ (S. 100). Entsprechend zählt er Jugendliche zu der Zielgruppe, die am dringlichsten vereinfachende, eindeutige Antworten braucht. Ein unklarer Kanon und uneingeschränkte Möglichkeiten überfordern seiner Ansicht nach Menschen im Jugendalter. Das soziale Umfeld der Adoleszenten muss somit eine klare Haltung zu ihren Wünschen und Handlungen beziehen, damit sie lernen können, dass Wahlmöglichkeiten nicht grenzenlos sind, dass nicht alles legitim ist und dass es Unterschiede zwischen realer Leistung und Misserfolg gibt. Das Kohärenzgefühl von Jugendlichen lässt nach Antonovsky nur kurzfristige Vorhersagen im Hinblick auf Stressbewältigung oder Gesundungsstatus zu. Die Ausprägung des SOC ist in der Adoleszenz noch nicht endgültig abgeschlossen. Erfahrungen aus der Kindheit oder Jugend können noch verstärkt oder rückgängig gemacht werden. Das geschieht seiner Ansicht nach mit der langfristigen Übernahme von Verpflichtungen, von sozialen Rollen und von Arbeit - also mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter. Zur Erläuterung von Faktoren, die das Erleben im Erwachsenenalter fördern, bezieht sich der Autor hauptsächlich auf das Erfahrungsfeld Arbeit. Dort käme es auf das Erleben einer angemessenen Belastungsbalance an. Dies sei der Fall durch wiederholte Arbeitserfahrungen, die den Möglichkeiten der arbeitenden Person entsprächen, die ihr angemessenes Material und soziale und organisatorische Ressourcen zur Verfügung stellten und die neben gelegentlichen Überbelastungen auch die Möglichkeiten böten, sich zurückzuziehen und Energie zu speichern. Auf der anderen Seite ist es nach Antonovsky ebenso wichtig, chronische Unterforderung zu vermeiden. Dazu sagt er: „Wenn unsere Arbeitserfahrungen so sind, daß wir selten dazu aufgefordert werden, unsere Fähigkeiten anzuwenden oder unsere Möglichkeiten zu aktualisieren, wenn sie immer eindimensional und monoton sind, können wir niemals das Vertrauen bekommen, daß die Welt handhabbar ist“ (Antonovsky, 1987/1997, S. 109). 45 3. Bedeutsamkeit Bedeutsamkeit ist nach Antonovsky das motivationale Element des Kohärenzgefühls. Er definiert diese Teilkomponente des SOC als: ... das Ausmaß, in dem man das Leben emotional als sinnvoll empfindet, daß wenigstens einige der vom Leben gestellten Probleme und Anforderungen es wert sind, daß man Energie in sie investiert, daß man sich für sie einsetzt und sich ihnen verpflichtet, daß sie eher kommende Herausforderungen sind als Lasten, die man gerne losgeworden wäre. (Antonovsky, 1987/1997, S. 35-36) Eine Person mit einem hohen Ausmaß an Bedeutsamkeit wird dem Autor zufolge auch unglückliche Ereignisse eher als Herausforderungen denn als Belastungen annehmen. Sie wird auch diesen Anforderungen eine Bedeutung beimessen können, und sie wird ihr Möglichstes tun, um schwierige Situationen mit Würde zu überwinden. Wichtig für das Erleben und zur Förderung von Bedeutsamkeit ist aus Sicht des Autors die kontinuierliche Teilnahme an Entscheidungsprozessen in sozial anerkannten Aktivitäten. Diese Teilnahme beginnt nach Antonovsky schon im Säuglingsalter, in dem der junge Mensch als pro-aktives Wesen Einfluss auf die Umwelt nimmt. Er setzt seine Umgebung unter Handlungsdruck und versucht, ihr Verhalten zu formen. Für die positive Entwicklung von Bedeutsamkeit in der Kindheit ist es nach Antonovsky wichtig, dass die Reaktionen der sozialen Umwelt auf die Handlungen des Kindes in positive Affekte eingebettet werden. Das geschieht beispielsweise durch Berührungen, durch die Stimme und durch andere Wege positiver Zuwendung. Kälte, Feindseligkeit oder Missachtung vermitteln dagegen das Gefühl von Abwertung und sind daher ungünstig für die Entwicklung der Bedeutsamkeitskomponente. Die elementare Botschaft, die einem Kind in diesem Kontext vermittelt werden sollte lautet nach Antonovsky (1987/1997): „Du bist uns wichtig“ (S. 97). Im Jugendalter gibt es aus Sicht des Autors unterschiedliche kulturelle Möglichkeiten und somit eine Vielfalt an Erfahrungsmustern, in denen Jugendliche ihre Welt als verstehbar, handhabbar und bedeutsam erleben können. Allerdings bewertet er die Bedingungen für die Fortsetzung der Botschaft Du bist uns wichtig für viele Adoleszenten auf der Welt als eher ungünstig: 46 Für viele Jugendliche in der Welt jedoch, ob in Schwarzafrika, Mitteleuropa oder dem mittleren Westen Amerikas ist das Leben ein ständiger Hinweis auf eine fremde, feindliche, unverständliche und absurde Welt. Das Kernstück der Adoleszenz ist für diese Jugendliche paradoxerweise die konsistente Botschaft, daß das Leben unvorhersehbar ist und daß es für sie keinen Platz bietet. (Antonovsky, 1987/1997, S. 103) Unabhängig davon, welche Entfaltungsmöglichkeiten eine Gesellschaft Jugendlichen bietet oder inwiefern sie ihnen Rahmenbedingungen bereitstellt, in denen sie ihren individuellen Platz finden können und die Welt oder ihre Tätigkeit als sinnvoll erleben können, sind auch in diesem Alter und im Dasein als Erwachsene die kontinuierliche Teilhabe an sozial geschätzten Entscheidungsprozessen und das Erleben von Mitspracherecht bei dem, was um einen herum passiert, wichtige Determinanten für die Entwicklung und für das Erleben von Bedeutsamkeit. Als entscheidendes Erfahrungsfeld für Bedeutsamkeit im Erwachsenenalter führt Antonovsky erneut den Bereich Arbeit an. Seine Ausführungen dort lassen sich jedoch sicherlich auch auf andere bedeutende Lebensfelder eines Menschen übertragen. So ist für die motivationale Ebene das Ausmaß der sozialen Anerkennung des Unternehmens oder gegebenenfalls eines Lebensfeldes wichtig. Denn je größer die soziale Anerkennung des Unternehmens oder des Lebensfeldes, für das wir uns engagieren, ist desto mehr schöpfen wir nach Antonovsky aus dieser Bedeutung unsere Energie zum Engagement. Wenn wir darüber hinaus das Gefühl haben, innerhalb dieser Tätigkeit als Teil eines Kollektivs einen uns angemessenen Anteil an den dort getroffenen Entscheidungen zu haben, umso mehr werden wird diese Tätigkeit als wichtig und bedeutsam empfinden. Das Gefühl der Mitsprache und somit auch Mitgestaltung bei dem, was man tut, verleitet nach Antonovsky dazu, dass man seine Energie gerne investiert. In diesem Fall lässt das das Engagement Freude und Stolz empfinden. Umgekehrt erlebt eine Person eine Umgebung, in der andere ständig für sie entscheiden und Spielregeln bestimmen, als eine Welt, die unabhängig ist von der Handlung dieser Person. Sie wird für diesen Menschen zu einer Welt ohne jede Bedeutung. Die Quelle für die Wahrnehmung der Arbeit als bedeutsam muss allerdings nicht zwingend das Gefühl von Freude oder Selbstverwirklichung sein. Die Arbeit kann wichtig und sinnvoll sein, weil sie die Existenz sichert. 47 2.6 Wie verhalten sich die drei SOC-Komponenten zueinander? Antonovsky (1987/1997) stellt zunächst heraus, dass alle drei Komponenten unauflöslich miteinander verbunden sind. Er räumt aber ein, dass in bestimmten - sowohl kurzfristigen als auch länger andauernden Situationen - entsprechende Erfahrungen für höhere Werte auf der einen SOC-Ebene und für niedrigere bei der anderen SOC-Komponente sorgen können. Der Autor hält alle drei Komponenten des Kohärenzgefühls für notwendig, jedoch nicht für gleichermaßen zentral. Am wichtigsten ist seinen Ausführungen nach die Motivation zum Engagement, also die Bedeutsamkeit. Ohne ein hohes Ausmaß an Bedeutsamkeit ist auch kein langfristiges hohes Potential an Verstehbarkeit und Handhabbarkeit möglich. Denn nur engagierte Menschen können an Ressourcen und an Verstehen gewinnen. Verstehbarkeit betrachtet Antonovsky als nächst wichtige Komponente in der Rangfolge. Aus seiner Sicht hängt ein hohes Maß an Handhabbarkeit vom Verstehen, von einer klaren Vorstellung einer Anforderung ab. Wer seine Umgebung als chaotisch wahrnimmt, kann nur schwer darauf vertrauen, dass er oder sie dort gut zurecht kommt. Allerdings muss jemand mit einem hohen Wert im Bereich Verstehbarkeit nicht unbedingt großes Vertrauen in die Handhabbarkeit von Anforderungen haben. Nach Antonovsky bedingt ein hohes Potential an Verstehbarkeit und ein niedriger Wert im Bereich Handhabbarkeit einen starken Veränderungsdruck, dessen Richtung das Ausmaß an Bedeutsamkeit bestimmt. Diese Person wird dann entweder motiviert sein, Ressourcen zu finden, die ein Problem lösen, oder die Welt wird für sie zunehmend unverständlicher. Selbst wenn die Werte im Bereich der Verstehbarkeit und Handhabbarkeit niedrig sind, aber die motivationale Ebene stark ausgeprägt ist, besteht die Chance, dass sich ein Mensch um die Verstehbarkeit einer Situation bemüht und nach Ressourcen sucht. Obwohl Antonovsky die Handhabbarkeit in der Rangfolge an die dritte Stelle setzt, heißt das nicht, dass diese SOC-Komponente unwichtig ist. Wer wenig Zuversicht in die ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen hat, dessen Motivation zum Engagement sinkt auch, was nach Antonovsky die Schwächung seiner Copingbemühungen zur Folge hat. Bei seinen Ausführungen zur Bedeutung der Handhabbarkeit zieht Antonovsky den Schluss, erfolgreiches Coping hänge vom SOC als Ganzem ab, was wiederum verdeutlicht, dass die drei Ebenen des Kohärenzgefühls stark miteinander verwoben sind. 48 2.7 Widerstandsressourcen Die sogenannten generalisierten Widerstandsressourcen (generalized resistance ressources oder GRRs) (Antonovsky 1987/1997) sind die Quellen negativer Entropie. Sie unterstützen die aktive Adaption des Organismus an seine Umgebung, denn sie wirken als Potential, sobald durch Stimuli verursachte Spannung zu bewältigen ist. Generalisiert impliziert ihre Wirksamkeit in Situationen aller Art; Widerstand bedeutet, dass diese Ressourcen die Widerstandsfähigkeit einer Person erhöhen. Bei den GRRs handelt es sich nach Antonovsky um soziale und kulturelle Aspekte, wie beispielsweise soziale Unterstützung, finanzielle Möglichkeiten, kulturelle Stabilität usw. und um individuelle Faktoren wie beispielsweise Ich-Stärke, Intelligenz, persönliche Bewältigungsstrategien, körperliche Fertigkeiten usw.. Zu ihnen zählen auch die Erfahrungen erfolgreich bewältigter problematischer Lebensereignisse, denn diese Erfahrungen werden als bestärkendes Potential wirksam, sobald neue Anforderungen des Lebens zu bewältigen sind. Die Entstehung der generalisierten Widerstandsressourcen hängt von dem soziokulturellen sowie dem historischen Kontext eines Menschen ab, zuzüglich der darin vorherrschenden Erziehungsmuster und sozialen Rollen. Entscheidend sind darüber hinaus persönliche Einstellungen und zufällige Ereignisse. Mangelhafte bis fehlende Ressourcen auf sozialer, kultureller und individueller Ebene gelten als generalisierte Widerstandsdefizite (GRDs). Dazu zählen auch häufige Erfahrungen unbewältigter Spannung oder chronisch stresshafte Lebenssituationen. Je nachdem, wie sich das Verhältnis zwischen Widerstandsressourcen und -defiziten in der Entwicklung eines Menschen gestaltet, entsteht ein bestimmtes Muster an Lebenserfahrungen, das das Individuum mehr in Richtung Gesundheitspol oder Krankheitspol bewegt. Menschen positionieren sich dabei nach Antonovsky auf einem Kontinuum von GRRs und GRDs, das alle bereits oben genannte externale und internale Faktoren integriert. Je höher man sich auf diesem Kontinuum befindet, desto eher wird man Erfahrungen machen, die das SOC stärken. Je niedriger die Position auf diesem Kontinuum ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für Erfahrungen, die das SOC schwächen. Darüber hinaus können alle internen und externen Stimuli auf diesem Kontinuum dem aktuellen Lebenszusammenhang entsprechend sowohl zum Defizit als 49 auch zur Ressource werden. Je nachdem für welche Lebenserfahrungen diese Phänomene sorgen, bewegen sie einen Menschen mehr in Richtung Ressourcen-Pol oder zum Defizit- Pol des Kontinuums. Generalisierte Widerstandsressourcen stellen Lebenserfahrungen bereit, die durch Konsistenz, Belastungsbalance und Teilhabe an wichtigen Entscheidungsprozessen gekennzeichnet sind. Sie fördern demnach das Erleben von Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit und stärken damit das Kohärenzgefühl. Ein starkes Kohärenzgefühl bedingt wiederum, wie in Abschnitt 2.9 noch genauer ausgeführt wird, einen optimalen Einsatz von Widerstandressourcen zur Spannungsbewältigung. Die erfolgreichen Copingerfahrungen werden als neue Widerstandsressourcen generalisiert. Auf diese Weise entsteht ein Kreislauf, durch den das SOC zunehmend bestärkt wird. Ein schwaches Kohärenzgefühl - entwickelt durch ein Übergewicht an Widerstandsdefiziten - bedingt eher einen Kreislauf, der einer Stärkung des SOC entgegensteuert. Hier ist ein häufig erfolgloses Spannungsmanagement zu erwarten, das zum weiteren Erwerb von SOC-schwächenden Widerstandsdefiziten führt. 2.8 Stressoren Im pathogenetischen Paradigma werden Stressoren ähnlich wie Risikofaktoren von vornherein als gesundungsschädigende Einflüsse verstanden, die es zu meiden oder zu beseitigen gilt (Antonovsky, 1987/1997). In der Salutogenese sind sie zunächst Anforderungen an den Organismus, auf die er keine sofort verfügbaren oder automatisch adaptiven Reaktionen hat. Die Folgen von Stressoren müssen jedoch nicht zwingend pathogen sein, sondern können durchaus Gesundheit fördern. Nach Antonovsky sind Stressoren allgegenwärtig und unterschiedlich ausgeprägt wie die „Gabelungen im Fluß, die zu leichten Strömungen oder in gefährliche Stromschnellen und Strudel führen“. Je nachdem wie schwerwiegend die Ereignisse sind, wie wir sie bewerten und bewältigen oder wie viel soziale Unterstützung wir erfahren, wird der Umgang mit Stressoren positive, negative oder keine gesundheitliche Konsequenzen nach sich ziehen. In jedem Fall führt eine erfolgreiche Bewältigung von Stress dazu, dass sich der Mensch mehr in Richtung health-ease des Gesundheits-Krankheits-Kontinuums bewegt. 50 Antonovsky unterscheidet zwischen drei Stressortypen, wobei hier keine scharfen Grenzen gezogen werden können, weil diese Stressortypen ineinander übergehen. Es gibt aber qualitative Unterschiede, die sich aus seiner Sicht wie folgt darstellen lassen: 1. Alltägliche Widrigkeiten oder Vergnügen Als alltägliche Widrigkeiten und Vergnügen betrachtet Antonovsky einzelne Ereignisse, auf die es keine automatisch adaptive Reaktion gibt. Dabei kann es sich um kleine Erfolgserlebnisse bzw. Missgeschicke handeln, möglich wären auch ungewöhnliche Situationen wie z. B. Komplimente oder Beleidigungen. Diese Ereignisse erfordern zwar Adaption, jedoch beurteilt Antonovsky ihren Einfluss auf die Gesundheit oder auf die Entwicklung des Kohärenzgefühls als irrelevant. 2. Stress-Lebensereignisse Stress-Lebensereignisse sind nach Antonovsky herausragende einzelne Ereignisse wie beispielsweise eine Scheidung, eine Geburt, der Tod eines Angehörigen oder die Pensionierung usw., für die der Organismus keine automatische Reaktion aufweisen kann. Diese Ereignisse und die durch sie bedingten Konsequenzen sorgen für Anspannung. Die Stärke des Kohärenzgefühls eines Menschen bestimmt, wie die Person diese Stimuli bewertet, wie sie mit ihnen umgeht und ob sich diese Stimuli ungünstig, neutral oder förderlich für das SOC und für den Gesundungsprozess dieses Menschen auswirken. 3. Chronische Stressoren Der chronische Stressor kann eine Lebenssituation, eine Bedingung oder ein Charakteristikum sein, bei dem es sich um ein relativ permanentes, kontinuierliches bzw. anhaltendes Phänomen handelt. Dieses Phänomen sorgt für Lebenserfahrungen, die zu einem starken oder schwachen SOC beitragen. Stärkt der chronische Stressor das Kohärenzgefühl, dann handelt es sich um eine generalisierte Widerstandsressource. Wenn er das SOC schwächt, dann ist es ein Widerstandsdefizit. Chronische Stressoren, egal ob GRRs oder GRDs, sind nach Antonovsky in der Lebenssituation eines Menschen fest verankert. Sie sind generalisiert, langlebig und „die primären Determinanten des SOC- Niveaus“ (Antonovsky 1987/1997, S. 44). 51 2.9 Coping Wie der Abschnitt 2.8 bereits zeigte, versteht Antonovsky (1987/1997) Stressoren auf zwei Ebenen. Wenn es um Stressoren im Sinne von Widerstandsdefiziten oder chronischen Widerstandsdefiziten geht, meint der Autor ein Phänomen, das Entropie in ein System bringt und somit als gesundungsschädigend zu bewerten ist. Im Copingprozess werden Stressoren zunächst als wertneutrale Stimuli verstanden, auf die es keine unmittelbar verfügbaren automatischen Adaptionen gibt. In seiner Flussmetapher verdeutlicht Antonovsky, dass wir ständig einer Flut an Reizen ausgeliefert sind, auf die wir keine automatischen adaptiven Antworten haben (vgl. Abschn. 2.1). Wenn ein Stimulus das Gehirn des Menschen erreicht, kommt es zu einem Bewertungsprozess, in den das Kohärenzgefühl involviert ist. Antonovsky nennt diesen ersten Bewertungsschritt primäre Bewertung-I. Es geht hierbei um die Definition des Reizes als Stressor oder als Nicht- Stressor. Eine Person mit einem starken SOC wird den Stimulus eher als Nicht-Stressor definieren. Sie ist zuversichtlich im Hinblick auf ihre Anpassungsleistungen und hinsichtlich ihrer Bewältigungsressourcen. Sie wird daher keine Anspannung erleben, die potentiell in gesundungsschädigenden Stress umgewandelt werden kann. Eine Person mit einem schwachen SOC hat diese stark ausgeprägte Zuversicht nicht. Sie bewertet den Stimulus schon jetzt eher als Stressor und verspürt Anspannung. Sollte ein Stimulus als spannungserzeugender Stressor wahrgenommen werden, kommt es zu einem weiteren Bewertungsschritt, den Antonovsky primäre Bewertung-II nennt. In diesem Stadium entscheidet eine Person, ob sich dieser Stressor auf ihr Leben günstig, irrelevant oder bedrohlich auswirkt. Auch diese Bewertung ist von der Ausprägung des Kohärenzgefühls abhängig. Eine Person mit einem starken Kohärenzgefühl hat nach Antonovsky bereits viele Erfahrungen mit Stimuli gesammelt, die sich zunächst als Stressoren darstellten, die sich aber dann als unproblematisch erwiesen. Daher ist zu erwarten, dass sie diesen Stressor ohne besonderen Energieaufwand als günstig oder irrelevant bewerten wird. Sie wird darüber hinaus zuversichtlich sein, dass sich die Spannung schnell auflöst. Sollte es zum Einsatz von Bewältigungsstrategien kommen, wird diese Person wahrscheinlich die richtige Kombination an Widerstandsressourcen wählen und die entsprechend bedingte erfolgreiche Spannungsbewältigung als weitere Widerstandsressource verbuchen können. 52 Das durch einen Stressor verursachte Problem hat nach Antonovsky eine instrumentelle Seite und eine emotionale Seite. Menschen mit einem starken Kohärenzgefühl richten ihm zufolge ihre Aufmerksamkeit eher auf den instrumentellen Anteil des Problems. Sie betrachten die Anforderung als Herausforderung und suchen nach Lösungsmöglichkeiten, die sie zur Verstehbarkeit und Handhabbarkeit der Situation führen. Darüber hinaus können diese Personen Anforderungen klarer und spezifischer sehen und sind handlungsorientierter, weil sie nicht durch diffuse Emotionen paralysiert werden. Letzteres passiert eher Menschen mit einem schwächeren SOC. Bei einer Person mit einem schwachen Kohärenzgefühl ist zu vermuten, dass sie sich auf die emotionale Seite des Problems konzentriert. Anstatt Probleme zu lösen, wird sie darüber nachdenken, wie sie unangenehme Gefühle, die durch die Spannungssituation verursacht wurden, beseitigen kann. Bei Personen mit einem niedrigen Kohärenzgefühl ist ferner davon auszugehen, dass sie durch den gleichen günstigen oder ungünstigen Stressor in eine andere Gemütslage verfallen, als Menschen mit einem starken SOC. Sie werden bei glücklichen oder gefährdenden Stressoren - wie bereits ausgeführt - diffuse paralysierende Gefühle wie Scham, Apathie, Hoffnungslosigkeit usw. empfinden. Diese Gefühle sorgen nach Antonovsky eher für unbewusste Abwehrmechanismen und lassen Anforderungen als Belastungen wahrnehmen. Personen mit einem starken SOC spüren mehr zielgerichtete Emotionen wie Wut, Schuld, Freude, Hoffnung oder Aufregung, die eine motivationale Handlungsbasis schaffen. Dementsprechend mobilisieren diese Emotionen Copingmechanismen und bedingen die Wahrnehmung von Problemen als Herausforderungen. Bei Menschen mit einem starken Kohärenzgefühl wird außerdem die Ausprägung der Emotionen situationsangemessen sein. Eventuelle Schuldzuweisungen werden der Realität entsprechen, weil diese Menschen Verantwortung übernehmen können. Sie werden den bewussten und offenen Umgang mit Gefühlen nicht scheuen, weil sie ihn nicht als bedrohlich empfinden. Daher werden sie Emotionen offen ausdrücken und beschreiben können und lassen ihre bewusste Wahrnehmung zu. Die Stärke des Kohärenzgefühls entscheidet also darüber, wie der emotionale und instrumentelle Anteil einer Anforderung wahrgenommen und wie mit diesen Aspekten umgegangen wird. Antonovsky definiert diesen gesamten Vorgang als primäre Bewertung- III. Zu diesem dritten Bewertungsschritt gehört auch der Umgang mit Feedback, das wir 53 von unserer Umwelt erhalten, sobald wir eine Bewältigungsstrategie gewählt haben. Mit diesen Informationen gibt uns die Umgebung zu verstehen, ob unsere Bewältigungsstrategie richtig oder falsch gewählt war. Menschen mit einem hohen SOC werden dieses Feedback aufmerksam verfolgen oder es sogar provozieren, um die Erfolgsaussichten ihrer Strategie abschätzen zu können. Sie werden darüber hinaus flexibel genug sein, um einen falsch eingeschlagenen Weg ändern zu können. Dies ist aus Antonovskys Sicht bei Menschen mit einem schwachen SOC eher unwahrscheinlich. Nicht nur, dass sie diese Signale eher verzerren oder missachten, sie werden an dem einmal eingeschlagenem Weg festhalten, da sie keine Motivation zur Richtungsänderung verspüren. Eben diese Verzerrung oder Missachtung von Feedbackinformationen zuzüglich der Anwendung unangemessener Ressourcen arbeitet der Spannungsauflösung entgegen und führt zu gesundungsschädigendem Stress. Dabei sei angemerkt, dass ein Mensch mit einem starken Kohärenzgefühl für einen spezifischen Stressor keinen Copingstil anwenden muss, der allgemein als gesundungsfördernd anerkannt wird. Diese Person wird aber einen Weg einschlagen, der für sie persönlich mehr Gesundheit bringt. Zusammenfassend zeigt sich, dass das Kohärenzgefühl an sich kein bestimmter Copingstil ist. Antonovsky negiert auch eine solche Definition des Konstruktes. Ein starkes Kohärenzgefühl befähigt einen Menschen mehr dazu, dass Anspannung nicht zum gesundungsschädigenden Stress wird durch: - eine angemessene emotionale und kognitive Einordnung des Stressors, und damit zur seiner Handhabe, - die Wahl geeigneter Bewältigungsstrategien und ihrer flexiblen Anwendung, - die erfolgreiche Emotionsregulierung und Bewältigung des instrumentellen Anteils des Problems, - die Wahrnehmung des Stressors als Herausforderung und nicht als Belastung. Damit ist nicht gemeint, dass das SOC eine „Wunderwaffe“ ist, mit der man jedes Problem lösen kann, aber nach Antonovsky werden Menschen mit einem starken SOC angemessener mit Problemen umgehen und leben können, für die es keine Lösung gibt – „mit geringerem Schmerz“ (Antonovsky, 1987/1997, S. 138). 54 2.10 Zusammenfassung Wie gezeigt, prägt das Ausmaß an GRRs oder GRDs ein Muster an Lebenserfahrungen, die durch Konsistenz, Belastungsbalance und Teilhabe an sozial anerkannten Entscheidungsprozessen gekennzeichnet sind. Je nachdem, wie eine Person erfährt, dass ihre Umgebung einigermaßen geordnet ist und Abläufe nicht chaotisch oder willkürlich geschehen, wie sie erlebt, dass sie Anforderungen gewachsen ist und ob sie wahrnimmt, dass sie auf ihre Umgebung Einfluss nehmen kann und dass das Leben sinnvoll ist, entwickelt sich ihr Kohärenzgefühl. Bei einer günstigen Entwicklung des SOC verfügt der Mensch über eine starke Zuversicht in die Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit von Anforderungen. Diese Zuversicht wirkt sich positiv auf ihr Copingverhalten und damit auch auf ihre Position auf dem HEDE-Kontinuum aus. Personen mit einem starken Kohärenzgefühl empfinden Stressoren zunächst als günstig oder irrelevant für ihren Gesundungsprozess. Sollte es zur Spannung kommen, werden sie sich eher auf den instrumentellen Teil der Anforderung konzentrieren und nach Lösungen des Problems suchen. Sie werden Emotionen wahrnehmen, die sie motivieren werden, die Situation zu bewältigen. Daher erleben sie die Anforderung eher als Herausforderung, denn als Belastung. Bei der Wahl ihrer Bewältigungsstrategien werden sie wahrscheinlich die richtige Entscheidung treffen. Darüber hinaus werden Menschen mit einem hohen SOC das Feedback ihrer Umwelt aufmerksam verfolgen und flexibel genug sein, ihre Strategie zu ändern, sollte sich diese als ungünstig erweisen. Dieser Weg führt zur erfolgreichen Spannungsauflösung. Die daraus resultierende positive Erfahrung kommt als weitere Widerstandsressource zum Tragen, wenn es um die Bewältigung neuer Anforderungen geht. Ein hohes Potential an generalisierten Widerstandsressourcen sorgt demnach für ein starkes SOC und das führt zu weiteren Erfahrungen erfolgreich bewältigter Spannungssituationen und damit wieder zu neuen Widerstandsressourcen. Dieser Kreislauf bedingt eine Lokalisation nahe dem Gesundheitspol auf dem HEDE-Kontinuum. Entgegengesetzt dazu schwächt ein Übermaß an Widerstandsdefitziten im Leben das Kohärenzgefühl und verschlechtert den optimalen Umgang mit Spannungszuständen. Die häufigen Erfahrungen, dem Leben nicht gewachsen zu sein, schwächen auch die Zuversicht in die Lösbarkeit von Anforderungen und mobilisieren eher Abwehr- mechanismen als die Motivation, Anforderungen zu bewältigen. 55 2.11 Das Kohärenzgefühl und psychische Gesundheit Nach bisherigem Forschungsstand hängen das Kohärenzgefühl und psychische Gesundheit eng zusammen. Sowohl Franke (1997) als auch Bengel et. al (1998) kommen nach der Auswertung unterschiedlicher Studien zu dem Schluss, dass sogar ein deutlicherer Zusammenhang zwischen dem Kohärenzgefühl und verschiedenen Parametern psychischer Gesundheit als dem SOC und körperlichen Beschwerden besteht. Franke verweist dazu u. a. auf Studien (von Carmel und Bernstein, 1989; Frenz et al., 1993; Hart et al., 1991; McSherry & Holm, 1994; Nyamathi, 1991), in denen sich hohe negative Korrelationen (zwischen -.60 und -.85) mit Trait-Angst und Depressionen zeigen. Bengel et al. beziehen sich auf die eben genannten und auf weitere Untersuchungen (vgl. Bengel et al. 1998), um zu belegen, dass Menschen mit einem starken Kohärenzgefühl weniger ängstlich und depressiv sind als Personen mit einem niedrigen SOC-Wert. Die hohen Korrelationen zwischen dem Kohärenzgefühl und Ängstlichkeit respektive Depressivität führen im Übrigen auch zu der bisher unentschiedenen Frage, ob es sich bei dem Kohärenzgefühl tatsächlich um eine neue Dimension psychischer Gesundheit handelt und ob die SOC- Skala überhaupt etwas anderes misst als die gängigen Instrumente zur Untersuchung der oben genannten Variablen psychischer Gesundheit bzw. Krankheit (vgl. Bengel et al., 1998; Franke, 1997). Weitere signifikante Korrelationen wurden bei positiven Faktoren psychischer Gesundheit und dem Kohärenzgefühl gefunden. So zeigen sich Zusammenhänge zwischen dem SOC und Wohlbefinden respektive Lebenszufriedenheit (Anson et al., 1993a; 1993b; Chamberlain et al., 1992; Larsson & Kallenberg, 1996). Darüber hinaus korreliert das SOC nach einer Untersuchung von Larsson und Kallenberg (1996) signifikant mit weiteren Variablen psychischer Gesundheit wie Verstimmtheit, Ruhelosigkeit, Müdigkeit oder Konzentrationsproblemen. Lundberg (1997) konnte an einer schwedischen Bevölkerungsstichprobe nachweisen, dass das Risiko psychischer Beschwerden bei Personen mit einem hohen SOC-Wert 3,5-fach geringer ist, als bei Personen mit einem hohen SOC. Dass das Ausmaß psychischer Beschwerden mit der Ausprägung des Kohärenzgefühls einhergeht, zeigen auch die niedrigen SOC-Werte bei psychisch kranken (Frenz et al., 1993) und psychosomatisch erkrankten Menschen (Broda et al., 1996; Sack et al., 1997). 56 Darüber hinaus sind erniedrigte SOC-Werte bei Menschen mit Abhängigkeitsproblemen (Franke, 1997; Franke, Elsesser, Sitzler, Algermissen & Kötter, 1998; Franke, Mohn, Sitzler, Welbrink, Witte, 2001) zu beobachten. Franke et al. (1998) stellten in ihrer salutogenetischen Verlaufsstudie zum Thema „Gesundheit und Abhängigkeit bei Frauen“ fest, dass substanzauffällige Frauen niedrigere SOC-Werte aufweisen als substanzunauffällige Frauen. Am niedrigsten war das Kohärenzgefühl von drogenabhängigen Frauen, gefolgt von Frauen mit Medikamentenabhängigkeit und alkoholabhängigen Frauen. Bei Frauen mit Drogenkonsum waren die Werte bei den aktuell abhängigen Frauen am niedrigsten, gefolgt von substituierten Frauen mit und ohne Beikonsum und ehemals drogenabhängigen Frauen. Am niedrigsten ausgeprägt ist das SOC in den vier Gruppen aktueller und ehemaliger Drogenkonsumentinnen; sie glauben am wenigsten an die Bedeutsamkeit ihres Tuns und daran, die Geschehnisse ihrer Umwelt verstehen und handhaben zu können. Dabei steigt die Ausprägung des Kohärenzgefühls mit wachsender Entfernung von der Drogenabhängigkeit ... . (Franke et al., 1998, S. 118) Zusammenfassend zeigen die bisher genannten Studien, dass es der Klientel, die eine psychotherapeutische oder psychosomatische Behandlung in Anspruch nimmt, an Zuversicht fehlt, schwierige Situationen meistern zu können. Dem salutogenetischen Modell nach befinden sich diese Menschen in einem Kreislauf, der nicht gerade zu einer Förderung dieser Zuversicht beiträgt. Daher wird schon an dieser Stelle deutlich, dass es eine Aufgabe psychotherapeutischer Behandlung sein muss, für Erfahrungsräume zu sorgen, die den Gewinn an Widerstandsressourcen im Bereich Handhabbarkeit, Verstehbarkeit und vor allem Bedeutsamkeit ermöglichen. Denn nur so kann der gesundungsschädigende Kreislauf in eine gesundungsfördernde Richtung gelenkt werden. 57 2.12 Veränderung des Kohärenzgefühls durch Psychotherapie? Wie die Ausführungen zum Kohärenzgefühl (vgl. Abschn. 2.4) zeigten, hält Antonovsky eine signifikante Veränderung dieser tief verwurzelten globalen Orientierung eines Menschen im Erwachsenenalter für sehr unwahrscheinlich. Mögliche Veränderungen können aus seiner Sicht eintreten, wenn radikale institutionelle, soziale und kulturelle Umschwünge ein neues, jahrelang anhaltendes Muster von Lebenserfahrungen bedingen, durch welches ein optimales Ausmaß an Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit bereitgestellt wird (Antonovsky, 1987/1997). Entsprechend pessimistisch bewertet der Autor die Stärkung des Kohärenzgefühls mittels einer temporären psychotherapeutischen Begleitung. Aus seiner Sicht reicht eine oder sogar mehrere Begegnungen zwischen Betroffenen und therapeutisch Tätigen nicht aus, um die eigene Weltsicht eines Menschen, die sich über Jahrezehnte ausgebildet hat, signifikant verändern zu können. Die Möglichkeit der Veränderung des SOC durch Psychotherapie wurde noch zu wenig erforscht (Franke, 1997; Bengel et al., 1998; Lamprecht & Gunkel, 2004). Broda et al. (1996) untersuchten 60 Patientinnen und Patienten mit psychosomatischen Beschwerden vor Beginn einer stationären Therapie, ein halbes Jahr nach der Therapie und ein Jahr nach Beendigung der Therapie. Es zeigte sich keine Veränderung des Kohärenzgefühls über diese Zeit. Sack et al. (1997) konnten dagegen bei 81 psychosomatischen Patientinnen und Patienten im Verlauf der stationären Therapie eine signifikante Zunahme des SOC-Gesamtwertes beobachten. Dieser Wert war bei der Halbjahreskatamnese wieder leicht gesunken, es zeigte sich aber eine leichte Zunahme im Vergleich zum SOC-Wert am Anfang der Behandlung. Dieses Ergebnis konnte jedoch nicht statistisch abgesichert werden. Zum Entlassungszeitpunkt konnten bei der individuellen Betrachtung der Veränderungen drei Gruppen der untersuchten Klientel beobachtet werden: - bei 35,7% nahm der SOC-Wert um mehr als 10 Punkte zu, - bei 42% blieb der SOC-Wert innerhalb des Bereichs +10/−10 Punkten stabil, - bei 21, 4% sank der Wert um mehr als 10 Punkte. Bei der Halbjahreskatamnese zeigten sich die folgenden Ergebnisse: 58 - bei 41,4% stieg der SOC-Wert um mehr als 10 Punkte an, - bei 27,1 ist der Wert stabil geblieben, - bei 28,6 % nahm der SOC-Wert um mehr als 10 Punkte ab. Zu beobachten war außerdem, dass der Anstieg des SOC hoch mit der Verminderung der Beschwerden korrelierte (SCL-90-R, r=.81). Entsprechend kommen Sack et al. (1997) zu dem Schluss: „Unter der Prämisse, dass der Fragebogen zum Kohärenzgefühl ein eigenständiges Konstrukt erfasst, lässt sich sagen, dass ohne eine Verbesserung des Kohärenzgefühls eine Beschwerdeverbesserung unwahrscheinlich ist“ (S. 154). Markus Fäh (2000) diskutiert in seinen Ausführungen die Verbesserung des Kohärenzgefühls durch Psychotherapie. Er greift dabei auf klinische Befunde und auf empirische Untersuchungen wie die eben beschriebene von Sack et al. sowie auf die nachstehende Studie von Sandell (Sandell, 1997; Sandell et al., 1999) zurück. Sandell und Mitarbeitende untersuchten die Wirkung von Psychotherapie und Psychoanalyse auf den Gesundheitszustand in einer prospektiven Langzeitstudie. Die 209 Patientinnen und Patienten wurden unter den folgenden drei verschiedenen Behandlungsbedingungen untersucht: 1. klassische psychoanalytische Behandlung (vier Sitzungen in der Woche), 2. intensive Psychotherapie (zwei bis drei Stunden pro Woche), 3. weniger intensive Psychotherapie (eine Stunde oder weniger in der Woche). Das Kohärenzgefühl wurde mit der vollständigen Fassung des SOC-Fragebogens ermittelt. Es blieb bei der weniger intensiven Psychotherapie nahezu konstant im Vergleich zu Therapiebeginn wie auch zum Katamnesezeitpunkt drei Jahre nach Therapieende. Der SOC-Wert fiel zwischendurch sogar leicht ab. Die Behandlung durch eine psychoanalytische Psychotherapie führte zu einer leichten kontinuierlichen Steigerung des SOC. Den stärksten Einfluss nahm die klassische Psychoanalyse. Hier blieb der SOC-Wert während der Behandlung stabil und nahm nach Abschluss der Behandlung kontinuierlich zu. Die Ergebnisse zeigen, dass Psychotherapie das Kohärenzgefühl umso nachhaltiger und massiver stärken kann, je zeitintensiver und profunder sie durchgeführt wird. 59 Fäh schildert ferner anhand von zwei klinischen Falldarstellungen, wie sich durch Psychotherapie das Kohärenzerleben positiv verändern kann. Abschließend kommt er zu dem Ergebnis, dass Antonovskys pessimistische Ansicht zur Veränderbarkeit des Kohärenzgefühls durch psychotherapeutische Interventionen angesichts der empirischen und klinischen Befunde nicht haltbar sei. Darüber hinaus plädiert er für weitere Langzeitstudien und systematische Einzelfall- Studien, die sich mit folgenden Forschungsfragen auseinandersetzen: 1. Welche psychischen Prozesse verändern sich im Rahmen einer Psychotherapie? 2. Wie stehen diese Veränderungsprozesse mit der positiven Veränderung des Kohärenzgefühls in Zusammenhang? 3. Wie verändern sich die subjektiven salutogenen Einstellungen und wie der objektive Gesundheitszustand bzw. die beobachtbaren Gesundheitsverhaltensweisen? (Fäh, 2000, S. 158) Lamprecht und Gunkel (2004) kommen nach ihrer Diskussion von empirischen Befunden zur Modifikation des SOC zu dem Schluss, ... dass Gesundheit immerhin gefördert werden kann, jedoch kein regelrecht produzierbarer Artikel ist. ... . Gesundheit entzieht sich gewissermaßen dem direkten Zugriff. Als Arzt kann man allenfalls Bedingungen schaffen, welche Gesundheit und Gesundung ermöglichen. Gesundheit ist wohl ein Gut, das fortwährend und aktiv zu erwerben ist, und nicht ein Stoff, von dem Menschen zehren, bis er aufgebraucht ist. (S. 187-188) Ihrer Ansicht nach gehe es bei der Gesundungsförderung um die Förderung von körperlichen, seelischen und sozialen Ressourcen sowie von bereits vorhandenen oder angelegten Fähigkeiten und von Selbstheilungskräften. „‘Ressourcenorientierung’ ist der geeignete Terminus, um das zu bezeichnen, was Antonovskys salutogenen Ansatz in der praktischen Arbeit charakterisiert“ (a. a.O., S. 189). Franke (2001, S. 50) empfiehlt bei ihrer Darstellung von salutogenetisch orientierten Ansätzen für gemeindepsychiatrisches Denken – gerade im Hinblick auf Studien, die dafür sprechen, „dass ein erhöhtes Ausmass des Kohärenzgefühls tatsächlich mit einer erhöhten besseren psychischer Gesundheit einhergeht ...“ - „die Erhöhung des Kohärenzgefühls als 60 ein übergeordnetes therapeutisches Ziel zu formulieren“. Dieses Ziel würde dann die psychiatrisch Tätigen vor die Lösung der folgenden Fragen stellen: - Was können wir tun, damit Patientinnen und Patienten möglichst durchgängig konsistente Erfahrungen machen können? - Wie können wir erreichen, dass Patientinnen und Patienten so weitgehend wie möglich die Erfahrung machen, dass sie Einfluss haben auf die Gestaltung ihres Lebensumfelds? - Wie können wir beitragen zu einer Belastungsbalance, zu einem ausgewogenen Verhältnis von Anstrengung und Erholung der Patientinnen und Patienten? Und wie können wir Langeweile, die ja aus ständiger Unterforderung resultiert, vermeiden? (Franke, 2001, S. 50-51) Eine mögliche Antwort auf diese Fragen wäre ein gesundungsförderndes Projekt, dessen Konzeption die bisher diskutierten und noch weitere Rahmenbedingungen zur Gesundungsförderung erfüllen würde. Dieses Projekt soll in dem nun folgenden Kapitel vorgestellt werden. 61 Teil II Methodik und Durchführung 62 3. Ableitung von Forschungsfragen 3.1 Konzept eines Projektes zur Gesundheitsförderung Die zuvor diskutierten Ergebnisse zeigen, dass ein Zusammenhang zwischen dem Kohärenzgefühl und psychischer Gesundheit besteht. Darüber hinaus wird deutlich, dass es gerade der Klientel, die sich einer psychotherapeutischen Behandlung unterzieht, an Zuversicht fehlt, Anforderungen des Lebens bewältigen zu können. Entsprechend sollte sich eine salutogenetisch orientierte therapeutische Arbeit zur Aufgabe machen, diese Zuversicht zu bestärken und sich in Worten der Flussmetapher ausgedrückt fragen: Wie wird man ein guter Schwimmer oder eine gute Schwimmerin? Erste klinische und empirische Befunde deuten an, dass durch Psychotherapie, je intensiver sie ist, das Kohärenzgefühl verbessert wird und dass mit dem Anstieg des Kohärenzgefühls die Besserung psychischer Gesundheit einhergeht. Daher ist es - unabhängig davon, dass noch weitere wissenschaftliche Untermauerungen ausstehen - in jedem Fall lohnenswert, in der therapeutischen Praxis für Rahmenbedingungen zu sorgen, die zur Stärkung des Kohärenzgefühls beitragen könnten. Wenn Antonovsky (1987/1997) sagt, dass eine persönliche Weltsicht, die sich über Jahrzehnte entwickelt habe, nur schwer zu verändern sei, dann klingt das zunächst realistisch und ist die alltägliche Erfahrung therapeutischer Praxis. Wenn er ferner behauptet, dass das SOC lediglich durch Stimuli zu beeinflussen sei, die über mehrere Jahre andere Lebenserfahrungen zur Verfügung stellten als die bisher gegebenen - nämlich Erfahrungen, die durch verschiedene Grade von Konsistenz, Belastungsbalance und Teilnahme an sozial anerkannten Entscheidungsprozessen gekennzeichnet sind - dann sollte das therapeutisch Tätige nicht zwingend pessimistisch stimmen. Viel wichtiger wäre, sich gemeinsam mit der Klientel auf die Suche nach Möglichkeiten für diese langfristigen SOC stärkenden Erfahrungen zu machen. Ein Vorschlag hierzu kann die Teilnahme an einem gesundungsfördernden Projekt sein, das die hier nachstehenden Rahmenbedingungen erfüllt. 63 1. Förderung von Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit Wenn es Menschen an Zuversicht fehlt, dass sie ihr Leben irgendwie meistern können, dann ist das nach dem Modell zur Salutogenese ein Indiz für ein ‘ungesundes’ Verhältnis zwischen Widerstandsressourcen und Widerstandsdefiziten im Bereich der Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit. Möglicherweise war die Lebensgeschichte einer Person, insbesondere bis zum dreißigsten Lebensjahr, weniger durch Erfahrungen der Konsistenz, Belastungsbalance oder Partizipation gekennzeichnet. Vielleicht führte aber auch ein chronischer Stressor oder eine akute Lebenssituation zur Schwächung des Kohärenzgefühls. Dementsprechend sollte ein gesundungsförderndes Projekt für Erfahrungsräume sorgen, innerhalb derer Teilnehmende auf verschiedenen Ebenen SOC- stärkende Ressourcen gewinnen können. Im Hinblick auf die Förderung der SOC- Komponente Verstehbarkeit wäre das Erleben von Konsistenz, Beständigkeit und Transparenz wichtig. Wie die Ausführungen zum Salutogenese-Modell zeigten, ist der Weg zum Gesundheitspol anforderungsorientiert, insbesondere was den Zugewinn an Widerstandsressourcen im Bereich Handhabbarkeit anbetrifft. Somit müssten die Teilnehmenden kontinuierlich Aufgaben lösen, die sie im Hinblick auf ihre Belastungsbalance weder chronisch überfordern noch permanent unterfordern. Um Widerstandsressourcen auf der Bedeutsamkeitsebene zu erlangen, müsste das Projekt für alle Beteiligten Möglichkeiten zur Mitwirkung und Mitsprache bereitstellen. Es sollte den Teilnehmenden vermitteln, dass sie etwas Wichtiges tun, das sozial anerkannt ist. Das Erleben von Partizipation förderte dabei einerseits das Erleben von Sinnhaftigkeit und somit die Motivation zum weiteren Engagement. Mitgestaltung an einem wichtigen Ergebnis eröffnete darüber hinaus für Einzelne den Weg zur Erfahrung einer elementaren Botschaft, die gerade viele psychisch kranke Menschen in ihrer Kinder- und Jugendzeit zu wenig erfahren haben. Es ist das Gefühl: Du bist (uns) wichtig. 2. Förderung von Bedeutsamkeit und Vermittlung von Lebenssinn Auch wenn die drei SOC-Komponenten nach Antonovsky eng miteinander verwoben sind, betrachtet er das Ausmaß der motivationalen Ebene als wesentlich für die Bewegung in Richtung Gesundheitspol. Dementsprechend müsste das Projekt über hohes Motivationspotential verfügen und insbesondere Widerstandsressourcen im Bereich 64 Bedeutsamkeit vermitteln. Die Teilnehmenden sollten ihr Engagement für dieses Projekt als sinnvolle Tätigkeit erleben. Der Sinn ergäbe sich beispielsweise aus dem Erleben von Spaß, Freude, Stolz und, wie bereits erwähnt, dem Gefühl, etwas Wichtiges zu tun. Das Ziel sollte die Vermittlung von Lebenssinn sein, der im Alltag als Kraftquelle bei der Bewältigung von Anforderungen zum Einsatz kommt. 3. Zugewinn an Widerstandsressourcen Für die Erfahrungen von Konsistenz, Belastungsbalance und Teilhabe an sozial anerkannten wichtigen Entscheidungsprozessen sorgen generalisierte Widerstands- ressourcen. Demzufolge stellt sich an das Projekt die Anforderung, für Rahmenbedingungen zu sorgen, innerhalb derer internale und externale Widerstandsressourcen hinzu gewonnen werden können. 4. Neue bedeutungsvolle Lebensfelder Die Ausführungen zum Kohärenzgefühl machten deutlich, dass für eine Lokalisation auf dem Gesundheits-Krankheitskontinuum nahe dem Gesundheitspol eine flexible Grenzziehung notwendig ist, wenn es um die Bereiche geht, die einem Menschen wichtig sind. Gerade bei psychisch erkrankten Menschen zeigt sich häufig, dass sie im Zuge der Erkrankung viele ihnen zuvor wichtige Lebensbereiche, aus denen sie Kraft und Lebensmut schöpften, zunehmend ausgrenzen. Freunde, Hobbies, sportliche und andere Aktivitäten werden immer weniger, dagegen gewinnen Krankheit und Disstress an Gewicht. Somit muss es innerhalb eines salutogenetisch orientierten Projektes möglich sein, Dinge, Tätigkeiten oder Personen zu entdecken, die wichtig sind, für die man sich gerne engagiert. Diese bedeutungsvollen Lebensfelder sorgen für negative Entropie. 5. Förderung eines erfolgreichen Copings In Abschnitt 2.9 wurde deutlich, dass der Umgang mit Stressoren darüber entscheidet, ob sich Spannung in gesundungsschädigenden Stress umwandelt oder nicht. Eine Hauptdeterminante dafür, wie sich der Umgang mit Stimuli gestaltet, ist die Ausprägung des Kohärenzgefühls. Wie das SOC durch therapeutische Arbeit gestärkt werden kann, wurde bereits in den Punkten 1-4 deutlich. Ein weiterer Weg zu mehr 65 Zuversicht in die Bewältigung aversiver Lebensereignisse ist die häufige Erfahrung erfolgreich bewältigter Spannungssituationen. Die Teilnehmenden müssten daher immer wieder vor Anforderungen gestellt werden. Die Aufgabe der therapeutisch Tätigen wäre die professionelle Begleitung der Klientinnen und Klienten bei dem Umgang mit der Situation und den Prozessen der Spannungsregulierung. Der Therapeut bzw. die Therapeutin sollte im Hinblick auf die Förderung eines erfolgreichen Copings beobachten können, wie sich eine Person der instrumentellen respektive der emotionalen Seite eines Problems widmet, wie sie Stimuli bewertet oder wie sie mit Feedbackinformationen umgeht. Die therapeutische Begleitung des Projektes müsste möglichst zeitnah eingreifen können, wenn das Spannungsmanagement droht, einen ungünstigen Verlauf einzunehmen. Auf diese Weise könnte ein möglichst häufiges Erleben erfolgreicher Spannungsauflösung gefördert werden. Ein zeitnaher Zugriff auf die Situation ermöglicht nicht nur die Umlenkung ungünstiger Copingprozesse, sie ermöglicht vor allem ihre Aufdeckung, ihre bewusste Wahrnehmung und eröffnet damit die Chance, etwas verändern zu können. Auf diese Weise könnten Betroffene und professionell Tätige gemeinsam auch langfristig einen SOC schwächenden Kreislauf in einen dauerhaften SOC stärkenden Prozess umlenken. 6. Langfristigkeit Nach Antonovsky reichen punktuelle und kurzfristige therapeutische Interventionen nicht aus, um das Kohärenzgefühl auf lange Sicht verändern zu können. Das Projekt müsste also langfristig geplant sein. Es müsste zu einer chronischen Widerstandsressource werden, die jahrelang für ein Lebensmuster an Erfahrungen sorgt, die durch Konsistenz, Belastungsbalance und Teilhabe an sozial anerkannten Entscheidungsprozessen gekennzeichnet sind. 7. Salutogenetisch orientierte Begegnung zwischen therapeutisch Tätigen und Projektteilnehmenden Therapeutische Praxis, die salutogenetisch ausgerichtet ist, erfordert eine entsprechende therapeutische Haltung. Diese Haltung innerhalb der Begegnung zwischen klinisch respektive therapeutisch Tätigen und ihren Klientinnen und Klienten drückt Antonovsky in seiner Flussmetapher aus. Er sagt: 66 ... Wir alle, um mit der Metapher fortzufahren, sind vom Moment unserer Empfängnis bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir die Kante des Wasserfalls passieren, in diesem Fluß. Der menschliche Organismus ist ein System und wie alle Systeme der Kraft der Entropie ausgeliefert. Das Wesen der Flüsse, in denen wir uns befinden, ist unterschiedlich. Äthiopier, Israelis und Schweden, gehobene und niedrigere Sozialschichten, Männer und Frauen sind alle in verschiedenen Flüssen, deren Strömungen und Strudel oder andere Gefahrenquellen variieren, aber niemand befindet sich jemals am sicheren Ufer. Kein Fluß ist sehr friedlich. (Antonovsky, 1993, S. 6-7) Antonovsky kritisiert mit dieser Metapher das im biomedizinischen, pathogen orientierten Paradigma verankerte Bild von gesunden Medizinexpertinnen und -experten, die am Ufer stehen und versuchen, die Kranken, die zu ertrinken drohen, aus dem Fluss zu retten. Aus Antonovskys Sicht geht niemand sicher am Ufer entlang. Wir alle folgen dem Strom des Lebens und haben zu jedem Zeitpunkt gesunde und kranke Anteile in uns. Die Betrachtungsweise von Gesundheit und Krankheit als zwei Pole eines multidimensionalen Kontinuums und nicht als zwei sich gegenseitig ausschließende Zustände zieht einige Konsequenzen für die Begegnung zwischen therapeutisch Tätigen und ihrer Klientel nach sich. Eine Folge davon ist, dass gesund und krank keine Kriterien für Rollenzuweisungen mehr sein können. Damit vermindert sich auch die Gefahr einer ungleichen Machtverteilung, die mit Menschenbildern wie der gesunden allwissenden Expertinnen und Experten respektive den ahnungslosen, von ihnen abhängigen Patientinnen und Patienten einhergeht. Anstelle dessen wird eine Basis möglich, auf der eine partnerschaftliche Begegnung zwischen medizinisch oder therapeutisch Tätigen und psychisch erkrankten Menschen stattfindet. Nach Antonovsky sollte diese Begegnung von der folgenden Frage geleitet sein: „Verleitet die Erfahrung [innerhalb dieser Begegnung] den Klienten dazu, daß er sich in ihr als konsistent erlebt, daß die Belastungen ausgeglichen sind und daß er die Bedeutung versteht?“ (Antonovsky, 1987/1997, S. 119). Vor allem sollten der Kontakt und die Schritte der professionell Tätigen durch Transparenz gekennzeichnet sein. Antonovsky gibt zu bedenken, dass Krankheiten stresshafte Lebensereignisse sind, die mit viel Unverstehbarkeit und mit der Schwächung des SOC einhergehen. Selbst wenn dieser Zustand nur vorübergehend ist, wird er als unangenehm und verletzend empfunden. An Klinikerinnen und Kliniker stellt sich damit die Forderung, 67 nicht mit zusätzlichen Irritationen und noch mehr Unverstehbarkeit für einen größeren Schaden zu sorgen. Das Postulat, dass ein Zustand völliger Gesundheit nicht existiert, relativiert das im biomedizinischen Modell vorherrschende Gesundheitsideal. Alter, Krankheit und Tod werden in der Salutogenese als natürliche zum Leben gehörende Prozesse integriert. Entsprechend sollte in der Behandlung keine absolute Gesundheit angestrebt werden. Darüber hinaus fördert die Annahme, dass wir zu jedem Zeitpunkt bis zu unserem Tod in einem gewissen Ausmaß gesund sind, das Ausüben gleicher therapeutischen Zuwendung, egal welche Position der Patient oder die Patientin auf dem Gesundheits-Krankheits- Kontinuum einnimmt. Des weiteren lässt sich zum Behandlungsauftrag aus salutogenetischer Perspektive sagen, dass diese die Betrachtung des Menschen mit seiner gesamten Geschichte fordert und die Konzentration auf die bloße Ätiologie der Krankheit ablehnt. Antonovsky äußert seine Kritik zu einer Arbeitsweise, die aus einer bloßen instrumentalistischen, pathogenen Perspektive geschieht wie folgt: Man stelle sich einen Fluß mit einer Biegung vor. Flußabwärts, wo der Fluß starke Turbulenzen aufweist, sehen wir Menschen, die verzweifelt darum kämpfen, ihren Kopf über Wasser zu halten. Unter Zuhilfenahme einer großen Zahl von Instrumenten versuchen die Krankheitsversorgungsspezialisten mit großer Hingabe, mit Fertigkeiten und zähem Bemühen, diese Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Doch fast keine Aufmerksamkeit kommt dem zu und so gut wie gar nichts wird – so diese These – dafür getan, was flußaufwärts geschieht. Es wird nicht gefragt: Wer oder Was schmeißt diese Leute überhaupt in dem Fluß hinein? (Antonovsky, 1993, S. 5-6) Durch den Einbezug der gesamten Geschichte eines Menschen mit seiner Subjektivität, seinen sozialen Rollen und seinem aktuellen Lebenskontext verringert sich die Gefahr einer eingeschränkten, symptomorientierten Sichtweise der Professionellen. Letztere Haltung spiegelt sich im klinischen Fachjargon wieder, sobald vom „Herzinfarkt auf Zimmer 504“ die Rede ist (Antonovsky, 1987/1997, S. 23.). Antonovsky möchte Pathogenetikerinnen und Pathogenetikern an dieser Stelle keine verminderte Empathiefähigkeit oder Menschlichkeit unterstellen. Er stellt aber heraus, dass klinisch Tätigen, die aus der rein symptomorientierten Perspektive heraus handeln, wichtige ätiologische Daten entgehen könnten, die salutogenetisch Arbeitende in ihre Praxis 68 miteinbeziehen. Bei ihrer Arbeit sollten Therapeutinnen und Therapeuten ihren Fokus auf die internalen und externalen Ressourcen eines Menschen legen, die zur Stärkung des Kohärenzgefühls beitragen könnten. 69 4. Forschungsfragen Nach der vorangegangenen Erstellung eines Profils eines salutogenetisch orientiert arbeitenden Projektes dienen die nun aufgestellten Forschungsfragen der Überprüfung, ob das Jakobuswegprojekt diese Rahmenbedingungen erfüllt. Dabei lautet die übergreifende Fragestellung dieser Untersuchung: Wie wirken sich die Wanderung auf dem Jakobusweg und die Teilnahme am Jakobuswegprojekt auf den Gesundungsprozess psychisch kranker Menschen aus? Welche Rolle spielt der Jakobusweg? Um den Untersuchungsgegenstand aus salutogenetischer Perspektive zu überprüfen, sind die folgenden Fragen zu beantworten: 1. Ermöglichen das Jakobuswegprojekt und die Wanderung auf dem Jakobusweg das Erleben und die Förderung von Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit? 2. Welchen Stellenwert nimmt die SOC-Komponente Bedeutsamkeit ein? 3. Kann das Projekt psychisch kranken Menschen neue bedeutsame Lebensfelder erschließen oder wird es sogar gänzlich zu einem bedeutsamen Lebensfeld? 4. Können internale oder externale Widerstandsressourcen hinzugewonnen werden, die für ein Lebensmuster an Erfahrungen sorgen, welche durch Konsistenz, Belastungsbalance und Teilhabe an wichtigen Entscheidungsprozessen gekennzeichnet sind? 5. Wie wirkt sich die Teilnahme an der Jakobuswanderung oder am Jakobuswegprojekt auf das Copingverhalten psychisch kranker Menschen aus? 6. Kann das Projekt als chronische Widerstandsressource dienen? 7. Ist die Begegnung zwischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Patientinnen und Patienten salutogenetisch orientiert? 70 5. Hypothesen 5.1 Bisheriger Stand der Forschung Matthias Krisor, der Leitende Arzt des St. Marien-Hospitals Eickel, und Harald Pfannkuch, damaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter der Klinik, befragten bereits die Wandergruppen 1997 und 1998 zu den gesundungsfördernden Effekten der Pilgerreise (vgl. Krisor & Pfannkuch, 1999). Ihre Untersuchung setzte sich im Wesentlichen mit den folgenden Fragen auseinander: Welche Eindrücke während der Aktivität legen unter bedürfnisbezogenem Aspekt bei den einzelnen TeilnehmerInnen Ressourcen frei, die therapeutisch nutzbar sind? Hat sich bei der Teilnahme an der Pilgerreise eine Befindlichkeitsveränderung im subjektiven Erleben ergeben? Wie wurde diese wahrgenommen und über welche zeitliche Reichweite verfügte sie? Wie gestaltete sich die Beziehung zu den Mitpilgern im Vergleich zum innerklinischen Milieu? Dabei sollte zwischen MitarbeiterInnnen und NutzerInnnen der Institution unterschieden werden. Waren die an die Reise gebundenen körperlichen Anstrengungen zumutbar? Welche Menschen – im Vergleich zur gesamten Patientenpopulation der Herner gemeindepsychiatrischen Klinik - nahmen das Angebot wahr? (Krisor & Pfannkuch, 1999, S. 130) Zur Erforschung dieser Fragen wurde ein halbstandardisiertes Interview eingesetzt, das sieben offene Fragen beinhaltete und zwischen dreißig bis fünfundvierzig Minuten dauerte. Befragt wurden 24 Personen, darunter auch vier Mitwandernde, die an beiden Pilgerreisen teilgenommen hatten. Letztere wurden zu beiden Wanderungen interviewt. Die Untersuchungsgruppe setzte sich zu 71% aus stationären Patientinnen und Patienten und zu 29% aus tagesklinisch behandelten Teilnehmenden zusammen. Die Interviews erfolgten 14 Tage nach der Pilgerreise. Dabei stellte sich heraus, dass 75% der Befragten nach ihrer Rückkehr in den Alltag weiterhin die positive Auswirkung der Pilgerreise auf ihr Wohlbefinden wahrnahmen. Dabei stach die Gemeinschaftlichkeit als gesundungsfördernder Faktor deutlich heraus. Dieser wurde von 80% der Teilnehmenden benannt. Die nähere Auseinandersetzung mit den positiven Einflüssen der Gemeinschaft 71 auf die Gesundheit erfolgt in Abschnitt 5.2 dieser Arbeit, in dem es um die Herleitung von Hypothesen geht. Gruppenspezifisch betrachtet wurden die positiven Effekte der Jakobuswanderung hauptsächlich den folgenden Aspekten zugeschrieben: Die Wandergruppe 1997 führte die positiven Auswirkungen der Pilgerreise insbesondere auf die Gemeinschaftlichkeit oder auf die körperliche Belastung zurück. Dabei wurden acht Personen nach der aktuellen Reichweite der gesundungsfördernden Auswirkungen gefragt. Sechs dieser Personen gaben an, dass dieser positive Effekt noch bestünde. Die zwei weiteren Befragten bewerteten die therapeutischen Effekte als aufgehoben. Allerdings konnten sie sich noch an schöne Ereignisse erinnern, und schätzten diese als im Gedächtnis verbleibend ein. Folgende gesundungsfördernde Schwerpunkte konnten bei der Wandergruppe 1998 beobachtet werden: „ - krankheitssymptomreduzierende Wirkung, - die Bedeutung der Aktivität als Übungsfeld sozialer Kompetenzen, - Erfahrung von Lebenssinn, - erworbene körperliche Fitneß, - Erleben der Pilgerreise als ‘therapeutischen Crashkurs’ - eine daraus abgeleitete geringere stationäre Aufenthaltsdauer.“ (Krisor & Pfannkuch, 1999, S. 143). Acht von elf Interviewten gaben an, dass die therapeutische Reichweite der Pilgerreise noch immer aktuell gegeben sei. Zwei Personen bewerteten diese Reichweite sogar als sehr stark gegeben. Zwei weitere Teilnehmende sahen die Wirkung der Pilgerreise als mittlerweile abgeschwächt oder geringer an. Nur eine Person, die auch während der Wanderung keine positiven Effekte verspürte, nahm auch nach der Aktivität keine Auswirkungen wahr. Die Frage „Würden Sie noch einmal an einem derartigen Projekt teilnehmen?“ wurde von 22 der 24 befragten Personen eindeutig bejaht. Neunzehn Befragte gaben an, sich erneut uneingeschränkt beteiligen zu wollen, weil: „- ihnen die Reise gutgetan habe (Befindlichkeit verbessert), - sie Spaß empfanden, 72 - sich ein hoher Lerneffekt eingestellt habe“ (Krisor & Pfannkuch, 1999, S. 152). Drei Personen wünschten für die nächste Wanderung Veränderungen im Hinblick auf die Rahmenbedingungen wie z. B. „weniger anstrengende Mitwanderer, weniger Vorgaben zum Tagesablauf, mehr Begleitpersonal und exaktere Planung mit Verhaltensregeln“ (a. a. O.). Die Autoren kommen unter anderem zu dem Schluss, dass, auch wenn Langzeitstudien zum therapeutischen Nutzen noch ausstünden, die Patientinnen und Patienten von diesem Projekt erheblich profitieren. Die langfristige teilnehmende Beobachtung habe bisher ergeben, dass sich ein erheblicher Teil der kontinuierlich Teilnehmenden stabilisiert hat und nur sporadische bis keine Klinikaufenthalte benötigte. Jedoch sei diese Beobachtung bisher nicht wissenschaftlich abgesichert. „Eindeutig ist allerdings, dass die Wanderinnen und Wanderer ein hohes Maß an Lebensqualität empfanden, ihre empfundene Stabilität sich gebessert hatte und sie zudem eine Identität jenseits ihres psychopathologisch therapeutischen Prozesses erlebten“ (a. a. O., S. 158). 73 5.2 Aufstellung der Hypothesen Im Folgenden werden unter der Berücksichtigung des therapeutischen Hintergrundes des St. Marien-Hospitals Eickel sowie der Forschungsergebnisse von Krisor und Pfannkuch (1999) 1 die Hypothesen für diese Untersuchung abgeleitet. 5.2.1 Hypothesen zum Erleben und Förderung von Verstehbarkeit Haupthypothese V: Auf der Jakobuswanderung sind das Erleben und die Förderung von Verstehbarkeit möglich. Die Erfahrungen auf dem Jakobusweg zeigen, dass das Erleben und die Förderung von Verstehbarkeit auf unterschiedlichen Ebenen möglich sind. Ein Weg zur Wahrnehmung von Konsistenz wäre beispielsweise ein ständiges Wechselspiel zwischen überraschend auftretenden Ereignissen, die irritieren und zunächst das Gefühl von Verstehbarkeit unterbrechen und dem Erleben von Ordnung, Planung, Wiederholungen und Ritualen als Ausgleich. Zu den Ereignissen, die mit viel Unvorhersehbarkeit verbunden werden, zählt schon der Aufbruch zur Wanderung. Es gibt Teilnehmende, die sich in der Vorbereitungsphase stark engagiert haben oder schon einmal auf dem Jakobusweg gewandert sind und der Pilgerreise mit froher Erwartung gegenüberstehen. Allerdings kämpfen einige Interessentinnen und Interessenten sowohl bei der erstmaligen Teilnahme als auch bei einer wiederholten Teilnahme an der Jakobuswanderung mit vielen Selbstzweifeln. Sie fragen sich, trotz Erprobung ihrer Leistungsfähigkeit im Rahmen der Trainingswanderungen, weiterhin, ob sie dieser Aktivität psychisch und physisch gewachsen sind. Sie wissen noch nicht, ob sie mit der Gruppe oder mit ihrem Zimmernachbarn respektive ihrer Zimmernachbarin zurecht kommen, sie zweifeln an ihrem Trainingszustand, an ihrer Fähigkeit, sich in einem fremdsprachigen Land 1 Alle nun folgenden Erwähnungen von Krisor und Pfannkuch beziehen sich in diesem Kapitel auf: Krisor, M. & Pfannkuch H. (1999). Psychiatrie auf dem Jakobusweg: Theorie - Praxis - Empirie. In M. Krisor & H. Pfannkuch (Hrsg.), Psychiatrie auf dem Weg - Menschenbild, Krankheitsverständnis und therapeutisches Handeln (S. 123-161). Lengerich: Pabst. 74 zurechtzufinden usw.. Eigentlich sind es Themen, mit denen sich auch durchschnittlich gesunde Menschen vor dem Aufbruch zu einer solchen Pilgerreise auseinandersetzen. Die Sorge, die aber psychisch Erkrankte zusätzlich mehr oder weniger beschäftigt, ist, ob sie bei diesen Belastungen ihre Erkrankung handhaben können. Der Mangel an Zuversicht und die Unvorhersehbarkeit der Situation lässt so manche Interessentin bzw. Interessenten in der letzten Vorbereitungsphase verzagen. Neben der hier geschilderten länger anhaltenden Phase der Unvorhersehbarkeit vor dem Aufbruch, begegnen der Gruppe auf dem Jakobusweg alltägliche Widrigkeiten, die für kurzfristige - aber je nach Stärke des Kohärenzgefühls für durchaus beachtliche - Irritationen sorgen können. Die Natur und Witterungsverhältnisse bedingen authentische Hindernisse auf dem Weg, die insbesondere die Wanderführenden 1 aus dem Konzept bringen können. Beispielsweise können Wege umgeleitet worden sein, so dass die Wegbeschilderung vor Ort nicht mehr mit der Route in der Wanderkarte übereinstimmt. Diese Tatsache beeinflusst den Verlauf der gesamten Tagesetappe und fordert von den Wanderführerinnen und -führern eine möglichst schnelle Klärung der Situation, denn niemand geht an einem heißen Spätsommertag gerne Umwege. Zu extremeren, länger anhaltenden Stresssituationen, deren Ausgang nicht unbedingt vorhersehbar ist, zählt sicherlich ein Benzinstreik in Frankreich, der aufgrund des immer knapper werdenden Benzinvorrates zu einem vorzeitigen Abbruch der Wanderung hätte führen können. Das erschütternde Ereignis schlechthin waren die Terroranschläge auf die USA am 11. September 2001. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Gruppe in Espalion, über tausend Kilometer von ihrem Zuhause entfernt. Diese Beispiele sind nur Auszüge zahlreicher überraschend auftretender Situationen, die mit unterschiedlicher Intensität das Gefühl von Konsistenz, Ordnung und Vorhersehbarkeit stören können. Auf der anderen Seite gibt es während der Wanderung viel Struktur und Planung, viele sich wiederholende Abläufe und Rituale, die den Teilnehmenden das Gefühl von Konsistenz und Kontinuität vermitteln sollten. Daher lautet die Hypothese V1 zur Förderung von Verstehbarkeit: 1 Die Wanderführenden sind ein Team, das aus zwei Personen besteht und die Gruppe mit einer Wanderkarte durch eine Tagesetappe der Jakobuswanderung führt. 75 Hypothese V1: Während der Wanderung wird Verstehbarkeit bzw. die Wahrnehmung von Konsistenz gefördert durch die permanente Erfahrung eines Ausgleichs zwischen möglichen Ereignissen, die das Erleben von Vorhersehbarkeit und Ordnung unterbrechen und Aspekten, die die Erfahrung von Konsistenz und Verstehbarkeit fördern. Das Konzept der Klinik schafft bereits eine Basis für eine Begegnung zwischen Mitarbeitenden und Patientinnen und Patienten, die aus salutogenetischer Sicht als gesundungsfördernd zu bewerten ist. Die Rollenvielfalt, Subjektivität, die Ressourcen und der soziale Kontext eines Menschen fließen in die Therapie ein. Darüber hinaus setzt das Ziel, mit Patienten und Patientinnen zu verhandeln und diese nicht zu behandeln einen Wissensstand auf Seite der Klientel voraus, auf dessen Basis eine Verhandlung möglich wird. Diese Vorgehensweise spricht für viel Transparenz und Verstehbarkeit innerhalb der therapeutischen Begegnung und für den Einbezug der Betroffenen in die Therapiegestaltung. Dadurch minimiert sich bereits im therapeutischen Setting der Klinik die Gefahr, dass sich die Mitarbeitenden wie allwissende Expertinnen und Experten über die von ihnen abhängigen unwissenden Kranken erheben. Somit ist zu erwarten, dass diese heilsame Begegnung, die insbesondere durch Transparenz und Verstehbarkeit gekennzeichnet ist, auf der Jakobuswanderung weiter praktiziert wird oder sogar durch die besonderen Rahmenbedingungen außerhalb der Institution noch intensiver praktiziert werden kann. Die gemeinsame Gestaltung der Pilgerreise erfordert nämlich eine Vielfalt an Ressourcen, die über die therapeutische Professionalität aller beteiligten Berufsgruppen weit hinausgeht. Je nach Situation sind Französischkenntnisse, logistische Fertigkeiten, Kfz-Kenntnisse, ein Fundus an Wanderliedern, eine gute Stimme, Fröhlichkeit und viele andere Ressourcen nicht minder geschätzte Güter als therapeutische Fertigkeiten. Der Experte oder die Expertin ist hier die Person, die die Gruppe durch die Geschichte der Region führen kann, die im Notfall den „Bulli“ repariert, die die Gruppe sicher durch die Abenteuer der französischen Küche leitet, die mit Humor angespannte Situationen entschärfen kann oder die die geschwächten Wanderinnen und Wanderer mit einem Lied dazu motivieren kann, auch die letzten Kilometer der Tagesetappe zu gehen. Krisor und Pfannkuch (1999) beschreiben das Spannungsverhältnis, in dem sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter befinden wie folgt: 76 In der Befragung wurde deutlich, dass seitens der teilnehmenden PatientInnen eine veränderte Rolle verlangt wurde, die verstärkt auf den Bereich der authentischen Persönlichkeit der MitarbeiterInnen abzielte. Zum einen bestand der Wunsch, dass auch die MitarbeiterInnen sich als Pilger identifizierten – dieses wurde besonders kritisch beäugt; ... zum anderen wurden aber auch explizit ärztliche und therapeutische Kompetenzen eingefordert, sogar ausdrücklich persönliche Autorität den beteiligten MitarbeiterInnen abverlangt, um auch schwierige Gruppensituationen klären zu können. ( S. 158-159) Es scheint so, als sei es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bisher immer gelungen eine therapeutische Beziehung zu ermöglichen, in der sich alle Beteiligten in ihrer Rollenvielfalt begegnen konnten, ohne dass es zu gegenseitigen Grenzüberschreitungen oder zu Konfusionen im Kontakt gekommen ist. Dabei erfordert dieser besondere Kontakt in Krisensituationen viel Professionalität und Fingerspitzengefühl. Krisor und Pfannkuch schildern das so: Deutlich tritt hier eine Erwartungshaltung auf, die den MitarbeiterInnen ein hohes Maß professioneller und persönlicher Kompetenzen abverlangt. Wurde ihnen bereits die für eine klare Rollenzuteilung sorgende Institution ‘Klinik’ als haltgebender Spielraum ihres Handelns entzogen, müssen sie sich zudem noch unmittelbarer dem Handeln zwischen Distanz und Nähe stellen - und dies gegenüber Menschen, die häufig sehr sensibel für Verletzungen in diesem Bereich sind. (S. 159) Entsprechend gilt es bei der Wandergruppe 2001 zu untersuchen, ob dem multiprofessionellen Team die Gestaltung einer gesundungsfördernden Begegnung insbesondere im Bereich Verstehbarkeit gelungen ist und wie sich diese Begegnung auf den therapeutischen Prozess auswirkt. Daher lautet die nächste Hypothese zum Erleben und zur Förderung von Verstehbarkeit wie folgt: Hypothese V2: Die Rahmenbedingungen der Aktivität fördern eine salutogenetisch orientierte Begegnung zwischen den Mitarbeitenden und den Patienten und Patientinnen. Die Begegnung ist trotz der Rollenvielfalt und des besonderen Kontaktes 77 durch Transparenz und Verstehbarkeit gekennzeichnet, was zu weiteren Widerstandsressourcen innerhalb der Verstehbarkeits-Komponente führt. Eine Wanderung auf dem Jakobusweg bietet individuelle Bildungsmöglichkeiten auf unterschiedlichen Gebieten. Der starke kulturelle und religiöse Hintergrund des mittelalterlichen Pilgerweges führt kaum an dem Zugewinn von Wissen vorbei. Die tägliche eigenständige Versorgung mit Lebensmitteln und Begegnungen am Wegesrand fordern in einem fremdsprachigen Land außerdem die Aneignung eines entsprechenden Vokabulars. Darüber hinaus ist stark zu vermuten, dass die kontinuierliche Auseinandersetzung mit der körperlichen Leistungsfähigkeit und die fachkundige Begleitung dieser Selbsterfahrung durch ein multiprofessionelles Team zur besseren Verstehbarkeit des Körpers führen. Zu erwarten wäre beispielsweise ein klareres Verstehen der Zusammenhänge zwischen körperlicher Anstrengung und psychischer Befindlichkeit. Möglich wäre hier die Erkenntnis, dass sich das Wandern als eine ideale Ressource zum Spannungsabbau eignet und auch prophylaktisch ein Weg zu mehr Wohlbefinden sein kann. Die häufige Erfahrung bewegungstherapeutischer Praxis ist, dass psychisch kranke Menschen die Bewegung aus Angst vor Kontrollverlust oder der Verschlechterung der psychischen Befindlichkeit meiden. Letzteres ist durchaus nachvollziehbar, da mit der körperlichen Bewegung auch das Denken, Erleben und Fühlen in den Gang kommt, was nicht immer positiv besetzt ist. Jedoch gilt es aus bewegungstherapeutischer Sicht darum, genau diese Prozesse aufleben zu lassen, sie gemeinsam zu reflektieren und sie dadurch handhabbarer zu machen. Dazu sagt Hölter (1993) unter Bezugnahme auf Bittner (1977): Das Ich wird vollständiger seiner selbst bewusst und mächtig, wenn es die Funktionsweise und Steuerung seiner Atmung, die Regeln des Spiels u. v. m. lernt. Das heißt, die ichzugewandte Wirkung kann sich nur dann entfalten, wenn der sachliche Gehalt auch sachgerecht vermittelt wird. So kann z. B. die individuelle Reaktion auf psychische Belastung nur dann sinnvoll thematisiert werden, wenn tatsächlich vorher Belastungen hinreichend erfahrbar gemacht wurden, oder die Frage nach der Bedeutung von Kontrolle macht erst dann Sinn, wenn der Wechsel von Kontrolle und Kontrollverlust (wie z. B. bei Trampolinspringen) intensiv erlebt wurde. (S. 25-26) Die Wanderung auf dem Jakobusweg bietet die Chance, durch körperliche Anstrengungen Themen wie die Dosierung von Belastung und Entlastung, Anpassung persönlicher 78 Leistungsansprüche, Umgang mit Erwartungen und Enttäuschungen, Nähe und Distanz, eigene Grenzen spüren und noch viele andere psychotherapeutische Themen zu erleben. Dieses Erleben kann dann reflektiert werden und in biographische sowie pathogenetische respektive salutogenetische Zusammenhänge eingeordnet werden. Die Untersuchungen von Krisor und Pfannkuch zeigen, dass ein Teil der Befragten die salutogene Wirkung der körperlichen Anstrengung auf das Wohlbefinden erkannt hatte. Die Aussagen von zwei Personen machen jedoch auch darauf aufmerksam, dass bei psychisch kranken Menschen ein Bedarf an Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten in Bezug auf Bewegungsformen besteht, weil sie die Bewegung an sich angstbesetzt erleben können oder eventuell falsche Erwartungen hinsichtlich der Auswirkungen von körperlicher Anstrengung auf ihre Psyche haben. So berichten die Autoren von einer Person der Wanderungen 1997/1998, die die körperliche Anstrengung als belastend empfand, weil sie sich ständig um ihre psychische und physische Gesundheit sorgte, was für ein starkes Bedürfnis nach mehr Verstehbarkeit dieser Zusammenhänge spricht. Eine andere Person dagegen konnte mit ihren Erfahrungen diese Befürchtungen die Bewegung anbetreffend ausräumen. Sie stellte fest, dass körperliche Müdigkeit keine psychischen Folgen im Sinne einer Befindlichkeitsverschlechterung hat. Damit kann bei ihr erwartet werden, dass mehr Verstehbarkeit des Körpers, angstbesetzte Haltungen und falsche Erwartungen, die den Spaß und den Sinn an Bewegung vereiteln, gemindert hat. Anstelle dessen könnte das Wandern von ihr als eine Möglichkeit zur positiven persönlichen Zuwendung entdeckt werden. Abgesehen von der Vermittlung an Kenntnissen psychophysiologischer Prozesse bietet eine Jahresetappe von etwa 180 km, die von erfahrenen Wanderern und Wanderinnen sowie von einem multiprofessionellen Team (darunter auch Bewegungstherapeut/-innen) begleitet wird, gute Voraussetzungen zum sachgerechten Erlernen einer Sportart. Die Kenntnisse zur Planung und Durchführung einer Tagesetappe, zur Ausrüstung, Aufwärmübungen, logistische Abläufe beruhen auf jahrelangen Erfahrungen und werden sogar vom Fachpublikum bei VHS-Vorträgen der Pilgergruppen erfragt. Mit diesem Wissen kann das Wandern auch im Alltag sachgerecht praktiziert werden und die Scheu vor unverstehbaren Situationen auf diesem Gebiet müsste deutlich zurückgehen. Basierend auf diesen erwählten Beispielen eines großen Potentials zur Förderung von Verstehbarkeit lautet die Zusammenfassung zur Hypothese V3 wie folgt: 79 Hypothese V3: Auf dem Jakobusweg wird die SOC-Komponente Verstehbarkeit durch den Zugewinn an Wissen in verschiedenen Sachgebieten gefördert. Diese Kenntnisse unterstützen eine Person dabei, interne und externe Stimuli als kognitiv sinnhaft wahrzunehmen bzw. bei der Verstehbarkeit neuer Informationen und Situationen. 5.2.2 Hypothesen zum Erleben und zur Förderung von Handhabbarkeit Haupthypothese H: Auf der Jakobuswanderung sind das Erleben und die Förderung von Hand- habbarkeit möglich. Der Jakobusweg stellt die Wanderinnen und Wanderer täglich vor zahlreiche Anforderungen, die sie dem therapeutischen Konzept nach möglichst selbständig zu bewältigen haben. Dabei erfordert die Aufrechterhaltung der persönlichen Belastungsbalance nahezu zwangsläufig die Aktivierung oder das Erlernen individueller Ressourcen zur Spannungsbewältigung. Ein wesentliches basales Erfahrungs- und Lernfeld ist hierbei der eigene Körper. Mögliche hochsommerliche Temperaturen, steile An– und Abstiege, Medikamente und andere Rahmenbedingungen, bei denen fast täglich 15-20 Kilometer gegangen werden müssen, lassen die Wanderer und Wanderinnen ihre Belastungsgrenzen spüren. Die wechselnden Landstriche bedingen auch Unterschiede in der Wegbeschaffenheit und ab und an versperren Hindernisse den Weg, die bewältigt werden müssen. Somit werden verschiedene motorische Fertigkeiten angesprochen wie Koordination, Muskelkraft, Ausdauer, Gleichgewicht oder Bewegungsflexibilität. Es ist davon auszugehen, dass mit der zunehmenden Verstehbarkeit und Schulung des eigenen Körpers auch eine verbesserte Handhabbarkeit der physischen und psychischen Aspekte erwartet werden kann. Bei Krisor und Pfannkuch (1999) zeigte es sich, dass „die körperlichen Anstrengungen eher als positive Herausforderung anzusehen sind, die ... von einem Teil der TeilnehmerInnen sogar therapeutisch funktionalisiert wurde. Die körperliche Belastung wurde insbesondere von einigen Pilgern ursächlich für die Befindlichkeitsverbesserung genannt“ (S. 152). Für diese Beobachtung sprechen 80 Nennungen der Befragten wie: „kann Stimmen besser verkraften“, „bin ruhiger geworden, kann besser einschlafen“, „gesundheitsstabilisierend durch Wohlbefinden“ oder die Erkenntnis, dass die körperliche Belastung aktivierend sei bzw. den Bewegungsdrang fördere und sich im weitesten Sinne antidepressiv auswirke. Die zusammenfassende Bewertung der körperlichen Belastung seitens der Teilnehmenden stellt sich wie folgt dar: zehn Befragte hatten während der Wanderung keine Probleme mit körperlichen Anforderungen, zwölf Teilnehmende nahmen Beschwerden wahr, darunter drei Personen, die diese Beschwerden als Belastung empfanden. Neben zwei weiteren Interviewten, die den Anstrengungen ziemlich gleichgültig gegenüberstanden, konnten zwei Personen durch die körperliche Betätigung extrem positive Effekte verbuchen wie z. B.: „Erkenntnis, dass körperliche Müdigkeit keine psychischen Folgen hat sowie das Erfolgserlebnis, bei den Bergen vorneweg zu wandern/Spitzname: ‘Bergziege’“(a. a. O., S. 152). Sieben weitere Personen nahmen die körperliche Belastung als Herausforderung wahr und waren stolz auf ihr Durchhaltevermögen. Somit wären das Wandern und der eigene Körper in jedem Fall ein Erfahrungsfeld, innerhalb dessen persönliche Widerstandsressourcen im Bereich der Handhabbarkeit gewonnen werden können, da die Teilnehmenden kontinuierlich vor Anforderungen gestellt werden und sie durch die Bewältigung dieser Anforderungen nach den Ergebnissen von Krisor und Pfannkuch wachsen. Ein weiteres Erfahrungsfeld, das persönliche Bewältigungsstrategien herausfordert, ist der tägliche Kontakt mit der Gemeinschaft. Die Gruppe ist überwiegend präsent. Auch die Nachtruhe wird mit dem Zimmernachbarn oder einer Zimmernachbarin geteilt. Entscheidungen werden immer gemeinsam getroffen und persönliche Bedürfnisse müssen hier und da in den Hintergrund treten. Das nahezu permanente Umgebensein von anderen Menschen drängt im Hinblick auf die Belastungsbalance zur Mobilisierung bzw. Weiterentwicklung von sozialen Fertigkeiten, wie z. B. Kooperation, Rücksichtnahme, Anpassungsfähigkeit, Abgrenzung, Kommunikationsfähigkeit und ganz besonders zur Übung eines gesundungsfördernden Umgangs mit Nähe und Distanz. Der Zugewinn an sozialer Kompetenz durch die Gemeinschaft konnte auch in der bisherigen Begleitforschung des Projektes beobachtet werden. Es bleibt zu überprüfen ob und wie die befragte Gruppe 2001 in diesem Bereich von der Gemeinschaft profitiert. Zu den eben genannten Möglichkeiten, welche die Zuversicht in die individuellen Ressourcen zur Handhabbarkeit von Situationen stärken können, kommen viele 81 alltagspraktische Fertigkeiten hinzu, die auf dem Jakobusweg trainiert werden können. Dazu zählt die tägliche Versorgung mit Proviant und Wasser, das Fragen nach dem Weg, das Einkaufen auf dem Markt und noch Vieles mehr. Das Wesentliche bei diesen Anforderungen ist, dass diese nicht in einem klinisch therapeutischen Setting konstruiert sind, sondern sich aus dem Kontext heraus, meist zufällig auf natürliche Weise ergeben. Die Aufgaben sind authentisch, ihre Bewältigung fällt dem einen oder der anderen schon zu Hause schwer und sie müssen ausgerechnet in einem fremdsprachigen Land bewältigt werden. Umso gewichtiger ist die Auswirkung einer erfolgreich bewältigten Situation auf den Gesundungsprozess einzuschätzen, und es ist vorstellbar, dass sich der Erfolg auf die Zuversicht in persönliche Bewältigungsressourcen im Alltag auswirkt. Daher wurde die folgende Hypothese aufgestellt: Hypothese H1: Auf der Jakobuswanderung werden persönliche / internale Widerstands- ressourcen erworben, die im Alltag zur Belastungsbalance aktivierbar sind, sobald innere und äußere Stimuli für Spannungszustände sorgen. Wie bereits gesagt, ist auf dem Jakobusweg eine permanente Konfrontation mit Anforderungen zu beobachten, die vermutlich zum (Wieder-)entdecken von eigenen Widerstandsressourcen anregt. Darüber hinaus ist bei aversiven Ereignissen oder in Fällen von Anspannung immer jemand zur Stelle, der helfen könnte. Zu diesen externalen Ressourcen zählen die Gruppe, die Mitarbeitenden, Menschen am Wegesrand und vor allem die große internationale Gemeinschaft der Jakobuspilgerinnen und -pilger, die bei Fragen und sonstigen Anliegen immer unterstützend zur Seite steht. Darüber hinaus wurden bisher alle Schwierigkeiten, sollten sie noch so schwerwiegend gewesen sein, gelöst und es ist allseits bekannt, dass die Pilgerreise noch nie aufgrund von irgendwelchen unüberwindbaren Hindernissen vorzeitig abgebrochen wurde. Daher ist davon auszugehen, dass es sowohl der Gemeinschaft als auch den Mitarbeitenden respektive anderen Faktoren gelingt, den Teilnehmenden während der Wanderung eine starke Zuversicht in die Handhabbarkeit von Situationen jeglicher Art zu vermitteln. Das kontinuierliche Erleben dieser Zuversicht und der Belastungsbalance während der gesamten sechzehn Tage der Pilgerreise kann zu einer Widerstandsressource bei 82 schwierigen Problemen im Alltag werden. Daher wird in Hypothese H2 die folgende Annahme formuliert: Hypothese H2: Das kontinuierliche Erleben, dass im Falle von Spannungszuständen, verursacht durch innere und/oder äußere Stimuli, genügend Ressourcen zur Verfügung stehen, um diese Stimuli handhaben zu können, stärkt auch die Zuversicht in die Handhabbarkeit von Situationen des Alltags. Ein wesentlicher Aspekt bei der Vermittlung dieser Zuversicht - besonders in externale Ressourcen - ist vermutlich die Gruppe und das Gefühl der Gemeinschaftlichkeit. In der Erhebung von Krisor und Pfannkuch stellte sich heraus, dass in beiden Wandergruppen 1997 und 1998 die Gemeinsamkeit im Sinne von ‘Gemeinschaftlichkeit’,‘ Gemeinschaftsgefühl’, ‘Gemeinschaftserlebnis’, ‘Gruppenerleben’ oder ‘Zusammensein’ eine herausragende Bedeutung hatte. Darüber hinaus geht aus den Angaben der Teilnehmenden die Wertschätzung der Gemeinschaft aufgrund ihrer angstlösenden, beruhigenden Wirkung auf die einzelne Person hervor. Nennungen wie „Geborgenheit“, „Wohlbefinden“, „innere Ruhe“, „vertrauensfördernd und angstmindernd“ oder „Familiengefühl“ (S. 137), mit denen die Auswirkungen der Gemeinschaft beschrieben wurden, lassen auf eine starke Zuversicht in die Ressourcen der Gruppe schließen. Neben vielen anderen Gemeinsamkeiten wächst diese Verbundenheit sicherlich mit dem täglichen Gang auf dem Jakobusweg als Jakobuspilgerin und –pilger auf dem Weg nach Santiago de Compostela. Unterstützt wird die Entwicklung des Wir-Gefühls mit der gemeinsamen Bewältigung der dazugehörenden Anforderungen. Darüber hinaus fördert das therapeutische Team auch die Entstehung einer starken Gemeinschaft, in der jeder die Verantwortung für das Gelingen des Projektes übernimmt. Es ist daher zu erwarten, dass sich auch bei der Wandergruppe 2001 ein guter Zusammenhalt in der Gruppe gebildet hat und dieses Gefühl von „Wir schaffen das schon irgendwie“, also die Zuversicht in die Handhabbarkeit von Situationen aller Art präsent ist. Daher hier die Hypothese H3: Hypothese H3: Insbesondere die sehr intensive Wahrnehmung von Gemeinschaftlichkeit 83 stärkt die Zuversicht der Teilnehmenden in die Handhabbarkeit von Anforderungen des Weges. Das Jakobuswegprojekt bietet im Rahmen der Projektarbeit und der Jakobustreffen die Möglichkeit, den Kontakt zur Gruppe aufrechtzuerhalten und diese Erfahrung, dass Anforderungen gemeinsam bewältigt werden können, auch nach der Wanderung immer wieder zu erleben. Die Begleitforschung zeigt, dass bei den Angaben der damaligen Teilnehmenden von 90 Nennungen zum Thema Kontakt zur Gruppe generell 68 Nennungen positiv waren und dass 36 Nennungen einen vornehmlich guten bis sehr guten Kontakt beschrieben. Das zuvor erwähnte intensiv erlebte Gefühl von Gemeinschaftlichkeit und die positiven Rückmeldungen im Hinblick auf den Kontakt zur Gruppe sprechen für eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kontakt zur Gemeinschaft im Jakobuswegprojekt respektive im privaten Rahmen fortgeführt wird. Dieser Umstand wirkte sich insofern gesundungsfördernd aus, als dass die Möglichkeit bestünde, die Zuversicht in externale Ressourcen zur Handhabbarkeit von Alltagssituationen kontinuierlich zu bestärken. Die entsprechende Hypothese H4 lautet: Hypothese H4: Die Zuversicht in externale Ressourcen zur Handhabbarkeit von Alltagssituationen wird nach der Jakobuswanderung durch den Kontakt zur Gemeinschaft (z. B. im privaten Rahmen oder im Jakobuswegprojekt) weiterhin kontinuierlich bestärkt. 84 5.2.3 Hypothesen zum Erleben und zur Förderung von Bedeutsamkeit Haupthypothese B: Auf der Jakobuswanderung sind das Erleben und die Förderung von Bedeutsamkeit möglich. Die bisherigen Untersuchungen sprechen bereits dafür, dass auf dem Jakobusweg viele sinngebende, Freude bereitende Aktivitäten erlebt werden können. Eine der befragten Personen fasst die möglichen therapeutischen Effekte auf Bedeutsamkeitsebene, um die es in dem nachstehenden Kapitel gehen wird, mit den folgenden Worten zusammen: „Man ist zwar kein neuer Mensch geworden, hat aber eine schöne Zeit verbracht, an die man sich gerne erinnert und ein paar neue Hobbies gewonnen“ (Krisor & Pfannkuch, 1999, S. 154). Die Aussage dieser Person weist auf, dass auf dem Jakobusweg sinngebende Ereignisse möglich sind, die auf unterschiedliche Weise als Widerstandsressourcen im Alltag wirken könnten. Eine schöne Zeit, an die man sich gerne erinnert, könnte zur wichtigen Kraftquelle in Krisensituationen werden. Nach Antonovsky fördert die Wahrnehmung von Freude und Lebenssinn die Motivation zum Engagement. Für den Anstieg an Motivation sprechen einige Angaben von Teilnehmenden der Wandergruppe 1998, die sich auf die Auswirkungen der Pilgerreise beziehen. Die Rede ist von: „Vorfreude auf Wanderung im nächsten Jahr“, „Zufriedenheit erreicht; Motivation für nächste Etappe; Jakobusweg zu einer täglichen Beschäftigung geworden“, „Farbe in den tristen Tagesablauf gekommen“ oder „Wiederentdeckung von Hobbies (Kunst, Geschichte)“ (a. a. O., S. 144-145). Neue Hobbies sind gleichsam neue bedeutsame Lebensfelder, die das Kohärenzgefühl stärken. Für ihre Entdeckung bietet allein der Jakobusweg unzählige Möglichkeiten. Die bloße Auseinandersetzung mit seinem historischen und religiösen Hintergrund, der sich über ganz Europa erstreckt, kann zu einer Lebensaufgabe werden. Das der Gruppe langjährig bekannte Autoren-Ehepaar Herbert und Annemarie Schmoranzer 1 ist ein gutes Beispiel dafür, dass der mittelalterliche Pilgerweg unerschöpfbare Betätigungsfelder bietet. H. und A. Schmoranzer haben sich mit ihrer Forschungsarbeit lediglich auf die Rekonstruktion 1 Schmoranzer, A., Schmoranzer, H., Scheele, F.-N. (2004). Wandern und Pilgern auf der Heidenstraße. Auf den Spuren der Jakobuspilger im kurkölnischen Sauerland zwischen Oberkirchen und Attendorn. Paderborn: Bonifatius. 85 alter Pilgerwege im Sauerland beschränkt und können bereits auf jahrelange Untersuchungen zurückblicken, die sie in Wanderführern veröffentlichen. Man stellt aber schon bei einer weniger aufwendigen Auseinandersetzung mit dem Jakobusweg, unter Umständen mit einem Blick ins Internet, fest, dass man Teil einer großen Gemeinschaft geworden ist, die das gleiche Interesse verfolgt. Dabei eröffnen sich ungeahnte Möglichkeiten neuer Kontakte. Schon während der Jakobuswanderung selbst wird deutlich wie schnell und unkompliziert es sein kann, mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen. Zu Hause begleitet einen das Thema Jakobusweg unterschwellig weiter. Man ertappt sich dabei, wie beim Betreten einer Kirche der Blick automatisch auf die Heiligenfiguren fällt, neugierig darauf, einen Apostel mit Pilgerhut, Wanderstab, Jakobsmuschel und Kallebasse zu finden. Hier und da überprüft man Straßenschilder oder Namen von Gaststätten auf ihre Bezüge zu dem damaligen Pilgerkult. Erstaunlich ist auch die Erfahrung, wie viele Freunde und Bekannte sich bereits mit dem Jakobusweg beschäftigt haben, ohne dass zuvor jemals darüber gesprochen wurde. Einige sind sogar ein Stück auf diesem Weg gegangen oder haben es noch vor. Abgesehen von den historischen, spirituellen und gesellschaftlichen bzw. sozialen Komponenten des mittelalterlichen Pilgerweges bieten das Land Frankreich mit seiner kulturellen Vielfalt und die via podiensis, die als schönste Route der Jakobuswege gilt, viele unvergessliche Sinneseindrücke und machen Lust auf mehr. Das bestätigen auch die Ergebnisse von Krisor und Pfannkuch. Bei fünf Teilnehmenden konnte beobachtet werden, dass der Aufenthalt in einem fremden Land für sie nachhaltig beeindruckend war. Eine bedeutende Rolle spielten dabei das Essen und die Atmosphäre oder aber die bloße Neugierde sowie das Interesse an diesem Land. Darüber hinaus wurde das Natur- und Wandererlebnis von neunzehn der 24 Teilnehmenden als herausragendes Ereignis genannt. Sinngebende und bedeutsame Ereignisse können auch neue Freundschaften sein sowie Erlebnisse, die man in einer Gemeinschaft erlebt hat und nach der Pilgerreise mit dieser Gemeinschaft immer wieder aufleben lassen kann. Im Übrigen stellt die Gemeinschaft im Hinblick auf das Erleben von Bedeutsamkeit ein weiteres wichtiges Erfahrungsfeld dar. Bei den Befragten in der Publikation 1999 bewerteten 80 % der Teilnehmenden die Gemeinschaftlichkeit als das Ereignis mit besonderer Bedeutung. Das persönliche erweitere Wohlbefinden, als eine Auswirkung der Gemeinschaftlichkeit, wurde mit der positiven Atmosphäre innerhalb der Gruppe erklärt. Diese spiegelte sich wieder in 86 Nennungen wie: „Freundschaft“, „Kameradschaft“, „Solidarität“, „der generelle Kontakt“ oder in der Beschreibung „einfach schöne Atmosphäre“ (Krisor & Pfannkuch, 1999, S. 138). Demzufolge besteht auch bei der Wandergruppe 2001 die Möglichkeit, dass die positive Auswirkung von Kontakten auf das psychische Wohlbefinden erkannt wird, dass mögliche gemeinsame Interessen entwickelt werden und dass die Wandergruppe oder einzelne Kontakte auch nach der Pilgerreise zu einem neuen wichtigen Lebensfeld werden. Das Wandern kann ebenso aus unterschiedlichen Gründen als sinnvolle Tätigkeit erkannt werden. Entsprechend spielte neben der Gemeinschaftlichkeit auch die körperliche Belastung im Gesundungsprozess der Wandergruppen 1997 bzw. 1998 eine wichtige Rolle. Das Gehen in freier Natur kann viele schöne visuelle Eindrücke verschaffen, die Freude machen, die Erinnerungen wachrufen und insgesamt positiv stimmen. Außerdem zeigt sich, dass das Natur- und Wandererlebnis miteinander verwoben sind: „Das Wandern führte zu einer spezifischen Erfahrung der Natur, das Erleben der Natur ist ein wesentliches sinngebendes Element für die Bereitschaft zu wandern“ (a. a. O., S. 138). Der Sinn im Wandern könnte auch darin gesehen werden, dass es eine wichtige Ressource auf dem Weg zu mehr Belastungsbalance sein kann. Sofern die Belastungsbalance auf dem Jakobusweg durch das Wandern erlebt wurde, könnte diese Aktivität als gesundungsförderndes Hobby auch nach der Pilgerreise bedeutend werden. Dass einige Teilnehmende der Wanderungen 1997/1998 die Verbesserung der Befindlichkeit auf die körperliche Betätigung zurückgeführten, wurde bereits bei der Aufstellung der Hypothese H1 erwähnt. Acht Pilgerinnen und Pilger machten die positiven Auswirkungen des Wanderns an konkreten Körperempfindungen fest. Dabei erlebten fünf Teilnehmende das Wandern als wohltuend, zwei sahen in dem Wandern ein neues Hobby und eine Person beschrieb ihre Wahrnehmung mit den Worten „einfach schön“. Den gesamten Überlegungen zufolge wurde Hypothese B1 aufgestellt: Hypothese B1: Auf der Jakobuswanderung wird das Erleben von Bedeutsamkeit durch viele, Freude bereitende, sinnstiftende Aktivitäten respektive durch das (Wieder-)entdecken von Hobbies gefördert. 87 Die Vorbereitung und die Durchführung der Jakobuswanderung sowie die Gestaltung der Zeit danach obliegt der gesamten Gruppe. Daher gibt es für Einzelne viele Möglichkeiten zum Erleben von Mitsprache und Partizipation. Ein Weg zur Mitgestaltung läge zunächst in der Übernahme von Aufgaben unterschiedlichen Schweregrades, die für die Gruppe wichtig sind. So setzt sich beispielsweise der Wanderführer oder die Wanderführerin am Abend vor der nächsten Tagesetappe mit der Wanderstrecke auseinander. Zu eruieren sind insbesondere mögliche Pausen– oder Besichtigungspunkte sowie Parkmöglichkeiten für die Fahrzeuge, die dann in die Wanderkarten eingetragen werden. Im Zweierteam führen diese Amtsträger die Gruppe durch die Strecke. Vorneweg marschiert der oder die Fahnenträgerin, die die Wandernden vor einer stark befahrenen Landstraße anhält, damit diese gemeinsam sicher überquert werden kann. Am Schluss der Gruppe geht ebenso eine Person mit einer Fahne, die darauf achtet, dass niemand verloren geht. Diese Aufgabenfelder wurden von der Gruppe im Zuge ihrer Erfahrungen auf dem Jakobusweg entwickelt und haben sich im Laufe der Jahre immer wieder bewährt. Darüber hinaus liefern spontan sich ergebene Situationen Möglichkeiten, in denen auf die Ressourcen Einzelner zurückgegriffen werden kann. Die Kultur- und Geschichtsinteressierten springen beispielsweise ein, wenn historische Bauwerke zu besichtigen sind. Wer französisch sprechen kann, übersetzt am Abend die Menükarte oder hilft der Gruppe in sonstigen Situationen aus der Bredouille. Gut zu wissen ist auch, wenn jemand über Kfz-Fertigkeiten verfügt und mit der Zeit weiß jeder, wer anzusprechen ist, wenn ein Liedchen anzustimmen wäre. Somit entwickelt jede Person aufgrund ihrer individuellen Ressourcen eine Position und Funktion in der Gruppe, die allseits geschätzt wird. Abschließend muss noch ein Feld genannt werden, das im Hinblick auf den finanziellen Rückzug der Krankenkassen aus dem Projekt, den Einsatz aller Teilnehmenden erfordert. Gemeint ist die Sorge um das Sponsoring. Dafür ist viel Öffentlichkeitsarbeit notwendig, für die sich alle Beteiligten engagieren müssen. Auf der Jakobuswanderung spiegelt sich dieser Einsatz in dem persönlichen Schreiben von Postkarten (ca. 250 Stück) an die Förderer und Förderinnen des Projektes wieder. Die Vielfalt an Mitwirkungsmöglichkeiten spricht für die folgende Hypothese: 88 Hypothese B2: Die Vielfalt an Mitwirkungsmöglichkeiten durch die Übernahme von wichtigen Aufgaben sowie durch die Notwendigkeit individueller Beiträge zur Gestaltung der Wanderung bedingt ein kontinuierliches Erleben von Mitsprache und Partizipation, das sich positiv auf die Komponente Bedeutsamkeit auswirkt. Das Erleben von Mitsprache wird nicht nur durch verschiedene Bereiche des Engagements vermittelt, sondern Mitsprache wird im wahrsten Sinne des Wortes eingefordert, wenn es um Entscheidungen geht, die die Wandergruppe oder die Pilgerreise betreffen. Die Entscheidungen beginnen mit der Wahl des Restaurants bei der Zwischenübernachtung in Dijon oder des Pausenpunktes im Wald und enden bei Fragen wie: „Sollen wir weitermachen trotz des Benzinstreiks?“. Es gibt Entscheidungen, die spontan getroffen werden müssen oder schwerwiegende Überlegungen, die in entsprechenden Gruppensitzungen abgewogen werden. Darüber hinaus setzt sich die Gemeinschaft immer wieder zu Reflexionsrunden zusammen, um den bisherigen Verlauf der Pilgerreise zu besprechen. In diesen Runden gibt es für alle Beteiligten Raum für Lob, Kritik, Verbesserungsvorschläge und sonstiges. Daher hier die Hypothese B3 Hypothese B3: Die SOC-Komponente Bedeutsamkeit wird gefördert, da die Wanderinnen und Wanderer in sozial anerkannte wichtige Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Der Gang auf dem Jakobusweg ist jedes Mal ein Gang durch die Geschichte. Kirchen, Brücken, Klöster, Burgen und andere Monumente lassen den Wanderer oder die Wanderin deutlich ein anderes Zeitalter spüren. Man begegnet Heilquellen, Traditionen oder Ritualen, die die Würde und Spiritualität des mittelalterlichen Pilgerweges wahrnehmen lassen. Viele, zunächst unscheinbare Reliquien haben eine lange Tradition und ihr historischer Hintergrund ist so bedeutsam, dass man sich ihm stundenlang widmen könnte. Bei den Erhebungen von Krisor und Pfannkuch bewerteten acht Personen die Besichtigung bestimmter Gebäude und Städte als das Ereignis oder die Unternehmung von besonderer Bedeutung. Zehn Personen empfanden „das Befassen mit Kultur und 89 Geschichte“ (Krisor & Pfannkuch, 1999, S. 151) als schönstes Ereignis bzw. schönste Aktivität der Wanderung. Es ist daher zu vermuten, dass die Heilkraft des Jakobusweges bereits in der kontinuierlichen Vermittlung von Bedeutsamkeit und Sinnerleben liegt, was schon allein der Historizität und Größe des mittelalterlichen Pilgerweges entspringt. Diesbezüglich wurde Hypothese B4 formuliert. Hypothese B4: Die Teilnahme an der Jakobuswanderung fördert das Erleben von Bedeutsamkeit und Lebenssinn durch den historischen, religiösen und kulturellen Hintergrund des Pilgerweges. Schon in den Ausführungen zur Hypothese V1 (vgl. Abschn. 5.2.1) wurde darauf hingewiesen, dass viele Teilnehmende insbesondere bei ihrer ersten Etappe auf dem Jakobusweg an sich und ihrer Leistungsfähigkeit zweifeln. Die stationären Patientinnen und Patienten haben sich gerade von ihrer akuten Krise erholt und sind froh, im Zuge des klinischen Aufenthaltes und des institutionellen Rahmens wieder Kontrolle über ihre Erkrankung gewonnen zu haben. Die Indikationsgründe für diese Wanderung sind breit gefächert. Es gibt Patientinnen und Patienten, die eine Stagnation verspüren und für die der Jakobusweg eine Möglichkeit darstellte, wieder in die Gänge zu kommen. Anderen Menschen fehlt es noch an Lebensmut oder sie suchen nach mehr Lebenssinn. Den stationären Patientinnen und Patienten ist häufig gemein, dass sie noch auf etwas wackeligen Beinen stehen und es etwas geben muss, das sie reizt, sich den, auf sie zukommenden Strapazen und Unvorhersehbarkeiten zu stellen. Es muss etwas sein, das verspricht, sie gesundheitlich oder anderweitig, deutlich nach vorne zu bringen. Zu erwarten wäre, dass ein weltberühmtes Ziel wie Santiago de Compostela viel Sinnhaftigkeit ausstrahlt und einen großen Anreiz zur Teilnahme bietet. Kritiker sagen, dass man auch herrlich im Ruhrgebiet oder im Sauerland wandern kann. Das ist unbestritten. Jedoch ist die Herausforderung nicht die gleiche. Eine erfolgreich bewältigte Tageswanderung wird bestimmt nicht zu einer vergleichbar starken Widerstandsressource werden, die die Zuversicht vermittelt, auch andere Anforderungen besser bewältigen zu können, wie die erwanderten 200 Kilometer auf dem Jakobusweg. Es gibt Teilnehmende, die noch nie von dem Jakobusweg gehört haben und andere, die seit langem in Richtung 90 Santiago gehen wollten und in diesem Ziel eine Herausforderung sehen, die der Anstrengung wert ist. Daher wurde die folgende Annahme zum Ziel Santiago de Compostela aufgestellt: Hypothese J1: Die historische, religiöse und kulturelle Attraktivität/Größe des Jakobusweges sowie das berühmte Ziel Santiago de Compostela sind wichtige Motivationsfaktoren bei der Entscheidung zur Teilnahme und bei der Bewältigung von Anforderungen. Bei der Diskussion, welche therapeutischen Effekte von dem mittelalterlichen Pilgerweg ausgehen könnten, unabhängig davon, dass ein therapeutisches Projekt dahinter steht, wurde bereits darüber nachgedacht, dass der Jakousweg durch seine Historizität und seine Spiritualität, die sich in Denkmälern, Bauwerken und Traditionen wiederspiegelt, viel Bedeutsamkeit und Sinnhaftigkeit vermittelt. Unter Hypothese B4 wurde angenommen, dass deren kontinuierliches Wahrnehmen auch Auswirkungen auf den Alltag haben muss. In der nun folgenden Hypothese J2 wird ausgedrückt, dass der Effekt wahrscheinlich noch größer ist. Faszinierende Bauwerke, Atmosphären oder Gerüche beflügeln die Fantasie und sorgen dafür, dass man einen Moment inne hält und in sich geht. Diese introspektive Regung ist bei psychisch erkrankten Menschen häufig ein wesentlicher therapeutischer Fortschritt. Er wurde bereits ansatzweise in den Wandergruppen 1997/1998 deutlich und ist ein Effekt, der unter anderem der Bedeutsamkeit und Geschichtsträchtigkeit des mittelalterlichen Pilgerweges zuzuschreiben wäre. Daher die Hypothese J2: Hypothese J2: Historische, religiöse und kulturelle Hintergründe des Jakobusweges regen zur Introspektion an. 91 5.2.4 Haupthypothesen zur Jakobuswanderung Die Untersuchung geht hauptsächlich von der folgenden Hypothese aus: Haupthypothese Wanderung (HW1): Auf der Jakobuswanderung wird der Gesundungsprozess psychisch kranker Menschen durch verstehbarkeits-, handhabbarkeits- und bedeutsamkeits- förderliche Erfahrungen verbessert. 1. Die Zuversicht wird bestärkt, dass Anforderungen des Lebens lösbar sind. 2. Neue Informationen oder unerwartete Situationen werden besser verstanden, Zusammenhänge können deutlicher erkannt werden und das vorrausschauende Denken hat sich verbessert. 3. Die Motivation, sich für etwas einzusetzen, ist gestiegen, und Anforderungen des Lebens werden mehr als Herausforderung, denn als Belastung erlebt. Die möglichen gesundungsfördernden Einflüsse des Jakobusweges wurden bereits in den Hypothesen B4, J1 und J2 diskutiert. Darüber hinaus zeigen die Ausführungen zur SOC-Komponente Bedeutsamkeit auf, dass die Jakobuswanderungen ein hohes Potential an Bedeutsamkeit beinhalten müssten. Dafür sprechen die vielseitigen Möglichkeiten zur Erfahrung von Lebenssinn, die Möglichkeiten zum Erleben von Mitspracherecht und vor allem die Tatsache, dass viele Pilgerinnen und Pilger immer wieder an den Wanderungen teilnehmen. Auch in den Ergebnissen der Wandergruppe 1998 (vgl. Krisor & Pfannkuch, 1999) wird Vorfreude und Motivation zur Teilnahme an der nächsten Wanderetappe deutlich. Darüber hinaus zeigen sich in beiden Wandergruppen Tendenzen dafür, dass die Mitwirkenden Anforderungen nach der Pilgerreise mehr als Herausforderungen denn als Belastungen wahrnehmen. Das spiegelt sich in Nennungen wider wie: „Mut zu Aktivitäten gewonnen“, „andere Kraft im Umgang mit Alltagssorgen“, „Entschlusskraft gelernt“ (a. a. O., S. 144-146) u. a.. Daher lautet die zweite Hauthypothese zur Wanderung wie folgt: Haupthypothese (HW2): Auf der Jakobuswanderung dominieren bedeutsamkeitsfördernde Er- fahrungen. 92 5.2.5 Haupthypothesen zum Jakobuswegprojekt Bei der Aufstellung der Forschungsfragen wurde überlegt, ob das Jakobuswegprojekt zu einer chronische Widerstandsressource für psychisch kranke Menschen werden kann, durch die sie immer wieder Erfahrungen der Belastungsbalance, Konsistenz und Partizipation erfahren können. Die Ausführungen zur Projektarbeit sprechen dafür, dass das Jakobuswegprojekt eine solche Funktion übernimmt. Daher lautet die Haupthypothese zum Jakobuswegprojekt: Hypothese HP1: Die Teilnahme am Jakobuswegprojekt stärkt den Gesundungsprozess psychisch kranker Menschen, weil das Projekt aufgrund seiner Langfristigkeit im Sinne einer chronischen Widerstandsressource kontinuierlich für Erfahrungen sorgt, die die SOC-Komponenten Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit fördern. Auch hier spricht das jahrelange Engagement vieler Teilnehmender dafür, dass der Einsatz für dieses Projekt der Anstrengung lohnt, dass es Sinn macht. Daher wird in Hypothese HP2 Folgendes angenommen: Hypothese HP2: Die Teilnahme am Jakobuswegprojekt wirkt sich positiv auf den Gesundungsprozess psychisch kranker Menschen aus, weil es ihnen ein langfristiges Erfahrungsfeld bedeutsamer Erlebnisse und Tätigkeiten erschließt. 93 6. Erhebungsinstrument 6.1 Subjektive Theorien Richtungsweisend für die Konstruktion eines Erhebungsinstruments war die Methodik zur Erforschung Subjektiver Theorien nach Groeben & Scheele (1984) und Groeben, Wahl, Schlee & Scheele (1988). Groeben und Scheele (1984) vertreten die wissenschaftliche Haltung, dass das Subjekt, ähnlich der Wissenschaftlerin oder dem Wissenschaftler, bestimmte Annahmen hinsichtlich seiner Umwelt und sich selber hat. Dementsprechend werden befragte Personen nicht als zu erforschende Objekte betrachtet, sondern als Alltagspsychologinnen und –psychologen, die über Erkenntnisfähigkeit verfügen. Während des Forschungsprozesses stehen also psychologische Gegenstandsbereiche von zwei potentiell erkenntnishaltigen Theorien bereit, über die man wissenschaftlich reflektieren kann. Die Möglichkeit des Austausches zwischen subjektiver und objektiver Theorie liegt damit nahe. Während das klassische wissenschaftliche Vorgehen dabei versucht, aus der Erkenntnis der Wissenschaft die Alltagskognition zu verbessern, zeigt sich das Reformpotential aus der Sicht der Autorin und des Autors eher in der Richtung vom Subjektiven zum Objektiven. Dabei gestehen sie Ersterem die Fähigkeit zur Verbesserung des Letzteren zu. Zur Erhebung von Subjektiven Theorien entwickelten Groeben et al. (1988) ein Forschungsprogramm. Subjektive Theorien werden dort definiert als: „ - Kognitionen der Selbst- und Weltsicht, - als komplexes Aggregat mit (zumindest impliziter) Argumentationsstruktur, - das auch die zu objektiven (wissenschaftlichen) Theorien parallelen Funktionen - der Erklärung, Prognose, Technologie erfüllt“ 1 (Groeben, 1988 , S. 19). Es handelt sich hierbei um die sogenannte weite Variante des Konstruktes, da sich viele bekannte Modelle der kognitiven Psychologie unter diese Begriffsdefinition subsumieren lassen. Beispiele zu diesen Modellen finden sich bei Groeben (1988). 1 In der Literatur wird diese Schreibweise der Definition angewandt, um so die einzelnen Merkmale des Konstruktes hervorzuheben. 94 Das Konstrukt Subjektive Theorien beruht auf dem oben bereits angedeuteten epistemologischen Subjektmodell. Dieses Subjektmodell steht für die Betrachtung des Menschen als „handelndes Subjekt mit den Merkmalen der Intentionalität, Reflexivität, potentiellen Rationalität und der sprachlichen Kommunikationsfähigkeit“ (Schlee, 1988a, S. 16). Nach diesem Menschenbild ist das Individuum in der Lage, mit Hilfe von selbstkonstruierten Kategorien seine Umwelt aus der Distanz heraus zu beschreiben, zu erklären und mit Bedeutungen zu versehen. Es wird wie ein Wissenschaftler bzw. eine Wissenschaftlerin im Sinne Kellys (1955) ‚man the scientist’ als Theoriekonstrukteur bzw. Theoriekonstrukteurin und Theoriebenutzer bzw. Theoriebenutzerin betrachtet. Die engere Begriffsvariante definiert Subjektive Theorien als: - Kognitionen der Selbst- und Weltsicht, - die im Dialog-Konsens aktualisierbar und rekonstruierbar sind - als komplexes Aggregat mit (zumindest impliziter) Argumentationsstruktur, - das auch die zu objektiven (wissenschaftlichen) Theorien parallelen Funktionen - der Erklärung, Prognose, Technologie erfüllt, - deren Akzeptierbarkeit als objektive Erkenntnis zu prüfen ist. (Groeben, 1988, S. 22) Hierbei wird die Gleichwertigkeit der subjektiven und objektiven Theoretikerinnen und Theoretiker stärker betont, was Auswirkungen auf das methodische Vorgehen hat. Demnach liegt der Fokus während des Forschungsprozesses mehr auf der Tatsache, dass im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Gegenständen der Mensch ein ‘Forschungsobjekt’ ist, das auch in der Lage ist, über sich selbst zu reflektieren. Daher ist seine Erkenntnis immer auch Selbsterkenntnis. Die methodologischen Schlussfolgerungen daraus sind zum einen, „daß die Selbsterkenntnis des reflexiven Subjekts unter Umständen - nämlich im Optimalfall der rationalen Reflexivität - auch als objektive Erkenntnis akzeptierbar ist; d. h. also, daß man diesen Heuristikspeicher von Wissen auf Seiten des Erkenntnis-‘Objekts’ nutzt und hinsichtlich der Realitätsadäquanz überprüft“ (Groeben, 1988, S. 21). Subjektive Theorien sind also nicht nur deskriptive subjektive Konstrukte, sondern können nach der Prüfung ihrer Gültigkeit als objektive Theorien zur Erklärung (hier insbesondere psychologischer) Sachverhalte genutzt werden. Die zweite Schlussfolgerung daraus ist, „daß man mit dem reflexiven (sprachmächtigen) Subjekt ‘Mensch’, das für die psychologische Erkenntnis ‘Objekt’ ist, in Kommunikation 95 treten kann und zumindest die Angemessenheit der Rekonstruktion der ‘Subjektiven Theorie’ im Dialog mit dem Erkenntnis-‘Objekt’ feststellen können sollte.“ (a. a. O., S.22). Nachdem also die Subjektiven Theorien des Erkenntnis-‘Objektes’ durch das Erkenntnis- ‘Subjekt’ (= der oder die Forschende) mit einem bestimmten Verfahren (vgl. Abschn. 6.4.1 u. 6.4.2) ermittelt und rekonstruiert wurden, sollten die subjektiven und die objektiven Theoretikerinnen und Theoretiker im Dialog gemeinsam überprüfen, ob die Innensicht des Erkenntnis-‘Objektes’ adäquat dargestellt wurde. Die weite Begriffsexplikation von Subjektiven Theorien wurde folglich um die zwei Merkmale „Feststellung der Rekonstruktionsadäquanz im Dialog-Konsens“ sowie „potentielle Rationalität“, d. h. die Überprüfung, ob die subjektive Erkenntnis als objektive Erkenntnis übernommen werden kann, ergänzt. Die so entwickelte enge Explikationsvariante beinhaltet entsprechend mehr zu beachtende Aspekte als die weite Variante. Sie wird im FST aufgrund dieser Ergänzungen als die methodologisch stärkere Alternative mit erheblichem Innovationspotential für die Psychologie verstanden (Groeben, 1988), denn sie fordert: - eine generell kommunikativere Gestaltung der Psychologie (als Wissenschaft), - im Hinblick auf die Parallelität zwischen Erkenntnis-Subjekt und Erkenntnis- Objekt als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler mehr Kommunikation, vor allem mehr ernsthafte verbale Kommunikation, - die Einführung des Dialog-Konsens als hermeneutisches Wahrheitskriterium zur Überprüfung der Rekonstruktionsadäquanz Subjektiver Theorien. 96 6.2 Methodik zur Rekonstruktion Subjektiver Theorien Zur Explikation der Subjektiven Theorien wird vorzugsweise ein halbstandaradisiertes Interviewverfahren angewandt (Groeben & Scheele, 1984). Der Interviewkonstruktion liegt die Annahme zugrunde, dass sich der Wissensbestand der Befragten einerseits in explizit verfügbare Annahmen gliedert, andererseits implizite Annahmen beinhaltet, zu deren Artikulation es methodischer Unterstützung bedarf. Um eine möglichst vollständige Ermittlung des Wissensbestandes der Interviewpartnerinnen und -partner zu gewährleisten, schlagen Groeben und Scheele Fragen auf verschiedenen Zugriffsebenen vor. Das Interview beginnt mit hypothesenungerichteten oder offenen Fragen. Dieser Fragestil sollte den Interviewten zunächst ermöglichen, das unmittelbar verfügbare Wissen zum Untersuchungsgegenstand zu aktualisieren. Hilfreich sind dabei Fragen nach Definitionen oder Erklärungsmöglichkeiten. Sollten die Interviewpartnerinnen und -partner zu einzelnen Fragen keine Ideen haben, werden ihnen sogenannte hypothesengerichtete Fragen gestellt. Es handelt sich hierbei um theoriegeleitete Fragen, die an der wissenschaftlichen Literatur bzw. Rahmentheorie zum Thema orientiert sind oder auf den Vorannahmen der Forschenden beruhen. Sie haben im Interview die Funktion, das nicht unmittelbar verfügbare, implizite Wissen der Interviewpartnerinnen und -partner zu explizieren. Die in diesen Fragen formulierten Hypothesen sollten wie Angebote formuliert werden, die von den Interviewten aufgegriffen oder abgelehnt werden können, je nachdem, ob sie ihren Subjektiven Theorien entsprechen oder nicht. Um die Explizitheit und Präzision der subjektiven Wissensinhalte zu steigern schlägt Wahl (1976) sogenannte Störfragen vor. Diese Konfrontationsfragen stellen Alternativen dar, die in echter thematischer Konkurrenz zu den subjektiven Annahmen der Befragten stehen sollten. Ist die Konkurrenz nur partiell oder lässt sich eine Vereinbarkeit mit eigenen Thesen feststellen, zeigt sich erfahrungsgemäß, dass Befragte ihre Ansicht einfach um das vorgeschlagene Angebot erweitert haben. Ansonsten können die Gesprächspartnerinnen und -partner mit dieser Konfrontationstechnik ihre Hypothesen überprüfen. Damit wächst nicht nur die Explizitheit der Subjektiven Theorien, sondern auch deren Kohärenz. 97 Zur Rekonstruktion der Subjektiven Theorien schlagen Groeben & Scheele (1984) und das FST (z. B. Scheele, 1988; Wahl, 1988) die Struktur-Lege-Technik (SLT) (ausführliche Darstellung der SLT in Scheele & Groeben, 1984) vor. Dazu sind die folgenden Schritte erforderlich: Nach der Transkription der Interviews und einer groben Inhaltsanalyse vereinbaren die Gesprächspartnerinnen und -partner einen weiteren Termin. Dieser Termin sollte maximal ein bis zwei Wochen nach dem Interview stattfinden. Bei der Anwendung der Struktur- Lege-Technik werden Aussagen, die während des Interviews erfolgten, den Befragten auf kleinen Kärtchen vorgelegt. Auf diese Weise haben die Interviewten die Möglichkeit, sich an die Inhalte der Befragung und ihrer Aussagen zu erinnern. Vor allem geht es um die Überprüfung des Materials durch die Befragten im Hinblick auf die korrekte Wiedergabe ihrer Angaben. Dabei haben sich beide Dialogpartner bzw. –partnerinnen um einen Konsens zu bemühen. Im Zweifelsfall gelten die Aussagen der Interviewten. Dieser sogenannten kommunikativen Validierung (Lechler, 1982) der Aussagen folgt die Strukturierung der übriggebliebenen Konzepte mit Hilfe der SLT. Die Anwendung der Struktur-Lege-Technik erfordert eine Einarbeitung in ihr Regelwerk. Dieses wird den Teilnehmenden vor der Sitzung in Kurzfassung ausgehändigt und durch Beispiele veranschaulicht. Danach können sie ihre persönliche Fassung der Subjektiven Theorie graphisch verdeutlichen und sie mit der der Interviewerin oder des Interviewers vergleichen. Dieser Schritt regt erneut zur Reflexion der eigenen Sichtweise mit konkurrierenden Alternativen an. Mit der Methodik zur Explikation und Rekonstruktion können Subjektive Theorien dialog- hermeneutisch erhoben werden (Schlee, 1988b). Die daraufhin folgende kommunikative Validierung stellt zwar sicher, dass die Annahmen der Befragten von den Forschenden richtig verstanden und adäquat rekonstruiert wurden, sie sagt jedoch nichts über die empirische Gültigkeit der Konstrukte aus. Es muss weiter geprüft werden, ob sich die erfassten deskriptiven Konstrukte Subjektiver Theorien auch als explanative Konstrukte, also als Theorien zur Erklärung von Sachverhalten eignen (a. a. O.). Im Forschungsprogramm (FST) von Groeben et al. (1988) wird dazu in Anlehnung an Groeben (1986) eine weitere Forschungsphase, nämlich die Phase der explanativen Validierung vorgeschlagen (vgl. Schlee, 1988b; Wahl, 1988). Die Prüfung der 98 Realitätsadäquanz der rekonstruierten Subjektiven Theorien muss dabei über die Beobachtung aus der Außenperspektive einer dritten Person erfolgen. Zu dieser explanativen Validierung ist die Anwendung aller in der Psychologie üblichen Verfahren möglich, sofern sie nicht den anthropologischen Grundsätzen des FST widersprechen. 6.3 Grenzen der Methode im Hinblick auf die zu untersuchende Gruppe und die Untersuchungssituation Mit Hilfe der Struktur-Lege-Technik ist eine weitgehend gleichberechtigte dialog- konsensuale Rekonstruktion der (subjektiven) Theorie-Struktur möglich (Groeben & Scheele, 1984; Scheele, 1988). Im Hinblick auf die wissenschaftliche Haltung Groeben und Scheeles (1984) und des FST bezüglich des Status der Befragten als Forschende und nicht als Forschungsobjekte ist diese Technik zu favorisieren, da es sich einerseits um ein strukturiertes Verfahren handelt und andererseits das Konzept des oder der eigenständigen aktiv handelnden Alltagsforschenden im Sinne des epistemologischen Subjektmodells fortgesetzt wird. Dennoch erschien die Anwendung dieses Erhebungsverfahrens in seiner ursprünglichen Konzeption für die hier vorliegende Untersuchung als nicht sinnvoll. Gegen die Anwendung dieser umfassenden Version sprechen die folgenden Argumente: Sowohl bei dem Interviewverfahren als auch bei der SLT gibt es einige Techniken, die für diese Zielgruppe ungeeignet erscheinen. Dazu gehören beispielsweise die Störfragen. Bei der Befragung muss bedacht werden, dass psychische Erkrankungen häufig mit Konzentrationsschwierigkeiten einhergehen. Darüber hinaus zeigt die Erfahrung, dass die Teilnehmenden in der Regel gerne und ausschweifend von ihren Erlebnissen während der Jakobuswanderungen erzählen. Bei einem Austausch über den Jakobusweg ist daher eher zu erwarten, dass thematisch hin und her gesprungen wird, und der Moderator oder die Moderatorin verstärkt auf den roten Faden des Gespräches achten muss. Entsprechend könnte es sowohl auf Seiten der Gesprächsführenden als auch auf Seiten der Interviewten durch den virtuellen Umgang mit Störfragen zur Überforderung kommen. Auch Flick (1999) sieht je nach Zielgruppe die Gefahr, die Befragten mit Störfragen zu sehr zu verwirren, was wiederum sehr schwer aufzufangen sei. Diesbezüglich wurde bei dieser Befragung überlegt, dass der Interviewleitfaden zur Eruierung Subjektiver Theorien 99 einerseits Explikations- und Präzisierungsdynamiken anregen sollte, gleichzeitig muss er aber auch Strukturierungshilfen beinhalten, die die Moderierenden bei der Gesprächsführung unterstützen. Eine weitere Schwierigkeit im Hinblick auf die Untersuchungsgruppe sowie auf die Untersuchungssituation stellte die Struktur-Lege-Technik dar. Mit dieser umfangreichen und anspruchsvollen Technik können je nach Erkrankungs- und Bildungsniveau der Gesprächspartnerinnen und -partner Grenzen der Konzentrationsfähigkeit und der Abstraktionsfähigkeit schnell erreicht werden. Flick (1999) verweist auch auf die mögliche Entstehung einer Testsituation bei der Anwendung der SLT, die einen unbefangenen Austausch und somit auch den Forschungsprozess hemmen könnte. Schließlich sprachen auch die organisatorischen Rahmenbedingungen gegen die Anwendung der SLT. Aufgrund der zeitlichen Gegebenheiten war zu vermuten, dass die benötigten Vorkehrungen zur Anwendung der Technik nicht rechtzeitig erfolgen konnten. Schon die zeitnahe kommunikative Validierung d. h. Verabredung zu einem Termin nach maximal zwei Wochen, um die transkribierten und bereits grob zusammengefassten Interviews zu besprechen, erschien unrealistisch. Bei voraussichtlich vierzehn Interviews mit der Länge von mindestens 30 Minuten war umfangreiches Material zu erwarten, das in diesem Zeitraum kaum zu transkribieren und zusammenzufassen war. Unter der Berücksichtigung dieser Überlegungen wurde die nun folgende Forschungsmethodik entwickelt. 6.4 Modifizierte Forschungsmethodik für die Untersuchung 6.4.1 Halbstandardisiertes Interviewverfahren zur Explikation der Subjektiven Theorien Das gesamte Erhebungsverfahren wird wie bei Groeben & Scheele (1984) in eine Explikations- und Rekonstruktionsphase eingeteilt. Zur Explikation der Subjektiven Theorien der Teilnehmenden der Jakobuswanderung 2001 hinsichtlich des Untersuchungsgegenstands wurde ein halbstandardisiertes Interview entwickelt (s. Anhang (1), S. 372). 100 Das Interview beginnt mit offenen Fragen, die zunächst der thematischen Einführung dienen z. B. Frage 1.: „Was verbinden Sie mit dem Begriff Jakobusweg?“ oder Frage 2.: „Was war für Sie der wichtigste Beweggrund, um sich auf den Weg zu machen?“. Im Hinblick auf die abschließende Fragestellung, die die Hauptthemen der Untersuchung direkt zur Diskussion stellt, werden schon jetzt die wichtigsten Punkte der Hauptfragestellung berührt. Auf diese Weise sollte das unmittelbar verfügbare Wissen der Teilnehmenden zum Untersuchungsgegenstand erkundet werden. Dabei handelt es sich beispielsweise um Fragen nach den gesundheitlichen Auswirkungen der Teilnahme an der Jakobuswanderung bzw. am Jakobusweg-Projekt oder um Fragen nach der Rolle des Jakobusweges im Hinblick auf den Gesundungsprozess usw.. Den offenen Fragen schließt sich der Frageblock hypothesengerichtete Fragen an. Mittels dieses Fragetyps soll das implizite Wissen der Gesprächspartnerinnen und -partner zu den Teilhypothesen der Hauptfragestellung expliziert werden. Dieser Interviewschritt vertieft die Vorbereitung der Befragten für die darauf folgende abschließende Fragestellung. Sie sollen mit dieser Reflexion die Möglichkeit erhalten, den Untersuchungsgegenstand unter der Berücksichtigung der gleichen Forschungsfragen zu beleuchten, wie es die ihnen gegenübersitzenden objektiven Theoretikerinnen oder Theoretiker zuvor getan haben. Damit sollte eine weitgehend gleichberechtigte Diskussionsbasis geschaffen werden. Dazu wurden von den zuvor aufgestellten Hypothesen (siehe Kap. 5) Fragen abgeleitet. Diese Hypothesen werden mittels des Fragebogens zur Diskussion gestellt. Sie können von den Interviewten angenommen oder abgelehnt werden, je nachdem, ob sie ihren Subjektiven Theorien entsprechen oder nicht. Das Gleiche gilt für den letzten Frageblock abschließende Fragestellung. Nach der differenzierten Reflexion der Teilelemente der Fragestellung stehen sich nun objektive und Subjektive Theorie gegenüber. Auf der Basis des erörterten Wissens der Interviewten kann die Hauptfragestellung jetzt explizit diskutiert werden. 101 6.4.2 Rekonstruktion der Subjektiven Theorien mit Techniken der qualitativen Inhaltsanalyse Zur Rekonstruktion der Annahmen der Befragten bezüglich des Untersuchungs- gegenstandes werden die Interviews auf Tonband aufgenommen. Danach erfolgt die Transkription des Materials. Eine strukturierte Zusammenfassung der Aussagen der einzelnen Personen zu Kategorien, die sich auf die verschiedenen Hypothesen und Themen des Untersuchungsgegenstandes beziehen, wird mit Techniken der Qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring, 2000) durchgeführt. Diese Rekonstruktionsmethodik tritt aufgrund der unter Punkt 6.3 geschilderten Argumente an die Stelle der Struktur-Lege- Technik. Der gesamte Auswertungsprozess und die Diskussion entsprechender Gütekriterien werden in Kapitel 8 ausführlich dargestellt. Zuvor widmen sich die nachstehenden Ausführungen der Beschreibung der Durchführung der Untersuchung. 102 7. Durchführung der Untersuchung 7.1 Die Gruppe der befragten Jakobuswanderinnen und -wanderer Befragt wurden elf Teilnehmende an der Jakobuswanderung 2001 (von Saint Alban-sur- Limagnole bis Figeac). Da aus organisatorischen Gründen höchstens vierzehn Patientinnen und Patienten mitwandern können, ist pro Jahresetappe nur die Untersuchung einer relativ kleinen Gruppe möglich. Als Expertinnen und Experten zu den Jakobuswanderungen kamen nur Personen in Frage, die wenigstens einmal an einer Wanderung teilgenommen hatten und die auch das Jakobuswegprojekt kennen gelernt hatten. Diese Voraussetzungen erfüllten alle Wanderinnen und Wanderer der Jahresetappe 2001. Die folgenden soziodemographischen Daten entstammen der Basisdokumentation der Klinik. Sie dienen der Beschreibung der Gruppe und bieten Einblicke in den Lebenskontext der Befragten. 1. Soziodemographische Daten Tabelle 1: Soziodemographische Daten der befragten Jakobuswanderinnen und –wanderer (Jakobuswanderung 2001) Soziodemographische Daten Frauen Männer N % N % Geschlecht 4 36,4 7 63,6 42,3 41,2 35-46 23-53 Gesamt 41 Durchschnittsalter (in Jahren) min-max min-max 23-53 Frauen und Männer Soziodemographische Daten N % ledig 5 45,5 verheiratet, zusammenlebend 2 18.2 verheiratet, getrennt lebend 2 18,2 geschieden 1 9,1 Familienstand verwitwet 1 9,1 Fortsetzung 103 Fortsetzung Tabelle 1: Soziodemographische Daten der befragten Jakobuswanderinnen und -wanderer (Jakobuswanderung 2001) Soziodemographische Daten Frauen und Männer Privatwohnung (auch möbliertes Zimmer, Wohngemeinschaft) 8 72,7 betreutes Einzelwohnen, betreute Wohngruppe 1 9,1 Wohnsituation Medizinische Rehabilitationseinrichtung (Übergangswohnhaus) 2 18,2 allein in Privatwohnung 5 45,5 Ehe-, Lebenspartner(-in) 1 9,1 Ehe-, Lebenspartner (-in) und Kind(-ern) 2 18,2 Eltern(-teil) 0 0 Lebt zusammen mit... in Institution, betreutem Wohnen 3 27,3 keine abgeschlossene Schulausbildung 0 0 noch in Schulausbildung 0 0 Hauptschulabschluss 7 63,6 Mittlere Reife, Polytech. Oberschule 1 9,1 Höchster Schulabschluss (Fach-) Abitur 3 27,3 keine, bzw. nur angelernt bzw. Ausbildung abgebrochen 4 36,4 Lehre, Fach-, Meisterschule mit Abschluss 5 45,5 noch in Ausbildung 0 0 (Fach-) Hochschule mit Abschluss 2 18,2 noch in Schulausbildung 0 0 Höchste Berufsausbildung unbekannt unklar 0 0 Fortsetzung 104 Fortsetzung Tabelle 1: Soziodemographische Daten der befragten Jakobuswanderinnen und -wanderer (Jakobuswanderung 2001) Frauen und Männer Soziodemographische Daten N % vollzeit berufstätig 3 27,3 teilzeit berufstätig 0 0 beschützt beschäftigt (WfB etc.) 1 9,1 Erwerbs-, Berufsunfähigkeitsrente, Rentenverfahren, Frührente 1 9,1 Altersrente, Pension, Witwenrente 0 0 Ausbildung, Studium Umschulung 0 0 Hausfrau/-mann, nicht berufstätig 2 18,2 arbeitslos gemeldet 1 9,1 Berufliche Situation anderweitig ohne Berufstätigkeit 3 27,3 bisher nicht berufs-/ erwerbstätig 2 18,2 Auszubildender, Student 1 9,1 an-, ungelernter Arbeiter 2 18.2 Facharbeiter (abgeschl. Lehre), unselbständiger Handwerker 3 27,3 einfacher Angestellter/Beamter 2 18,2 mittlerer Angestellter, Beamter im mittleren Dienst 0 0 höher qualifizierter Angestellter, Beamter im gehobenen Dienst 0 0 Derzeit (oder zuletzt) ausgeübter Beruf selbständiger Akademiker, Freiberufler, größerer Unternehmer 1 9,1 105 Von den 14 Patientinnen und Patienten konnten 11 befragt werden. Vier der Befragten befanden sich während der Jakobuswanderung in vollstationärer Behandlung, zwei unterzogen sich einer Behandlung in der an das Krankenhaus angegliederten medizinischen Rehabilitationseinrichtung, fünf waren ehemalige Patientinnen und Patienten. Das durchschnittliche Alter der vier Frauen betrug 42,3 Jahre und die Altersspanne bewegte sich zwischen 35-46 Jahren. Die sieben Männer waren im Durchschnitt 41,3 Jahre alt und die Altersspanne reichte von 23-53 Jahren. Das Durchschnittsalter der gesamten Gruppe betrug 41,6 Jahre. Zur Lebenssituation der Befragten lässt sich das Folgende beobachten: nur 18,2% der Gruppe waren verheiratet, 27,3% lebten mit ihren Ehegatten bzw. Lebenspartner/-innen in einer Privatwohnung zusammen. Dementsprechend lebten 27,3% in einer ehelichen bzw. nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Die Mehrheit der Teilnehmenden hatte während der Wanderung keine partnerschaftliche Beziehung und etwa ein Drittel der Gruppe hatte bereits eine Trennung vom Lebenspartner bzw. von der Lebenspartnerin erfahren. Im Hinblick auf die Wohnform lässt sich sagen, dass 72,7% der Personen in einer Privatwohnung lebten. 45,5% der gesamten Gruppe wohnten allein in einer Privatwohnung, 27,3% lebten mit ihren Ehegatten bzw. Lebenspartner/-innen zusammen. 27,3% wohnten in einer Institution oder einer betreuten Wohnform. Alle Teilnehmenden hatten einen abgeschlossenen Schulabschluss. Dabei verfügten 63,6% über einen Hauptschulabschluss, 9,1% hatten die Mittlere Reife erreicht und 27,3% die (Fach-) Hochschulreife. 36,4% der Teilnehmenden hatten keine abgeschlossene Berufsausbildung. 45,5% der Teilnehmenden hatten eine Lehre abgeschlossen und 18,2% hatten die (Fach-)Hochschule mit Abschluss absolviert. Rund 82% der Befragten waren derzeit oder zuletzt in irgendeiner Form berufs- oder erwerbstätig. Zum Zeitpunkt der Erhebung waren allerdings nur 36,4% der Personen berufstätig. Den Anteil der Vollzeitbeschäftigten bildeten 27,3%, 9,1% waren beschützt beschäftigt. 106 2. Daten zur Psychopathologie Tabelle 2: Daten zur Psychopathologie der befragten Jakobuswanderinnen und -wanderer (Jakobuswanderung 2001) Frauen und MännerDaten zur Psychopathologie N % 1970-1980 2 18,2 1981-1990 3 27,3 1991-2000 3 27,3 Jahr der ersten (teil-) stationären psychiatrischen Behandlung überhaupt 2001 3 27,3 Erstaufnahme 3 27,3 1-2 Aufnahmen 2 18,2 3-5 Aufnahmen 1 9,1 Anzahl früherer (teil-) stationärer psychiatrischer Behandlungen überhaupt (egal wo) Mehr als fünf Aufnahmen 5 45,5 F20: Schizophrenie 2 18,2 F2: Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen F25: schizoaffektive Störungen 3 27,3 F3: Affektive Störungen 2 18,2 F4: Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen 1 9,1 Diagnose nach ICD-10 F6: Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen 3 27,3 Im Jahr 2001 unterzogen sich 27,3% der Interviewten ihrer ersten (teil-)stationären psychiatrischen Behandlung überhaupt, 18,2% wurden ein- bis zweimal aufgenommen, 9,1% wurden drei- bis fünfmal aufgenommen und 45,5% hatten über fünf Aufnahmen hinter sich. Bei den Diagnosegruppen nach ICD-10 betrug der Anteil der an Schizophrenie Erkrankten (F20) 18,2%, 27,3% gehörten zu der Diagnosegruppe F25 schizoaffektive Störungen. Somit konnten 45,5% der Patientinnen und Patienten als Erfahrene einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis (F2) zugeordnet werden. Die weiteren Diagnosegruppen teilten sich auf in affektive Störungen (F3) mit einem Anteil von 27,3%, neurotische 107 Störungen (F4) von 9,1% und in Persönlichkeitsstörungen –und Verhaltensstörungen (F6) mit 27,3%. Daraus ergibt sich, dass die Diagnosegruppe F2 überrepräsentiert ist. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es sich bei der zu untersuchenden Gruppe überwiegend um männliche Teilnehmende handelt. Die Mehrheit ist unverheiratet bzw. hat keinen Lebenspartner oder Lebenspartnerin. 72,7% leben in einer Privatwohnung. Alle Teilnehmenden haben einen Schulabschluss, überwiegend Hauptschule. Etwa die Hälfte der Gruppe hat keine abgeschlossene Berufsausbildung, dennoch waren rund 82% derzeit oder irgendwann in ihrem Leben erwerbstätig. Zum Zeitpunkt der Erhebung war die Mehrheit der Befragten jedoch nicht berufstätig. Im Hinblick auf die Psychopathologie kann mit den vorkommenden Diagnosegruppen F2, F3, F4 und F6 eine heterogene Zusammensetzung der Gruppe beobachtet werden, wobei F2 die größte Gruppe ist. Die Diagnosegruppe F4 ist leicht unterrepräsentiert. Etwa die Hälfte der Befragten hat bereits mehr als fünf Aufnahmen in (teil-)stationären Einrichtungen erfahren. 45,5% der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind ersterkrankt in den Jahren 1970-1990. 108 7.2 Analyse der Untersuchungssituation Die Wanderinnen und Wanderer wurden von drei verschiedenen Personen unter Anwendung des in Abschnitt 6.4.1 vorgestellten halbstandardisierten Interviewverfahrens befragt. Die Interviews mit den langjährigen Pilgerinnen und Pilgern fanden während der Wanderung in der wohnlichen Umgebung einer französischen Pension statt. Die erstmaligen Teilnehmenden wurden ca. zwei Wochen nach der Rückkehr in den ihnen bekannten Räumlichkeiten des St. Marien-Hospitals Eickel befragt. Die Teilnahme an den Interviews war freiwillig. Die Interviews dauerten etwa 45 Minuten und wurden mit Erlaubnis der Befragten auf Tonband aufgezeichnet. Der Verzicht auf Mitschriften erleichterte die Interviewmoderation und verhinderte einen holperigen Gesprächsverlauf, der ansonsten durch Unterbrechungen für schriftliche Aufzeichnungen verursacht würde. Anstelle dessen erlaubte die Interviewsituation den Beteiligten die volle Konzentration auf den Gesprächsverlauf sowie auf die Gesprächsinhalte mit der Sicherheit, dass keine wertvolle Aussage verloren ging. Bei den interviewenden Personen handelte es sich um die Autorin selbst sowie um einen weiteren Mitarbeiter der Klinik. Beide Personen begleiten das Projekt seit mehreren Jahren. Hinzu kam eine weitere Person, die der Pilgergruppe als Gastwanderin bekannt war. Die Vertrautheit der Umgebung und das gegenseitige Kennen der Gesprächspartnerinnen und -partner sorgte für eine lockere, entspannte Atmosphäre, die anfängliche Redehemmungen vor einem Tonband abbaute und die Bereitschaft für offene Aussagen unterstützte. Im Übrigen wurden die Dialogpartnerinnen und –partner zu Beginn des Interviews explizit auf ihre Möglichkeit hingewiesen, Verständnisfragen zu stellen und Annahmen, die ihren persönlichen Auffassungen nicht entsprachen, zu verwerfen. Erklärt wurden auch der Untersuchungszweck sowie der Untersuchungsablauf. Als vorteilhaft erwies sich ferner, dass alle drei Moderierenden sowohl das Salutogenesekonzept wie auch die therapeutischen Rahmenbedingungen des St. Marien- Hospitals Eickel kannten. Das Verstehen beider Konzepte förderte im Hinblick auf die Untersuchungssituation verschiedene positive Effekte. So konnten beispielsweise Verständnisfragen mit dem fundierten Hintergrundwissen schnell geklärt werden. Darüber hinaus wurde ein flexiblerer Umgang mit dem Interviewleitfaden möglich, denn die Interviewleitenden konnten schnell erkennen, ob eine Frage an einer anderen Stelle bereits beantwortet wurde oder nicht. Gegebenenfalls konnte dann zur nächsten Frage 109 übergegangen werden, um unnötige Wiederholungen zu verhindern. Möglich war auch, dass bei Fragen zum Thema Verstehbarkeit wertvolle Aussagen zum Thema Bedeutsamkeit fielen, denn die Interviewsituation oder der Gesprächsverlauf brachten es mit sich, dass Themenbereiche von sich aus angesprochen wurden, ohne dass explizit danach gefragt wurde. Mit dem Hintergrundwissen zur Salutogenese konnte der Wert der Aussagen von den Interviewenden schnell erkannt werden und mit Explizierungshilfen näher beleuchtet werden. 110 8. Auswertung 8.1 Qualitative Inhaltsanalyse Philipp Mayrings (2000) Versuch einer Definition des Begriffs Inhaltsanalyse lautet wie folgt: „Ziel der Inhaltsanalyse ist, darin besteht Übereinstimmung, die Analyse von Material, das aus irgendeiner Art von Kommunikation stammt“ (S.11). Eine Definition des Begriffs habe jedoch mit einer großen Schwierigkeit zu kämpfen. Inhaltsanalyse beschäftige sich nämlich längst nicht nur mit der Analyse des Inhalts von Kommunikation, sondern auch mit formalen Aspekten. Nach einer Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Definitionsansätzen (z. B. von: Mollenhauer/Rittelmeyer, 1977; Ritsert, 1972; u. a.) formuliert Mayring Spezifika der Inhaltsanalyse, die sie als sozialwissenschaftliche Methode aufweisen und die sie von anderen Methoden, die auch mit der Analyse von Kommunikation, Sprache oder von Texten zu tun haben, unterscheiden. Diese Spezifika lauten wie folgt: - Analyse von Kommunikation In der Inhaltsanalyse geht es vornehmlich um die Untersuchung von Sprache. Möglich ist jedoch auch die Analyse von Bildern, Musik u. ä.. Kommunikation wird hier in Anlehnung an Watzlawick (1969) u. a. als Übertragung von Symbolen verstanden. - Analyse fixierter Kommunikation Die Analyse arbeitet mit symbolischem Material, also mit Bildern, Texten oder Noten. Die Kommunikation liegt protokolliert, fixiert, vor. - Systematisches Vorgehen Freie Interpretation und impressionistisches Ausdeuten des zu analysierenden Materials wird abgelehnt. Inhaltsanalyse will systematisch vorgehen. 111 - Regelgeleitetes Vorgehen Die Untersuchung sollte nach expliziten Regeln ablaufen, damit auch andere die Analyse verstehen, nachvollziehen und überprüfen können. - Theoriegeleitetes Vorgehen Anstatt einen Text einfach zu referieren, sollte das Material aus einer theoretisch ausgewiesenen Fragestellung heraus analysiert werden. Sowohl die Ergebnisse als auch einzelne Analyseschritte sind von entsprechenden theoretischen Hintergründen geleitet. Unter Theoriegeleitetheit versteht Mayring (2000) das „Anknüpfen an den Erfahrungen anderer mit dem zu untersuchenden Gegenstand“ (S. 12). Inhaltsanalyse will durch Aussagen über das zu analysierende Material Rückschlüsse auf bestimmte Aspekte der Kommunikation ziehen. 112 8.2 Inhaltsanalytisches Ablaufmodell zur Datenauswertung Der Auswertungsaufbau in dieser Untersuchung orientiert sich an Mayrings allgemeinem Inhaltsanalytischen Modell (s. Abbildung 2), das sich gut für die Zusammenfassung und Analyse von großen Materialmengen eignet. Abbildung 2: Allgemeines Inhaltsanalytisches Ablaufmodell Aus Qualitative Inhaltsanalyse (S. 54) von Mayring, P., 2000. Weinheim: Deutscher Studien. In Anlehnung an Mayrings allgemeines Inhaltsanalytisches Modell wurde zur Auswertung des erhobenen Materials ein Ablaufmodell modifiziert, das sich in die folgenden Arbeitsschritte gliedert: 113 1. Bestimmung des Ausgangsmaterials a) Festlegung des Materials Das allgemeine Inhaltsanalytische Modell sieht an dieser Stelle die genaue Definition des zu untersuchenden Materials vor. Hierzu gehört auch die Vorstellung der Untersuchungsgruppe. Da die befragte Wandergruppe bereits in Abschn. 7.1 ausführlich beschrieben wurde, soll dieser Schritt hier nicht erneut erfolgen. Wichtig ist an dieser Stelle die Erwähnung, dass es sich bei dem zu untersuchenden Material um die Interviews von diesen elf Teilnehmenden an der Jakobuswanderung 2001 (von Saint Alban-sur- Limagnole bis Figeac) handelt. Sie haben alle wenigstens einmal an einer Wanderung teilgenommen und auch das Jakobuswegprojekt kennen gelernt. In der Untersuchung ging es darum, ein Feld möglichst breit zu erfassen und es in seiner Vielschichtigkeit darzustellen. Daher sollten möglichst viele und möglichst unterschiedliche Fälle erfasst und abgebildet werden. Jeder weitere Fall bot eine Chance für neue Impulse, die zur Theoriebildung beitragen könnten oder die die bereits existierenden Theorien untermauern würden. b) Analyse der Entstehungssituation Ebenso wie die Beschreibung der Untersuchungsgruppe, erfolgte die ausführliche Analyse der Entstehungssituation des Materials bereits an einer anderen Stelle (s. Abschn. 7.2) in dieser Arbeit. Daher wird die Untersuchung der Entstehungssituation hier nur genannt. Sie ist ein Baustein des inhaltsanalytischen Ablaufmodells und bei der Auswertung des Materials zu berücksichtigen. c) Formale Charakteristika des Materials Die Interviews wurden mit Tonband aufgenommen und transkribiert. Dabei wurde Umgangssprache in die Transkripte aufgenommen. Längere Pausen, Lachen sowie Unterbrechungen wurden gekennzeichnet. Die Transkripte wurden vor der Auswertung mit den Tonbandmitschnitten verglichen und hinsichtlich der Hör- und Lesefehler korrigiert. Schlecht verstehbare Passagen wurden gekennzeichnet. Eventuell auftretende Personennamen wurden anonymisiert. 114 2. Fragestellung der Analyse Die Analyse geht den Forschungsfragen dieser Untersuchung (s. Kap. 4) nach. Die globalen Forschungsfragen werden durch den Fragebogen auf unterschiedlichen Ebenen immer feingliedriger untersucht. Das Ergebnis ist ein sehr umfangreiches Material (ca. 15–22 Seiten pro Person). Die gesamte Analyse des Materials erfordert daher mehrere Reduktionsschritte, um die Ergebnisse dieser verschiedenen Untersuchungsebenen erfassen zu können. Dabei wird sie auf ihrem Weg vom Feinen zum Groben von den dazugehörenden Fragestellungen geleitet. Im Hintergrund steht jedoch permanent die Beantwortung der übergreifenden Forschungsfragen als richtungsweisendes Endziel. Die Analyse beginnt mit der Erfassung der Antworten der Interviewten auf die 23 Fragen des Fragebogens. Die hier gewählte Technik der Auswertung zielt darauf ab, das gesamte transkribierte Material zunächst fallspezifisch auf einen überschaubaren Corpus zusammenzufassen. Die Reduktion des Materials wird dabei von der Chronologie des Fragebogens und dem jeweiligen Thema der aktuellen Frage geleitet. Am Ende der ersten Reduktion sollten pro Person zu jeder Frage des Fragebogens Antworten in Form von Kategorien vorliegen. In einem zweiten Schritt sollte zu jeder Frage des Fragebogens ein Kategoriensystem vorliegen, das die Aussagen aller Teilnehmenden zum Inhalt der jeweiligen Fragestellung erfasst hat. Mit Hilfe dieser Kategoriensysteme müssten die Stellungnahmen der Interviewten zu den Teilhypothesen, auf denen der Fragebogen basiert, in Kurzform erkennbar werden. Die Diskussion der Haupthypothesen wird dann von den Ergebnissen zu den Teilhypothesen geleitet werden. In einem letzten Schritt wird die abschließende Zusammenfassung der Ergebnisse durch die Hauptfragestellungen zum Untersuchungsgegenstand bestimmt. 115 8.2.1 Konkretes Ablaufmodell der Analyse zur induktiven Kategorienbildung Da eine Befragung, die sich explizit auf das Vorkommen salutogener Faktoren nach Antonovskys Modell bezieht, zum ersten Mal erfolgte, ging es bei der Auswertung darum, möglichst viele Impulse zu erfassen. Die entspannte Gesprächssituation brachte es mit sich, dass trotz Interviewleitfaden als Strukturierungshilfe oder eben wegen des so konzipierten Fragebogens große Materialmengen mit vielen verwertbaren Informationen entstanden. Das Material musste daher einerseits auf einen überschaubaren Corpus reduziert werden, andererseits sollte mit der Reduktion des Materials der Informationsgehalt nicht verloren gehen. Darüber hinaus ging es darum, die jeweiligen Subjektiven Theorien der Teilnehmenden zu bestimmten Themen zu erfassen. Um dem Konstrukt Subjektive Theorie zu entsprechen, sollte der Untersuchungsgegenstand, trotz Generalisierungen der Aussagen auf ein höheres Abstraktionsniveau, möglichst in der Sprache des Materials erfasst werden. Außerdem war eine Technik erforderlich, die aus dem transkribierten Material das unmittelbar verfügbare Wissen zu bestimmten Themenbereichen in Form von Kategorien ableitete, denn so wurde ein Vergleich der Subjektiven Theorien aller Personen möglich. Entsprechend wurde als konkrete Technik die induktive Kategorienbildung (vgl. Mayring, 2000) gewählt. Unter Beachtung eines zuvor definierten Regelwerkes leitet die induktive Kategorienbildung Kategorien direkt aus dem Material - möglichst in der Sprache des Materials - in einem Verallgemeinerungsprozess ab, ohne sich auf vorab formulierte Theorienkonzepte zu beziehen. Mayring integriert in den Kategorienbildungsprozess die gleiche Systematik und Logik wie sie in dem Regelwerk der Zusammenfassenden Inhaltsanalyse zu finden ist. Die nachfolgende Abbildung 3 stellt das Prinzip der Zusammenfassenden Analyse im Modell vor. 116 Abbildung 3: Ablaufmodell zusammenfassender Inhaltsanalyse Aus Qualitative Inhaltsanalyse (S. 60) von Mayring, P., 2000. Weinheim: Deutscher Studien. Bei der induktiven Kategorienbildung muss zu Beginn der Auswertung jeweils ein Selektionskriterium festgelegt werden, das bestimmt, welches Material Ausgangspunkt der Kategorienbildung sein soll. Richtungsweisend ist dafür die Fragestellung der Analyse. Darüber hinaus muss auch das Abstraktionsniveau der zu bildenden Kategorien definiert werden sowie die Bestimmung der Analyseeinheiten erfolgen. Diese und andere Schritte des konkreten Ablaufmodells werden in ihrer Anwendung auf die Untersuchung in den nachfolgenden Ausführungen vorgestellt. 117 1. Bestimmung der Analyseeinheiten Die Auswertung in dieser Studie erfolgte in mehreren Durchgängen. Vorweg wurden die Analyseeinheiten festegelegt. Die Kodiereinheit als kleinster Materialbestand, der ausgewertet werden darf, was auch der minimale Textbestandteil ist, der unter eine Kategorie fallen kann, war ein Wort. Die Kontexteinheit als größter Textbestandteil, der unter eine Kategorie fallen kann, war die gesamte paraphrasierte Antwort einer Person zu einer Frage. Der erste Durchgang war eine fallspezifische Auswertung. Als Auswertungseinheit wurde dabei die Antwort einer Person auf die Frage des Interviewleitfadens definiert. Die nächste Auswertungseinheit begann mit dem Stellen einer neuen Frage des Leitfadens. Die Reihenfolge der Auswertungseinheiten wurde durch die Abfolge der Fragen bestimmt. 2. Bestimmung der Selektionskriterien Den offenen Fragen lagen Themen zugrunde, die als Selektionskriterien bei der Zusammenfassung des Materials zu Kategorien dienten. Diese lauteten wie folgt: Selektionskriterium / offene Frage(n): - Jakobusweg (Definitionen, persönlicher Stellenwert, Beziehungen zum Jakobusweg usw.) / 1 - wichtigster Beweggrund zur Teilnahme an der Wanderung / 2 - gesundungsfördernde Auswirkungen der Teilnahme an der Jakobuswanderung / 3;3a - das stärkste gesundungsfördernde Element der Jakobuswanderung / 3b - die Besonderheit des Jakobusweges und ihre Bedeutung für die Gesundheit / 3c;3d - Begegnung zwischen Mitarbeitenden und Teilnehmenden / 4 - gesundungsfördernde Elemente im gesamten Jakobusweg-Projekt / 5; 5a,b Die Selektionskriterien zu den hypothesengerichteten Fragen ergaben sich aus den Inhalten der zugrunde liegenden Hypothesen: 118 Selektionskriterium / hypothesengerichtete Frage(n) zur Verstehbarkeit: V1: Ausgleich unverstehbarer Situationen durch Erfahrungen von Transparenz und Konsistenz und Auswirkungen dieses Ausgleiches im Alltag (insbesondere mehr Vertrauen in die Beständigkeit der eigenen Umwelt) / 7; 9 V1.1: Ungünstige Erfahrungen in Bezug auf Verstehbarkeit, d. h.: Ereignisse der Unvorhersehbarkeit, Unbeständigkeit des Chaos usw. / 6; 6a V1.2: Ausgleich von Unverstehbarkeit mit Erfahrungen der Transparenz und Konsistenz / 7 V2: Verstehbarkeit innerhalb der Begegnung zwischen Mitarbeitenden und den übrigen Gruppenmitgliedern / 8 V3: Förderung von Verstehbarkeit über neuerworbenes Wissen und Kenntnisse / 10 Selektionskriterium / hypothesengerichtete Frage(n) zur Handhabbarkeit: H1: Erwerb internaler Ressourcen, die im Alltag zur Belastungsbalance aktiviert werden können / 11 H2: Zuversicht in die Bewältigung von Anforderungen auf der Wanderung / 12; 12a H3: Förderung der Zuversicht in die Handhabbarkeit von Anforderungen / 13 durch: - die Gemeinschaft bzw. das Gefühl der Gemeinschaftlichkeit / 13a - die Mitarbeitenden / 13b - sonstige Faktoren / 13c H4: Handhabbarkeit von Belastungssituationen durch Fortsetzung der Gemeinschaft- lichkeit, des Gruppengefühls der therapeutischen Arbeitsweise (bzw. anderer Faktoren s. 13c) im Jakobusweg-Projekt und/oder im privaten Rahmen / 14; 14a Selektionskriterium / hypothesengerichtete Frage(n) zur Bedeutsamkeit: B1: Erfahrung von Lebenssinn durch Freude bereitende, sinngebende Aktivitäten, Erlebnisse, (Wieder-) entdecken von Hobbies auf der Wanderung / 15; 15a B2: Wichtige Beiträge für die Wanderung und die Gruppe und ihre Konsequenz auf den Gesundungsprozess / 16; 16a; 16b B3: Erleben von Mitspracherecht bei wichtigen Entscheidungsprozessen die Wan- derung oder die Gruppe betreffend / 17 B4: Förderung von Bedeutsamkeit durch den beeindruckenden historischen, religiösen und kulturellen Hintergrund des Jakobusweges / 18 119 J1: Historische, religiöse und kulturelle Attraktivität / Größe des Jakobusweges sowie das berühmte Ziel Santiago de Compostela sind wichtige Motivationsfaktoren zum Aufbruch und zur Bewältigung von Anforderungen J2: Anregung zur Introspektionsfähigkeit durch den bedeutsamen Hintergrund des Pilgerweges / 19; 19a Selektionskriterium / Hauptfrage(n) Jakobuswanderung (HFW): HW1: Erwerb von Widerstandsressourcen auf den Ebenen Verstehbarkeit, Hand- habbarkeit und Bedeutsamkeit / 20; a,b,c HW2: Dominanz von Bedeutsamkeit in der Jakobuswanderung / 20d Selektionskriterium / Hauptfrage(n) Jakobuswegprojekt (HFP): HP1: Fortsetzung verstehbarkeits-, handhabbarkeits- und bedeutsamkeitsfördernder Erfahrungen im Jakobuswegprojekt / 21 HP2: Dominanz von Bedeutsamkeit im Jakobuswegprojekt / 22 8.2.2 Fallspezifische Auswertung Der erste Schritt der Reduktion war das Paraphrasieren der Analyseeinheiten nach Regeln der Zusammenfassenden Inhaltsanalyse (Mayring, 2000). Dazu wurde das Material Zeile für Zeile pro Antwort auf das entsprechende Selektionskriterium hin untersucht. Sobald ein Selektionskriterium erfüllt war, wurde eine Kategorie (nach Regeln der Zusammenfassenden Inhaltsanalyse) in Form eines Begriffes oder eines Kurzsatzes formuliert. Dabei fielen abweichende, ausschmückende, unwesentliche und vom Thema abweichende Angaben heraus. Sobald das nächste Mal ein Selektionskriterium erfüllt war, wurde entschieden, ob diese Textstelle nach ihrer Paraphrasierung und Generalisierung unter eine bereits gebildete Kategorie fiel (Subsumtion) oder ob eine neue Kategorie zu bilden war. Bei Abgrenzungsschwierigkeiten wurden Kodierregeln formuliert. Die Kategorien sollten so beschaffen sein, dass die Individualität der Einzelaussage so weit wie möglich erhalten blieb. Gleichzeitig sollte eine Abstraktion auf eine grammatikalisch korrekte Form und auf den inhaltlichen Schwerpunkt erfolgen. Die Kategorienbildung wurde fragespezifisch durchgeführt, so dass am Ende bei jeder Person für jeden 120 Themenbereich der Fragen ein Kategoriensystem vorlag. Die nachstehende Tabelle wurde in Anlehnung an Mayring (2000) entwickelt und verdeutlicht an einem Beispiel das Reduktionsprinzip schematisch. Diese tabellarische Vorlage wurde zur ersten Zusammenfassung des Materials angewandt. Tabelle 3: Vorlage für fallspezifische Auswertung (induktive Kategorienbildung; erste Reduktion) Person Seite Selektionskriterium/ Frage(n) Nr. Paraphrase(n) Generalisierung Reduktion zur Kategorie A 1 1 k L m L A 1 Inhalt der Frage X/1 2 L xy L K1: L A 1 Inhalt der Frage Y/2 3 O O K1: O usw. Die Erstellung der Kategoriensysteme erfolgte durch zwei unabhängige Raterinnen. Die Ergebnisse der Raterinnen wurden verglichen und die Kategorien entsprechend modifiziert. Durch die flexible Handhabung der Interviewleitfäden sowie im Zuge des natürlichen Gesprächsverlaufes ergaben sich während der Interviewsituation einerseits direkte Reaktionen auf Fragen, andererseits wurden auch wesentliche Aspekte der Untersuchung angesprochen, die jedoch nichts mit dem Thema der aktuell gestellten Interviewfrage zu tun hatten. Um alle Aussagen einer Person zu einer Hypothese oder einer Forschungsfrage zu erfassen, wurde wie folgt vorgegangen: Die Kategorien wurden zunächst nach ihrer Kontextbezogenheit zum jeweiligen Thema der Frage gebildet. In einem zweiten Analyseschritt wurden die Inhalte nicht kontextspezifischer Aussagen auf ihren Bezug zu anderen Themenbereichen des Fragekataloges geprüft und dementsprechend zugeordnet. 8.2.3 Fallübergreifende Auswertung Der zweite Auswertungsdurchgang erfolgte fallübergreifend. Die Aussagen aller Personen zu den Themen der Fragen sollten systematisch erfasst und miteinander verglichen werden wie es die nachstehende Tabelle exemplarisch verdeutlicht. 121 Dabei waren die Chronologie, die Systematik und auch die festgesetzten Selektionskriterien, mit denen die zweite Zusammenfassung des Materials erfolgte, wie unter Punkt 8.2.2 geblieben. Lediglich das Abstraktionsniveau wurde angehoben. Am Ende lag zu jeder Frage ein Kategoriensystem vor, das die Aussagen aller Teilnehmenden zum thematischen Schwerpunkt dieser Frage beinhaltete. Tabelle 4: Vorlage für fallübergreifende Auswertung (induktive Kategorienbildung; zweite Reduktion) Person Selektionskriterium/ Frage(n) Kategorie Generalisierung Reduktion A K1 K1 B K2 C Inhalt der Frage X/1 K3 K3 K´1 (Pers. A,B) K´2= K3 (Pers. C) A K1 K1 B Inhalt der Frage Y/2 K2 K2 K´1 (Pers. A) K´2 (Pers. B) usw. 8.2.4 Bildung von Hauptkategorien fragenspezifisch Zur besseren Übersicht wurden die Kategorien hinsichtlich ihrer thematischen Schwerpunkte untersucht und zu Hauptkategorien zusammengefasst. Dabei wurde die Kernaussage einer Kategorie als Überschrift formuliert. Danach erfolgte eine Zusammenfassung der Kategorien und Bildung von Hauptkategorien nach Regeln der Zusammenfassenden Inhaltsanalyse bzw. nach Regeln der induktiven Kategorienbildung mit Hilfe der Überschriften als Selektionskriterien (s. Tabelle 5). Tabelle 5: Vorlage für Reduktion zur Hauptkategorie (induktive Kategorienbildung; fragenspezifisch) Selektionskriterium/ Frage(n) Kategorie Generalisierung Reduktion zur Hauptkategorie K´1 (Personen: A, B) HK1: K´1 K´2 (Personen C) HK1: K´2 Inhalt der Frage X/1; Überschrift HK1 K´5 (Person D) HK1: K´5 HK1: (Personen A, B, C, D) - K´1 (Pers.: A, B) - K´2 (Pers.: C) - K´5 (Pers.: D) usw. 122 8.2.5 Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse im Hinblick auf die Teilhypothesen fragenübergreifend Um die dem Fragebogen zugrunde liegenden Teilhypothesen beantworten zu können, wurden die Kategorien zu den offenen Fragen und den hypothesengerichteten Fragen erneut zusammengefasst. Dabei dienten die Inhalte der Teilhypothesen als Selektionskriterien. Das Abstraktionsniveau wurde hierbei nicht mehr verändert. Erfasst wurde auch, welche und wie viele Personen eine Kategorie zu einer Frage angaben. Sichtbar wurde ferner, ob eine Teilhypothese befürwortet wurde oder nicht bzw. welche sonstigen Annahmen die Befragten zu dieser Hypothese hatten. Tabelle 6: Vorlage zur Auswertung von Teilhypothesen Selektionskriterium Kategorien Personen Anzahl HK1: X1 trifft zu Gründe: - K´1 - K´2 A, B, C, D A, B C, D 4 2 2 HK2: X1 trifft nicht zu E, F, G 3 Inhalt der Teilhypothese X1 HK3: sonstige Aspekte zu X1 C, D 2 usw. Mit Hilfe dieser schematischen Übersichten konnte eine Interpretation der Ergebnisse im Hinblick auf die Teilhypothesen erfolgen. 8.2.6 Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse im Hinblick auf die Haupthypothesen Durch den vorangegangenen Auswertungsschritt (vgl. Abschn. 8.2.5) wurde deutlich, von wie vielen Personen die Teilhypothesen befürwortet oder abgelehnt wurden bzw. wie die Verteilung der sonstigen Stellungnahmen im Hinblick auf die jeweilige Hypothese vorliegt. Auf diesen Übersichten basiert die Vorstellung und Interpretation der Ergebnisse, wie sie in Kapitel 10 erfolgen wird. Die Ergebnisse zu den Teilhypothesen ermöglichten darüber hinaus die Erfassung von Trends zu den Haupthypothesen (s. Tabelle 7). 123 Tabelle 7: Vorlage zur Auswertung von Haupthypothesen Teilhypothesen Personen N X1 trifft zu A, B, C, D 4 X2 trifft zu A, B, C 3 X3 trifft zu A, B, C, D, E, F, G 6 usw. 8.2.7 Erfassung weiterer Aspekte Nach allen Reduktionsschritten blieben noch Kategorien übrig, die Aspekte zu den Forschungsfragen beinhalteten, die sich jenseits der Hypothesen bewegten. Diese wurden auch tabellarisch veranschaulicht und ihre Interpretation wurde in Textform wiedergegeben. 124 8.3 Diskussion der inhaltsanalytischen Gütekriterien 8.3.1 Reliabilität Anstelle der Übertragung klassischer Gütekriterien werden für qualitative Forschung eigene Gütekriterien diskutiert (vgl. Flick, 1987; Mayring, 1990). Dabei handelt es sich beispielsweise um Verfahrensdokumentation, Argumentative Interpretationsabsicherung, Nähe zum Gegenstand, Regelgeleitetheit, kommunikative Validierung und Triangulation. Darüber hinaus sind spezifische inhaltsanalytische Gütekriterien (vgl. Krippendorff, 1980) entwickelt worden. Zur Bestimmung von Reliabilität wird üblicherweise so vorgegangen, dass die gesamte Inhaltsanalyse von mehreren Personen durchgeführt wird. Die Ergebnisse werden dann miteinander verglichen (Intercoderreliabilität). In dieser Studie wurden die verschiedenen Auswertungsphasen von jeweils zwei Analytikerinnen vorgenommen, die ihre Ergebnisse miteinander diskutierten und die Kategorien entsprechend modifizierten. Eine der Raterinnen war die Autorin selbst, die alle Auswertungsschritte durchführte. Bei den weiteren Auswerterinnen handelte es sich um eine wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Dortmund, die in das gesamte Verfahren eingearbeitet wurde und die fallspezifische Auswertung vornahm. An der fallübergreifenden Auswertung und an der Bildung von Hauptkategorien wirkte eine Studentin aus dem Fachbereich Sondererziehung und Rehabilitation mit, die ebenso in die Forschungsmethodik eingeführt wurde. Nach Krippendorff (1980) zeigt sich die Reliabilität eines Messinstruments u. a. in seiner Stabilität. Diese ist überprüfbar durch die nochmalige Anwendung des Analysemodells auf das Material. Darüber hinaus zeigt sich die Reliabilität in der Reproduzierbarkeit, also in dem Grad, in dem die Analyse unter anderen Umständen, mit anderen Analytikern oder Analytikerinnen zu denselben Ergebnissen führt. Stabilität und Reproduzierbarkeit wurden in dieser Studie an verschiedenen Fallbeispielen exemplarisch überprüft. Hinsichtlich der Stabilität lässt sich sagen, dass eine hohe Übereinstimmung zu beobachten war bei: - der Paraphrasierung des Materials unter der Beachtung des Mayrischen Regelwerks zur Zusammenfassenden Inhaltsanalyse sowie unter Anwendung der davor definierten Selektionskriterien, 125 - bei der Generalisierung der Aussagen auf ein höheres Abstraktionsniveau und - bei der Zusammenfassung der generalisierten Paraphrasen zu Kategorien. Ein wichtiger Grund für diese Stabilität liegt vermutlich in der Technik des induktiven Vorgehens, das nach einer möglichst naturalistischen, gegenstandsnahen Abbildung des Materials in der Sprache des Materials strebt. Entsprechend blieb für die Definition eines höheren Abstraktionsniveaus wenig Spielraum. Darüber hinaus ist das Material in einfacher, leicht verständlicher Sprache gehalten, so dass nicht viel Interpretation oder Explikation nötig war. Die Reproduzierbarkeit der Analyse ist abhängig von der Explizitheit und der Exaktheit der Vorgehensbeschreibung (Krippendorff, 1980). Insgesamt wird bei qualitativer Forschung, anders als bei quantitativer Forschung, wo standardisierte Messinstrumente angewandt werden, Wert auf Verfahrensdokumentation gelegt. Es handelt sich hierbei um Methoden, die speziell für den zu untersuchenden Gegenstand entwickelt werden (Flick, 1999). Zu dokumentieren ist: - das Vorverständnis, - die Zusammenstellung des Analyseinstrumentariums, - die Durchführung und Auswertung der Datenerhebung. Diese Verfahrensdokumentation ist in der hier vorliegenden Untersuchung erfolgt. Flick sieht die Erhöhung der Reliabilität auch in der Qualität der Aufzeichnung und Dokumentation der Daten. Ein wichtiger methodischer Punkt ist ferner die Konventionalisierung von Feldnotizen. Auch diese Aspekte wurden bei der Auswertung beachtet. Empfehlenswert ist darüber hinaus eine Schulung der Interviewerinnen und Interviewer. Die Interviewenden wurden vor der Befragung in das Prinzip des Interviewverfahrens und dessen Gebrauch eingewiesen. Bekannt war auch das Modell zur Salutogenese. Wie schon erwähnt, wurden die Auswerterinnen ebenso über das Interviewverfahren informiert und in das Auswertungsverfahren eingearbeitet. Erforderlich war auch hier die Kenntnis des salutogenetischen Modells. Um die Reproduzierbarkeit der Inhaltsanalysen zu gewährleisten, wurden spezielle Ablaufmodelle entwickelt. 126 Darin enthalten waren: - theoriegeleitete Selektionskriterien, - das Regelwerk der zusammenfassenden Inhaltsanalyse, - das Regelwerk der induktiven Kategorienbildung, - Definitionen unterschiedlicher Abstraktionsniveaus - und Formulierungen von Kodierregeln bei Abgrenzungsschwierigkeiten. Wie schon bei den Ausführungen zur Stabilität deutlich wurde, ist aufgrund der ausführlichen Verfahrensdokumentation, der Regelgeleitetheit und Systematik der Inhaltsanalysen und aufgrund der einfachen Sprache, in der das Material vorliegt, ein gewisses Maß an Reproduzierbarkeit zu erwarten. Kritische Stimmen zur Intercoderreliabilität sprechen jedoch gegen die Stabilität des Messinstruments. So ist nach Ritsert (1972) die Übereinstimmung zwischen zwei Ratenden nur bei sehr einfachen Analysen möglich. „Je differenzierter und umfangreicher das Kategoriensystem, desto schwieriger ist es, eine hohe Zuverlässigkeit der Resultate zu erzielen, obwohl gleichzeitig die inhaltliche Aussagekraft einer Untersuchung steigen kann“ (Ritsert, 1972, S. 70). Lisch und Kritz (1978) betrachten bei sprachlichem Material Interpretationsunterschiede zwischen mehreren Kodierenden sogar als die Regel. 8.3.2 Validität Zur Einschätzung der Validität kann beispielsweise die semantische Gültigkeit überprüft werden (Krippendorff, 1980). Die semantische Gültigkeit bezieht sich dabei auf die Richtigkeit der Bedeutungsrekonstruktionen des Materials. Sie zeigt sich in der Angemessenheit der Kategoriendefinitionen (Definitionen, Ankerbeispiele, Kodierregeln) und kann durch Expertenurteile überprüft werden. Die semantische Gültigkeit wurde zum einen bei der Inhaltsanalyse jeweils durch zwei Raterinnen geprüft. Darüber hinaus erfolgte ein Expertenurteil nach Abschluss der Analyse. Die Kommunikative Validierung erschien als weiteres Gütekriterium für diese Studie sinnvoll. Gemeint ist damit die Einigung bzw. Übereinstimmung über die Ergebnisse zwischen Forschenden und Befragten. Dazu sagt Flick (1999), dass es noch nicht 127 befriedigend beantwortet sei, wie das methodische Vorgehen bei der kommunikativen Validierung zu gestalten sei, damit es den zu untersuchenden Sachverhalten und der Sicht der Subjekte tatsächlich gerecht wird; darüber hinaus stelle sich die Frage wie sich jenseits der Zustimmung der Subjekte die Frage der Geltungsbegründung weitgehend beantworten lasse. In dieser Studie war die kommunikative Validierung der Ergebnisse mit den Interviewten nach vierzehn Tagen, wie es Groeben und Scheele (1984) empfehlen, nicht möglich, da die Transkription und Zusammenfassung der Daten zu zeitaufwändig war. Man kann aber sagen, dass eine kommunikative Validierung der Daten während der Auswertung durch die Raterinnen erfolgte und schließlich von Experten überprüft wurde. 128 Teil III Ergebnisse 129 9. Ergebnisse zu den offenen Fragen Da die Tabellen die Ergebnisse bereits ausführlich darstellen, erfolgt in der sich anschließenden Zusammenfassung der Aussagen auch eine erste Interpretation der Daten. 9.1 Was verbinden die Befragten mit dem Begriff Jakobusweg? Frage 1: „Was verbinden Sie mit dem Begriff Jakobusweg?“ Tabelle 8: Auswertung der Frage 1 Selektionskriterium Kategorien Personen N Gemeinschaft von Gleichgesinnten, die z. B.: - Anforderungen des Lebens lösen möchte - Probleme mit Distanz zum Alltag reflektiert - sich für Kirchen begeistert - sich regelmäßig bei Kaffee und Kuchen trifft - Jakobusweg gemeinsam bewältigt A, B, C, D, J A A B C C, D, J 5 Therapie Beispiele: - Zurückziehen, Überlegen u. Kräfte sammeln - therapeutischer Weg, um Kopf klar zu kriegen durch: - Abschalten während des Wanderns - mehr Aufmerksamkeit für andere Dinge als Probleme - Therapie mit hoher Effektivität - Erfahrung körperlicher Grenzen A, D, J, K A D J K 4 Religion/Spiritualität Beispiele: - langer Pilgerweg - Wallfahrt - Religiosität - mehr Zuwendung zur Kirche durch: - Kirchen- und Klosterbesichtigungen - mehr Wissen - Konfrontation mit Kirche, Glauben, Friedhöfen, Tod G, H, J, K G, H G J J K 4 Jakobusweg Definitionen; persönlicher Stellenwert; Beziehungen zum Jakobusweg usw. Projekt mit besonderem Stellenwert Gründe: - Pilgerprojekt aus Herne - erstmalig C, I C I 2 Fortsetzung 130 Fortsetzung Tabelle 8: Auswertung der Frage 1 Selektionskriterium Kategorien Personen N Anerkennung durch Teilnahme am Jakobuswegprojekt Wirkungsfaktoren: - Außenstehende bei: - Erkenntnis der Dimensionen des Projektes - Erkenntnis des therapeutischen Wertes - Pionier sein von etwas, was viele nicht schaffen D, I D I 2 Distanz: - zum Alltag - für Ruhe E 1 Zweiwöchiger Aufenthalt in Frankreich B 1 Neue Eindrücke E 1 Schöne Erinnerungen H 1 Natur J 1 Jakobusweg Definitionen; persönlicher Stellenwert; Beziehungen zum Jakobusweg usw. Sich fallen lassen K 1 Die Beziehung der Teilnehmenden zum Jakobusweg spiegelt sich in unterschiedlichen Dimensionen wider (s. Tabelle 8). Diese lassen sich die folgenden Hauptkategorien gliedern: 1. Gemeinschaft von Gleichgesinnten Fünf Teilnehmende beschreiben zum Stichwort „Jakobusweg“ eine Gemeinschaft, die auf verschiedenen Gebieten eine gemeinsame Gesinnung teilt. Person A stellt dabei den therapeutischen Charakter in den Vordergrund. Sie versteht die Jakobuspilgerinnen und –pilger als eine Gruppe, die gemeinsam Anforderungen des Lebens lösen möchte und die auf dem Jakobusweg Probleme aus der Distanz zum Alltag reflektiert. Person B sieht das Gemeinsame in der Begeisterung für Kirchen und aus der Sicht von Personen C, D und J ist die Bewältigung des Jakobusweges als verbindendes Interesse der Gruppenmitglieder vordergründig. Die fünf Befragten sehen in der Gruppe außerdem die Möglichkeit, etwas mit anderen Menschen tun zu können - Erfahrungen teilen zu können. Insbesondere Aussagen wie: „Jakobusweg gemeinsam bewältigen“ oder „regelmäßige Treffen mit netten Leuten bei Kaffee und Kuchen“ sprechen für die Wertschätzung dieser Möglichkeit. 131 2. Therapie Vier Personen setzen therapeutische Auswirkungen der Teilnahme mit dem Begriff „Jakobusweg“ in Verbindung. Person D sagt beim Stichwort Jakobusweg sogar: „Therapie mit hoher Effektivität“. Insgesamt wird durch diese Hauptkategorie schon jetzt ein erstes Spektrum an möglichen Effekten der Teilnahme sichtbar. Ferner zeigt sich auch, wie unterschiedlich die Bedürfnisse allein dieser vier Teilnehmenden waren, die offenbar auf dem Jakobusweg aufgefangen werden konnten. Während Person A eher nach Rückzug, Kräfte sammeln und Überlegen zu Mute war, strebte Person D nach Ablenkung und Distanz zu Problemen, um den „Kopf klar zu kriegen“. Dabei fand Person D ebenso ihren „therapeutischen Weg“ zu mehr Verstehbarkeit ihrer momentanen Lebenssituation wie Person A. Person K setzt den Begriff „Jakobusweg“ mit der Erfahrung körperlicher Grenzen gleich. Dem Salutogenesemodell nach wäre zu erwarten, dass Person K durch dieses Erleben von Grenzen an Verstehbarkeit und Handhabbarkeit des eigenen Körpers gewonnen hat. Mit mehr Wissen über die persönlichen Leistungsgrenzen besteht die Chance, dass Person K zukünftig ihre Energie adäquater dosieren kann und besser in der Lage sein wird, ihre Leistungsfähigkeit einzuschätzen. 3. Religion/Spiritualität Vier Teilnehmende setzen den Jakobusweg mit Begriffen wie „Pilgern“, „Religion“ oder „Kirche“ in Beziehung. Dieser spirituelle Hintergrund bewirkte bei Person J die Wahrnehmung von Religiosität und erhöhte ihre Zuwendung zur Kirche. Person K hat die Begegnung mit Kirche, Glauben und Friedhöfen eher als Konfrontation in Erinnerung. Unabhängig davon, wie sich diese Begegnung therapeutisch auswirkte, sprechen diese Schilderungen für eine Aura, die von dem religiösen bzw. spirituellen Hintergrund des mittelalterlichen Pilgerweges ausgeht, die innerlich stark bewegen kann. Personen J und H sehen in dem Wanderweg vordergründig seine Bedeutung als Pilgerweg, deuten mit ihren Aussagen aber auch an, dass seine Länge nicht unwichtig ist. Welche Rolle die lange Distanz des Jakobusweges aus Sicht der Befragten spielt, wird sich in den weiteren Ausführungen noch herausstellen. An dieser Stelle kann aber festgehalten werden, dass bei der Frage nach Assoziationen zum Jakobusweg, sein Dasein als langer Pilgerweg mit seinem historischen und religiösen Hintergrund bedeutend ist. 132 4. Projekt mit besonderem Stellenwert Zwei Teilnehmende verbinden mit dem Begriff „Jakobusweg“ das gesamte Pilgerprojekt. Ihre Aussagen deuten an, dass sie das Projekt nicht „nur“ als Pilgerprojekt verstehen, sondern als eine Maßnahme, die durch ihre Erstmaligkeit und durch ihre lokale Zuordnung besonders ist. Die Benennung der Erstmaligkeit hebt den Pioniercharakter des Projektes hervor und steigert damit möglicherweise seine Attraktivität. Wer möchte nicht gerne ein Pionier von etwas sein? Die lokale Zuordnung, die sich in der Nennung „Pilgerprojekt aus Herne“ wiederspiegelt, impliziert außerdem ein Stück Lokalpatriotismus. Es ist nicht nur ein erstmaliges Pilgerprojekt, es wird auch mit der Stadt Herne in Verbindung gesetzt, die für viele Patientinnen und Patienten des St. Marien-Hospitals die Heimatstadt ist. 5. Anerkennung durch Teilnahme am Jakobuswegprojekt Die Teilnahme am Jakobuswegprojekt kann aus Sicht von zwei Befragten das Gefühl von Anerkennung vermitteln, insbesondere wenn das soziale Umfeld den therapeutischen Wert oder die Vielschichtigkeit des Projektes erfasst hat (vgl. Person D). Die Aussage von Person I „Pionier von etwas sein, was viele nicht schaffen“ meint mit anderen Worten von Anfang an bei einem Projekt zu sein, das in vielen Psychiatrien nicht durchführbar wäre bzw. dessen Durchführung in anderen Psychiatrien nicht umgesetzt wurde. Diese Aussage zeigt außerdem, dass bei mindestens einer Person durch entsprechendes Feedback ein Bewusstsein für den psychiatriepolitischen Stellenwert des Projektes gewachsen ist. Spürbar wird auch ein Gefühl von Stolz auf die Zugehörigkeit zu diesem Projekt oder zu dieser Wandergruppe. Es ist daher zu vermuten, dass sich schon allein die Rolle als Jakobuspilgerin oder –pilger am St. Marien-Hospital Eickel für diese Person als Widerstandsressource auswirken könnte, weil sie einen Selbstwert steigernden Effekt hat. 6. Distanz Die Distanz ist ein weiteres Medium, das sich therapeutisch auswirkt. Sie wird von Person E mit dem Jakobusweg in Beziehung gesetzt. Dabei ist bei dieser Person die Distanz zum 133 Alltag und der Wunsch nach Ruhe vordergründig. Die positiven Effekte von Distanz wurden bereits in anderen Hauptkategorien angesprochen (siehe Person A: „Gemeinschaft von Gleichgesinnten, die Probleme mit Distanz zum Alltag reflektiert“ oder „Zurückziehen, Überlegen und Kräfte sammeln“). Um Doppelungen zu vermeiden und die Differenziertheit der Definitionen sowie Gedanken zum Jakobusweg zu erfassen, wurde entschieden, die inhaltlichen Schwerpunkte der einzelnen Nennungen in dieser Weise festzuhalten, wie sie hier vorliegen (s. Tabelle 8) und die Distanz mit den Nennungen von Person E als eigene Kategorie hervorzuheben. Im Grunde genommen sprechen aber auch Personen A und D davon, dass sie mit dem Jakobusweg eine Möglichkeit verbinden, aus einer stresshaften Lebenssituation herauszutreten, um beispielsweise den Wunsch nach Ruhe, Rückzug, nach Abschalten oder eben Reflexion zu verwirklichen. 7. Sonstige Kategorien Die sonstigen einzelnen Nennungen der Teilnehmenden wie: „zweiwöchiger Aufenthalt in Frankreich“, die „Natur“, „neue Eindrücke“, „schöne Erinnerungen“ lassen darauf schließen, dass vier Befragte mit dem Jakobusweg das Erleben sinnstiftender und Freude bereitender Erfahrungen verbinden, wie es bereits bei den Untersuchungen von Krisor und Pfannkuch erforscht wurde. Als erstes Fazit kann formuliert werden, dass sich die Definitionen und Assoziationen zum Begriff „Jakobusweg“ auf unterschiedlichen Bedeutungsebenen bewegen. Dabei zeigt sich, dass die Verbindung des Jakobusweges mit der Gemeinschaft von Gleichgesinnten leicht in den Vordergrund rückt. Gleichwohl sind den Teilnehmenden aber auch therapeutische Effekte wichtig und in den Zusammenhang mit dem Begriff Jakobusweg zu bringen. Ein Phänomen, das sich im Zuge der Interpretation zeigt, ist, dass sich auf der Etappe 2001 Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Interessenschwerpunkten auf den Weg machten, und dass dieses breite Spektrum an Interessen durch den Jakobusweg angesprochen wurde beziehungsweise innerhalb der Rahmenbedingungen des Projektes zu vereinen war. 134 9.2 Beweggründe zur Teilnahme an der Jakobuswanderung Frage 2: „Was war für Sie der wichtigste Beweggrund, sich auf den Weg zu machen?“ Tabelle 9: Auswertung der Frage 2 Selektionskriterium Kategorien Personen N Wunsch nach Wachstum bzw. nach Gewinn an Widerstandsressourcen Beispiele: Gewinn an Widerstandsressourcen durch: - Orientierung an übrigen Teilnehmenden - Bewältigung körperlicher Herausforderung - Anstieg an Herausforderungen Nach jahrelanger Behandlung sich großer Anforderung stellen Möglichkeit, für sich etwas zu tun Neues lernen: - sich selbst wiedererkennen, neu erfahren - über längere Zeit an Wanderung in Gruppe (ohne Spannungen) teilnehmen - Erfahrungen mit körperlichen Grenzen - Erfahrungen mit Land, Geschichte B, E, F, G, H, J, K B, F, J B F J E G H, K H H K K 7 Wichtigster Beweggrund zur Teilnahme an der Wanderung Motivation zur Teilnahme am Jakobuswegprojekt Gründe: Interesse bzw. Gefallen an Trainingswanderungen und Treffen Aussicht auf einen Anlaufpunkt zum: - Arbeiten an Krankheit im Sinne einer Stärkung eigener positiven Seiten - Austausch, mit Verständnis - Lernen unschädlicher Wege der Problemlösung Auseinandersetzung mit Salutogenese A, F, J A, J A F 3 Fortsetzung 135 Fortsetzung Tabelle 9: Auswertung der Frage 2 Selektionskriterium Kategorien Personen N Distanz Beispiele: Distanz zum Alltag, um: - Eindrücke zu sammeln - neue Menschen kennenzulernen - auf andere Gedanken zu kommen - etwas anderes zu erleben Distanz zur belastenden Situation zu Hause: - keine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt - Angst vor alleine Wohnen nach langem Klinikaufenthalt C, D, J C, D C C D D J 3 Das Wandern B 1 Freude an der Landschaft B 1 Urlaub: - im geschützten Rahmen - mit Gemeinschaft B 1 Möglichkeit, für andere etwas zu tun G 1 Wichtigster Beweggrund zur Teilnahme an der Wanderung Wunsch, Hoffnung, Gesundungsprozess zu verbessern G 1 1. Wunsch nach Weiterentwicklung bzw. Gewinn an Widerstandsressourcen Die Nennungen der Befragten lassen auf ein starkes Interesse an Wachstum und Weiterentwicklung schließen (s. Tabelle 9). Die entsprechende Kategorie „Wunsch nach Weiterentwicklung bzw. Gewinn an Widerstandsressourcen“ ist von der Personenanzahl (7 Personen) her am häufigsten vertreten. Das Streben nach Wachstum spiegelt sich in der Motivation der Teilnehmenden wieder, unterschiedliche Herausforderungen bewältigen zu wollen. Genannt wird beispielsweise die Motivation zur Bewältigung körperlicher Herausforderungen (vgl. Person F) oder der Wunsch nach höheren Anforderungen, um einen therapeutischen Fortschritt zu erfahren (vgl. Personen E und J). Bei Personen H und K wird erkennbar, dass sie auf dem Jakobusweg etwas Neues lernen wollten. Die Unterpunkte zu dieser Kategorie beziehen sich einerseits auf die Neuentdeckung der eigenen Person (vgl. Person H: „sich selbst wiederentdecken, neu erfahren“ oder Person K: „Erfahrungen mit körperlichen Grenzen“). Gemeint ist aber auch der Erwerb neues Wissens durch die Erfahrung von Land und Geschichte (vgl. Person K). 136 Insgesamt impliziert die Intention, etwas Neues lernen zu wollen das Motiv, neue Widerstandsressourcen im Bereich der Verstehbarkeit zu erwerben. Bei näherer Betrachtung der Nennung „Möglichkeit, etwas für sich zu tun“ zeigt sich, dass auch auf dem Gebiet der Bedeutsamkeit neue Widerstandsressourcen erwartet wurden, denn etwas für sich tun heißt mit anderen Worten, sich selbst wichtig nehmen, für sich sorgen und somit mehr Bedeutsamkeit der eigenen Person anstreben. Abschließend lässt sich sagen, dass mindestens sieben Personen mit einer großen Bereitschaft zum Engagement und zur Veränderung diese Wanderung antraten. 2. Motivation zur Teilnahme am Jakobuswegprojekt Für drei Personen (A, F und J) ist die Aussicht auf die Teilnahme am Jakobuswegprojekt ein wichtiger Beweggrund zur Wanderung auf dem Jakobusweg. Die Motivation zur Teilnahme entspringt beispielsweise der Freude an den Jakobustreffen oder dem Gefallen an Trainingswanderungen wie es bei Personen A und J der Fall ist. Ein weiterer Motivationsfaktor ist aber auch aus Sicht von Person A der Gewinn einer Anlaufstelle mit den Charakteristika einer Selbsthilfegruppe. Diese Anlaufstelle bietet, den Angaben von Person A folgend, beispielsweise Raum zum Austausch, zum Arbeiten an der Krankheit oder zum Lernen neuer Bewältigungsstrategien usw.. Bei Person F wuchs das Interesse am Jakobuswegprojekt durch die Auseinandersetzung mit Salutogenese. Person F nahm vor der Pilgerreise an einem Vortrag von Frau Prof. Alexa Franke teil, die im Rahmen eines Ateliers über das Modell zur Salutogenese referierte. Welche konkreten Inhalte dabei eine aktivierende Rolle spielten, sagt Person F nicht. Letztendlich motivierte sie aber das Interesse an Salutogenese und an dem Jakobuswegprojekt zur Teilnahme an der Wanderung. Daher ist hier die Förderung des Gesundungsprozesses durch das Jakobuswegprojekt als Anliegen von Person F zu vermuten, mit dem sie sich auf den Weg machte. 3. Distanz zum Alltag Die Distanz zum Alltag als Beweggrund zur Teilnahme an der Jakobuswanderung beruhte auf verschiedenen Motiven. Bei Personen C und D ging der Wunsch nach Distanz mit 137 einer Offenheit für neue Eindrücke und für neue Menschen einher. Ferner wird die Intention deutlich, das Augenmerk auf andere Einflüsse, als auf Probleme zu lenken. Person J beschreibt eine aussichtslose Arbeitssituation verbunden mit einer für sie nahenden beängstigenden Wohnsituation als einen Lebensumstand, aus dem heraus sich ein Mensch auf den Weg machen kann. Als Beweggründe zur Teilnahme werden hier die Distanz zu dieser Lebenssituation erkennbar sowie wahrscheinlich die Hoffnung auf neue Perspektiven. Wieviel Eigeninitiative bei der Suche nach neuen Perspektiven jemand mitbringt, bleibt abzuwarten. Positiv zu bewerten ist, dass hier anstatt in Aussichtslosigkeit und Angst zu verharren, die Bereitschaft zur Bewegung vorlag. Darüber hinaus sah Person J in der Teilnahme eine Möglichkeit, sich einen Übergang vom klinischen Aufenthalt zum Alltag zu verschaffen. 4. Urlaub Aus den Aussagen von Person B spricht zusammengefasst der Wunsch nach einer schönen Zeit mit sinngebenden Aktivitäten oder Erlebnissen wie zum Beispiel dem „Wandern“ oder der „Freude an der Landschaft“. Person B nennt häufig den Begriff „Urlaub“. Dabei geht es ihr um einen Urlaub mit der Gemeinschaft, in einem geschützten Rahmen. Möglicherweise würde diese Person, wie viele andere psychisch erkrankte Menschen, ohne diesen schützenden Rahmen der Gemeinschaft und eines multiprofessionellen Teams nicht verreisen. Abgesehen von der Funktion der Gemeinschaft als Schutz und Unterstützung, impliziert die Aussage „Urlaub mit Gemeinschaft“ sicherlich auch den Wunsch nach Kontakt, was einen weiteren wichtigen Beweggrund zur Teilnahme darstellt. 5. Sonstige Kategorien Die Einzelnennung von Person G „Möglichkeit, für andere etwas zu tun“ entspricht dem Wunsch nach sinnstiftenden, Freude bringenden Aktivitäten wie es bei Person B der Fall ist. Darüber hinaus nennt Person G noch die Hoffnung auf Verbesserung des Gesundungsprozesses als Motiv zur Teilnahme. Diese Intention wird von Person G direkt benannt. Bei den Ausführungen zur Kategorie „Motivation zur Teilnahme am Jakobuswegprojekt“ wurde ebenso bei Person F die Intention der gesundheitlichen Verbesserung angenommen, da sie durch die Auseinandersetzung mit Salutogenese zu der 138 Pilgerreise angeregt wurde. Demzufolge kann von mindestens zwei Personen gesprochen werden, die durch die Wanderung hauptsächlich ihren Gesundungsprozesses fördern wollten. Zusammenfassend sprechen die Ergebnisse dafür, dass bei dieser Gruppe das Interesse an Weiterentwicklung und dem Gewinn an Widerstandsressourcen als Beweggrund zur Teilnahme dominierte. Darüber hinaus machte die Distanz zum Alltag und die Aussicht auf neue Perspektiven, sinnstiftende Erlebnisse und Aktivitäten die Reise attraktiv. Ein weiterer herausragender Motivationsfaktor war das Interesse am Jakobuswegprojekt und der Wille zum diesbezüglichen Engagement. 9.3 Auswirkungen der Jakobuswanderung auf die Gesundheit und Wirkungsfaktoren 1. Ergebnisse zur Frage 3: „Denken Sie, dass sich die Teilnahme an der Jakobuswanderung positiv auf den Gesundungsprozess eines psychisch kranken Menschen auswirken kann?“ Tabelle 10: Auswertung der Frage 3 Selektionskriterium Kategorien Personen N Teilnahme an der Jakobuswanderung wirkt sich positiv auf den Gesundungsprozess psychisch kranker Menschen aus A, B, C, D E, F, G, I, J 9 Positive Auswirkungen auf den Gesundungsprozess Voraussetzungen: - Bereitschaft zur Gesundung - Erfahrung von Fortschritt - Einlassen auf gesundungsfördernde Faktoren H, K H H K 2 Jakobuswegprojekt leistet mehr als klinischer Aufenthalt G 1 Gesundungsfördernde Auswirkungen der Teilnahme an der Jakobuswanderung Wenig gesundungsfördernde Auswirkungen bei vorzeitigem Abbruch wegen körperlicher und krankheitsbedingter Überforderung G 1 Insgesamt befürworten alle Personen die gesundungsfördernden Auswirkungen der Teilnahme an der Jakobuswanderung (s. Tabelle 10). 139 Neun Befragte sprechen der Teilnahme an der Pilgerreise positive Auswirkungen auf den Gesundungsprozess zu, ohne etwaige Voraussetzungen voranzustellen. Eine Person schätzt den Beitrag des Projektes zur Gesundungsförderung sogar höher ein, als den einer Klinik. Aus Sicht zweier Teilnehmenden (H und K) sollte allerdings eine Bereitschaft zur Gesundung bzw. zum Einlassen auf Wirkungsfaktoren gegeben sein. Wichtig sind darüber hinaus Erfolgserlebnisse (vgl. Person H). Person G macht darauf aufmerksam, dass es wegen Überforderung Abbrüche der Reise gab und auch in Zukunft geben kann. An dieser Stelle wird deutlich, dass es sich bei dieser Wanderung für psychisch erkrankte Menschen um eine große Anforderung handelt, bei der sie an unüberwindbare Hürden stoßen können. Es ist damit ein Beleg dafür, dass die Jakobuswanderung ein therapeutisches Projekt ist und eben nicht eine Urlaubsfahrt, wie es ab und an unterstellt wird. 2. Ergebnisse zur Frage 3a: Im Folgenden geht es um die Auflistung von Wirkungsfaktoren, nach denen gefragt wurde, sofern in Frage 3 die gesundungsfördernden Effekte der Jakobuswanderung befürwortet wurden. Tabelle 11: Auswertung der Frage 3a Selektionskriterium Kategorien Personen N Gesundungsfördernde Wirkungsfaktoren Soziale Faktoren Aktivität in einer Gemeinschaft: Gründe: - Erleben von Gemeinschaftsgefühl - schöne Gruppe - schöne Zeit - Zusammensein mit anderen Menschen unterbricht ständiges Grübeln - Bewältigung körperlicher Herausforderung in Gruppe angenehm/gesundungsfördernd - neue Kontakte Intensive Gespräche A, B, C, E, F,J B, C, E, F, J C, J C C E F B C 6 Fortsetzung 140 Fortsetzung Tabelle 11: Auswertung der Frage 3a Selektionskriterium Kategorien Personen N Soziale Faktoren Positive Umgangsweise, die durch Gruppenbindung, Gruppenregeln und gemeinsames Projekt bestimmt wird: - Rücksichtnahme - Sprache - Zurückstellen persönlicher Interessen für die Gruppe Festliches Essen mit Rede in friedlicher Atmosphäre Training von Kontaktfertigkeiten: - sich auf andere einlassen - sich schwierigen Kontakten stellen Durchmischung der Krankheitsbilder, dadurch: - gegenseitige Ergänzung - gegenseitige Beratung - Geben und Nehmen - gegenseitige Unterstützung Wertschätzung des persönlichen Gesundungsstatus bei Vergleich mit anderen Teilnehmenden A, B, C, E, F, J A C F J J 6 Gesundungsfördernde Wirkungsfaktoren Stress minimierende Faktoren Zur Ruhe kommen Weniger Stress als im Alltag Abschalten, geistige Erholung, z.B. durch: - höhere Ablenkung als in Klinik mit Akutkranken, weil Teilnehmende an Jakobuswanderung fitter sind und mehr erzählen - Wirkung von Natur genießen - Ortswechsel - Hier und Jetzt genießen - sich auf Weg einlassen statt reden Verantwortung abgeben, fallen lassen Mit Ressourcen haushalten B, E, I, K E B B, E, I, K E E E K K B K 4 Fortsetzung 141 Fortsetzung Tabelle 11: Auswertung der Frage 3a Selektionskriterium Kategorien Personen N Erfahrung persönlicher Bedeutsamkeit Anstieg des Selbstwertgefühls, z. B. durch erfahrene Selbständigkeit Sich ernst/wichtig nehmen: - persönliche Angelegenheiten regeln - an sich denken - sich etwas Gutes tun - sich etwas gönnen, z. B.: französische Süßigkeiten, Kuchen - für sich sorgen - auf sich selbst achten zur Milderung von Trauer Eigeninitiative C, E, I, K C, E I, K I K K K K K I 4 Wandern/Bewegung Gründe: - Wandern beruhigt - körperliche Anstrengung befreit bzw. Sorgen ablaufen - Laufen, frische Luft, kein Stress - Laufen, um Gedanken treiben zu lassen - Bewältigung körperlicher Herausforderung stärkt Zuversicht in Bewältigung anderer Anforderungen B, C, F, K C K K K F 4 Gesundungsfördernde Wirkungsfaktoren Gewinn an Widerstandsressourcen Beispiele: - Selbständigkeit im Umgang mit Geld und Einkaufen im fremden Land - durch Jakobuspilger, Gemeinschaft und Kontaktfertigkeit erfahren - Erfahrungen im Alltag anwenden - erfolgreiche Bewältigung der Wanderung bzw. der Anforderungen in Frankreich, weil: - Zuversicht in Bewältigung anderer Träume/größerer Anforderungen - Motivation, sich Anforderungen des Lebens zu stellen - Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen E, D, H E H H D 3 Fortsetzung 142 Fortsetzung Tabelle 11: Auswertung der Frage 3a Selektionskriterium Kategorien Personen N Jakobusweg als Therapie verstehen: - Konzentration auf Weg statt auf Probleme - Reflexion des begangenen Weges - soziales Umfeld registriert therapeutischen Erfolg - Humor zurückgewinnen - Gesundung wird erarbeitet D, K D D D D K 2 Ergänzende Erfahrungen zum stationären Aufenthalt: - Situationen, die im Krankenhaus nicht auftreten können - Erfahrungen, die sonst nicht erlebbar sind G, H G H 2 Übertragung von Metaphern, Symbolik in den Alltag Beispiele: - bei Schwierigkeiten Weg Stein für Stein bewältigen - Weg Schritt für Schritt bewältigen H, K H K 2 Das Zusammenspiel folgender Komponenten: - Anforderungen der Wanderung - mit Menschen zusammen sein - Natur - das ganze Drumherum/Atmosphäre D 1 Positiver Ausgang vorher pessimistisch eingeschätzter Situationen wirkt gegen Mechanismus: aus Angst vor Manie keine Freude zuzulassen J 1 Gleichbleibendes therapeutisches Team hat positive Auswirkungen auf Reflexion/Therapieprozess J 1 Gesundungsfördernde Wirkungsfaktoren Anregung zur Introspektion: - Vergangenheit spüren in unserer Gegenwart sich zurückversetzen in Situation früherer Pilger - Wahrnehmung der Anforderungen trotz guter Ausrüstung K 1 Fortsetzung 143 Fortsetzung Tabelle 11: Auswertung der Frage 3a Selektionskriterium Kategorien Personen N Gesundungsfördernde Wirkungsfaktoren Zuversicht in positive Auswirkungen der Wanderung Gründe: - Wanderungen mit Ehepartner(-in) gemocht - Zweisamkeit geschätzt, über Glauben keine Gedanken gemacht - früher gern gelaufen, um Gedanken treiben zu lassen - mehr Wanderung als Jakobus erwartet K 1 Die Teilnehmenden beschreiben Vielfalt gesundungsfördernder Faktoren (s. Tabelle 11). In dieser Verteilung liegen die Schwerpunkte auf den Hauptkategorien: „Soziale Faktoren“ (6 Personen), „Stress minimierende Faktoren“ (4 Personen), „Erfahrung persönlicher Bedeutsamkeit“ (4 Personen) und „Wandern, Bewegung“ (4 Personen). Die weiteren Kategorien resultierten aus den Aussagen von jeweils einer bis zwei Personen. Innerhalb dieser Kategorien finden sich oftmals, obwohl nur von einer Person besetzt, viele Nennungen, die das benannte Phänomen ausführlich beschreiben. Das spricht möglicherweise für die Intensität des Wirkungsfaktors oder für seinen besonderen Stellenwert bei dieser Person. a) Soziale Faktoren Mit der Hauptkategorie „Soziale Faktoren“ wurden die Nennungen überschrieben, welche Rahmenbedingungen und Aspekte des sozialen Miteinanders beinhalteten. Sechs Teilnehmende bewerten diese Einflüsse als gesundungsfördernd. Person A benennt beispielsweise die positive Umgangsweise unter den Teilnehmenden als positiven Wirkungsfaktor. Sie führt diese Umgangsweise auf Gruppenregeln zurück, die mit den Teilnehmenden im Laufe der Jahre erarbeitet wurden. Neben der regelgeleiteten Basis für ein gesundungsförderndes Miteinander geht die positive Interaktion aus Sicht von Person A aber auch auf natürliche Weise mit der Verwirklichung eines gemeinsamen Projektes einher. Drüber hinaus befähigt das Interesse am Jakobuswegprojekt und damit auch am Erreichen eines großen Ziels die Gruppe ihren Angaben nach zu mehr 144 Rücksichtnahme, zum Zurückstellen persönlicher Interessen für die Gruppe und schließlich zu einem angenehmen verbalen Kontakt. Fünf Teilnehmende (B, C, E, F und J) bewerten die Aktivität mit einer Gemeinschaft als gesundungsfördernd, weil dadurch beispielsweise sinngebende Faktoren wie: „Erleben von Gemeinschaftsgefühl“, „schöne Zeit“, „schöne Gruppe“ oder „neue Kontakte“ zum Tragen kommen. Abgesehen davon erfahren auch besinnliche Aspekte wie z. B. „das gemeinsame Essen in friedlicher Atmosphäre“ eine besondere Wertschätzung. Aus Sicht von mindestens vier Befragten (C, E, F und J) können die Ressourcen der Gemeinschaft für den persönlichen therapeutischen Prozess im Bereich der Handhabbarkeit genutzt werden. So beobachtet Person E, dass das Zusammensein mit anderen Menschen automatisch das ständige Grübeln unterbricht. Die tägliche Präsenz der Gemeinschaft stellt darüber hinaus Anforderungen an die individuellen Kontaktfertigkeiten. Dieses Training der Kontaktfertigkeiten zählt für Person F zu den gesundungsfördernden Faktoren. Unterstützt wird dabei beispielsweise die Fähigkeit, sich auf andere Menschen einzulassen oder sich schwierigen Begegnungen zu stellen. Kontaktfreudigen Menschen hingegen bietet eine Gruppe mit 18 Personen viele Möglichkeiten zum Austausch. Person F hatte diese Ressourcen wahrgenommen und „intensive Gespräche“ für sich als heilsamen Faktor genutzt. Person J erkennt ganz eindrucksvoll die Wirkung einer konzeptionellen Säule des Herner Modells, nämlich den therapeutischen Einfluss einer optimalen Durchmischung der Krankheitsbilder. Diese optimale Zusammensetzung der Gruppe, sorgt nach Angaben von Person J für die Mobilisierung persönlicher Ressourcen im Dienste der „gegenseitigen Ergänzung“, gegenseitigen „Beratung“, des „Geben und Nehmen“ und der gegenseitigen „Unterstützung“. Eine Gruppe psychisch kranker Menschen bietet aus Sicht von Person J darüber hinaus die Möglichkeit des Vergleichs zwischen der eigenen Gesundheit und dem Zustand der anderen Teilnehmenden mit dem positiven Effekt der „Wertschätzung des persönlichen Gesundungsstatus“. 145 b) Stress minimierende Faktoren Zwölf Nennungen beschreiben Einflüsse, die auf der Wanderung gesundungsschädigende Stressoren minimieren. Vordergründig ist bei den Angaben das Abschalten oder die Ablenkung von Stresshaften Lebensereignissen des Alltags. Dabei ist Ablenkung beispielsweise durch Gespräche und Erzählungen möglich (vgl. Person E). Auch Umweltbedingungen wie Natur oder Ortswechsel begünstigen die Konzentration auf das Hier und Jetzt und sorgten für „geistige Erholung“ (vgl. Personen E und K). Dabei ermöglicht der Halt der Gemeinschaft Einzelnen „die Abgabe von Verantwortung“ (vgl. Person B). Person B nach sei es möglich, sich fallen zu lassen, insgesamt weniger Stress als im Alltag zu erleben und zur Ruhe zu kommen. Ein elementarer Faktor beim Spannungsabbau ist außerdem das Wandern. Wandern und Bewegung wurden jedoch zu einer eigenständigen Hauptkategorie zusammengefasst, weil diese Aspekte unterschiedliche Einflüsse auf den Gesundungsprozess hatten. Darüber hinaus spielt das Wandern für die Teilnehmenden als therapeutischer Faktor eine zu große Rolle, als dass man es als Unterpunkt einer Kategorie darstellen sollte. Dennoch erscheint es sinnvoll bei der Beschreibung von Stress minimierenden Faktoren zu erwähnen, dass das Wandern und die Bewegung von einigen Teilnehmenden als Ressourcen zur Belastungsbalance erkannt werden. Person K macht mit dem Punkt „Mit Ressourcen haushalten“ deutlich, dass sie für sich aus salutogenetischer Sicht einen elementaren Weg zum erfolgreichen Coping und somit in Richtung Gesundung herausgefunden hat. Denn mit Ressourcen haushalten können spricht für die Fähigkeit eines optimalen Umgangs mit Widerstandsressourcen, was sich widerum positiv auf die Handhabe von Spannungen auswirkt. c) Erfahrung persönlicher Bedeutsamkeit Antonovsky (vgl. 1987/1997) nennt vier Lebensbereiche, die für eine Person im Hinblick auf ihre Gesundheit von subjektiver Bedeutung bleiben sollten. Aus seiner Sicht sei ein starkes SOC schwer aufrechtzuerhalten, wenn ein Mensch die eigenen Gefühle, die unmittelbaren interpersonellen Beziehungen, die persönlich wichtigste Tätigkeit sowie existentielle Fragen z. B. Tod, persönliche Fehler, Konflikte, Isolation usw. aus seinem Bedeutungsfeld ausgrenze. Während der Befragungen wurde deutlich, dass für viele Teilnehmende in Krisensituationen das Thema „Krankheit“ enorm an Bedeutung gewinnt. 146 Dagegen werden andere wichtige Bereiche, die unmittelbar mit der eigenen Person zu tun haben, zunehmend ausgegrenzt. Vier Befragte zeigen auf, dass auf der Jakobuswanderung die Wertschätzung der eigenen Person und somit das Erleben der persönlichen Bedeutsamkeit gefördert wurde. Person K beschreibt intensiv, wie sie allmählich anfing, sich wieder ernst zu nehmen. Damit meint sie das Sorgen für das leibliche und seelische Wohlbefinden, z. B. „an sich denken“, „sich etwas Gutes tun“ oder „sich etwas gönnen“. Sie erkannte für sich, dass diese persönliche Fürsorge in einer Krisensituation, wie eben in einer Trauerphase, sehr wichtig ist. Dazu zählt auch die „Regelung persönlicher Angelegenheiten“, wie es bei Person I der Fall war. Hier wurde durch die Wanderung die Lebenssituation wieder wichtig genug, um sich dafür engagieren zu wollen. Diese Motivation zum Engagement sowie die Bewertung von „Eigeninitiative“ im Sinne von Eigenverantwortung als gesundungsfördernden Faktor spricht für einen deutlichen Schritt in Richtung health-ease auf dem Gesundungs-Krankheitskontinuum. Personen C und E nehmen u. a. durch die erlebte Selbständigkeit einen Anstieg des Selbstwertgefühls wahr und bewerten diese Erfahrung als einen gesundungsfördernden Einfluss. d) Wandern/Bewegung Vier Teilnehmende (B, C, F und K) erkennen das Wandern oder die Bewegung generell als positiven Faktor für den Gesundungsprozess an. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf dem Nutzen des Wanderns zur Bewältigung von Spannungszuständen. Das Wandern beruhigt, die körperliche Anstrengung befreit von Sorgen und beim Laufen an der frischen Luft kommt kein Stress auf, so der Tenor der Aussagen. Das Wandern ermöglicht aus Sicht von Person K auch Momente der Muße, was sich in der Aussage „Laufen, um Gedanken treiben zu lassen“ wiederspiegelt. Die Effekte des Wanderns kommen demnach sowohl auf der Handhabbarkeitsebene als auch im Bereich der Bedeutsamkeit zur Geltung. Ein anderer Schwerpunkt liegt auf dem Erwerb neuer Widerstandsressourcen für den Alltag durch die Bewältigung von körperlichen Anforderungen. Um das Ausmaß des therapeutischen Effektes besser begreifen zu können, sollte man vorweg bedenken, dass zu Beginn der Wanderung Unerfahrene schwer ihr persönliches Leistungsvermögen 147 einschätzen können. Die Vorstellung, 15 Kilometer zu wandern, stellt für Anfängerinnen und Anfänger eine kaum überwindbare Anforderung dar. Im Zuge der Pilgerreise steigt das Leistungsvermögen und die Wanderinnen und Wanderer bewältigen Tagesetappen, die weit über 15 Kilometer hinausgehen. Dieses körperliche Erfolgserlebnis ist aus Sicht von Person F offenbar so intensiv, dass die Zuversicht in die Fähigkeit, Anforderungen des Alltags handhaben zu können, gestärkt wird. e) Den Jakobusweg als Therapie verstehen oder der Gewinn neuer Widerstandsressourcen Schon in den Antworten zur Frage 3 machen zwei Personen auf die Offenheit für Erfahrungen der Teilnehmenden als Voraussetzung für therapeutische Effekte aufmerksam. Die nötige Einstellung zu dieser Wanderung sowie die Bereitschaft zur Mitwirkung werden bei Frage 3a wiederholt thematisiert (vgl. Personen D und K). Für Person K geschieht die Gesundung nicht von selbst, sondern wird „erarbeitet“. Gesundheitliche Effekte resultieren aus dem Verständnis der Jakobuswanderung als Therapie (vgl. Personen D u. K), das sich wie folgt darstellt: Der begangene Weg muss reflektiert werden. Die Wanderinnen und Wanderer müssen sich außerdem auf den Weg und auf seine Einflussfaktoren einlassen. Ein Festhalten an Problemen ist dabei hinderlich. Das Erproben der „Selbständigkeit im Umgang mit Geld“ (vgl. Person E) oder das Training der „Kontaktfertigkeit“ (vgl. Person F), also das Engagement und die Bewältigung von Anforderungen zahlen sich hingegen als Ressourcen im Alltag aus. Dieser Effekt drückt sich sowohl in dem Erwerb konkreter Widerstandsressourcen aus, wie auch global in der „Motivation, sich Anforderungen des Lebens zu stellen“ (vgl. Person D). Person D ist sogar der Meinung, dass die Bereitschaft steige, sich größere Träume zu erfüllen. Neben den therapeutischen Effekten, die auf den Willen zur Eigeninitiative und der aktiven Arbeit an sich zurückzuführen sind, fördert die Jakobuswanderung Gesundheit durch Situationen und Erfahrungen, die im stationären Alltag nicht erlebbar wären. Interessant hierzu sind u. a. die Nennungen von Personen G und H, die sich mit dem Charisma des Jakobusweges beschäftigen. Demnach steckt ein mittelalterlicher Pilgerweg offenbar voller Symbolik, die nur aufgegriffen werden muss und sich im Alltag als wertvolle Widerstandressource erweisen kann. Bei schwierigen Situationen im Alltag können aus 148 Sicht dieser Teilnehmenden tückische Wegesabschnitte in Frankreich erinnert werden, die „Schritt für Schritt“ oder „Stein für Stein“ bewältigt wurden. Die Kategorie „ergänzende Erfahrungen zum stationären Aufenthalt“ beinhaltet noch weitere Erkenntnisse im Hinblick auf die therapeutische Arbeit. Es handelt sich hierbei um Effekte, die sich aus den Rahmenbedingungen der Wanderung ergeben. Diese werden in dem nächsten Abschnitt gesondert untersucht. f) Ergänzende Erfahrungen zum stationären Aufenthalt Therapeutinnen und Therapeuten, zum Beispiel in bewegungsorientierten Bereichen, arbeiten in der Praxis mit künstlich geschaffenen Erlebnisfeldern. Diese Erlebnisfelder bieten Raum zur Auseinandersetzung mit Themen des Lebens, mit Gefühlen, mit Verhalten oder zum Training sozialer Kompetenzen usw.. So intensiv entsprechende Erfahrungen möglich werden, sie haben in künstlich geschaffenen Welten nicht die gleiche nachhaltend beeindruckende Wirkungskraft und Authenzität, wie innerhalb natürlich entstandener Situationen auf der Wanderung. Das bestätigen die Teilnehmenden G und H mit den Nennungen: „Situationen, die im Krankenhaus nicht auftreten können“ (Person G) bzw. „Erfahrungen, die sonst nicht erlebbar“ (Person H). Ein eindrucksvolles Beispiel hierzu ist außerdem die Erfahrung von Person J. Diese integrierte beispielsweise das häufige Erleben des positiven Ausgangs einer vorher negativ eingeschätzten Situation als Ressource gegen ihren Mechanismus, aus Angst vor Manie keine Freude zuzulassen. Eine weitere Erfahrung, die im Krankenhaus nicht annährend so authentisch zu vermitteln wäre, ist das Hineinversetzen in die Situation früherer Pilgerinnen und Pilger. Wie man sieht, setzt sich nach Angaben von Person K mit der bewussten Wahrnehmung historischer Einflüsse eine Reflexion der persönlichen Situation in Gang. Anforderungen von damals wurden mit den heutigen verglichen. Möglicherweise mildert der Vergleich mit früheren Zuständen das Bild vom eigenen Leid. In jedem Fall nennt sie diese Anregung zur Introspektion als gesundungsfördernden Wirkungsfaktor. g) Sonstige Kategorien Die verbleibenden Angaben, waren zu individuell und zu unterschiedlich, um sie zu Schwerpunkten bündeln zu können. Die Aussagen von Person J rücken erstmalig die Rolle des therapeutischen Teams in den Vordergrund. Für sie hat die Begleitung des Projektes 149 durch ein beständiges therapeutisches Team einen eindeutig positiven Effekt auf den Therapieprozess. Die Möglichkeit der Reflexion der persönlichen Entwicklung mit einem Team, das diesen Prozess langjährig begleitet, bewertet sie als sehr vorteilhaft. Person D betrachtet neben der bereits von ihr genannten Aspekte das Zusammenspiel unterschiedlicher Komponenten als gesundungsfördernd. Person K sieht einen unterstützenden Aspekt in der Erwartung positiver Effekte der Wanderung, da sie vor der Reise aufgrund von Erfahrungen in der Vergangenheit das Wandern mit angenehmen Erinnerungen verbunden hatte. 3. Ergebnisse zur Frage 3b: „Was ist aus Ihrer Sicht das stärkste gesundungsfördernde Element der Jakobuswanderung? (auch persönliche Erfahrungen/Erlebnisse möglich)“ Tabelle 12: Auswertung der Frage 3b Selektionskriterium Kategorien Personen N Das stärkste gesundungsfördernde Element an der Jakobuswanderung Soziale Faktoren Positive soziale Einstellungen, z. B. gemeinsame Freude am Weg Verbaler Austausch, Kommunikation, z. B. Gespräche über Krankheit Gruppe Freude am Zusammensein mit Menschen durch: - Menschen kennen lernen - Menschen besser kennen lernen - sich miteinander gut verstehen Das gemeinsame Essen: - seltene Gelegenheit, schön zu essen - wie in großer Familie am Tisch sitzen - über Ablauf des Tages sprechen, vorher Begrüßung A, B, D, G, H A B, G B B D H 5 Fortsetzung 150 Fortsetzung Tabelle 12: Auswertung der Frage 3b Selektionskriterium Kategorien Personen N Distanz zum Alltag Beispiele: - Distanz zum Wohnort - Distanz zu Menschen, die man sonst sieht - im Ausland sein Auswirkungen: - wohlige Erschöpfung, die in Klinik oder Alltag noch nicht erlebt wurde - Abschwächung von Druck und Unruhe - kein Gedankenrasen mehr - Zunahme des gedanklichen Abstandes B, E, G B B G E 3 Hervorhebung eines Elementes nicht möglich Gründe: - Gewichtung individuell unterschiedlich - Kombination von gesundungsfördernden Aspekten D, G G 2 Sport Wirkungsfaktoren: - Ausschüttung von Endorphinen, wie beim Konditionssport - Freisetzung von Kräften beim Wandern - Verbesserung von Kondition und Fitness - optimale Dosierung der Wanderung G, I G G I I 2 Ablenkung von Krankheit B 1 Sich auf etwas einlassen B 1 Landschaft E 1 Erfolgserlebnisse F 1 Kultur G 1 Seelische Zufriedenheit, z. B. durch genug Geld für Bedürfnisse I 1 Hohe Motivation zum Durchhalten I 1 Ziel verfolgen G, I 2 Religion G 1 Das stärkste gesundungsfördernde Element an der Jakobuswanderung Schöne Erlebnisse, z. B. Entdeckung von Himbeersirup I 1 Bei den stärksten gesundungsfördernden Elementen steht die Kategorie „Soziale Faktoren“ (7 Personen) an erster Stelle (s. Tabelle 12). Zwei Personen (B u. G) rücken dabei den verbalen Austausch als heilenden Faktor in den Vordergrund. Für Person D spielt das Zusammensein mit Menschen für die Gesundung eine wichtige Rolle. Sie stellt es zunächst als ein sinngebendes Erlebnis dar. Sie schildert ferner die Möglichkeit, während der 151 Wanderung an der Verstehbarkeit des zwischenmenschlichen Kontaktes arbeiten zu können (vgl.: „Menschen besser kennen lernen“ oder „sich miteinander gut verstehen“). Die Unterpunkte der gesamten Kategorie „Soziale Faktoren“ beschreiben ein Miteinander, welches das Erleben einer positiven Beziehungsgestaltung unterstützt. Dafür sprechen Angaben wie: „positive soziale Einstellungen“, „verbaler Austausch, Kommunikation“ oder „Freude am Zusammensein mit Menschen“. Person H zählt das gemeinsame Essen zu den stärksten heilenden Faktoren der Wanderung. Ihre Angaben dazu rücken insbesondere die familiäre Atmosphäre innerhalb der Gruppe sowie die darin enthaltenen Rituale Begrüßung und Reflexion des Tages in den Vordergrund. Person H empfindet diese Essenskultur als etwas Besonderes, da sie selten die Gelegenheit hat, „so schön zu essen“. Für drei Teilnehmende (B, G und E) ist die Distanz zum Alltag ein entscheidender Wirkungsfaktor. Dabei beschreibt Person E enorme Entspannungseffekte, die sie durch den Abstand zum Alltag erlebte. Sie gibt sogar an, eine solche Entspannung weder im Alltag, noch in der Klinik erlebt zu haben. Den dritten Platz auf der Skala der gesundungsfördernden Wirkungsfaktoren teilen sich die Hauptkategorien „Sport“ und „Hervorhebung eines Elementes nicht möglich“, die von mit jeweils zwei Personen benannt werden. Die weiteren Hauptkategorien entstanden aus den Aussagen von jeweils einer Person. Es handelt sich hierbei um sehr unterschiedliche individuelle Wirkungsfaktoren, die thematisch schwer zu bündeln waren. Daher wurden sie als eigene Kategorien belassen. Ihre Gemeinsamkeit wäre eventuell, dass sie größtenteils sinnstiftende und Freude bringende Ereignisse beschreiben. 152 9.4 Die Rolle des Jakobusweges im Gesundungsprozess 1. Ergebnisse zur Frage 3c: „Würden die von Ihnen insgesamt beschriebenen gesundungsfördernden Einflüsse auch eintreten, wenn ein anderer Wanderweg begangen worden wäre?“ Tabelle 13: Auswertung der Frage 3c Selektionskriterium Kategorien Personen N Besonderheit des Jakobusweges unwichtig bzw. gesundungsfördernde Einflüsse auch bei anderen Wanderwegen möglich Voraussetzungen: - dahinterstehende Entwicklung und Sinn mit Jakobusweg vergleichbar - sich über Jahrhunderte entwickelter Grundgedanke - echter kultureller sozialgeschichtlicher Hintergrund - Abwechslung zwischen dem Körperlichen und Kultur - landschaftliche, geographische Rahmenbedingungen, d. h.: - Ruhe, keine Großstadt - Land - schöne Landschaft - Gegend - Atmosphäre - Wechselspiel zwischen schönen und bedrückenden Landschaften/Orten wichtig - Länge des Weges, die die Langfristigkeit des Projektes gewährleistet wegen: - Zuversicht in kontinuierliche Fortsetzung - Gewährleistung von Effekten - soziales Umfeld mit Therapeuten, Mitpatienten und ehemaligen Patienten - religiöse Hintergründe wichtig, weil: - Gang nach Jerusalem oder Rom ähnlich - Religion gibt Hoffnung - Rückkehr zur Religion A, B, C, D, E, G, I A A A A B, C, D B B, C C C D D C, E C E D, I G 7 Die Besonderheit des Jakobusweges und ihre Bedeutung für den Gesundungsprozess Ohne Vergleichsmöglichkeit schwer zu beurteilen E, F 2 Fortsetzung 153 Fortsetzung Tabelle 13: Auswertung der Frage 3c Selektionskriterium Kategorien Personen N Die Besonderheit des Jakobusweges und ihre Bedeutung für den Gesundungsprozess Besonderheit des Jakobusweges trifft zu Gründe: - Vergangenheit, Pilger u. Geschichte - viele Gedanken an historischen Hintergrund - Bewegung seit vielen Jahren - Tradition Beständigkeit - man verbindet etwas mit dem Jakobusweg B, K K K K K B 2 2. Ergebnisse zur Frage 3d: „Was macht die Erwanderung des Jakobusweges im Hinblick auf die Gesundheit so besonders?“ Tabelle 14: Auswertung der Frage 3d Selektionskriterium Kategorien Personen N Religiöser Aspekt als Faktor der Bedeutsamkeit: - der Begriff „Pilgern“ könnte ein Hinderungsgrund zur Teilnahme sein - bei Anwesenheit des Krankenhaus-Paters - wenn schöne Monumente gegeben - religiöser Hintergrund löst Bewunderung für frühere Pilger aus, aber hat keinen Einfluss auf den persönlichen Glauben - religiöser/historischer Hintergrund verdeutlicht den heutigen Komfort beim Pilgern im Gegensatz zu früheren Strapazen C, D C C C C D 2 Umgang miteinander, z. B. das Zurücknehmen vor dem Hintergrund eines gemeinsamen Zieles A 1 Vielfalt A 1 Wege der Problemlösung A 1 Die Besonderheit des Jakobusweges und ihre Bedeutung für den Gesundungsprozess Freude und Erinnerungen durch schöne alte Gebäude B 1 Mit den Fragen 3c/d sollte untersucht werden, ob die Erwanderung des Jakobusweges als berühmten historischen Pilgerweg, im Gesundungsprozess eine Rolle spielt. Frage 3c, in der es um die Besonderheit des Jakobusweges im Vergleich zu anderen Wanderwegen geht, wurde von neun Teilnehmenden beantwortet (s. Tabelle 13). Für zwei Personen ist diese Frage ohne Vergleichsmöglichkeiten schwer zu beantworten. 154 Eine Person (K) ist eindeutig der Meinung, dass der Jakobusweg sich von anderen Wegen unterscheide und rückt dazu die Bezüge zur Geschichte und Tradition als Argumente in den Vordergrund. Person B macht einerseits die Angabe „man verbindet etwas mit dem Jakobusweg“, ist dann aber wie sechs andere Teilnehmende der Ansicht, dass der Weg nicht unbedingt „Jakobusweg“ heißen muss. Man könnte auch einen anderen Weg gehen, nur müssten für gesundheitliche Effekte entsprechende Rahmenbedingungen gewährleistet sein. Interessanterweise negieren die Befragten auf den ersten Blick den herausragenden Stellenwert des Jakobusweges im Vergleich zu anderen Wegen, wenn man aber genauer hinschaut, sind die erforderlichen Rahmenbedingungen, die ein Wanderweg zur Förderung der Gesundung erfüllen muss, sehr speziell. Man könnte sogar sagen, sie beschreiben gerade die Charakteristika des Jakobusweges durch Frankreich. Zusammengefasst stellen die Befragten den optimalen therapeutischen Wanderweg wie folgt dar: Für drei Personen (B, C und D) sind landschaftliche und geographische Gegebenheiten entscheidend. Der Weg darf nicht gerade durch eine Großstadt führen. Er muss atmosphärisch eindrucksvoll sein und Ruhe vermitteln, und auch das Land, das er durchquert ist wichtig. Selbst wenn es nicht unbedingt der Jakobusweg sein muss, sollte ein gleichwertiger Wanderweg aus der Sicht von einer Person (A) historische und kulturelle Größe ausstrahlen, beispielsweise durch einen „sich über Jahrhunderte entwickelten Grundgedanken“. Wünschenswert wäre auch ein „echter kultureller sozialgeschichtlicher Hintergrund“ oder die „Abwechslung zwischen Körperlichem und Kultur“. Die Aussage „Abwechslung zwischen Körperlichem und Kultur“ zeigt, dass ein Wanderweg nicht nur dem Bedürfnis nach Bewegung nachkommen sollte, sondern auch etwas für den Geist, für die Bildung leisten sollte. Ein weiterer wichtiger Punkt, der in den Antworten zur Frage 3c und 3d vorkommt, ist die Bedeutung von Religion. Bei dem Wanderweg könnte es sich aus der Sicht von einer Person (G) auch um einen Gang nach Rom oder Jerusalem handeln, Hauptsache Religion ist ein bedeutungstragendes Element des Weges, denn Religion ist für diese Person (G) eine wichtige Widerstandsressource (vgl. „Religion gibt Hoffnung“). Weitere Angaben hierzu finden sich unter Frage 3d (s. Tabelle 14). Dort geht es konkret um die Besonderheit des Jakobusweges und den entsprechenden Einfluss auf den Gesundungsprozess. Es zeigt sich, dass aus der Sicht von zwei weiteren Befragten (C und 155 D) die religiösen Faktoren Einflüsse auf den Gesundungsprozess haben. Den Aussagen dieser Personen und der von Person G nach zu urteilen, sind religiöse Inhalte auf der Wanderung zunächst einmal präsent. Ihr Einfluss kann offenbar so stark sein, dass er zur Rückkehr zur Religion und bewussterem christlichen Leben animiert. Im ungünstigen Fall kann die religiöse Komponente, die sich beispielsweise in der Eigenschaft des Jakobusweges als Pilgerweg ausdrückt, von der Teilnahme abschrecken (vgl. Person C). Die Auswertung zeigt ferner, dass religiöse Hintergründe zur Introspektion bewegen können. Aus Sicht von Person D lösen sie Bewunderung für frühere Pilgerinnen und Pilger aus oder verdeutlichen den heutigen Komfort im Gegensatz zu früheren Strapazen. Die Ergebnisse zeigen aber auch, dass der religiöse Einfluss nicht zwingend so stark ist, dass man zum praktizierenden Christen wird (vgl. Person C). Die Intensität ihrer Wirkung hängt vermutlich von der Prädisposition ihrer Empfänger ab. Person C deutet außerdem darauf hin, dass der religiöse Charakter in den Vordergrund rückt, wenn der Hausgeistliche der Klinik anwesend ist. Vielleicht würde bei einigen Wanderern und Wanderinnen die Religion ohne ihre Belebung seitens des Krankenhauspaters durch Rituale und besinnliche Momente in den Hintergrund treten. Neben den spirituellen, historischen sowie kulturellen und geographischen Komponenten eines therapeutisch effektiven Wanderweges, heben zwei Personen (C und E) ein weiteres Element hervor. Für diese Teilnehmenden spielt die Länge des Weges eine wichtige Rolle, da sie die Langfristigkeit des Projektes und die damit einhergehende Kontinuität der therapeutischen Effekte gewährleistet. Abschließend zeigt sich durch die Angaben von Personen I und D noch, dass für die Gesundheitsförderung „ein soziales Umfeld mit Therapeuten und Patienten bzw. ehemaligen Patienten“, also die Einbettung der Wanderung in ein therapeutisches Setting entscheidend ist. Die weiteren therapeutischen Faktoren „Vielfalt“, „Wege der Problemlösung“ oder „Freude und Erinnerungen durch schöne alte Gebäude“ wären ebenso auf einem anderen Wanderweg anzutreffen, vorausgesetzt er würde die oben beschriebenen Rahmenbedingungen erfüllen. 156 Lediglich die Hervorhebung des besonderen Umgangs miteinander vor dem Hintergrund eines großen Ziels könnte darauf schließen lassen, dass das berühmte Santiago de Compostela im Vergleich zu anderen Pilgerzielen herausragt. Die Aussicht auf eine Ankunft dort versetzt aus Sicht von Person A eine Gruppe von 18 Menschen in die Lage, die dafür nötigen sozialen Fertigkeiten zu mobilisieren. 157 9.5 Die Begegnung zwischen der Wandergruppe und dem therapeu- tischen Team Mit den Fragen 4 und 8 sollte die Begegnung zwischen den Teilnehmenden und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern untersucht werden. Während die offene Frage 4 eine erste Reflexion dieser Begegnung zum Ziel hatte, untersuchte die hypothesengerichtete Frage 8 die Verstehbarkeit des Kontaktes untereinander. Zur Erinnerung noch einmal beide Fragestellungen: Frage 4: „Wie haben Sie die Begegnungen zu den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen erlebt bzw. wie erleben Sie sie im Jakobuswegprojekt?“ Frage 8: „Wie würden Sie in diesem Zusammenhang die Begegnung zwischen den Teilnehmerinnen und Teilnehmer und den Mitarbeitenden des Hauses als Zugehörige zur Wandergruppe beschreiben? Waren die Rollenverhältnisse immer eindeutig oder kam es in der Rollenzuweisung auch zu Missverständnissen?“ Der erste Teil von Frage 8 ähnelt dem der Frage 4, so dass viele Befragte an dieser Stelle zunächst allgemein den Kontakt zu dem multiprofessionellen Team reflektierten ohne auf die Verstehbarkeit des Kontaktes einzugehen. Die Antworten zur Frage 4 und zum ersten Teil von Frage 8 wurden zusammengefasst und auf gemeinsame Kategorien hin überprüft. Tabelle 15: Auswertung der Fragen 4 und 8 Selektionskriterium Kategorien Personen N Begegnung zwischen Mitarbeitenden und den Teilnehmenden Mitarbeiter(-innen)profil: - fachliche Kompetenz - im Vergleich zur Gruppe Unterschiede in der Bildung je nach Rolle und Profession - Engagement, das über bloße Begleitung und Beruf hinausgeht - Überdurchschnittliches Interesse und Zugänglichkeit auch in Therapiegruppen/ Klinikalltag - aus Sicht der Teilnehmenden sehr wichtig - ziehen für jeden therapeutisch etwas heraus A, C, F, H C A A F F, H F 4 Fortsetzung 158 Fortsetzung Tabelle 15: Auswertung der Fragen 4 und 8 Selektionskriterium Kategorien Personen N Mitarbeiter(-innen)profil: - greifen nur therapeutisch ein, wenn nötig, z. B.: - behandeln Blasen - sorgen für intensive Betreuung akuter Patienten - bauen einen auf - sprechen einen an - versuchen auszugleichen A, C, F, H F H 4 Beziehung zwischen Mitarbeitenden und den Teilnehmenden: - durch Wandern zusammenwachsende Einheit - keine ungleiche Machtverteilung - Austausch zu allen Themengebieten möglich, nicht nur über Krankheit - kein Diktieren von Heilungswegen, sondern Menschlichkeit und Mitspracherecht im Kontakt - schönes Miteinander - kein Unterschied zwischen Profis und Patienten - Grenzziehung im Umgang nur wenn es sein muss - Mitspracherecht und Gleichberechtigung im Kontakt Beispiele: - Gleichberechtigung im Wissensaustausch Mitspracherecht - Hierarchie nur in Krisensituationen d. h. es wird auf das stärkste Gruppenmitglied zurückgegriffen, ansonsten wird auf die Ressourcen aller Gruppenmitglieder zurückgegriffen A, B, C, D, F, K A A C C C F A A, B, D, F, K A 6 Begegnung zwischen Mitarbeitenden und den Teilnehmenden Auswirkungen: Integration der Mitarbeitenden in Gruppe ist Erfolg ihrer Behandlung, weil: - von Innen mehr Erleben möglich - Chance, Patienten als Menschen besser kennen zu lernen - Patienten im Alltag beobachten (möglich) K 1 Fortsetzung 159 Fortsetzung Tabelle 15: Auswertung der Fragen 4 und 8 Selektionskriterium Kategorien Personen N Charakteristika der Begegnung zwischen Mitarbeitenden und Wandergruppe: - freundschaftliche Gesten - Kameradschaft - Freundlichkeit - Gegenseitige Hilfe - Vertrauen - Zuverlässigkeit - schönes Verhältnis - offenes aufeinander Zugehen B, I I I I I I I I B 2 Bewertung der Begegnung: - Begegnung/Kontakt sehr positiv - Begegnung positiv B, C, D, E, F, I B, C, D, E, F, I 6 Begegnung zwischen Mitarbeitenden und den Teilnehmenden Begegnung auf Wanderung anders als im Klinikalltag Beispiele: - in Klinik durch andere Regeln und Verhältnisse, manchmal gehemmter als auf der Wanderung - auf Wanderung andere Seiten von sich zeigen - Professionelle ansprechen u. um Hilfe bitten fällt auf Wanderung leichter - auf Wanderung mehr Ansprechmöglichkeiten, da alles verzahnter - auf Wanderung dominiert Gleichheit, Ungezwungenheit, im Übergangswohnhaus mehr Distanz - auf Wanderung rund um die Uhr ansprechbar; im Übergangswohnhaus Dienstzeiten - in der Klinik vergleichbar wie Begegnung zwischen Schüler und Lehrer, in Frankreich fast kameradschaftlich - auf Wanderung besserer Kontakt - auf Wanderung Mitarbeitende als Mitmenschen kennen lernen - überrascht, wie lustig der Chefarzt sein kann - größere Gewichtung der Begegnung, d. h.: - Beobachtung der Strategien/ Arbeit der Mitarbeitenden - Trotz kritischer Einstellung, keine negative Bewertung A, B, E, F A A A A B B E E E E B 4 Fortsetzung 160 Fortsetzung Tabelle 15: Auswertung der Fragen 4 und 8 Selektionskriterium Kategorien Personen N Auswirkungen der jahrelangen Begleitung durch denselben Chefarzt und das gleiche therapeutische Team: - positive Auswirkungen auf Projekt und Klinikaufenthalt weil: - durch bekannte Therapeuten fällt Krankenhausaufenthalt leichter - Vertrauen zur Klinik - das lange miteinander Gehen wirkt sich positiv auf Begegnung aus C, K C, K C 2 Begegnung zwischen Mitarbeitenden und den Teilnehmenden Begegnung mit dem Chefarzt: - Vertrauen aufgrund seiner hohen Kompetenz - Vertrauen durch langjährigen Kontakt - Achtung u. Respekt vor Chefarzt als Arzt und Mensch - Übernahme der Vaterrolle J 1 1. Profil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Vier Teilnehmende erstellten mit ihren Angaben ein Profil der professionell Tätigen. Entsprechend wurde die Hauptkategorie „Mitarbeiter(-innen)profil“ gebildet (s. Tabelle 15). Person C bewertet die Mitarbeitenden direkt als fachlich kompetent. Personen F und H umschreiben diese Kompetenz indirekt. Aus ihren Beispielen für die Behandlung psychischer und physischer Problematiken gehen therapeutische und medizinische Aufgabenfelder hervor, die von dem therapeutischen Team aus Sicht der Teilnehmenden erfolgreich übernommen werden. Die Mitarbeitenden „ziehen für jeden therapeutisch etwas heraus“, behandeln aber auch Blasen und „sorgen für intensive Betreuung akuter Patienten.“ Die entscheidende Aussage, die für eine kompetente multiprofessionelle Arbeit im Dienste des Herner Konzepts und des salutogenetischen Modells spricht, ist die von Person F. Person F sagt: Mitarbeitende „greifen nur therapeutisch ein, wenn nötig“. Sie sind aus Sicht von Personen F und H für das Projekt sehr wichtig, handeln aber laut Person F nur, wenn die eigenen Ressourcen zur Selbsthilfe nicht mehr ausreichen. Demzufolge unterstützen sie mit ihrer Präsenz die Zuversicht der Teilnehmenden in externale Widerstandsressourcen, fördern jedoch ebenso den Einsatz und den Gewinn individueller internaler Fertigkeiten. Mit der Unterstützung zur Selbsthilfe zeigen sie eine professionelle 161 Haltung, mit der sie den Patienten als eigenständig handelndes Subjekt verstehen und sein Dasein als zu versorgender Invalide negieren. Zwei Befragte sind der Meinung, dass es sich bei den Mitarbeitenden um besonders engagierte und interessierte professionell Tätige handle. Person A bezieht dieses Engagement auf das Jakobuswegprojekt, wonach das Projekt auch für das therapeutische Team ein sinnstiftendes Arbeitsfeld darstellen muss. Person F beobachtet das „überdurchschnittliche Interesse und Engagement auch im Klinikalltag“. Demnach scheinen diese Therapeutinnen und Therapeuten ihren Beruf auch über die Begleitung des Projektes hinaus als sinnstiftende Tätigkeit zu erleben. 2. Beziehung zwischen den Teilnehmenden und dem professionellen Team Bei der Definition der Begegnung zwischen den Teilnehmenden und dem professionellen Team konzentrieren sich sechs Personen insbesondere auf die Darstellung der Beziehung zueinander. Sie rücken dabei „Mitspracherecht und Gleichberechtigung im Kontakt“ zu den Professionellen in den Vordergrund. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden als Zugehörige einer Gruppe verstanden. Gleichheit und „kein Unterschied zwischen Profis und Patienten“ werden hervorgehoben. Wie ist diese Gleichheit zu definieren? Fasst man die Nennungen zusammen, so ist den Teilnehmenden eine demokratische Umgehensweise miteinander wichtig. Mitspracherecht und Argumente stehen vor ungleicher Machtverteilung und dem Aufdiktieren von Heilungswegen. Die Nennung von Person A: „Gleichberechtigung im Wissensaustausch“ spricht dafür, dass die Professionellen nicht durch höheres Potential an Fachwissen eine Machtposition einnehmen, sondern, dass dieses Potential der gesamten Gruppe zugängig gemacht wird. Person C bewertet die Beziehung zu den Mitarbeitenden darüber hinaus als „schönes Miteinander“, bei dem ein „Austausch zu allen Gebieten, nicht nur über Krankheit“ möglich ist. Die Gruppe ermöglicht sich demnach eine Begegnung, die sich nicht nur auf die Patienten- bzw. Mitarbeiterrolle reduziert, sondern die die gesamte Rollenvielfalt des Menschen zulässt. Ausnahmesituationen sind anscheinend Krisensituationen, in denen eine hierarchische Struktur auftreten kann. Den Angaben von Person A nach wird in 162 Krisensituationen auf die Ressourcen des stärksten Gruppenmitgliedes zurückgegriffen, ansonsten meistert die Gruppe Anforderungen gemeinsam. Das Gesamtbild der Aussagen deutet darauf hin, dass die Mitarbeitenden als Mitwanderinnen und -wanderer in der Gruppe integriert sind. Person A spricht sogar von einer Einheit, die durch das Wandern zusammengewachsen sei. Aus der Sicht einer weiteren Person (K) ist möglicherweise gerade diese Integration, die mit der subjektorientierten Begegnung untereinander einhergeht, das Erfolgsrezept der Behandlung. Nach Person K ist von Innen mehr Erleben möglich und die Mitarbeitenden hätten die Chance, ihre Klientel außerhalb der Patientenrolle besser kennen zu lernen. Damit hebt Person K einen Aspekt hervor, der aufzeigt, dass die Behandlung auf der Wanderung im Gegensatz zu einem Klinikaufenthalt für den Gesundungsprozess wesentlich gewinnbringender sein kann. In einem Krankenhaus fehlt - trotz der Bemühung von Therapeutinnen und Therapeuten, die Klientinnen und Klienten ganzheitlich d. h. mit ihrer Rollenvielfalt und ihrem Lebenskontext zu behandeln - das Erleben des Patienten oder der Patientin im Alltag. Dabei würden häufig genau diese Informationen in einem Behandlungskonzept eine Therapie beschleunigen und sie effektiver machen. 3. Charakteristika der Begegnung zwischen Mitarbeitenden und Wandergruppe Die Charakteristika der Begegnung auf der Wanderung wurden von zwei Teilnehmenden weiter spezifiziert. Neben den beschriebenen freundschaftlichen Gesten wird eine zwischenmenschliche Beziehung deutlich, die im Dienste der Verstehbarkeit steht. Begriffe wie „Vertrauen“, „Zuverlässigkeit“ oder „offenes aufeinander Zugehen“ sprechen für Konsistenz und Berechenbarkeit. Fünf Befragte befinden die Begegnung für „sehr positiv“, eine Person bewertet die Begegnung als „positiv“. Zusammenfassend werden an dieser Stelle die folgenden Indizien für ein gesundungsfördernd arbeitendes Projekt deutlich: Die Nennungen zur Beziehung zwischen dem therapeutischen Team und den Patientinnen und Patienten sprechen dafür, dass sich die Mitarbeitenden nicht als allwissende Expertinnen und Experten über kranke, von ihnen abhängige Unwissende abheben. 163 Die therapeutisch Tätigen arbeiten transparent, um zusätzliche Kränkungen durch vermehrte Unverstehbarkeit zu vermeiden. Das Mitspracherecht der Patientinnen und Patienten steht vor dem Aufdiktieren der Heilungswege. Gesund und krank sind keine Kriterien für Rollenzuweisungen. In der Begegnung wird die gesamte Rollenvielfalt und Subjektivität des Menschen wahrgenommen. Der nächste Abschnitt beschäftigt sich mit der Frage, ob sich die Charakteristika der Begegnung im Klinikalltag fortsetzen oder ob es Unterschiede gibt. 4. Begegnung auf der Wanderung im Vergleich zum Klinikalltag Vier Teilnehmende erlebten die Begegnung zu den Mitarbeitenden auf der Wanderung anders als im Klinikalltag. Dabei liegt der hauptsächliche Unterschied in der Distanz zueinander. Im Klinikalltag bestimmen institutionelle Rahmenbedingungen und Rollenverteilungen offenbar deutlichere Grenzen und Verhaltensmuster in der Begegnung. Die Beziehung wird von Person A als „gehemmter“ und von Person B als „distanzierter“ erlebt. Person E vergleicht die Begegnung im stationären Alltag mit der zwischen einem Lehrer und einem Schüler. Dagegen sei der Kontakt in Frankreich fast kameradschaftlich. Auch aus weiteren Aussagen der Teilnehmenden geht hervor, dass die Begegnung in der freien Natur, ohne institutionelle Gebäude und andere Begrenzungen ein ungezwungeneres Miteinander begünstigt. Dieser Kontakt zeichnet sich durch Gleichheit, Humor und menschliche Nähe aus. Dafür sprechen exemplarisch Aussagen von Person B: „auf der Wanderung dominiert Gleichheit, Ungezwungenheit, im Übergangswohnhaus mehr Distanz“ oder von Person E: „auf Wanderung Mitarbeitende als Menschen kennen lernen“ und „überrascht, wie lustig ein Chefarzt sein kann“. Person E bewertet die Begegnung auf der Wanderung als „besseren Kontakt“. Weniger Hemmungen ermöglichen laut Person A das Zeigen anderer Seiten von sich. Welchen Gewinn der Einblick in die Persönlichkeit eines Menschen für die Mitarbeitenden mit sich bringen kann, wurde bereits unter Punkt 2 thematisiert. Person E zeigt exemplarisch für die Seite der Patientinnen und Patienten, dass durch einen solchen Kontakt das ungleiche Lehrer-Schüler-Verhältnis verlassen werden kann und dass anstelle dessen eventuell erlebt wird, „wie lustig der Chefarzt sein kann“. Aus salutogenetischer Sicht spricht Person E von einem gesundungsfördernden Kontakt, denn sie hat auf der Wanderung erfahren, wie sich 164 die ungleiche Position zwischen den Mitarbeitenden und den Patientinnen und Patienten relativierte, und sie erlebte eine Begegnung, die durch Bedeutsamkeit gekennzeichnet war. Die Angaben von Personen A und B machen außerdem deutlich, dass die Teilnehmenden von dieser Beziehungsgestaltung und den Rahmenbedingungen der Wanderung insofern profitieren als dass das Ansprechen und „Um-Hilfe-Bitten“ leichter fällt. Während es im stationären Rahmen klare Dienstzeiten und somit auch Anwesenheitszeiten gibt, ist das therapeutische Team auf der Wanderung jederzeit präsent. Der Wegfall räumlicher sowie institutioneller Grenzen kommt den Patientinnen und Patienten zu Gute, weil sie sich rechtzeitig Hilfe holen können. Unter Punkt 1 wurde deutlich, dass die Möglichkeit des unmittelbaren Zugriffes auf externale Ressourcen die Zuversicht der Teilnehmenden in die Ressourcen anderer stärkt. Die Therapeutinnen und Therapeuten profitieren ebenso von diesen Rahmenbedingungen, weil sie zeitnah eingreifen können, bevor ein Problem größere Dimensionen annimmt und weil sich ihnen dadurch Einblicke in das Verhalten der Teilnehmenden eröffnen, wie sie im klinischen Alltag kaum möglich sind. Um die Teilnehmenden auf ihrem Weg zur Selbsthilfe zu unterstützen, müssen sie dabei genau im Blick haben, wann sie sich von der Versorgungshaltung der oder des Betreffenden zu distanzieren haben und wann die individuellen Widerstandsressourcen einer Person zur Bewältigung einer Anforderung tatsächlich nicht mehr ausreichen. Eben dieses professionelle Einschätzungsvermögen wird auf der Wanderung durch das intensive Kennenlernen der Patientinnen und Patienten in all ihren Rollen und sozialen Bezügen geschult. 5. Auswirkungen der jahrelangen Begleitung Es wird deutlich, dass sich die Langfristigkeit des Projektes mit der entsprechenden jahrelangen Begleitung durch das gleiche professionelle Team vorteilhaft auf die therapeutische Beziehung auswirkt. Die kontinuierliche Begleitung des Projektes durch das gleiche therapeutische Team stärkt die therapeutische Beziehung und das Vertrauen in die Klinik. Den Angaben der Personen C und K nach zu urteilen fällt beispielsweise der stationäre Aufenthalt gerade in Krisensituationen leichter, wenn Therapeutinnen und Therapeuten bekannt sind. Die Beobachtung von Person C macht außerdem darauf aufmerksam, dass nicht nur das jahrelange Kennenlernen die Beziehung untereinander festigt, sondern eben 165 auch das „lange miteinander Gehen“. Dabei ist für eine Person (I) die langjährig gewachsene Beziehung zum Chefarzt von besonderer Bedeutung. 166 9.6 Motivationale Faktoren im Jakobuswegprojekt Frage 5: „Es gibt Menschen, die sich schon seit Jahren für das Jakobuswegprojekt engagieren, nicht nur bei den Wanderungen, sondern auch bei der Vor- und Nachbereitung. Was motiviert sie Ihrer Meinung nach dazu?“ Tabelle 16: Auswertung der Frage 5 Selektionskriterium Kategorien Personen N Gruppe bzw. Gemeinschaft der Jakobuspilger Wirkungsfaktoren: - Menschen mit gemeinsamen Ziel - Menschen, mit denen man gerne zusammen ist - schöne Gemeinschaft, die im Alltag selten erlebt wird - Atmosphäre in der Gruppe - Spaß an Treffen mit bekannten Menschen - Zusammensein mit Menschen - die Teilnehmenden und der Jakobus - die gemeinsame Sache A, B, C, D, E, G, K A, C A C D B B G K 7 Motivation durch enorme Fortschritte, Weiterentwicklung Beispiele: - Möglichkeit des Wachstums in allen Lebensbereichen - zunehmendes Überwinden von Krankheiten und Schwierigkeiten - Weiterentwicklung durch Aufgaben - Möglichkeit, viele Erfahrungen zu machen, Neues zu lernen - Summe kleiner Schritte - Ausprobieren von Neuem durch Gefühl von Aufgehobensein A, E, F, G, J F F G J G E 5 Motivationale Faktoren zum Engagement für das gesamte Jakobusweg- Projekt Das gemeinsame Tun Beispiele: - die Treffen - die Jakobuswanderung - die Vorbereitungen - Gemeinsames erarbeiten - Trainingswanderungen C, E, G, J G E G J C 4 Fortsetzung 167 Fortsetzung Tabelle 16: Auswertung der Frage 5 Selektionskriterium Kategorien Personen N Projekt als wertvoller Ausgleich zum Alltag bzw. als Anlaufstelle Anlaufstelle zum: - Wohlfühlen - sozial kompetenten und unterstützenden Umgang miteinander - Verleben einer schönen Zeit - Erleben des Schönen, Leichten - Erfahren des sozialen Lebens durch Austausch, Hilfestellungen als Ausgleich zu schwierigen anderen sozialen Bezügen wie Beruf, Alltag - Auftanken - Erleben von Miteinander statt Gegeneinander A, F, J A 3 Das Ziel Santiago de Compostela Beispiele: - das Ziel verfolgen - das Ende des Weges A, C, D C D 3 Die Treffen der Jakobuspilger Wirkungsfaktoren: - selbstgebackener Kuchen - lieb gedeckter Tisch - gehaltene Rede/die Rituale - die Atmosphäre (siehe nette Treffen der Jakobuspilger) C, G C C C G 2 Möglichkeit des Engagements/Mitsprache nach persönlichen Ressourcen B, C 2 Erfolgreiches Feedback untereinander und von außen B, K 2 Herausragender Stellenwert des Projektes durch: - Erstmaligkeit - Einzigartigkeit I, J I J 2 Die gesamte Projektarbeit statt einmaliger Teilnahme an Wanderung G 1 Spaß am Projekt wie am Sportverein B 1 Gespräche C 1 Motivationale Faktoren zum Engagement im gesamten Jakobusweg- Projekt Der Glaube E 1 Fortsetzung 168 Fortsetzung Tabelle 16: Auswertung der Frage 5 Selektionskriterium Kategorien Personen N Motivationale Faktoren zum Engagement im gesamten Jakobusweg- Projekt Aspekte, die das Einlassen auf die Wanderung erleichtern: - gute Vorbereitung der Etappen - Ruhepausen - Vermeidung von Überanstrengung, Wanderung macht Spaß - Zuversicht, notfalls aufgefangen zu werden E 1 Diese Frage wurde von zehn Teilnehmenden beantwortet (s. Tabelle 16). Für sieben Personen stellt die Gemeinschaft der Jakobuspilger den Grund für ein jahrelanges Engagement dar. Im Vergleich zu anderen Motivationsfaktoren fallen der Kategorie „Gemeinschaft“ die meisten Stimmen zu. Dabei stellen die Interviewten individuelle Aspekte heraus, die für sie die Gruppe reizvoll macht. Somit ist es innerhalb dieser Kategorie schwierig, ein gemeinsames Charakteristikum herauszufinden, das aufzeigt, was an der Gruppe so besonders ist und zum Engagement motiviert. Lediglich die Tatsache, dass sich die Gruppe für ein gemeinsames Ziel einsetzt wäre ein Gesichtspunkt, der leicht dominiert. Ein weiterer Motivationsfaktor, der inhaltlich nah an der Kategorie „Gruppe der Jakobuspilger“ liegt, sind die Treffen der Jakobuspilger. Dieser Aspekt wurde als eigenständige Kategorie herausgestellt, weil es hier nicht nur um die Gruppe geht, die die Motivation zum Engagement anregt, sondern weil deutlich wird, dass die Gestaltung der Treffen auch einen Anreiz zur Teilnahme bietet. Statt eines nüchtern gehaltenen Stuhlkreises trifft man sich bei „selbstgebackenem Kuchen“ und „lieb gedecktem Tisch“. Die im Zuge der Jahresetappen entstandenen Rituale wie z. B. die „gehaltene Rede“ zur Eröffnung und zum Abschluss der Sitzung werden während der Treffen fortgesetzt und auch wertgeschätzt. Drei Teilnehmende beschreiben das Projekt im weiteren Sinne und die Treffen im engeren Sinne als „wertvollen Ausgleich zum Alltag“ oder als Anlaufstelle. Person A stellt dabei exemplarisch vor, auf welchen unterschiedlichen Ebenen das Jakobuswegprojekt Widerstandsressourcen bieten kann. Aussagen wie „Erleben von Miteinander statt Gegeneinander“ oder „Anlaufstelle zum sozial kompetenten und unterstützenden Umgang miteinander“ lassen darauf schließen, dass sich die bereits in 169 Abschnitt 9.3 erwähnte gesundungsfördernde Beziehungsgestaltung innerhalb der Gruppe nach der Jakobuswanderung im Projekt fortsetzt. Insgesamt sprechen die Angaben von Person A dafür, dass das Jakobuswegprojekt einen Gegenpol zu den stresshaften Lebensereignissen des Alltags darstellt. Person A erlebt die Entlastung durch die positiven sozialen Umgangsformen sowie durch eine insgesamt entspannte, gesundungsfördernde Atmosphäre, die sich aus den Angaben „Erleben des Schönen, Leichten“ oder dem „Verleben einer schönen Zeit“ schlussfolgern lässt. Dieser Spannungsausgleich spricht einerseits für den Gewinn von Widerstandsressourcen im Bereich von Handhabbarkeit. Außerdem zeigt sich, dass ein „Auftanken“ durch sinnstiftende, Freude bereitende Ereignisse möglich wird. Dementsprechend werden auch Widerstandressourcen auf der SOC-Ebene Bedeutsamkeit gewonnen. Drei Befragte sehen den Sinn des Projektes in der gemeinsamen Aktivität. Dazu zählen die Vorbereitungen der Jakobuswanderung, die Jakobuswanderung selbst sowie die Treffen, bei denen Gemeinsames erarbeitet wird. Vier Personen betrachten die enormen Fortschritte und die Weiterentwicklung der Teilnehmenden als Motivationsquellen zum Engagement. Den Angaben von Person F nach geschieht das Wachstum nicht nur in Bezug auf Krankheit, sondern auch im Hinblick auf alle Lebensbereiche. Die anderen Teilnehmenden führen die Möglichkeit zur Weiterentwicklung auf bewältigte Aufgaben (vgl. Person G), viele Erfahrungen, „Neues lernen“ (vgl. Person J) sowie „Ausprobieren von Neuem“ (vgl. Person E) und schließlich auf die „Summe kleiner Schritte“ (vgl. Person G) zurück. Der Wunsch nach Weiterentwicklung setzt auch eine Bereitschaft zum Engagement voraus. Zwei Personen (B und C) sind der Ansicht, dass eben dieser Bereitschaft entgegen- gekommen wird und dass das Jakobuswegprojekt reizvoll ist, weil hier Möglichkeiten zum Engagement und zur Mitsprache je nach persönlichen Ressourcen vorhanden sind. Die Kategorie „Die gesamte Projektarbeit, statt einmaliger Teilnahme an Wanderung“ impliziert außerdem, dass das Projekt über die Wanderung hinausgehende attraktive Angebote zur Mitwirkung bietet und daher zum Engagement anregt. Zwei Teilnehmende (B und K) sehen darüber hinaus die Bestätigung des Engagements durch „Erfolgreiches Feedback“ als Motor zum Weitermachen. Die Attraktivität des Projektes ist den Angaben 170 von zwei weiteren Teilnehmenden (I und J) nach auch auf seine Einzigartigkeit und Erstmaligkeit in der psychiatriepolitischen Landschaft zurückzuführen. Die Kategorie „Das Ziel Santiago de Compostela“ wurde aus den Nennungen von drei Personen gebildet. Zusammen mit der Kategorie „Glaube“ spricht sie dafür, dass der Jakobusweg selbst wichtige Motivationsquellen zum Engagement bereitstellt. Der Anreiz liegt zum einen in dem berühmten Pilgerort „Santiago de Compostela“ oder in dem Erreichen eines Zieles überhaupt. Ferner resultiert das Interesse am Projekt oder am Jakobusweg aus religiösen Hintergründen. Bei den weiteren Kategorien handelt es sich um individuelle Nennungen die für einzelne Teilnehmende den Sinn des Engagements ausmachen wie: „Spaß am Projekt wie am Sportverein“, „Gespräche“ und „Aspekte, die das Einlassen auf die Wanderung erleichtern“. 9.7 Salutogene Faktoren im Jakobuswegprojekt 1. Ergebnisse zur Frage 5a: „Wenn Sie auf Ihre bisherigen Erfahrungen im gesamten Jakobuswegprojekt zurückblicken, meinen Sie, dass das Engagement für das Projekt für den Gesundungsprozess eines psychisch kranken Menschen förderlich sein kann?“ Tabelle 17: Auswertung der Frage 5a Selektionskriterium Kategorien/Antworten Personen N Gesundungsfördernde Elemente im gesamten Jakobuswegprojekt Teilnahme am Jakobuswegprojekt wirkt sich positiv auf den Gesundungsprozess eines psychisch kranken Menschen aus A, C, F, I, J, K 6 Zu dieser Frage existieren Angaben von sieben Personen (s. Tabelle 17). Während sechs Personen bei Frage 5a mit einem klaren „Ja“ antworten, befürwortet Person B den positiven Effekt der Teilnahme bei Frage 5b, indem sie direkt auf die Auswirkungen der Reise für psychisch kranke Menschen eingeht. Den verbleibenden Teilnehmenden D, E, G und H wurden die Fragen 5a-5b nicht gestellt. Die Erklärung dafür ist vermutlich, dass diese Personen, bis auf Person H, bereits starke Angaben zur Motivation für das 171 langjährige Engagement innerhalb des Jakobuswegprojektes gemacht haben (s. Tabelle 16). Somit belegen sie, dass das Jakobuswegprojekt sich positiv auf den Gesundungsprozess psychisch kranker Menschen auswirkt, weil es zum langfristigen bedeutsamen Lebensfeld wird, für das sich das Engagement lohnt. Person H wurde Frage 5 komplett nicht gestellt. Ihre Subjektiven Theorien zu diesen Themenkomplexen müssen im Zuge der weiteren Untersuchung noch erörtert werden. 2. Ergebnisse zur Frage 5b: Zum besseren Verständnis der Frage 5b wird an dieser Stelle die Fragestellung 5a-b aufgeführt: Frage 5a: „Wenn Sie auf Ihre bisherigen Erfahrungen am gesamten Jakobusweg-Projekt zurückblicken, meinen Sie, dass das Engagement für das Projekt für den Gesundungsprozess eines psychisch kranken Menschen förderlich sein kann?“ Wenn ja: Frage 5b: „Inwiefern? (auch eigene Erfahrungen möglich)“ Sechs Befragte beschrieben in ihren Antworten zur Frage 5b, wie sich die Teilnahme auf den Gesundungsprozess auswirkt (s. Anhang, Tab. 15). Die Nennungen waren sehr differenziert und nur schwer in Hauptkategorien zu fassen, daher bot sich hier eine Zuordnung der Angaben in die SOC-Komponenten Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit an. Bei dieser Kategorienbildung wurden die folgenden Kodierregeln angewandt: a) Kodierregeln zu gesundungsfördernden Wirkungsfaktoren im Bereich Verstehbarkeit: - Erleben von Konsistenz, - Gewinn an Wissen, - Erleben von Transparenz, - Faktoren, die für mehr Verstehbarkeit von Situationen sorgen, - Faktoren, die zur Reflexion und Introspektion anregen. 172 b) Kodierregeln zu gesundungsfördernden Wirkungsfaktoren im Bereich Handhabbarkeit: - Ressourcen zur Belastungsbalance, - Erleben von Spannungsbewältigung / Entspannung, - Erleben von Handhabbarkeit von Situationen durch Einsatz externaler oder internaler Widerstandsressourcen, - internale oder externale Ressourcen zur Handhabe von Situationen / Anforderungen, - Rahmenbedingungen, die die Handhabe von Anforderungen fördern. c) Kodierregeln zu gesundungsfördernden Faktoren im Bereich Bedeutsamkeit: - sinnstiftende, Freude bereitende Aktivitäten, - motivationale Faktoren / Motivation zum Engagement, - Erleben von Mitspracherecht, - bedeutsame Lebensbereiche, - Rahmenbedingungen, die für Widerstandsressourcen der Bedeutsamkeit sorgen. Tabelle 18 zeigt die Ergebnisse der Zusammenfassung zur SOC-Komponente Handhabbarkeit: 1. Handhabbarkeit Tabelle 18: Auswertung der Frage 5b (Handhabbarkeit) Selektionskriterium Kategorien Personen N Handhabbarkeitsfördern de Elemente im gesamten Jakobusweg- Projekt Handhabbarkeit Der Halt bzw. sich zurücklehnen, fallen lassen können Status einer Selbsthilfegruppe mit Austausch zwischen Menschen mit gleichen Problemen Erreichen individueller Ziele, z. B. Zuckerkrankheit ohne Tabletten kontrollieren Sich auf der Wanderung neuen Situationen Anforderungen stellen /Erfahrungen im Alltag anwenden Pilgerprojekt fördert Bodenständigkeit, z. B. durch Konzentration auf das Wesentliche B, C, F, I, J, K B, J C, F, I F I, J J, K 6 Fortsetzung 173 Fortsetzung Tabelle 18: Auswertung der Frage 5b (Handhabbarkeit) Selektionskriterium Kategorien Personen N Handhabbarkeitsfördern de Elemente im gesamten Jakobusweg- Projekt Handhabbarkeit Unterstützung, z. B. durch: - Ansprechbarkeit der Mitarbeitenden rund um die Uhr - zeitnahe Hilfe, die schnelle Bewältigung von Problemen ermöglicht Kur für die Seele: - keine enge Terminabfolge - Zeit für die Seele - durch Ruhe Seele mehr wahrnehmen Für sich Verantwortung übernehmen, z. B. Dinge in Eigeninitiative verändern Handeln fällt leichter, selbstverständlicher, dadurch schneller Erfolg B, C, F, I, J, K J K J, K K 6 Die meisten Nennungen fallen in den Bereich „Handhabbarkeit“ (s. Tabelle 18). Der Gewinn an Ressourcen zur Handhabe von Spannungssituationen und zur Bewältigung von Anforderungen ist den Angaben von sieben Teilnehmenden nach ein starker gesundungsfördernder Wirkungsfaktor im gesamten Jakobuswegprojekt. Mindestens drei Gruppenmitglieder sehen das erholende Moment der Jakobuswanderung darin, Verantwortung abgeben zu können und aus dem stresshaften Alltag ausbrechen zu können. Sich fallen zu lassen, „Halt“ spüren, sich „Zeit für die Seele“ nehmen und somit der Seele eine Kur gönnen, sind für diese Teilnehmenden Quellen neuer Widerstandsressourcen. Die Abgabe von Verantwortung und das Vertrauen in die Ressourcen anderer war während der Wanderung für die einen sicherlich genauso ungewöhnlich wie das Ergreifen von Eigeninitiative oder das Herangehen an Probleme für die anderen. Beide Wege führen zur Spannungsregulierung und sind wichtig bei der Handhabbarkeit schwieriger Situationen. Insgesamt betrachtet sprechen die Aussagen der Teilnehmenden für viel Motivation, sich zu engagieren, Probleme zu lösen und etwas verändern zu wollen. 174 Sei es mit persönlichen Ressourcen oder mit der Unterstützung der Gruppe respektive mit der Unterstützung der Mitarbeitenden – die Bereitschaft zur Handlung kommt deutlich zum Ausdruck. Vereinzelt wird auch sichtbar, dass Teilnehmende in der Herangehensweise an Ziele unterstützt wurden. Das zeigt sich in Aussagen wie: „zeitnahe Hilfe, die schnelle Bewältigung von Problemen ermöglicht“ oder „Handeln fällt leichter, selbstverständlicher, dadurch schneller Erfolg“. Aus Sicht von zwei Personen (J und K) beschleunigen entsprechende Rahmenbedingungen also das Handeln und sorgen für schnelle Erfolge. Diese schnellen Erfolge sind möglicherweise eine Ursache für die oben festgestellte Motivation zum Engagement. Salutogenetisch betrachtet ist demnach zu erwarten, dass der erfolgreiche Einsatz von Ressourcen und die Bestätigung, Anforderungen handhaben zu können auch zur Förderung der motivationalen Ebene, also der Bedeutsamkeit, führt. Die Kategorie „Pilgerprojekt sorgt für Bodenständigkeit z. B. durch Konzentration auf das Wesentliche" geht auf die Aussagen von Personen J und K zurück und deutet darauf hin, dass sich Rahmenbedingungen der Wanderung auf das Planungsverhalten der Teilnehmenden auswirken können. Wer seine Tagesetappe bewältigen möchte, darf sich nicht mit zu viel Gepäck beladen. Er muss sich auf das Wichtigste beschränken. Was das Wesentliche, das Wichtigste für jeden persönlich ist, findet jeder auf dem Jakobusweg für sich heraus – auch im übertragenen Sinne. 2. Bedeutsamkeit Tabelle 19: Auswertung der Frage 5b (Bedeutsamkeit) Selektionskriterium Kategorien Personen N Bedeutsamkeits- fördernde Elemente im gesamten Jakobusweg- Projekt Bedeutsamkeit Gruppe mit bekannten, vertrauten Menschen Beispiele: - Menschen, die einen kennen - Fortsetzung persönlicher Gespräche und Kontakte außerhalb der Jakobustreffen - Teilnehmende, die nicht nachtragend sind - bekannte, vertraute Ärzte B, C, F, J C, F, J F F J J 4 Fortsetzung 175 Fortsetzung Tabelle 19: Auswertung der Frage 5b (Bedeutsamkeit) Selektionskriterium Kategorien Personen N Bedeutsamkeits- fördernde Elemente im gesamten Jakobusweg- Projekt Bedeutsamkeit Reise für kranke Menschen vorteilhaft durch: - etwas anderes sehen - aus Einheitstrott herauskommen Vereinsähnliche Elemente Vielschichtigkeit des Projektes Engagement/Mitsprache Motivation, sich Ziele zu setzen B, C, F, J B C C C, J F 4 Die Effekte einer Gruppe mit bekannten Menschen (therapeutisches Team inklusive) auf das SOC lassen sich sicherlich unterschiedlich interpretieren. Menschen, die man kennt, kann man besser einschätzen. Vertraute Menschen sind verstehbar, ihre Reaktionen in bestimmten Situationen sind vorhersehbarer als bei Unbekannten. Daher ließe sich die Kategorie „Gruppe mit bekannten Menschen“ (s. Tabelle 19) durchaus der Hauptkategorie Verstehbarkeit zuordnen. Die Verstehbarkeit des Kontaktes ermöglicht aber auch die Handhabbarkeit des Umgangs miteinander. Darüber hinaus stärken Menschen, denen man vertraut, die Zuversicht in die Präsenz externaler Widerstandsressourcen bei stresshaften Lebensereignissen. Die Kategorie „Gruppe mit bekannten Menschen“ würde sich also auch in dem Bereich „Handhabbarkeit“ bewegen. Letztendlich lässt eine solche Gruppe den Sinn des zwischenmenschlichen Kontaktes erleben. Daher wurde diese Kategorie der Hauptkategorie Bedeutsamkeit zugeordnet. Ausschlaggebend dafür war, dass die Teilnehmenden (C, J u. F) ihren Angaben nach in dieser Gruppe ein bedeutungsvolles Lebensfeld gefunden zu haben scheinen. Die Unterpunkte der Kategorie sprechen für eine hohe Wertschätzung der Möglichkeit, vertraute Menschen um sich haben zu können, der Möglichkeit eines persönlichen Gespräches und auch der Tatsache, dass es Menschen gibt, die einen kennen und nicht nachtragend sind. Mit anderen Worten ist die Gruppe für einzelne Teilnehmende wertvoll, weil sie ihnen die Erfahrung persönlicher Akzeptanz bietet. 176 Als weitere gesundungsfördernde Faktoren, die sich im Bereich „Bedeutsamkeit“ bewegen, wurden eingestuft: „Engagement/Mitsprache“ „Vielschichtigkeit des Projektes“ oder „Motivation, sich Ziele zu setzen“. Für Person B spielt die Pilgerreise als ein Baustein des gesamten Projektes eine wichtige Rolle. Bei ihrer Angabe fällt auf, dass sie den therapeutischen Effekt nicht nur bei sich persönlich sieht, sondern diesen auf kranke Menschen verallgemeinert. Aus Sicht dieser Person liegt der Effekt der Reise vor allem in dem Herauskommen aus dem beschränkenden Einheitstrott und in der Möglichkeit für neue Impulse (vgl.: „etwas anderes sehen“). 3. Verstehbarkeit Tabelle 20: Auswertung der Frage 5b (Verstehbarkeit) Selektionskriterium Kategorien Personen N Verstehbarkeits- fördernde Elemente im gesamten Jakobusweg- Projekt Verstehbarkeit Auswirkungen auf psychische und körperliche Befindlichkeit Beispiele: - sich als Mensch ganzheitlich erleben - intensive Wahrnehmung der Sinne Ständige Reflexion Feedback annehmen B, J, K B, K K J J 3 Personen B und K sind der Ansicht, dass das Jakobuswegprojekt Auswirkungen auf die psychische und physische Befindlichkeit habe (s. Tabelle 20). Als Beispiele führt Person K den Effekt, „sich als Mensch ganzheitlich erleben“ und „die intensive Wahrnehmung der Sinne“ an. Das Erleben von Ganzheitlichkeit impliziert, dass das Zusammenspiel von Körper und Psyche verstanden wurde. Die intensive Wahrnehmung der Sinne zeigt außerdem, dass der Körper mit seinen Fertigkeiten näher kennen gelernt wurde. Er ist somit verstehbarer und damit auch handhabbarer geworden. Die Kategorie „ständige Reflexion“ belegt, dass im Rahmen des Projektes Wege zu mehr Verstehbarkeit kontinuierlich gefördert werden. Das geschieht auch über Feedback. Die 177 Nennung „Feedback annehmen“ spricht dafür, dass Person J durch das Projekt gelernt hat, dass die Rückmeldungen der Gruppe keine Kränkungen sind, sondern für die eigene Person in irgendeiner Form wichtig sein können. Nach dem salutogenetischen Modell ist der adäquate Umgang mit Feedback ein wesentlicher Baustein zur Gesundung. 178 10. Ergebnisse zu den Hypothesen 10.1 Auswertung der Hypothesen zum Erleben und zur Förderung von Verstehbarkeit 10.1.1 Förderung von Verstehbarkeit durch das Erleben von Konsistenz Hypothese V1: Während der Wanderung wird Verstehbarkeit bzw. die Wahrnehmung von Konsis- tenz gefördert durch die permanente Erfahrung eines Ausgleichs zwischen möglichen Ereignissen, die das Erleben von Vorhersehbarkeit und Ordnung unterbrechen und Aspekten, die die Erfahrung von Konsistenz und Verstehbarkeit fördern. Die Hypothese V1 wurde in zwei Schritten überprüft. Zunächst ging es um die Untersu- chung der Hypothese V1.1: Hypothese V1.1: Während der Jakobuswanderung könnten der Verstehbarkeitsentwicklung entgegensteuernde Elemente auftreten, da sie das Erleben von Vorhersehbar- keit, Ordnung oder Konsistenz unterbrechen. 1. Ergebnisse zur Frage 6: Die Frage 6 untersucht, ob es auf einer Jakobuswanderung Faktoren gibt, die das Erleben von Verstehbarkeit ungünstig beeinflussen. Sie lautet: „Gab es auf der Jakobuswanderung Ereignisse, Situationen, die Sie nicht verstanden haben oder die Sie nicht gut überblicken konnten, deren Ende Sie nicht gut abschätzen konnten usw.?“ Die Antworten zur Frage 6 werden in der Tabelle 21 zusammengefasst: 179 Tabelle 21: Auswertung der Hypothese V1.1 Selektionskriterium Kategorien Personen N Während der Jakobuswanderung un- günstige Erfahrungen in Bezug auf Ver- stehbarkeit erlebt A, C, D, F, G 5 Auf der Jakobuswanderung Erleben von Vorhersehbarkeit bis auf wenige Ereig- nisse nicht generell beeinträchtigt Gründe: - bei ungünstigen Erfahrungen in Bezug auf Verstehbarkeit Ausgleich durch Un- terstützung seitens anderer Pilger bzw. Mitarbeitenden - Unsicherheiten bei erstmaliger Teilnah- me werden durch Orientierung an ande- ren ausgeglichen H, J, K J, K K 3 Hypothese V1.1: Ungünstige Erfahrungen in Bezug auf Verstehbarkeit, d. h. Ereignisse der Unvor- hersehbarkeit, Unbeständig- keit des Chaos usw. Während der Jakobuswanderung keine ungünstigen Erfahrungen in Bezug auf Verstehbarkeit erlebt Gründe: - Wanderung sehr gut organisiert - aufwändige Planungsarbeit im Vorfeld - starke Zuversicht in die Ressourcen an- derer - mehr die Ressourcen anderer eingesetzt - statt Wanderkarte Wanderzeichen gefolgt - positive unerwartete Ereignisse - starkes füreinander Dasein steht im Vor- dergrund B, E, I E E E E E I I 3 Acht Personen bestätigen, dass Ereignisse eintreten können, die irritieren und nennen ent- sprechende Beispiele (s. Tabelle 21). Somit kann die Hypothese V1.1 befürwortet werden. Darüber hinaus zeigt sich, dass die Situationen der Unverstehbarkeit in ihrer Wirkung un- terschiedliche Tragweite haben. Während fünf Personen (A, C, D, F, G) eindeutig im Sinne der Fragestellung irritiert waren, geben drei Personen (H, J, K) an, trotz verwirrender Mo- mente in ihrer generellen Wahrnehmung von Verstehbarkeit nicht erschüttert worden zu sein. Drei weitere Befragte (B, E, I) haben keine Auswirkungen auf ihr Erleben von Ver- stehbarkeit wahrgenommen. Dabei ist die Unbeirrbarkeit von vier Teilnehmenden (E, I, J, K) vordergründig auf ihre Zuversicht in die Ressourcen anderer zurückzuführen. Der in Hypothese V1 angenommene Ausgleich von Unverstehbarkeit durch Organisation und Planung wird bereits an dieser Stelle von einer Person (E) bestätigt. 180 2. Ergebnisse zur Frage 6a: Durch die Anregungen in Frage 6a sollten die Teilnehmenden Beispiele für entsprechende Situationen der Unverstehbarkeit aufzeigen. Bei der Auswertung wurden in Anlehnung an Antonovskys Stressortypen (s. Abschn. 2.8) Hauptkategorien entwickelt, denen diese Bei- spiele zugeordnet wurden. So sind in Tabelle 22 akute tägliche Widrigkeiten überraschend auftretende unvorhersehbare Ereignisse, für die es keine automatisch adaptive Reaktion gibt. Diese Ereignisse sind von kurzer Dauer und irrelevant für das SOC oder für den Ge- sundungsprozess. Entsprechende Beispiele hierzu aus Antonovskys Sicht finden sich in Kapitel X in dieser Arbeit. Zu den Stress-Lebensereignissen zählen herausragende, überraschend auftretende unvor- hersehbare Lebensereignisse, für die es keine automatisch adaptive Reaktion gibt. Diese Ereignisse und die durch sie bedingten Konsequenzen sorgen für Anspannung. Ob sich diese Ereignisse als förderlich, neutral oder schädlich auf die Gesundheit eines Menschen auswirken, hängt davon ab, wie jemand diese Spannungszustände erlebt und bewertet. Ein Kriterium für die Zuordnung zu dieser Kategorie war die Dauer der Lebensereignisse (län- ger als ein Tag) und die Möglichkeit der längerfristigen Auswirkung solcher Ereignisse auf die Person, die Gruppe bzw. auf die Wanderung. Tabelle 22: Auswertung der Frage 6a Selektionskriterium Kategorien Personen N Hypothese V1.1: Ungünstige Erfahrungen in Bezug auf Verstehbarkeit, d. h. Ereignisse der Unvor- hersehbarkeit, Unbeständig- keit des Chaos usw. Akute tägliche Widrigkeiten/Vergnügen: - Behinderungen des Weges, z. B.: - Windbrüche - Probleme beim Finden noch nicht be- gangener Wege - wenn als Kartenleser Wegbeschilde- rung nicht mit Wanderkarte überein- stimmt - erstmalige Übernahme eines Amtes - bei Rückkehr von abendlichem Ausgang Hotel verschlossen - Unvorhersehbarkeit/Sorge in Bezug auf Kontakt, z. B. mit Gruppe oder Zimmer- nachbarn - wenn Teilnehmende Grenzen, Überforde- rung nicht mitteilen - unerwartetes Ausmaß von Konfrontation mit Tod A, D, F, G, J, K A, D A A D D F G J K 6 Fortsetzung 181 Fortsetzung Tabelle 22: Auswertung der Frage 6a Selektionskriterium Kategorien Personen N Hypothese V1.1: Ungünstige Erfahrungen in Bezug auf Verstehbarkeit, d. h. Ereignisse der Unvor- hersehbarkeit, Unbeständig- keit des Chaos usw. Stress-Lebensereignisse: - Krisensituationen, z. B.: - Benzinkrise - Streit in der Gruppe - Krankheit, wegen: - Behinderung der Zuversicht in Ver- stehbarkeit von Anforderungen - Angst vor Erkrankung, weil zwei Nächte schlecht geschlafen - Erkrankungen anderer Patienten A, C, G, H A, C A, C C G, H G G H 4 Acht Personen nennen Beispiele für Situationen der Unverstehbarkeit. Die genannten Ereignisse (s. Tabelle 22) lassen sich allein aufgrund ihrer kurzen Dauer überwiegend der Kategorie „akute tägliche Widrigkeiten“ zuordnen. Unter diese Kategorie fallen sieben Nennungen. Der Schwerpunkt liegt auf dem Beispiel „Behinderungen des Weges“ (2 Personen). Unter die Kategorie „Stress-Lebensereignisse“ fallen insbesondere die „Benzinkrise“ (Per- sonen A u. C) und „Krankheit“ (Personen G u. H). Ein Benzinstreik in Frankreich kann als ein überdauerndes herausragendes Ereignis be- zeichnet werden, da er den Verlauf der gesamten Wanderung und die Situation der Gruppe bestimmt. Je nach Bewältigung dieser Herausforderung können die Wandernden den Er- folg als langfristige Widerstandsressource integrieren oder, sofern die gesamte Aktivität abgebrochen werden muss, den Misserfolg schlimmstenfalls als Widerstandsdefizit verbu- chen. Auch die Kategorie „Krankheit“ entspricht der Definition eines Stress-Lebensereignisses. Je nach Intensität und Dauer kann eine Erkrankung das gesamte Erleben einer Person ver- zerren. Person G fühlte sich beispielsweise durch ihre Erkrankung in der Verstehbarkeit von Situationen behindert. Die Angst zu erkranken kann sich über Tage erstrecken und wurde daher in der Auswertung nicht mehr als alltägliche Widrigkeit verstanden. Die Kategorie „Streit in der Gruppe“ ist schwierig einzuordnen. Einerseits wird bei Kon- flikten, die den Verlauf der gesamten Aktivität gefährden eine Gesprächsgruppe einberu- fen, um die Ausmaße solcher Situationen rechtzeitig einzugrenzen. Vor diesem Hinter- grund wäre die Spannungssituation nicht von langer Dauer und „Streit in der Gruppe“ könnte durchaus lediglich eine alltägliche Widrigkeit sein. 182 Gegen diese Zuordnung spricht, dass die Gemeinschaft und ihr Zusammenhalt bei der Rea- lisierung der Wanderung eine herausragende Rolle spielen. Ein Zerwürfnis, dessen Ende hier von einer Person als unvorhersehbar eingestuft wurde, könnte somit den friedlichen Verlauf und das Gelingen der Wanderung sehr beeinträchtigen. Eine Person musste sogar aus diesen Gründen die Gruppe vorzeitig verlassen. Aufgrund der massiven Auswirkungen eines Streites in der Gruppe wurde ein solches Ereignis als Stress- Lebensereignis verstan- den. Mit den Ergebnissen zur Frage 6a wird die Hypothese V1.1 weiterhin darin bestätigt, dass auf der Jakobuswanderung überraschend auftretende Situationen möglich sind, die ein Ge- fühl der Unvorhersehbarkeit erzeugen. Den Beispielen der Befragten nach sind dabei eher akute tägliche Widrigkeiten bzw. Vergnügen zu erwarten, die per Definition nach Anto- novsky für einen Moment irritieren, jedoch keine gewichtigen - zumindest keine negativen - Auswirkungen auf die Verstehbarkeit einer Person haben sollten. Wie die Stressoren von den Teilnehmenden subjektiv wahrgenommen wurden und welche Konsequenzen sich aus der Konfrontation mit ihnen für den Gesundungsprozess der Befragten ergaben, zeigt Ta- belle 23. Neben dem Auftreten akuter täglicher Widrigkeiten zeigen die Angaben von weiteren vier Personen, dass auf der Jakobuswanderung auch Stress-Lebensereignisse vorkommen kön- nen. Sie sind keine wertneutralen oder irrelevanten Stimuli mehr, sondern erzeugen Span- nung, die im Hinblick auf die Förderung des SOC aufgelöst werden sollte. Diese Stimulation zur aktiven Spannungsbewältigung weist auf, dass sich die Jakobuswan- derung unter anderen zum Training von Spannungsmanagement im Bereich Verstehbarkeit eignet. Zusammenfassend wird somit ein Trend ersichtlich, der ein wichtiges Argument für die Bestätigung der globalen Hypothese V zur Förderung von Verstehbarkeit zu betrachten ist, und bei der abschließenden Diskussion dieser Hypothese berücksichtig wird. Die Un- tersuchung der Hypothese V1.1 wird nun mit den Ergebnissen zur Frage 6b fortgesetzt. 183 3. Ergebnisse zur Frage 6b: Bei den Ergebnissen zur Frage 6a wurden die Beispiele der Teilnehmenden für Irritationen auf der Wanderung unter der Berücksichtigung von Antonovskys Definitionskriterien un- terschiedlichen Stressortypen zugeordnet. Zur Überprüfung der Auswirkung der Stressoren auf die Befragten wurde in Anlehnung an die von Antonovsky definierten drei Stadien der Spannungsbewältigung (s. Abschn. 2.9) eine weitere Zuordnung vorgenommen (s. Tabelle 23). Vorweg zur Erinnerung eine Definition der einzelnen Stufen: Definition der Skalierung: Primäre Bewertung-I: - Bewertung des Reizes (der akuten täglichen Widrigkeit/des Vergnügens) als neutralen oder als spannungserzeugenden Stressor - Bewertung des Stimulus als Nicht-Stressor aufgrund der Zuversicht in Ressourcen zur Bewältigung Primäre Bewertung-II: - Bewertung des Stimulus als spannungserzeugenden Stressor - Entscheidung, ob sich der Stressor auf das Leben günstig, irrelevant oder bedrohlich auswirkt - Vertrauen in genügend Widerstandsressourcen zur Lösung des Problems - Betrachtung des Problems als Herausforderung und nicht als Belastung - Spannungsauflösung durch Einsatz richtiger Bewältigungsstrategien oder ohne besonderen Energieaufwand - beim schwachen SOC wenig Zuversicht in Widerstandsressourcen; Betrachtung der Spannungsbewältigung eher als Belastung denn als Herausforderung Primäre Bewertung-III: - beim starken SOC Konzentration auf den instrumentellen Teil des Problems, d. h. die Verstehbarkeit und die Handhabbarkeit der Situation rückt in den Vordergrund 184 - beim schwachen SOC mehr Konzentration auf den emotionalen Anteil des Problems bzw. auf die Beseitigung der unangenehmen Empfindungen (Scham, Angst, Verzweif- lung usw.), die durch die Spannungssituation verursacht wurden - konstruktiver oder destruktiver Umgang mit Feedback - zielgerichtete motivationale Emotionen beim starken SOC (Wut, Schuld, Kummer oder freudige Erwartung) - diffuse, paralysierende Emotionen (Verzweiflung, Scham, Apathie) beim schwachen SOC. Tabelle 23: Auswertung der Fragen 6a/b (Individuelle Bewertung) Person Ungünstige Erfahrungen in Bezug auf Verstehbarkeit Auswirkungen Stadien der Spannungs- bewältigung Akute tägl. Widrigkeiten/Vergnügen: - Probleme beim Finden noch nicht begangener Wege A Stress-Lebensereignisse: - Benzinknappheit - keine negativen Aus- wirkungen auf Gesun- dungsprozess - überrascht, aber nicht verunsichert o. irritiert - Gelassenheit verspürt - Stärke der Gruppe ge- spürt Primäre Bewertung-I C Stress-Lebensereignisse: - Streit in der Gruppe - Krisensituationen, z. B. Benzinkrise Gefühl der Unvorherseh- barkeit verspürt, weil Bes- tätigung der Hypothese V1.1 - Erfahrung, dass Unvor- hersehbarkeit zum All- tag gehört Primäre Bewertung-II Akute tägl. Widrigkeiten/Vergnügen: - erstmalige Übernahme eines Amtes Gefühl der Unvorherseh- barkeit verspürt, weil Bes- tätigung der Hypothese V1.1 Primäre Bewertung-II D Akute tägl. Widrigkeiten/Vergnügen: - wenn als Kartenleser Wegbeschilde- rung nicht mit Wanderkarte überein- stimmt - Nervosität, kein Genuss der schönen Umgebung möglich - Angst, der Gruppe ge- schadet zu haben - versucht, mit eigenen Ressourcen die Anfor- derung zu bewältigen - Anforderung mit Res- sourcen der Gruppe bewältigt Primäre Bewertung II-III Fortsetzung 185 Fortsetzung Tabelle 23: Auswertung der Fragen 6a/b (Individuelle Bewertung) Person Ungünstige Erfahrungen in Bezug auf Verstehbarkeit Auswirkungen Stadien der Spannungs- bewältigung F Akute tägl. Widrigkeiten/Vergnügen: - bei Rückkehr vom abendlichen Aus- gang Hotel verschlossen - für einen Moment Ende unvorhersehbar Primäre Bewertung-I G Akute tägl. Widrigkeiten/Vergnügen: - Unvorhersehbarkeit/ Sorge in Bezug auf Kontakt mit Gruppe - Unvorhersehbarkeit in Bezug auf Kontakt mit Zimmergenossen Gefühl der Unvorherseh- barkeit verspürt, weil Bes- tätigung der Hypothese V1.1 Primäre Bewertung-II G Stress-Lebensereignisse: - hauptsächlich bei Krankheit wegen: - Behinderung der Zuversicht in Verstehbarkeit von Anforderun- gen - Angst vor Erkrankung, weil zwei Nächte schlecht geschlafen - für kurze Zeit starke Ängste verspürt - Erfahrung Sor- ge/Gefühl der Unvor- hersehbarkeit abge- schwollen - schöne Erfahrung, wenn Situation gut aus- geht - Situation mit persönli- chen Ressourcen be- wältigt, z. B. mit Medi- tation geholfen Primäre Bewertung-II H Stress-Lebensereignisse: - Erkrankungen anderer Patienten - Bedrückung Primäre Bewertung II-III J Akute tägl. Widrigkeiten/Vergnügen: - wenn Teilnehmende ihre Grenzen, Überforderung nicht mitteilen Zuversicht in die Ressour- cen anderer steigt weil: - Hilfe hat Freundschaft gefestigt - nach Bewältigung der Unvorhersehbarkeit Ressourcen zur Unter- stützung neuer Teil- nehmenden erworben Primäre Bewertung II K Akute tägl. Widrigkeiten/Vergnügen: - Unerwartetes Ausmaß von Konfron- tation mit Tod Generell kein Gefühl der Unvorhersehbarkeit ver- spürt, weil Ablehnung der Hypothese V1.1 Primäre Bewertung-I Bei dieser Zuordnung (s. Tabelle 23) wurden die Angaben aller acht Teilnehmender be- rücksichtigt, die bei Frage 6a Beispiele für mögliche Stressoren genannt haben. Nicht alle Personen äußerten sich bei Frage 6b zu möglichen Auswirkungen der Situationen auf ihren Gesundungsprozess. Es kam auch vor, dass nicht zu jedem Stressor-Typ eine spezifische 186 Auswirkung auf die Gesundung beschrieben wurde. In solchen Fällen wurde bei der Aus- wertung auf die Angaben der Personen zu Frage 6 zurückgegriffen und geprüft, wie sie das Aufkommen von Unvorhersehbarkeit generell einschätzten. Drei von acht Personen sind bei ihrer Spannungsbewältigung nicht über die primäre Be- wertung-I hinausgekommen. Die hierzu zählenden Befragten (A, F, K) waren beispiels- weise „überrascht, aber nicht verunsichert oder irritiert“, haben „Gelassenheit verspürt“, haben nur „für einen Moment“ Unvorhersehbarkeit erlebt oder gaben schon bei Frage 6 an, keine Erfahrungen der Unvorhersehbarkeit gemacht zu haben. Vier weitere Teilnehmende (C, D, G, J) haben ihre Beispielsituationen als spannungs- erzeugende Stressoren eingestuft und zur Spannungsauflösung Widerstandsressourcen ein- gesetzt bzw. die Spannungsauflösung geschah ohne besonderen Energieaufwand. Auffällig ist, dass Personen D und G schon bei den objektiv eingestuften akuten täglichen Widrigkei- ten unter Anspannung gerieten oder diesen Reiz nicht mehr als wertneutral bewerteten. Person G wurde schon vor der Pilgerreise von der Sorge begleitet, ob sie den Kontakt zur Gruppe gut bestehen würde oder mit dem Zimmernachbarn bzw. der Zimmernachbarin gut auskäme. Schon allein aufgrund der mehrtägigen Dauer dieser Belastung könnte man die- sen Stressor aus der Perspektive von Person G als Stress-Lebensereignis verstehen. Das Beispiel von Person D zeigt noch eindrucksvoller, dass je nach psychischer Stabilität oder anderen internalen bzw. externalen Bedingungen bereits akute tägliche Widrigkeiten deutlich für Anspannung sorgen können. Person D bewertet schon die erstmalige Über- nahme eines Amtes als eine Situation, in der sie Unvorhersehbarkeit gespürt hat. Dieses Erleben habe sich noch verstärkt, als die Wegbeschilderung nicht mit der Wanderkarte übereinstimmte und Person D die Aufgabe hatte, die Gruppe durch die Tagesetappe zu führen. Als Reaktion auf diese Situation schildert sie: „Nervosität, kein Genuss der schö- nen Umgebung möglich“ oder „Angst, der Gruppe geschadet zu haben“. Sie fühlte sich aber auch dazu bewegt, die Situation mit eigenen Ressourcen zu bewältigen. Darüber hin- aus habe sie die Anforderung mit den Ressourcen der Gruppe bewältigt. Folglich ist dem salutogenetischen Modell nach bei Person D der Zugewinn an Widerstandsressourcen im Bereich von Verstehbarkeit zu erwarten, weil sie ein Ereignis, deren Ausgang sie nicht abschätzen konnte, das Spannung erzeugte, unter Einsatz internaler und externaler Res- sourcen positiv bewältigen konnte. 187 Ein ähnliches Ergebnis lässt sich auch bei Person J beobachten. Person J gibt bei Frage 6 an, insgesamt kaum im Gefühl von Verstehbarkeit gestört worden zu sein. Lediglich ein Ereignis habe sie auf einer Jakobuswanderung stark irritiert, nämlich als sich plötzlich her- ausstellte, dass jemand überfordert war und dies der Gruppe nicht mitgeteilt hatte. Es han- delte sich um eine Beispielsituation, die den Kriterien einer akuten täglichen Widrigkeit entsprach, also dem Stressortyp, der nach Antonovsky für wenig Irritation sorgen müsste. Dieser Moment erzeugte bei Person J aber Anspannung sowie genügend Antrieb zum Ein- satz von Ressourcen, um die Situation zu klären. Somit wird erneut deutlich, dass eine Wanderung auf dem Jakobusweg ein Copingtraining sein kann. Neben den akuten täglichen Widrigkeiten, die bei zwei Personen zum Einsatz von Wider- standsressourcen führten, sind wie schon erwähnt Stress-Lebensereignisse zu bewältigen. Von diesen Ereignissen berichten vier Personen (A, C, G und H). Den Ergebnissen nach ist mit Ausnahme von Person H auch bei diesen Teilnehmenden ein Zugewinn von Widerstandsressourcen zu erwarten, der auf die erfolgreiche Bewältigung der angegebenen Anforderungen zurückzuführen ist. Aussagen, die dafür sprechen, sind beispielsweise: „Erfahrung, dass Unvorhersehbarkeit zum Alltag gehört“, „Schöne Erfah- rung, wenn Situation gut ausgeht“ oder „Zuversicht in die Ressourcen anderer gestiegen“. Lediglich Person H blieb zunächst bei dem Erleben von Bedrückung, so dass nicht eindeu- tig auf den Zugewinn von Widerstandsressourcen geschlossen werden kann. Zusammenfassend wird deutlich, dass sich die Bewältigung unverstehbarer Situationen mit dem Erleben von Spannungsauflösung für fünf Teilnehmende positiv auf ihren Gesun- dungsprozess auswirkte. Damit bestätigt sich weiterhin der Eindruck, dass auf der Jako- buswanderung Widerstandsressourcen im Bereich Verstehbarkeit durch Coping-Training gewonnen werden. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass zwei weitere Personen (F und K) ihre Zuversicht in die Verstehbarkeit neuer Situationen bestärkten, weil sie objektiv einge- stufte akute tägliche Widrigkeiten auch als solche bewerteten und damit keine ungünstige Erfahrung im Hinblick auf ihren Gesundungsprozess machten. Dementsprechend können sie diesen Umgang mit Stimuli als weitere Widerstandsressource integrieren. 188 Ob die positiven Erfahrungen dahingehend auch im Alltag zum Tragen kommen, wird sich bei den Ergebnissen zur Frage 9 herausstellen. Vorweg geht es in den folgenden Ausfüh- rungen darum, ob auf der Jakobuswanderung Situationen der Unverstehbarkeit durch kon- sistenzfördernde Erfahrungen aufgefangen wurden. 4. Ergebnisse zur Frage 7: Hypothese V1.2: Erfahrungen der Unverstehbarkeit werden mit Konsistenz fördernden Erfah- rungen wie z.B.: Ordnung, beständige Struktur, Transparenz, Wiederholung usw. ausgeglichen. Dieser Teil der Hypothese wurde mittels Frage 7 überprüft. „Es wäre vorstellbar, dass die täglichen Planungsarbeiten, die feste Tagesstruktur und die Organisation der einzelnen Tagesetappen usw. einen Ausgleich zu den unberechenbaren oder unverständlichen Ereignissen der Wanderung bewirken könnten oder aber, dass das Gefühl der Unsicherheit, Verwirrung Unverständlichkeit usw. bleibt. Wie haben Sie das erlebt? Was hat dominiert?“ Hier die tabellarische Übersicht zu den Antworten: Tabelle 24: Auswertung der Hypothese V1.2 Selektionskriterium Kategorien Personen N Hypothese V1.2: Ausgleich von Unversteh- barkeit mit Erfahrungen der Transparenz und Konsistenz Ausgleich von Unverstehbarkeit mit Er- fahrungen der Transparenz und Konsis- tenz trifft zu durch: Planung und Organisation (während und vor der Wanderung) A, B, C, D, E, F, G, I, J, K A, B, C, D, E, F, G, K 10 Fortsetzung 189 Fortsetzung Tabelle 24: Auswertung der Hypothese V1.2 Selektionskriterium Kategorien Personen N Auswirkungen: - Sicherheit, bei Einhaltung von Flexibili- tät - Gelassenheit bei Störungen - Freude bei Planungsarbeit und Organisa- tion - ohne Planung solche Aktivität nicht möglich - Mitarbeitende sorgen für Planung A A D G B Tagesstruktur und sich wiederholende Ab- läufe, Rituale Auswirkungen: - Transparenz der Abläufe und Struktur besonders bei erstmaliger Teilnahme wichtig - Struktur als Richtschnur für akute Patien- ten wichtig - Tagesstruktur sinnvoll, denn sie gibt Sicherheit und geordneten Ablauf - Struktur anstrengend, wenn sie persönli- chen Freiraum einengt Durchmischung von Chaos und Ordnung C, I, J J J C C J Ausgleich von Unverstehbarkeit durch Zuversicht in vorhandene Ressourcen: - persönliche Ressourcen - Ressourcen anderer, z. B.: - Ausgleich durch richtungsweisende Personen - bei Unsicherheiten Ausgleich durch Orientierung an anderen B, G, H, J G B, G, J B J 4 Kein Gefühl der Unvorhersehbarkeit, Ungewissheit erlebt B, F 2 Struktur und hohes Maß an Verstehbar- keit/Vorhersehbarkeit persönlich nicht nötig C, I 2 Hypothese V1.2: Ausgleich von Unversteh- barkeit mit Erfahrungen der Transparenz und Konsistenz Unvorhergesehene Situationen sind wich- tig für Gesundungsprozess Gründe: - Umgang mit überraschenden Lebenser- eignissen muss gelernt werden - unerwartete Ereignisse bieten für alle Chance der Verantwortungsübernahme G, J G J 2 Frage 7 wurde von elf Teilnehmenden beantwortet (s. Tabelle 24). 190 Zehn Befragte bestätigen die Hypothese V1.2, dass Konsistenz fördernde Erfahrungen wie z.B. Ordnung, beständige Struktur, Transparenz, Wiederholung einen Ausgleich zu Erfah- rungen der Unverstehbarkeit gewährleisten. Ein starker sicherheitsgebender Faktor ist dabei „Planung und Organisation“ (8 Personen). Drei Personen stellen Rituale und Struktur als ausgleichende Aspekte in den Vordergrund. Außerdem tritt wiederholt die Zuversicht in die vorhandenen externalen Ressourcen als Ausgleich von Irritationen auf. Vier Personen (B, H, J und G) verstehen die Ressourcen anderer als einen weiteren stabilisierenden Faktor, sobald verunsichernde Stimuli auftreten. Person G verlässt sich dabei nicht nur auf die Ressourcen anderer, sondern baut auch auf die eigenen Möglichkeiten zum Ausgleich von Unverstehbarkeit. Personen B und F bestätigen die Hypothese V1.2, geben aber an, selbst kein Gefühl der Unvorhersehbarkeit oder Ungewissheit erlebt zu haben. Personen C und I bewerten Inhalte der Hypothese V1.2 als zutreffend, behaupten jedoch, persönlich kein hohes Maß an Vor- hersehbarkeit oder Verstehbarkeit zu benötigen. Person C empfindet zu viel Struktur sogar als „anstrengend“, sofern sie den persönlichen Freiraum einengt. Die Frage 9 konzentriert sich auf die Kernaussage der Hypothese V1. Es geht somit um die Untersuchung, inwieweit sich der beständige Ausgleich zwischen Chaos und Ordnung auf den Gesundungsprozess auswirkt. Daher wurde erörtert, ob die Teilnehmenden Effekte im Alltag erleben, die auf die Erfahrungen von Beständigkeit und Konsistenz zurückzuführen sind. Angaben zu diesen Aspekten fanden sich auch in den Antworten zu Frage 7 und wur- den bei der Zusammenfassung der Ergebnisse in Bezug auf das Thema (s. Tabelle 25) be- rücksichtigt. Tabelle 25: Auswertung der Hypothese V1 (Fragen 7 u. 9) Selektionskriterium Kategorien Personen N Hypothese V1: Ausgleich unverstehbarer Situationen durch Erfahrun- gen von Transparenz und Konsistenz und Auswirkun- gen dieses Ausgleiches im Alltag Positive Auswirkungen der Bewältigung unvorhergesehener Lebensereignisse auf Gesundungsprozess: Anderer (besserer) Umgang mit unerwarte- ten Ereignissen: - Anstieg von Flexibilität, z. B.: A, B, C, G, H, I, J A, G A, G 7 Fortsetzung 191 Fortsetzung Tabelle 25: Auswertung der Hypothese V1 (Fragen 7 u. 9) Selektionskriterium Kategorien Personen N Hypothese V1: Ausgleich unverstehbarer Situationen durch Erfahrun- gen von Transparenz und Konsistenz und Auswirkun- gen dieses Ausgleiches im Alltag - in der Lage, andere Bahnen zu denken, andere Positionen zu übernehmen - sowohl Planung als auch Flexibilität wichtig - besser in der Lage zu korrigieren - Misserfolge akzeptieren lernen - bei unvorhergesehenen Situationen im Alltag Beruhigung möglich - mehr Gelassenheit und dadurch mehr Lebensqualität, z. B. mehr Konzentrati- on, nicht zu schnell müde Abnahme von Schüchternheit und Zurück- haltung Im Laufe der Jahre gesünder durch komple- xere Anforderungen Zuversicht, dass sich bei auftretenden äuße- ren oder inneren Stimuli die physikalische sowie soziale Umwelt nicht im wesentlichen verändert trifft zu Gründe: - trotz Unstimmigkeiten mehr Zuversicht in die Beständigkeit der Gruppe - Zuversicht in das Gelingen geplanter Aktivitäten - Stärkung des Durchhaltevermögens - Mut zum Weitermachen durch Erinne- rung an bewältigten steinigen Weg - durch Gewinn von Verstehbarkeit auf Wanderung auch Zuversicht in Versteh- barkeit anderer Situationen, dadurch mehr Mut, sich neuen Situationen zu stel- len A A A A G G G J B, C, H, I B C C H I Sieben Befragte nennen therapeutische Effekte, die im Alltag zur Geltung kommen (s. Ta- belle 25). Diese positiven Auswirkungen auf den Gesundungsprozess resultieren aus der erfolgreichen Bewältigung unverstehbarer Situationen. Die Angaben von vier Personen (B, C, H und I) unterstützen die Hypothese V1, dass auf der Wanderung die beständige Ausgeglichenheit zwischen Überraschungen und Unver- stehbarkeit auf der einen Seite und Ordnung, Planung sowie Struktur auf der anderen Seite für positive gesundheitliche Effekte sorgt, die im Alltag deutlich werden. Es sind Faktoren, die die Zuversicht ausdrücken, dass sich bei auftretenden äußeren oder inneren Stimuli die 192 physikalische sowie die soziale Umwelt eines Menschen nicht im Wesentlichen verändert und dass Dinge richtig eingeordnet werden können. Dieses Erleben stellt sich wie folgt dar: Personen C und H nehmen ein verstärktes Durchhaltevermögen an sich wahr und zeigen damit, dass sie sich durch Irritationen nicht vom Weg abbringen lassen. Die zwei Befrag- ten begründen ihr gefestigtes Stehvermögen mit der „Zuversicht in das Gelingen geplanter Aktivitäten“ (Person C) und mit der „Erinnerung an bewältigten steinigen Weg“ (Person H). Eindrucksvoll ist auch die bei Person B gestiegene Zuversicht in die Konsistenz von Beziehungen, die sich in der Nennung widerspiegelt: „trotz Unstimmigkeiten mehr Zuver- sicht in die Beständigkeit der Gruppe“. Person I stellt den therapeutischen Erfolg salutogenetisch formuliert wie folgt zusammen: „durch Gewinn von Verstehbarkeit auf Wanderung auch Zuversicht in Verstehbarkeit an- derer Situationen, dadurch mehr Mut, sich neuen Situationen zu stellen“. Personen A, G und J benennen therapeutische Effekte im Alltag, die eher aus der aktiven Bewältigung unverstehbarer Situationen resultieren. Dabei beobachten Personen G und A bei sich einen neuen Umgang mit unerwarteten Ereignissen. Sie sehen mehr Flexibilität bei der Bewältigung von Anforderungen. Person A stellt beispielsweise fest, dass sie besser in der Lage sei, andere Positionen zu übernehmen. Sie empfände außerdem Planung wie auch Flexibilität als gleichermaßen wichtig. Darüber hinaus könne sie Misserfolge besser akzep- tieren, sei auch insgesamt fähiger, sich zu korrigieren. Nach Antonovsky ist für den Ge- sundungsprozess eines Menschen entscheidend, wie flexibel er seine Widerstandsressour- cen einsetzt und wie er nach einer angewandten Bewältigungsstrategie mit Feedback um- geht (s. Abschn. 2.10). Wenn jemand also eine Verbesserung der Korrekturfähigkeit beo- bachtet sowie insgesamt mehr Flexibilität im Einsatz von Widerstandsressourcen wahr- nimmt, dann ist das bestimmt ein Zeichen für die erfolgreiche Stärkung des SOC und eine Verbesserung des Copings. Aus Sicht von Person G führt der Gewinn an Flexibilität zu mehr Gelassenheit und Ruhe bei Unverstehbarkeiten im Alltag. Somit ist auch hier mehr Zuversicht in die Verstehbar- keit von Situationen zu beobachten. Wie beeinträchtigend Widerstandsdefizite in dieser Hinsicht sein können, zeigt das Beispiel von Person G mit der Nennung: „mehr Gelassen- heit und dadurch mehr Lebensqualität, z.B. mehr Konzentration, nicht zu schnell müde“. 193 Die gleiche Person erlebt auch ein insgesamt sichereres Auftreten, worauf die Aussage „Abnahme von Schüchternheit und Zurückhaltung“ hindeutet. Ein weiterer Teilnehmer oder eine Teilnehmende kommt zu dem Schluss, im Laufe der Jahre durch komplexere Anforderungen gesünder geworden zu sein. So ist zu vermuten, dass hier im Hinblick auf Verstehbarkeit durch erfolgreich bewältigte Situationen langjäh- rig Widerstandsressourcen gewonnen wurden, die das Gesundungserleben förderten bzw. weiterhin fördern. Zusammenfassend lassen die Ergebnisse zu den Fragen 7 und 9 im Hinblick auf die Hypo- these V1 die folgenden Schlüsse zu: Während der Wanderung treten Stimuli auf, die für Irritationen und Unvorhersehbarkeit sorgen. Die Situationen der Unverstehbarkeit werden aus Sicht der Befragten durch konsis- tenzfördernde Rahmenbedingungen bzw. Erfahrungen wie Planung, Organisation, Struk- tur, Rituale usw. aufgefangen. Ein weiterer stabilisierender Faktor bei Unsicherheiten ist außerdem die Zuversicht in die Ressourcen anderer Teilnehmender. Das kontinuierliche Erleben eines Ausgleiches zwischen Unverstehbarkeit und Erfahrun- gen der Transparenz und Konsistenz kommt auch im Alltag zum Tragen. Als therapeuti- sche Effekte schildern die Teilnehmenden Faktoren, die das Erleben ausdrücken, dass sich bei auftretenden inneren und äußeren Stimuli die physikalische und soziale Umwelt eines Menschen nicht im Wesentlichen verändert und dass neue Informationen richtig eingeord- net werden können. Diese Zuversicht zeigt sich in: - mehr Vertrauen in die Konsistenz von Beziehungen, - mehr Durchhaltevermögen und Zuversicht in das Gelingen geplanter Aktivitäten, - mehr Zuversicht in die Verstehbarkeit neuer Situationen und dadurch mehr Mut, sich neuen Situationen zu stellen. Darüber hinaus werden therapeutische Effekte sichtbar, die auf die erfolgreiche aktive Be- wältigung unverstehbarer Situationen zurückzuführen sind. Diese wären: - verbesserter Umgang mit unerwarteten Ereignissen durch Anstieg an Flexibilität, ver- besserte Korrekturfähigkeit, mehr Akzeptanz von Misserfolgen und der Fähigkeit zur Beruhigung, - mehr Gelassenheit und dadurch mehr Lebensqualität, - mehr Selbstsicherheit, 194 - mehr Widerstandsressourcen durch jahrelange Bewältigung immer komplexerer Anfor- derungen. Für die Diskussion der Hypothese V1 bedeutet das, dass auf der Jakobuswanderung nicht nur ein permanentes Erleben eines Ausgleiches zwischen Unverstehbarkeit und Konsistenz und Transparenz für Widerstandsressourcen im Alltag sorgt, sondern auch die aktive Be- wältigung unverstehbarer Situationen unter Einsatz internaler bzw. externaler Ressourcen. 10.1.2 Verstehbarkeit innerhalb der Begegnung zwischen den Teilnehmenden und dem therapeutischen Team Mit der hypothesengerichteten Frage 8 wurde die Verstehbarkeit innerhalb der Begegnung zwischen den Mitarbeitenden und den Teilnehmenden (siehe Hypothese V2) geprüft. Frage 8: „Wie würden Sie in diesem Zusammenhang die Begegnung zwischen den Teilnehmerin- nen und Teilnehmern und den Mitarbeitenden des Hauses als Zugehörende zur Wander- gruppe beschreiben? Waren die Verhältnisse immer eindeutig oder kam es in der Rollen- zuweisung auch zu Missverständnissen?“ Darüber hinaus finden sich ebenso Angaben zur Hypothese V2 in den Ergebnissen zur offenen Frage 4: „Wie haben Sie die Begegnung zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erlebt bzw. wie erleben Sie sie im Jakobuswegprojekt?“ Dort beinhalten die Aussagen von Personen B und I relevante Informationen, die in der fragenübergreifenden Auswertung berücksichtigt wurden. Zur Diskussion steht nun die Hypothese V2. Diese lautet wie folgt: Hypothese V2: Die Rahmenbedingungen der Aktivität fördern eine salutogenetisch orientierte Be- gegnung zwischen den Mitarbeitenden und den Patientinnen und Patienten. 195 Die Begegnung ist trotz der Rollenvielfalt und des besonderen Kontaktes durch Transparenz und Verstehbarkeit gekennzeichnet, was zu weiteren Widerstandsres- sourcen innerhalb der Verstehbarkeitskomponente führt. Tabelle 26 zeigt die Stellungnahmen der Teilnehmenden hierzu. Tabelle 26: Auswertung der Hypothese V2 Selektionskriterium Kategorien Personen N V2 trifft zu Gründe: - Transparenz/Verstehbarkeit der Rollen- verteilung bzw. des Kontaktes - Vermittlung transparenter Botschaften, z.B.: - trotz Hilfestellung sollten Aufgaben eigenverantwortlich übernommen werden - Mitarbeitende ziehen sich zurück, da- mit Teilnehmende selbständiger wer- den - der Einsatz von eigenen Ressourcen steht vor dem Rückgriff auf die Res- sourcen anderer - Aufgaben werden verbindlich über- nommen, bei Ausfall wird für Vertre- tung gesorgt - alle Teilnehmenden übernehmen Auf- gaben - offenes aufeinander Zugehen - Mitarbeitende wahren auf freundliche Art Distanz - Erfahrung von Berechenbarkeit und Konsistenz durch: - Vertrauen - Zuverlässigkeit A, B, C, D, E, F, H, I, K A, B, C, D, F, H, K B, D D D D D D B C I 9 Hypothese V2: Verstehbarkeit innerhalb der Begegnung zwischen Mitar- beitenden und den übrigen Gruppenmitgliedern V2 trifft trotz Irritationen zu Gründe: - bei Verwirrung/Unverständnis Möglich- keit der Richtigstellung gegeben - weniger Missverständnisse bei realisti- scher Einschätzung der Begegnung - bei anfänglicher Teilnahme Missver- ständnisse möglich, Transparenz entwi- ckelt sich A, B, G, H A, H G G 4 Fortsetzung 196 Fortsetzung Tabelle 26: Auswertung der Hypothese V2 - nicht vorhandene Transparenz, wird nicht als belastend empfunden B Hypothese V2: Verstehbarkeit innerhalb der Begegnung zwischen Mitar- beitenden und den übrigen Gruppenmitgliedern Bei langjährigen Patient/-innen Irritatio- nen im persönlichen Rollenverständnis möglich „Weder Profi und Mitarbeiter, auch kein ganz Kranker“ mögliche Auswirkungen: - manchmal zwischen den Stühlen stehen - Wunsch, alle zufrieden zu stellen J 1 Bis auf eine Person (J) bestätigen alle Befragten (10 Personen) die Transparenz und Ver- stehbarkeit in der therapeutischen Beziehung - sowohl im Hinblick auf die Rollenvertei- lung als auch hinsichtlich des Kontaktes zwischen dem therapeutischen Team und den Pa- tientinnen und Patienten (s. Tabelle 26). Bei eventuellen Missverständnissen seien aus Sicht von Personen A und H Möglichkeiten der Richtigstellung gegeben. Person B schließt Situationen der Unverstehbarkeit nicht aus, bewertet diese jedoch generell als nicht belastend. Person G räumt ein, dass bei anfängli- cher Teilnahme Missverständnisse möglich seien, dass sich jedoch im Zuge der Aktivität Transparenz einstellte. Von Person I finden sich unter Frage 8 keine konkreten Angaben zu möglichen Irritationen aufgrund der besonderen Begegnung als Wanderer und Wanderinnen oder wegen sonstiger Faktoren. Sie beschreibt aber schon in ihren Aussagen zur offenen Fragestellung (siehe Frage 4) ein Verhältnis, das u.a. stark durch Zuverlässigkeit und Vertrauen geprägt ist. Diese Aspekte drücken aus, dass die therapeutische Begegnung sehr bodenständig ist und auf sich konstant wiederholenden positiven Erfahrungen basiert. Demnach können durch die therapeutische Beziehung Widerstandsressourcen im Bereich der Verstehbarkeit er- worben werden, weil sie Konsistenz erleben lässt. Weitere Beispiele dafür, wie sich Verstehbarkeit in der therapeutischen Praxis des profes- sionellen Teams darstellt, führen Personen B, C und D auf. Aus den Nennungen von Per- son D lässt sich schließen, dass die Mitarbeitenden transparente Botschaften vermitteln, was den Einsatz von persönlichen Ressourcen und die Regeln der Zusammenarbeit betrifft. Demnach wird von der Gruppe erwartet, dass „Aufgaben eigenverantwortlich übernommen 197 werden“ sollten und dass der Einsatz eigener Ressourcen vor dem Rückgriff auf die Res- sourcen anderer steht. Zu den Regeln, die Person D weiter feststellt, gehört außerdem, dass alle Teilnehmenden Aufgaben übernehmen und dass bei Ausfall eines Verantwortlichen für Vertretung gesorgt wird. Person B spricht davon, dass der Umgang miteinander durch das offene aufeinander Zuge- hen gekennzeichnet sei. Diese Aussage zeigt auf, dass in der therapeutischen Begegnung Vertrauen, Berechenbarkeit und Transparenz zu erwarten ist. Einen ähnlichen Eindruck liefert die Nennung von Person C: „Mitarbeitende wahren auf freundliche Art Distanz“. Sie spiegelt wider, dass bei dem generell freundlichen Ton im Umgang miteinander und der Gemeinsamkeit als Wanderinnen und Wanderer die professionelle Distanz gewahrt wird. Dieser Eindruck belegt die Annahme, dass die Position der Mitarbeitenden für die Teilnehmenden verstehbar und die Begegnung miteinander gut einzuschätzen ist. Interessante Hinweise seitens der Befragten auf eventuelle Irritationen in der therapeuti- schen Beziehung wurden bereits aufgegriffen. Es wurde deutlich, dass leichte Missver- ständnisse im Kontakt die Zusammenarbeit nicht gefährden und die grundsätzliche Ver- stehbarkeit des Miteinanders nicht negativ beeinflussen. Zu optimieren wäre eventuell die Betreuung der erstmaligen Teilnehmenden während der Anfangsphase der Pilgerreise, denn die Aussagen von Person G sprechen für mögliche Unsicherheiten zu diesem Zeit- punkt. Ein weiterer Aspekt, der zu reflektieren wäre ist die Position ehemaliger Patientinnen und Patienten in der Gruppe, die mehrmals an einer Wanderung teilgenommen haben. Aus den Aussagen von Person J geht ein Hinweis hervor, dass diese Wanderinnen und Wanderer möglicherweise Irritationen im eigenen Rollenverständnis und im Hinblick auf ihren Platz in der Gruppe erleben könnten. Eine solche Wahrnehmung ist nachvollziehbar in Anbet- racht der Funktion und der Position dieser Klientel in der Gruppe, die sich wie folgt dar- stellen lässt: Wanderinnen und Wanderer, die wiederholt an der Pilgerreise teilnehmen, sind im Vergleich zu den erstmalig Teilnehmenden intensiver mit Regeln der Zusammen- arbeit vertraut. Somit heben sie sich zumindest am Anfang einer Wanderung von den noch unerfahrenen Teilnehmenden aufgrund ihrer Souveränität ab. Darüber hinaus wird ihnen wegen des größeren Wissenspotentials mehr Verantwortung zugesprochen. Mit ihrem Er- fahrungsschatz werden sie - wie auch die Mitarbeitenden - zu tragenden Säulen der kon- zeptionellen Ideen des Jakobuswegprojektes. Daher wird von ihnen verstärkt erwartet, dass 198 sie die Neuankömmlinge unterstützen und diese in die Abläufe der Pilgerreise einarbeiten. Ähnlich der Delegierten übernehmen sie Vermittlerfunktionen. Ihre Erfahrungswerte befä- higen sie dazu, ein Verhalten, das die Gruppe oder die Wanderung gefährden könnte, bes- ser zu erkennen und hier und da ordnend einzugreifen. Dabei werden sie durch ihre etab- lierte Position in der Gruppe zur Handlung ermutigt. Diesen Überlegungen zufolge ist es nicht verwunderlich, wenn je nach Persönlichkeit in entsprechenden Situationen ein Gefühl von „zwischen den Stühlen stehen“ aufflackert. Darüber hinaus verweist die Nennung von Person J darauf, dass sich aus einer solchen Vermittlerfunktion heraus für Menschen, die generell dazu tendieren, es allen Recht machen zu wollen, Momente der Anspannung erge- ben könnten – gerade wenn es in brenzligen Situationen um die Erinnerung an Gruppenre- geln oder Maßregelungen untereinander geht. Erfahrungsgemäß sind Neuzugänge jedoch froh über die Unterstützung seitens der langjährigen Teilnehmenden und nutzen deren Verhalten für sich als Orientierungshilfe. Mögliche Auseinandersetzungen aufgrund von ‘Kompetenz-Überschreitungen’ unter den Patienten sind, wenn sie jemals vorgekommen sein sollten, als große Ausnahmen zu bewerten. Die Position der mehrfach Teilnehmenden verspricht eher viel Anerkennung sowie positives Feedback seitens der gesamten Gruppe. Nichtsdestotrotz ist die Rückmeldung von Person J ein wichtiger Hinweis für das therapeu- tische Team, das sich die leicht ‘exotische’ Position der ehemaligen Patientinnen und Pati- enten vergegenwärtigen sollte, um zu überlegen, wie mögliche Fallstricke im Rollenver- ständnis zu gesundungsfördernden Faktoren umgewandelt werden könnten. Im Hinblick auf die Hypothese V2 kann den gesamten Ausführungen nach das folgende Zwischenergebnis festgehalten werden: Die Ergebnisse sprechen für die Verstehbarkeit in der Begegnung zwischen dem therapeu- tischen Team und den Patientinnen und Patienten. Die Umsetzung der verstehbarkeitsfördernden Arbeitsweise zeigt sich dieser Untersuchung nach hauptsächlich in: - der Transparenz / Verstehbarkeit der Rollenverteilung bzw. des Kontaktes, - der Vermittlung transparenter Botschaften (insbesondere im Hinblick auf Regeln der Zusammenarbeit), - der Wahrung von Distanz, trotz eines freundlichen Kontaktes, 199 - der Erfahrung von Vorhersehbarkeit und Konsistenz innerhalb der therapeutischen Be- ziehung, - der Zuversicht der Teilnehmenden, dass Missverständnisse oder Unklarheiten in der therapeutischen Begegnung geklärt werden können. 10.1.3 Zugewinn an Wissen und Kenntnissen Der Jakobusweg berührt aufgrund seiner Vielschichtigkeit verschiedene Themengebiete, so dass sich das Wissen oder die Kenntnisse der Wanderinnen und Wanderer in vielen Be- reichen erweitern könnten. Zur Überprüfung dieser Annahme wurde die Hypothese V3 aufgestellt: Hypothese V3: Auf dem Jakobusweg wird die SOC-Komponente Verstehbarkeit durch den Zuge- winn an Wissen in verschiedenen Sachgebieten gefördert. Diese Kenntnisse unterstüt- zen eine Person dabei, interne und externe Stimuli als kognitiv sinnhaft wahrzuneh- men bzw. bei der Verstehbarkeit neuer Informationen und Situationen. Die entsprechende Frage 10 dazu lautet: „Haben Sie auf der Wanderung Wissen/Kenntnisse erworben, die Ihnen zukünftig dabei helfen könnten, neue Informationen oder Situationen besser zu verstehen?“ Tabelle 27 fasst die Aussagen zur Hypothese V3 zusammen. Tabelle 27: Auswertung der Hypothese V3 Selektionskriterium Kategorien Personen N Hypothese V3: Förderung von Verstehbar- keit über neuerworbene Kenntnisse oder Wissen Verstehbarkeit neuer Situationen über neuerworbene Kenntnisse oder Wissen möglich Gründe: - unterschiedliche Themengebiete, Vielfalt begünstigen flexible Reaktionsfähigkeit und weiten Horizont im Alltag A, B, J, K A 4 Fortsetzung 200 Fortsetzung Tabelle 27: Auswertung der Hypothese V3 Selektionskriterium Kategorien Personen N - Verbindungen u. Querverbindungen zu anderen Themen gegeben - Bruchstücke, die in bestimmten Situatio- nen zusammenkommen - Lernen möglich - je gesünder, desto offener zum Erwerb neuen Wissens, sonst Gefahr der Über- forderung A B K J Zuwachs von Kenntnissen auf kultureller Ebene: - Essen - Besuche kultureller Stätten - Französischkenntnisse A, B, F A, B A F 3 Wissen über das Wandern Beispiele: - Kenntnisse, die zur Gründung eines Wandervereins ausreichen - Wissen zur Erwanderung neuer Gebiete - Zusammenhänge zwischen Wandern und körperlicher Fitness - im Alltag besser Stadtpläne lesen C, D, I I I I D 3 Wissen und Kenntnisse zum persönlichen Leistungsvermögen Beispiele: - bei Wehwehchen nicht aufgeben, son- dern gegen Schmerz angehen, auch im übertragendem Sinne - angemessene Ziele setzen - Schritt für Schritt gehen - auf überschaubare Strecken konzentrie- ren, um Ziel zu erreichen C, F F 2 Wissen über Botanik C 1 Hypothese V3: Förderung von Verstehbar- keit über neuerworbene Kenntnisse oder Wissen Kenntnisse und Wissen im Bereich sozia- ler Kompetenzen Kenntnisse und Wissen im sozialen Bereich bzw. zwischenmenschlichen Umgang: - mehr Kenntnisse und Wissen im sozia- len, denn im intellektuellen Bereich er- worben - Erfahrung positiver Wertschätzung - Erfahrung von Zugehörigkeitsgefühl - durch das Verlieben Bedeutsamkeit der eigenen Person erfahren B, C, E, H B, C, H B B B C 4 Fortsetzung 201 Fortsetzung Tabelle 27: Auswertung der Hypothese V3 Selektionskriterium Kategorien Personen N Hypothese V3: Förderung von Verstehbar- keit über neuerworbene Kenntnisse oder Wissen - Gefühl der Vertrautheit wächst - Leute besser kennen lernen - entgegen Gruppenängste am Ball bleiben - sich mit Leuten auseinandersetzen - wahrnehmen, ob Kontakt erwünscht oder nicht - zurückziehen oder auf andere zugehen Kenntnisse in der verbalen Kommunikation: - mehr sprechen - spontan sprechen - vor Publikum sprechen Wissen über die Auswirkung von Distanz auf das eigene Wohlbefinden: - sich durch Distanz freier fühlen - mit Distanz besser nachdenken - durch Distanz Möglichkeit eines anderen Zustandes genießen - Distanz zur Familie ist erlaubt und wich- tig C C C C C H C E Aus der Sicht von 10 Befragten ist der Erwerb neuer Kenntnisse auf der Jakobuswande- rung möglich (s. Tabelle 27). Von Person G existieren an dieser Stelle keine Angaben. Vier Personen gehen direkt auf die Interviewfrage ein und bestätigen, zukünftig durch neue Kenntnisse neue Situationen besser verstehen zu können. Dabei beobachtet Person A, dass die erlebte Vielfalt an The- mengebieten eine flexible Reaktionsfähigkeit und einen weiten Horizont im Alltag begüns- tigt. Die gleiche Person nimmt durch mehr Wissen auch „Verbindungen und Querverbin- dungen zu anderen Themen“ wahr. Diesem Sachverhalt stimmt auch Person B zu. Sie re- gistriert bei sich mehr Wissen und Kenntnisse im sozialen Bereich, denn im intellektuellen. Sie beobachtet ferner, durch die Wanderung „Bruchstücke“ gewonnen zu haben, „die in bestimmten Situationen zusammenkommen“. Die dritte Interviewpartnerin bzw. der Inter- viewpartner begründet ihre oder seine Zustimmung zur Hypothese V3 damit, dass Lernen auf der Jakobuswanderung grundsätzlich möglich sei. Mit Antonovskys Worten formuliert, haben demnach drei Personen bewusst erlebt, dass sie mit neuen Informationen weitere Stücke einer Landkarte hinzugewonnen haben, „die das Vertrauen schafft, dass Landkarten leicht zu lesen sind“ (siehe Kap. 2.5). 202 Person J macht den Gewinn an Wissen vom Gesundungsstatus abhängig. Sie gibt an: „Je gesünder, desto offener zum Erwerb neuen Wissens, sonst Gefahr der Überforderung“. Trotz des Hinweises auf die Gefahr der Überforderung je nach Position auf dem HEDE- Kontinuum, wird gleichzeitig ihr Zugeständnis deutlich, dass das Wachstum an Wissen auf der Jakobuswanderung grundsätzlich möglich ist. Daher wurde auch die Aussage von Per- son J der Hauptkategorie „Verstehbarkeit neuer Situationen über neuerworbene Kenntnisse oder Wissen möglich“ zugeordnet. Die vielfältigen Einzelaussagen der Teilnehmenden wurden kategorisch in verschiedene Wissensgebiete aufgeteilt. Dabei dominiert die Kategorie „Kenntnisse und Wissen im Bereich sozialer Kompetenzen“ (5 Personen; 25 Nennungen) mit Kategorien aus dem Bereich des intellektuellen Wissens (6 Personen; 12 Nennungen). Zum letzteren Bereich zählen die Kategorien: „Zuwachs von Kenntnissen auf kultureller Ebene“, „Wissen über Botanik“, „Wissen über das Wandern“ sowie „Wissen und Kenntnisse zum persönlichen Leistungsvermögen“. Die Verteilung der Personen ist auf beiden Gebieten - also im Hinblick auf den Zuwachs an Bildung sowie im Bereich sozialer Kompetenzen - in etwa gleich. Auffällig ist jedoch, dass im Bereich der sozialen Kompetenzen nahezu doppelt so viele Kenntnisse aufgezählt werden, wie in Kategorien, die sich auf das intellektuelle Wissen beziehen. Man könnte daher annehmen, dass bei einer Jakobuswanderung mit einer Gruppe der Erwerb neuer Fertigkeiten zur Verstehbarkeit zwischenmenschlicher Begegnungen ausgeprägter ist, als der Zuwachs an Bildung - auch wenn der Jakobusweg durch ein kulturell vielseitiges sowie historisch bedeutungsvolles Land führt. Innerhalb der Kategorie „Kenntnisse und Wissen im sozialen Bereich bzw. im zwischen- menschlichen Umgang“ könnten verschiedene Nennungen mit dem Titel „Verstehbarkeit von Emotionen“ überschrieben werden. Für diese Überschrift sprechen die Aussagen von Personen B und C, aus denen hervorgeht, dass sie auf der Wanderung erstmals oder seit längerem wieder erlebt haben müssen, wie sich „positive Wertschätzung“ oder „Zugehö- rigkeitsgefühl“ (Person B) und „Vertrautheit“ (Person C) anfühlen. Als Folge dieser Erfah- rungen sind gerade bei psychisch erkrankten Menschen, die in ihrer Biographie oder im Zuge der Erkrankung eher Ausgrenzung, Ablehnung und Vertrauensmissbrauch erfahren 203 haben, positive Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl zu erwarten. Darüber hinaus wird mit zunehmender Verstehbarkeit von Gefühlen die Grundlage für ihre Handhabbarkeit bzw. für die Handhabbarkeit zwischenmenschlicher Begegnungen gestärkt. Demnach lässt sich an dieser Stelle die Förderung der Verstehbarkeit von Emotionen als wichtige genesungsfördernde Leistung der Wanderung mit einer Gruppe festhalten, weil: - eventuelle Widerstandsdefizite ausgeglichen werden können, - die Vielfalt an persönlichen Gefühlsnuancen erweitert wird, so dass zukünftige emoti- onale Regungen besser eingeordnet und verstanden werden können, - mit der besseren Verstehbarkeit von Emotionen sich die Chance erhöht, zwischen- menschliche Begegnungen besser handhaben zu können. Am Beispiel von Person E lässt sich beobachten, wie das positive Erleben von Distanz zu neuen Handlungsmodalitäten führt. Es ist spannend zu sehen, wie Person E über die Erfahrung von Distanz neue Erlebnisfel- der und neue Möglichkeiten für sich entdeckt. Beginnend mit dem Empfinden, sich durch Distanz freier zu fühlen, erkennt sie, dass sie durch Distanz besser nachdenken oder gene- rell eine andere Stimmung genießen kann. Vermutlich begünstigt dieses Erleben und das Entdecken neuer Handlungsalternativen ihre Erkenntnis, dass „Distanz zur Familie erlaubt und wichtig“ ist. Ebenso beeindruckende Fortschritte werden am Beispiel von Person C mit der Kategorie „Kenntnisse in der verbalen Kommunikation“ sichtbar. Man kann die Nennungen von Per- son C als einen Entwicklungsweg betrachten, der mit der Fertigkeit „mehr sprechen“ be- gann und sich mit der zunehmenden Verstehbarkeit oder Vertrautheit der Auswirkungen des Sprechens zu der Fertigkeit „spontan sprechen“ weiterentwickelte und schließlich im „Sprechen vor Publikum“ endete. Auf den - hinsichtlich der Nennungen besonders herausragenden - Wissensbereich zum Thema „soziale Kompetenzen“ folgen die Kategorien „Kenntnisse auf kultureller Ebene“ und „Wissen über das Wandern“ mit jeweils drei Personen pro Kategorie. Die neu erworbenen Informationen zum Wandern sind zunächst dem organisatorisch logis- tischen Bereich zuzuordnen. Das Wissen dazu stärkt offenbar die Zuversicht, neue Gebiete erwandern zu können. Person I fühlt sich sogar dazu befähigt, einen Wanderverein zu 204 gründen. Weiter zeigt sich in dieser Kategorie, dass Person I Informationen zur Auswir- kung des Wanderns auf die körperliche Fitness erworben hat. So geht es auch den Teil- nehmenden C und F, aus deren Angaben die Kategorie „Wissen und Kenntnisse zum per- sönlichen Leistungsvermögen“ gebildet wurde. Dabei zeigt sich am Beispiel von Person F, dass die Verstehbarkeit körperlicher Grenzen das Durchhaltevermögen auch bei anderen Anforderungen des Alltags fördern und ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Zielen und Leistungsvermögen unterstützen kann. Person D empfindet den Zuwachs an Kenntnissen als nicht so bedeutend, um die Inhalte der Hypothese V3 für sich generell geltend machen zu können. Die gleiche Person gibt jedoch an, sie könne im Alltag besser Stadtpläne lesen. Hieraus geht hervor, dass auch aus Sicht dieser Person zumindest ein Wissenserwerb möglich ist, von dem im Alltag profitiert werden kann. Zusammenfassend kann die Hypothese V3 bestätigt werden. Auf der Jakobuswanderung ist der Zugewinn von Kenntnissen auf verschiedenen Wissensgebieten möglich. Als dominierende Gebiete treten „Kenntnisse und Wissen im Bereich sozialer Kompeten- zen“ (5 Personen; 25 Nennungen) und Kategorien aus dem Bereich des intellektuellen Wissens (6 Personen; 12 Nennungen) hervor. Zum letzteren Bereich zählen die Katego- rien: „Zuwachs von Kenntnissen auf kultureller Ebene“, „Wissen über Botanik“, „Wissen über das Wandern“ sowie „Wissen und Kenntnisse zum persönlichen Leistungsvermögen“. Ein starker Mediator ist dabei die Gruppe. Sie vermittelt Kenntnisse im Bereich sozialer Kompetenzen, die zukünftige zwischenmenschliche Begegnungen verstehbarer machen. Über diesen Wissenserwerb hinaus fördert die Gruppe mit emotionalen Erfahrungen die Verstehbarkeit der persönlichen Gefühlswelt. Außerdem regt sie zu mehr Kommunikation an und vermittelt auch auf diesem Gebiet Wissen und Fertigkeiten. Die Gruppe schult schließlich auch den Umgang mit Nähe und Distanz, so dass Einzelne zukünftig besser vorausschauen können, wann Distanz bzw. Nähe gewünscht ist und wann nicht. Darüber hinaus werden generelle Zusammenhänge zwischen Distanz und der Aus- wirkung auf das Wohlbefinden erkannt. 205 Der von der Personenanzahl am stärksten dominierende wissensvermittelnde Faktor ist das Wandern. Das Wandern fördert intellektuelle und logistische Kenntnisse und unterstützt die Verstehbarkeit des persönlichen Leistungsvermögens. Die Ergebnisse bestätigen ferner, dass die Möglichkeiten des Jakobusweges zur Wissens- erweiterung im Hinblick auf das aktuelle Land und die Umgebung, durch die er führt, in den Bereichen (Ess-) Kultur, Sprache und Botanik aufgegriffen werden. Es wird nicht deutlich, ob dieser Zugewinn an Bildung durch die Gruppe bzw. die Mitarbeitenden ange- regt wird oder durch das animierte persönliche Interesse erfolgt. 10.1.4 Besseres Verstehen neuer Situationen und Verbesserung des voraus- schauenden Denkens Nach der Explikation der Subjektiven Theorien zum Vorkommen an Verstehbarkeit auf der Wanderung erfolgte die Abschlussdiskussion der Hypothese HW1 (Verstehbarkeit). Haupthypothese Wanderung HW1 (Verstehbarkeit): Auf der Jakobuswanderung wird der Gesundungsprozess psychisch kranker Men- schen durch verstehbarkeitsförderliche Erfahrungen wie folgt verbessert: • neue Informationen oder unerwartete Situationen werden besser verstanden, Zusammenhänge können deutlicher erkannt werden und das vorausschauende Denken hat sich verbessert. Die Hypothese wird mit Hilfe von Frage 20b untersucht: „Man kann nach einer Pilgerreise verschiedene Schlüsse ziehen. Eine mögliche Annahme im Hinblick auf den Gesundungsprozeß eines psychisch kranken Menschen wäre, daß die Teilnahme an der Jakobuswanderung folgende drei Dinge be- wirkt: a) Die Zuversicht wird bestärkt, daß Anforderungen des Lebens lösbar sind. (durch die gewonnenen persönlichen Bewältigungsfertigkeiten oder durch die erfahre- nen Potentiale der Gemeinschaft) 206 b) Neue Informationen oder unerwartete Situationen werden besser verstanden, Zu- sammenhänge können deutlicher erkannt werden und das vorrausschauende Denken hat sich verbessert. (durch Erfahrungen der Beständigkeit, der Transparenz und durch den Gewinn an Wissen) c) Die Motivation, sich für etwas einzusetzen ist gestiegen, und Anforderungen des Le- bens werden mehr als Herausforderung, denn als Belastung erlebt. (durch Erfahrungen von Lebenssinn, durch neue Hobbies, durch die Erfahrungen, et- was getan zu haben, was für die Gruppe wichtig war) Trifft eine oder mehrere dieser Angaben Ihrer Meinung nach zu?“ Die Auswertung der Frage 20b ergibt die folgende Verteilung: Tabelle 28: Auswertung der Hypothese HW1 (Verstehbarkeit) Selektionskriterium Kategorien Personen N Hypothese HW1 (Versteh- barkeit): Erwerb von Widerstandsres- sourcen auf der Ebene Ver- stehbarkeit bzw. besseres Verständnis neuer Informationen/unerwarteter Situationen; Zusammenhän- ge können deutlicher erkannt werden; Verbesserung des vorausschauenden Denkens Hypothese HW1 (Verstehbarkeit) trifft zu Gründe: - Motivation zum Engagement und zur Erweiterung des Horizontes - flexibler Umgang mit unverstehbaren Situationen, z. B. durch Perspektiven- wechsel, Einsatz verschiedener Interpre- tations-Möglichkeiten - Motivation zur Planung und Mitgestal- tung bei Jakobustreffen wegen Förderung des Gesundungsprozesses - Motivation, sich in Planungsarbeit au- ßerhalb der Hausarbeit versuchen - Bereitschaft, sich überraschend eintre- tenden Lebensereignissen zu stellen, d. h.: - (zwanghaft) vorausschauendes Denken abgewöhnt, Akzeptanz von Überra- schungen - bei Bewältigung von Anforderungen Überforderung vermeiden - Zuversicht in Bewältigung der Anfor- derungen A, C, D, E, F, H, J, K A A E E J 8 Fortsetzung 207 Fortsetzung Tabelle 28: Auswertung der Hypothese HW1 (Verstehbarkeit) Selektionskriterium Kategorien Personen N - erfolgreiche Bewältigung unvorhergese- hener Ereignisse - trotz Angst Anforderungen gestellt - Erfolg schneller als erwartet K K K Hypothese HW1 (Versteh- barkeit): Erwerb von Widerstandsres- sourcen auf der Ebene Ver- stehbarkeit bzw. besseres Verständnis neuer Informationen / unerwarteter Situationen; Zusammenhän- ge können deutlicher erkannt werden; Verbesserung des vorausschauenden Denkens Keine Widerstandsressourcen in Bezug auf Verstehbarkeit erworben B 1 Der Tabelle 28 folgend wird diese Frage von neun Personen beantwortet. Acht Personen geben an dieser Stelle an, auf der Jakobuswanderung Widerstandsressourcen im Bereich der Verstehbarkeit erworben zu haben. Person B verneint die Inhalte von Frage 20b. Sie befürwortet diese Aspekte aber an einer anderen Stelle. Bei Frage 10 gibt sie an, dass die Verstehbarkeit neuer Situationen im All- tag durch erworbene Kenntnisse und Wissen auf der Wanderung für sie besser sei. Sie nennt Beispiele für neu gewonnene Kenntnisse im kulturellen Bereich und macht ausführ- liche Angaben über Erfahrungen sowie Kompetenzen im zwischenmenschlichen Umgang. Sie spricht sogar davon, durch die Wanderung Bruchstücke an Wissen erworben zu haben, die in bestimmten Situationen zusammenkommen und trifft mit dieser Aussage den Kern der Haupthypothese HW1 zur Verstehbarkeit. Daher ist auch bei dieser Person ein Zu- wachs an Widerstandsressourcen im Bereich Verstehbarkeit zu erwarten. Sie hat aber beim Hören der gesamten Fragestellung 20a bis 20c ihre Prioritäten auf den Bereich Bedeutsam- keit und Handhabbarkeit gesetzt. Ähnliches zeigt sich bei Person I. Person I äußert sich nicht zu den Inhalten der Frage 20b, sondern bezieht sich direkt auf den Teil der Fragestel- lung, der sich mit Widerstandsressourcen im Bereich Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit auseinandersetzt. Einblicke in ihr Erleben von Verstehbarkeit auf der Wanderung werden wie bei Person B in ihren Angaben zu den Hypothesen V1 und V3 möglich. Dieser Wan- derer oder diese Wanderin hat durch die gute Organisation der Pilgerreise keine ungünsti- gen Erfahrungen der Verstehbarkeit erlebt, daher ist ein möglicher Zuwachs an Zuversicht durch die positiven Erfahrungen von Verstehbarkeit zu erwarten. Darüber hinaus spricht 208 Person I bei den Ergebnissen zur Hypothese V3 über einen deutlichen Zuwachs an Kennt- nissen im Bereich Wandern (s. Tabelle 27). Aus den Beobachtungen der Ergebnisse zu Personen B und I könnte auch ein anderer Schluss gezogen werden. Möglicherweise dominiert tatsächlich der Gewinn von Wider- standsressourcen im Bereich der Handhabbarkeit oder Bedeutsamkeit, was anhand der Er- gebnisse zur Frage 20d (vgl. S. 208 f.) näher erörtert wird. Vielleicht sind den Teilneh- menden Widerstandsressourcen auf anderen Gebieten deutlicher geworden oder die Kon- zeption des Interviews bzw. die Formulierung der Fragen führte sie zu dieser Wahrneh- mung. Personen B und I zeigen beispielsweise in ihren Antworten zur Frage 6 (vgl. Tabelle 21), dass sie grundsätzlich kein Gefühl der Unvorhersehbarkeit auf der Wanderung erlebt haben. Person I sagt ferner über sich, dass sie kein hohes Maß an Vorhersehbarkeit und Struktur benötige. Es könnte daher sein, dass bei diesen Teilnehmenden das SOC im Be- reich Verstehbarkeit optimal ausgeprägt ist, so dass sich da keine auffälligen Weiterent- wicklungen einstellten. Person G wird die Frage 20b nicht gestellt. Angaben dieser Person zu entsprechenden In- halten finden sich jedoch in den Antworten zur Hypothese V1 (vgl. Tabelle 21). Dort zeigt sich, dass dieser oder diese Teilnehmende Beispiele für Situationen während der Wande- rung nennt, die er oder sie nicht verstanden hat bzw. die diese Person irritierten. Der daraus entstandene Spannungszustand wurde von Person G jedoch positiv bewältigt und sie be- wertet diesen Umgang mit unvorhersehbaren Situationen als förderlich für ihren Gesun- dungsprozess. Die erfolgreiche Spannungsbewältigung und das optimale Copingverhalten von Person G lassen dem Salutogenesemodell nach darauf schließen, dass auch bei ihr neue Widerstandsressourcen zu erwarten sind. Die Hypothese HW1 (Verstehbarkeit) wur- de somit schon hier bestätigt. Dementsprechend wurde der Fragebogen von der intervie- wenden Person hier flexibler – eher als Leitfaden - behandelt, um Wiederholungen zu ver- meiden. Nicht alle Befragten, die in der Abschlussreflexion die Hypothese HW1 (Verstehbarkeit) befürworten, nennen Gründe oder Beispiele, die für diese Hypothese sprechen. Diejenigen (Personen A, E, J und K), die für ihren Zuspruch zur Hypothese HW1 (Verstehbarkeit) Argumente liefern, lassen in ihren Aussagen erkennen, dass sich ihre globale Motivation 209 zum Engagement auf unterschiedlichen Ebenen deutlich erhöht hat. Person A ist motiviert, ihren Horizont noch mehr zu erweitern. Person E möchte sich insbesondere bei Planungs- arbeiten und bei der Gestaltung des Projektes engagieren. Bei den Personen J und K wird die Motivation und der Mut deutlich, sich überraschend auftretenden Situationen zu stel- len. Diese Bereitschaft und der Motivationsschub resultieren den Angaben nach aus positi- ven Erfahrungen, die diese Befragten bei der Bewältigung von unverstehbaren Situationen gemacht haben. Damit tritt bei der abschließenden Fragestellung erneut die in Abschnitt 10.1.1 gemachte Beobachtung in den Vordergrund, dass auf der Jakobuswanderung die aktive Bewältigung von Irritationen ein starker gesundungsfördernder Wirkungsfaktor ist. Zusammenfassend zeigt sich im Hinblick auf die Hypothese HW1 (Verstehbarkeit), dass obwohl nach der Reflexion im Zuge des Interviews aus den eben beschriebenen Gründen die Zustimmung von nur acht Personen für diese Hypothese vorliegt, die Übersicht der Ergebnisse zu den Teilhypothesen belegt (s. Tabelle 29), dass alle Teilnehmenden Wider- standsressourcen im Bereich Verstehbarkeit erworben haben. 210 10.1.5 Zusammenfassung der Ergebnisse zum Erleben und zur Förderung von Ver- stehbarkeit Die fragenübergreifende Auswertung der Hypothesen ergibt das folgende Ergebnis: Tabelle 29: Auswertung der Haupthypothese V Hypothesen zum Erleben und zur Förderung von Verstehbarkeit Personen N Haupthypothese V: Erleben und Förderung von Verstehbarkeit während der Jakobuswanderung trifft zu Wirkungsfaktoren: Hypothese V1: Erfahrung von Verstehbarkeit bzw. Konsistenz auf der Jakobuswande- rung (hypothesengerichtete Fragen 6, 7, 9) durch: Hypothese V1.1: Ereignisse, die das Erleben von Vorhersehbarkeit, Ordnung und Konsistenz unterbrechen (hypothesengerichtete Frage 6) und Hypothese V1.2: Ausgleich von Unverstehbarkeit mit Erfahrungen der Transparenz und Konsistenz (hypothesengerichtete Fragen 7, 9) durch: - Planung und Organisation (während bzw. vor der Wanderung) - Tagesstruktur und sich wiederholende Abläufe und Rituale - Ausgleich von Unverstehbarkeiten durch Zuversicht in vorhandene Ressourcen bzw. durch die Orientierung an anderen Hypothese V2: Verstehbarkeit innerhalb der Begegnung zwischen Mitarbeitenden und den übrigen Gruppenmitgliedern (hypothesengerichtete Frage 8) (offene Frage 4) A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K A, C, D, F, G, H, J, K A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K A, B, C, D, E, F, G, K C, I, J B, G, H, J A, B, C, D, E, F, G, H, I, K A, B, C, D, E, F, G, H, K C, I 11 11 8 11 8 3 4 10 9 2 Fortsetzung 211 Fortsetzung Tabelle 29: Auswertung der Haupthypothese V Hypothesen zum Erleben und zur Förderung von Verstehbarkeit Personen N Wirkungsfaktoren: Hypothese V3: Zugewinn an Wissen und Kenntnissen (hypothesengerichtete Frage 10) A, B, C, D, E, F, H, I, J, K 10 Hypothese HW1 (Verstehbarkeit) trifft zu, denn neue Informationen oder unerwartete Situationen werden besser verstanden, Zusammenhänge können deutlicher erkannt werden und das vorausschauen- de Denken hat sich verbessert (z. B. durch Erfahrungen der Beständigkeit, der Transparenz und durch den Gewinn an Wissen) (hypothesengerichtete Frage 20b). A, C, D, E, F, H, J, K 8 Zusammenfassend lassen die Ergebnisse die Bestätigung der Hypothese V zu. Am deutlichsten stimmen die Teilnehmenden der Annahme V1 zu, dass auf der Wande- rung mögliches Erleben von Unvorhersehbarkeit durch Erfahrungen von Transparenz und Konsistenz ausgeglichen wird. Diese Hypothese wird von allen Teilnehmenden befürwor- tet. Bei der schrittweisen Untersuchung dieser Annahme zeigt sich, dass acht Teilnehmen- de das Vorkommen an verwirrenden Situationen im Sinne der Teilhypothese V1.1 befür- worten und für diese Ereignisse Beispiele nennen. Diese Beispiele lassen sich in die von Antonovsky definierten Stressortypen akute tägliche Widrigkeiten bzw. Vergnügen oder in Stress-Lebensereignisse gliedern. Bei der von der Autorin vorgenommenen Zuordnung der Ereignisse zu den Stressortypen dominieren akute tägliche Widrigkeiten bzw. Vergnügen, die von sechs Personen genannt werden. Beispiele für Stress-Lebensereignisse werden von vier Personen genannt. Sowohl akute tägliche Widrigkeiten als auch Stress-Lebensereignisse sorgten für Anspan- nung, die zur Gesundheitsförderung unter Einsatz internaler oder externaler Widerstands- ressourcen bewältigt werden musste. Die Teilnahme an der Jakobuswanderung bietet daher die Chance zum Training des Span- nungsmanagements und potenziert durch die aktive Bewältigung von Anforderungen Wi- derstandsressourcen im Bereich der SOC-Komponente Verstehbarkeit. Die Hypothese V1 wird von neun Personen dahingehend bestätigt, dass Planung, Organisa- tion, Struktur, Rituale und andere konsistenzfördernde Elemente bei Situationen der Un- verstehbarkeit ausgleichend wirken. Als weiterer stabilisierender Faktor im Sinne der Hypothese V1, der jedoch in der Formulierung der Annahme nicht explizit aufgeführt 212 wird, tritt die Zuversicht in vorhandene (insbesondere externale) Ressourcen hervor. Dieser Aspekt wird von 4 Personen benannt. Der Ausgleich oder die Klärung unverstehbarer Situationen geschieht also maßgeblich durch diese drei Hauptfaktoren: - Ausgleich von Unverstehbarkeit durch Erfahrung von Konsistenz und Transparenz (z.B. Planung, Organisation, Rituale, Struktur usw.), - aktive Bewältigung unverstehbarer Situationen mit internalen respektive externalen Widerstandsressourcen, - Orientierung an anderen Teilnehmenden bzw. Zuversicht in die Ressourcen anderer. Widerstandsressourcen im Bereich der SOC-Komponente Verstehbarkeit können in diesem Kontext aufgrund der folgenden Beobachtungen erwartet werden: Trotz zahlreicher Erfahrungen von Unvorhersehbarkeiten zeigt der starke Zuspruch der Teilhypothese V1.2, dass auf der Wanderung das Erleben von Verstehbarkeit durch aus- gleichende Ressourcen dominierte. Diese Erfahrung kann den Teilnehmenden als basale Widerstandsressource im Alltag zu Gute kommen. Sie spiegelt sich bei vier Befragten in der verstärkten Zuversicht wider, dass sich bei auftretenden äußeren und inneren Stimuli die physikalische sowie soziale Umwelt nicht im Wesentlichen verändert und dass unver- stehbare Dinge richtig eingeordnet werden können. Konkret gehen aus den Aussagen dieser Personen die folgenden therapeutischen Effekte hervor: - mehr Zuversicht in die Konsistenz von Beziehungen (z. B. Person C: „trotz Unstimmig- keiten mehr Zuversicht in die Beständigkeit der Gruppe“), - mehr Durchhaltevermögen und Zuversicht in das Gelingen geplanter Aktivitäten, - mehr Zuversicht in die Verstehbarkeit neuer Situationen und dadurch mehr Mut, sich neuen Situationen zu stellen. Weitere therapeutische Effekte sind vorwiegend auf die aktive Bewältigung unvorherseh- barer Ereignisse zurückzuführen. Sie stellen sich hauptsächlich wie folgt dar: 213 - verbesserter Umgang mit unerwarteten Ereignissen durch Anstieg an Flexibilität, ver- besserte Korrekturfähigkeit, mehr Akzeptanz von Misserfolgen und der Fähigkeit zur Beruhigung, - mehr Selbstsicherheit, - mehr Widerstandsressourcen durch jahrelange Bewältigung immer komplexerer Anfor- derungen. Für die Diskussion der Hypothese V1 bedeutet das, dass auf der Jakobuswanderung nicht nur ein permanentes Erleben eines Ausgleiches zwischen Unverstehbarkeit und Konsistenz und Transparenz für Widerstandsressourcen im Alltag sorgt, sondern auch die aktive Be- wältigung unverstehbarer Situationen unter Einsatz internaler bzw. externaler Ressourcen. Im Hinblick auf die Annahmen zur Verstehbarkeit innerhalb der Begegnung zwischen den Patientinnen und Patienten und dem therapeutischen Team lässt sich sagen, dass die ent- sprechende Hypothese V2 von 10 Teilnehmenden befürwortet wird. Fast alle Befragten erlebten demnach die Begegnung mit dem multiprofessionellen Team grundsätzlich als verstehbar. Zwar werden insbesondere bei erstmaliger Teilnahme leichte Irritationen im Kontakt ange- geben, so dass deutlich wird, dass neue Teilnehmende mehr Unterstützung brauchen. Grundsätzlich werden diese Unsicherheiten nicht als schädigend für die Zusammenarbeit oder für den Gesundungsprozess bewertet. Im Vordergrund der Aussagen steht eine ver- stehbarkeitsfördernde Arbeitsweise der Mitarbeitenden, die hauptsächlich durch die fol- genden Charakteristika gekennzeichnet ist: - Transparenz / Verstehbarkeit der Rollenverteilung bzw. des Kontaktes, - Vermittlung transparenter Botschaften (insbesondere im Hinblick auf Regeln der Zu- sammenarbeit), - Wahrung von Distanz, trotz eines freundlichen Kontaktes, - Erfahrung von Vorhersehbarkeit und Konsistenz innerhalb der therapeutischen Bezie- hung, - Vermittlung der Zuversicht an die Teilnehmenden, dass Missverständnisse oder Un- klarheiten in der therapeutischen Begegnung geklärt werden können. 214 Die Untersuchung von Hypothese V3 ergibt, dass aus der Sicht von 10 Befragten der Er- werb neuer Kenntnisse auf der Jakobuswanderung möglich ist. Dabei bestätigen vier Per- sonen bewusst, dass sie zukünftig durch neue Kenntnisse neue Situationen besser verstehen werden. Von ihnen macht eine Person ihre Aufnahmefähigkeit vom aktuellen Gesundungs- status abhängig. Bei den ermittelten Wissensgebieten dominieren die Kategorie „Kenntnisse und Wissen im Bereich sozialer Kompetenzen“ und Kategorien, die sich mehr in intellektuellen Wissens- bereichen bewegen. Bei einer etwa gleichstarken Verteilung der Personenanzahl auf beiden Gebieten fällt aber auf, dass im Bereich sozialer Kompetenzen nahezu doppelt so viele Kenntnisse aufgezählt werden, wie im Bereich des intellektuellen Wissens. Dabei zeigen einzelne Teilnehmende intensive Entwicklungen im zwischenmenschlichen Umgang auf. Daher wird die Hypothese aufgestellt, dass sich eine Jakobuswanderung mit einer Gruppe - trotz der historischen und kulturellen Größe des Wanderweges - eher als ein Training sozi- aler Kompetenzen, denn als Bildung auf kultureller Ebene erweist. In der Kategorie „Kenntnisse und Wissen im Bereich sozialer Kompetenzen“ dominieren: - Kenntnisse und Wissen, die den zwischenmenschlichen Umgang verstehbarer machen, - die Verstehbarkeit von Emotionen, - Kenntnisse in der verbalen Kommunikation, - mehr Verstehbarkeit im Umgang mit Nähe und Distanz, - Wissen über die Auswirkung von Distanz auf das eigene Wohlbefinden. Unterstützt wird dieser Wissenserwerb am deutlichsten durch die Gruppe. Im Bereich des intellektuellen Wissens treten die Kategorien: - Zuwachs von Kenntnissen auf kultureller Ebene, - Wissen über Botanik, - Wissen über das Wandern, - Wissen und Kenntnisse zum persönlichen Leistungsvermögen in den Vordergrund. Dabei ist das Wandern der von der Personenanzahl am stärksten besetzte und insgesamt der deutlichste wissensvermittelnde Faktor. Das Wandern fördert intellektuelle und logisti- sche Kenntnisse und schult die Verstehbarkeit des persönlichen Leistungsvermögens. 215 Der Erwerb von Wissen im kulturellen bzw. botanischen Bereich basiert auf den Ressour- cen, die das Land und die Natur bieten, durch die der Jakobusweg aktuell führt. Ob der Wissenserwerb durch die Gruppe, die Mitarbeitenden oder durch das persönliche Interesse gefördert wird, kann den Ergebnissen nicht entnommen werden. Tatsache ist jedoch, dass die Ressourcen des mittelalterlichen Pilgerweges Einfluss auf die Bildung einzelner Teil- nehmender genommen haben. Bei der Auswertung der abschließenden Fragestellung stellt sich das Folgende heraus: Während die Ergebnisse der Teilhypothesen dafür sprechen, dass alle Wanderinnen und Wanderer Widerstandsressourcen im Bereich der Verstehbarkeit gewonnen haben, zeigt sich bei der Konfrontation der Teilnehmenden mit der abschließenden Fragestellung, dass nur acht Befragte diesem Gewinn zustimmen. Eine Person (B) verneint diesen Punkt, Per- son I geht auf Frage 20b nicht ein, sondern bezieht sich direkt auf den Teil der Fragestel- lung, der sich mit den Ressourcen im Bereich Handhabbarkeit sowie Bedeutsamkeit be- schäftigt. Person G wurde nur die abschließende Fragestellung im Bereich Bedeutsamkeit gestellt. Eine wesentliche Beobachtung bei den Ergebnissen zur abschließenden Fragestellung ist, dass bei allen (vier) Teilnehmenden, die die Hypothese HW1 (Verstehbarkeit) mit Beispie- len und Argumenten untermauern, eine verstärkte Motivation zum Engagement auf unter- schiedlichen Ebenen zu sehen ist. Deutlich wird auch, dass diese Motivation und der Mut, sich Anforderungen zu stellen, aus der Bewältigung unverstehbarer Situationen resultiert. 216 10.2 Auswertung der Hypothesen zum Erleben und zur Förderung von Handhabbarkeit 10.2.1 Zugewinn an persönlichen Widerstandsressourcen zur Belastungsbalance Erste Hinweise für das Erleben und die Förderung von Handhabbarkeit zeigen sich schon bei den Ergebnissen zu Fragen 3a-3b. Dort wurde erforscht, ob sich die Teilnahme an einer Jakobuswanderung auf den Gesundungsprozess psychisch kranker Menschen auswirkt und welche Faktoren dabei zum Tragen kommen. Es wird deutlich, dass alle Personen gesun- dungsfördernde Aspekte nennen, die sich in dem Bereich Handhabbarkeit bewegen, denn bei den Aussagen handelt es sich wechselweise bzw. gleichzeitig um: - Ressourcen zur Belastungsbalance, - Erleben von Spannungsbewältigung / Entspannung, - Erleben von Handhabbarkeit problematischer Situationen durch Einsatz internaler oder externaler Widerstandsressourcen, - internale oder externale Ressourcen zur Handhabe von Situationen / Anforderungen, - Rahmenbedingungen die die Handhabe von Anforderungen fördern. Diese Charakteristika wurden als Kodierregeln genutzt, um aus den Antworten zu den Fra- gen 3a-3b handhabbarkeitsfördernde Faktoren zu erfassen. Tabelle 30 zeigt dazu die Ergebnisse: Tabelle 30: Erleben und Förderung von Handhabbarkeit während der Wanderung Selektionskriterium Kategorien Personen N Gesundungsfördernde Fakto- ren im Bereich der Hand- habbarkeit (Fragen 3a u. 3b) Soziale Faktoren Positive Umgangsweise, die durch Grup- penbindung, Gruppenregeln und gemeinsa- mes Projekt bestimmt wird.: - Rücksichtnahme - Sprache - Zurückstellen persönlicher Interessen für die Gruppe A, B, C, E, F, G, J A 7 Fortsetzung 217 Fortsetzung Tabelle 30: Erleben und Förderung von Handhabbarkeit während der Wanderung Selektionskriterium Kategorien Personen N Intensive Gespräche, verbaler Austausch, Kommunikation, z.B. Gespräche über Krankheit Aktivität in einer Gemeinschaft Gründe: - Zusammensein mit anderen Menschen unterbricht ständiges Grübeln - Bewältigung körperlicher Herausforde- rung in Gruppe ange- nehm/gesundungsfördernd Training von Kontaktfertigkeiten: - sich auf andere einlassen - sich schwierigen Kontakten stellen Durchmischung der Krankheitsbilder, da- durch: - gegenseitige Ergänzung - gegenseitige Beratung - Geben und Nehmen - gegenseitige Unterstützung Wertschätzung des persönlichen Gesundungsstatus bei Vergleich mit anderen Teilnehmenden B, C, G B E, F E F F J J Gesundungsfördernde Fakto- ren im Bereich der Hand- habbarkeit (Fragen 3a u. 3b) Wandern/Bewegung Gründe: - Wandern beruhigt - körperliche Anstrengung befreit bzw. Sorgen ablaufen - Laufen, Frische Luft, kein Stress - Laufen, um Gedanken treiben zu lassen - Bewältigung körperlicher Herausforde- rung stärkt Zuversicht in Bewältigung anderer Anforderungen - Ausschüttung von Endorphinen wie beim Konditionssport - Freisetzung von Kräften beim Wandern - Verbesserung von Kondition und Fitness - Optimale Dosierung der Wanderung B, C, F, G, I, K C K K K F G K I I 6 Fortsetzung 218 Fortsetzung Tabelle 30: Erleben und Förderung von Handhabbarkeit während der Wanderung Selektionskriterium Kategorien Personen N Stress minimierende Faktoren Zur Ruhe kommen Weniger Stress als im Alltag Abschalten, geistige Erholung durch: - höhere Ablenkung als in Klinik mit A- kutkranken, weil Teilnehmende an Jako- buswanderung fitter sind und mehr er- zählen - Wirkung von Natur genießen - Ortswechsel - Hier und Jetzt genießen - sich auf Weg einlassen, statt reden Verantwortung abgeben, fallen lassen Mit Ressourcen haushalten B, E, I, K E B B, E, I, K E E E K K B K 4 Gewinn an Widerstandsressourcen: - Selbständigkeit im Umgang mit Geld und Einkaufen im fremden Land - durch Jakobuspilger, Gemeinschaft Kon- taktfertigkeit erfahren - Erfahrungen im Alltag anwenden - Erfolgreiche Bewältigung der Wande- rung bzw. der Anforderungen in Frank- reich, weil: - Zuversicht in Bewältigung anderer Träume/größerer Anforderungen - Motivation, sich Anforderungen des Lebens zu stellen - Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen D, E, H E H H D 3 Gesundungsfördernde Fakto- ren im Bereich der Hand- habbarkeit (Fragen 3a u. 3b) Jakobusweg als Therapie verstehen: - Konzentration auf Weg statt auf Proble- me - Reflexion des begangenen Weges - soziales Umfeld registriert therapeuti- schen Erfolg - Humor zurückgewinnen - Gesundung wird erarbeitet D, K D D D D K 2 Fortsetzung 219 Fortsetzung Tabelle 30: Erleben und Förderung von Handhabbarkeit während der Wanderung Selektionskriterium Kategorien Personen N Distanz zum Alltag: Beispiele: - Distanz zum Wohnort - Distanz zu Menschen, die man sonst sieht - im Ausland sein Auswirkungen: - wohlige Erschöpfung, die in Klinik oder Alltag noch nicht erlebt wurde - Abschwächung von Druck und Unruhe - kein Gedankenrasen mehr - Zunahme des gedanklichen Abstandes B, E, G B B G E 3 Übertragung von Metaphern, Symbolik, in den Alltag: - bei Schwierigkeiten Weg Stein für Stein bewältigen - Weg Schritt für Schritt bewältigen H, K H K 2 Positiver Ausgang vorher pessimistisch eingeschätzter Situationen wirkt gegen Mechanismus: aus Angst vor Manie keine Freude zuzulassen J 1 Gesundungsfördernde Fakto- ren im Bereich der Hand- habbarkeit (Fragen 3a u. 3b) Ablenkung von Krankheit B 1 So kann schon bei den offenen Fragen 3a-3b die Haupthypothese H darin gestützt werden, dass auf der Jakobuswanderung das Erleben von Handhabbarkeit möglich ist (s. Tabelle 30). Dabei dominiert die Kategorie „Soziale Faktoren“ (7 Personen) mit pragmatischen Aspekten zur Handhabe des zwischenmenschlichen Umgangs und der Erkrankung mit der Kategorie „Wandern / Bewegung“ (6 Personen). Kurz dahinter steht die Kategorie „Stess minimierende Faktoren“ (4 Personen), die aufzeigt, wie die Teilnehmenden durch entlas- tende Elemente ihre Belastungsbalance wiedererlangt haben. Auch zum Nutzen dieses Er- lebens im Alltag werden erste Trends sichtbar wie beispielsweise die Hauptkategorien „Gewinn an Widerstandsressourcen“, „Übertragung von Metaphern und Symbolik in den Alltag“ (zur Handhabbarkeit von Anforderungen) oder „Training von Kontaktfertigkeiten“ zeigen. Darüber hinaus ist dem salutogenetischen Modell nach zu erwarten, dass das Erle- ben von Handhabbarkeit an sich als Widerstandsressource integriert wird, die im Alltag gesundungsfördernd wirkt. 220 Die Hypothese H1 vertieft die Untersuchung zum Gewinn persönlicher Widerstandsres- sourcen im Bereich von Handhabbarkeit und stellt dazu das Folgende zur Diskussion: Hypothese H1: Auf der Jakobuswanderung werden persönliche/internale Widerstandsressourcen hinzugewonnen, die auch nach der Wanderung zur Belastungsbalance aktivierbar sind, sobald innere und äußere Stimuli für Spannungszustände sorgen. Frage 11 erforscht diese Hypothese: „Konnten Sie auf der Wanderung neue Möglichkeiten entdecken, die Ihnen dabei helfen, Spannungszustände auch im Alltag (bei Problemen, Konflikten, Krankheit oder anderen Anforderungen des Lebens) besser bewältigen zu können? Wenn ja, welche?“ Die Auswertung der Frage zeigt die folgenden Ergebnisse: Tabelle 31: Auswertung der Hypothese H1 Selektionskriterium Kategorien Personen N Bewältigung von Anforderungen bzw. Anforderungen bewältigen: - trotz möglicher Spannungen - in Ruhe, sonst kein klarer Gedanke mög- lich - in kleinen Schritten/ steinigen Weg Schritt für Schritt bewältigen - mit persönlichen Ressourcen, z. B.: - persönliche Rituale schaffen - sich etwas Eigenes geschaffen D, H, J, K D, K D, H D, H, J K 4 Hypothese H1: Erwerb persönlicher/ interna- ler Ressourcen, die im Alltag zur Belastungsbalance akti- viert werden können Spannungsbewältigung mit positiven Au- tosuggestionen Beispiele: - Entspannung durch Erinnerungen an Landschaft bzw. durch Landschaftsauf- nahmen und ruhige Musik - Autosuggestionen gegen Herzklopfen und Unruhe - bei Zweifel 16 km zu schaffen, sich vom Weg abgelenkt, Umgebung angeschaut oder unterhalten B, E, F, H E F H 4 Fortsetzung 221 Fortsetzung Tabelle 31: Auswertung der Hypothese H1 Selektionskriterium Kategorien Personen N - Erinnerung an: - (überdauernde) Kräftigung - Ruhe - Geborgenheit, die, durch Teilen des Zimmers mit jemanden bzw. Integrati- on in die Gemeinschaft bewirkt wurde B Ressourcen im zwischenmenschlichen Umgang Beispiele: - sich in andere Menschen hineinversetzen - von seiner Meinung abrücken - offener, flexibler - mehr Verständnis für die Handlungswei- sen anderer, statt Schuldzuweisung - Verständnis für andere Sichtweisen - trotz Vorurteile ins Gespräch kommen - auf Leute zugehen und sie kennen lernen - nicht ausschließlich nach erstem Ein- druck bewerten - Eigenarten und Einzigartigkeiten wahr- nehmen, ohne Urteil zu fällen - Ausmaß der Konfrontation selbst bestimmen - positiver Umgang mit Nähe und Distanz A, F, K A A A A F F F F F F K 3 Rechtzeitig handeln: - über Probleme sprechen - Meinung sagen/Kritik äußern - statt Selbstüberschätzung rechtzeitig auf Ressourcen anderer zurückgreifen D, J D D J 2 Schneller Abschluss unangenehmer Er- eignisse A, D 2 Flexibler im Einsatz von Lösungs- Strategien A 1 Aktiv sein: - Sport treiben - aktiv sein im Freundes- und Bekannten- kreis G 1 Erfahrung positiver Spannung B 1 Zuversicht in Unterstützung durch Mit- arbeitende J 1 Hypothese H1: Erwerb persönlicher/ interna- ler Ressourcen, die im Alltag zur Belastungsbalance akti- viert werden können Wenig Ressourcen zur Belastungsbalance bei Krankheit erworben B 1 Fortsetzung 222 Fortsetzung Tabelle 31: Auswertung der Hypothese H1 Selektionskriterium Kategorien Personen N Hypothese H1: Erwerb Persönlicher/ inter- naler Ressourcen, die im Alltag zur Belastungsbalance aktiviert werden können Keine Ressourcen zur Belastungsbalance erworben, z. B. weil im Alltag Schwierigkeiten, Span- nungszustände nicht vordergründig C, I 2 Frage 11 wurde von allen Teilnehmenden beantwortet (s. Tabelle 31). Neun Befragte geben an, Ressourcen zur Belastungsbalance erworben zu haben. Für zwei Personen (C, I) ist der Erwerb von Widerstandsressourcen in diesem Bereich kein Thema, da für sie Spannungszustände im Alltag generell keine große Rolle spielen. Die Ergebnisse zeigen, dass auf der Wanderung eine Vielfalt an internalen Ressourcen zur Bewältigung von Spannung erworben wurde. Für vier Personen (D, H, J u. K) beginnt der Weg zur Belastungsbalance zukünftig offen- bar nicht nur im Einsatz neuer Alternativen der Problemlösung, sondern schon in dem An- gehen von Anforderungen an sich. Aus ihren Angaben wurde die Kategorie „Anforderun- gen bewältigen“ gebildet, die als eine Widerstandsressource zur Spannungsauflösung zu verstehen ist. Personen D und K gewinnen darüber hinaus die für ein erfolgreiches Coping elementare Erkenntnis, dass der Weg zur Belastungsbalance über die Bewältigung von Anforderungen „trotz möglicher Spannungen“ führt. Es zeigt sich also eine veränderte Bewertung von Spannung. Spannung oder Stressoren werden von mindestens diesen zwei Personen nicht mehr als derart bedrohlich aufgefasst, dass sie einen Menschen von der Bewältigung einer schwierigen Situation abhalten könnten. Spannung wird als ein Bestandteil des Copingpro- zesses begriffen. Innerhalb dieser ersten Kategorie „Anforderungen bewältigen“ wird außerdem deutlich, wie sich die körperliche Bewältigung einer schwierigen, steinigen Wegstrecke auf das Problemlösungsverhalten im Alltag auswirken kann. Anforderungen „in Ruhe“, „Schritt für Schritt“ bewältigen, lautet die Devise von Personen D, H und J. Eine Erfahrung, die diese Teilnehmenden mit dem Wandern gesammelt haben und die im Übrigen schon bei den offenen Fragen 3a-3b durch Personen H und K zur Sprache kam, ist demnach, dass schwierige Ziele zwar mit kleinen Schritten, aber generell erreicht werden 223 können. Mit dieser Erfahrung als Widerstandsressource wächst dem salutogenetischen Modell nach ihr Mut, sich zukünftig an große Aufgaben heranzuwagen. Neben der verstärkten Zuversicht in die Handhabbarkeit von Anforderungen ist wahr- scheinlich, dass eine Person, die körperlich erlebt hat, dass große Ziele in Ruhe, Schritt für Schritt erreicht werden können, ebenso wichtige Erkenntnisse für ihr Planungs- und Bilan- zierungsverhalten im Alltag gewonnen hat. Sie weiß nun nicht nur theoretisch, dass lang- fristige Zielsetzungen überlegtes, möglicherweise kleinschrittiges Vorgehen erfordern, sie hat auch praktisch erfahren, dass die Einteilung der Energie und die Wahl eines angemes- senen Tempos im Verhältnis zur Größe der Anforderung steht. Überstürztes Handeln führt zu Chaos (siehe Personen D u. H: „in Ruhe, sonst kein klarer Gedanke möglich“). Die Erkenntnis, dass der Umgang mit Aufgaben u.a. in Beziehung zum Faktor Zeit steht, findet sich auch an einer anderen Stelle wieder. Die Teilnehmenden D und J erkannten ihren Weg zur Belastungsbalance im „rechtzeitigen“ Handeln. Ihren Aussagen nach geht es hierbei um die rechtzeitige Entlastung, indem beispielsweise über Probleme gesprochen wird oder indem „statt Selbstüberschätzung, rechtzeitig auf Ressourcen anderer“ zurück- gegriffen wird. An einer anderen Stelle sprechen die Teilnehmenden A und D von dem „schnellen Abschluss unangenehmer Ereignisse“ als Möglichkeit zur Belastungsbalance. Sie haben mit anderen Worten für sich herausgefunden, dass es wichtig ist, sich zur rechten Zeit von paralysierenden Emotionen abzuwenden, bevor diese zur gesundungsschädigen- den Spannung führen. Deutlich wird also ein möglicherweise neu definierter Umgang mit Anforderungen, der einen starken Bezug zum Begriff Zeit oder Tempo hat. Spürbar wird auch die Entwicklung eines Gefühls für eine adäquate Dosierung von Belastung und Entlastung. Sowohl aus den bisher diskutierten Aussagen der Befragten als auch aus den nachfolgen- den Kategorien geht eine Haltung hervor, die Mut und Willen zur konstruktiven Bewälti- gung von Problemen aufweist. Die Teilnehmenden benennen viele neue Widerstandsres- sourcen, die Eigeninitiative und Aktivität ausdrücken. Dafür sprechen Nennungen wie z. B. „Spannungsbewältigung mit positiven Autosuggestionen“, „Rechtzeitig handeln“, „ak- tiv sein“ usw.. Es zeigt sich, dass die Teilnehmenden viele persönliche Fertigkeiten zur Belastungsbalance erworben haben. Bei ihren Angaben dominieren Wege zur Selbsthilfe und nicht, wie es sich beispielsweise in den Ergebnissen zur Verstehbarkeit herausstellte, die Zuversicht in 224 externale Ressourcen. Bei den aufgezählten Werkzeugen zur Handhabe von Spannung treten unter anderem positive Autosuggestionen in den Vordergrund. Dabei handelt es sich beispielsweise laut Person E um Erinnerungen an Landschaften. Person B erinnert sich an Gefühle und Zustände wie Geborgenheit und Ruhe, um zu entspannen. Person H denkt in schwierigen Situationen an Techniken, die während der Wanderung die Bewältigung gro- ßer Anforderungen ermöglichten (siehe: „bei Zweifel 16 km zu schaffen, sich vom Weg abgelenkt, Umgebung angeschaut oder unterhalten“). Neben den starken Eindrücken und Erfahrungen, die im Alltag in Form von Erinnerungen als Widerstandressourcen zur Geltung kommen, benennen die Teilnehmenden A, F und K auch Fertigkeiten, die sie bei der Beziehungsgestaltung mit anderen Menschen nutzen möchten. Flexibilität, Eigeninitiative und Beweglichkeit sind Schlagworte, die aus der Untersuchung der Kategorie „Ressourcen im zwischenmenschlichen Umgang“ resultieren. Alle Beispiele, die bei dieser Kategorie aufgezählt wurden, sprechen dafür, dass die Jakobuswanderung 2001 insbesondere für Personen A, F, und K offenbar ein intensives Training sozialer Kompetenzen war. Dabei haben sie erfahren, wie sich die Interaktion mit anderen Men- schen konstruktiv und damit gesundungsfördernd gestalten lässt. Nach der Auseinandersetzung mit den Angaben der Befragten lässt sich abschließend sa- gen, dass diese im Sinne Antonovskys Verstehen von Coping folgende wesentliche Aspekte erkannt haben: Es wurde erstens von mindestens 4 Teilnehmenden verstanden, dass ein Weg zur Belas- tungsbalance die Bewältigung von Anforderungen sein kann. Auf diesem Weg können Spannungen entstehen. Diese Spannungen gehören zum Coping-Prozess, müssen sich je- doch nicht gesundungsschädigend auswirken. Spannungen und Stressoren haben bei eini- gen Teilnehmenden an Bedrohlichkeit verloren. Entscheidender wurde für sie die Bewälti- gung der Dinge, also die Konzentration auf den instrumentellen Teil des Problems. Aus salutogenetischer Sicht ist die Konzentration auf die instrumentelle Seite des Problems die gesundungsfördernde Alternative zu dem Verharren auf dem lähmenden emotionalen Teil. Bei der Aufzählung der individuellen Widerstandsressourcen treten als Schwerpunkte - neben der Einsicht, dass das Bewältigen von Anforderungen zur Belastungsbalance gehört - die Kategorien: „Spannungsbewältigung mit positiven Autosuggestionen“ und „Ressour- 225 cen im zwischenmenschlichen Umgang“ deutlich in den Vordergrund. Alle genannten Wi- derstandsressourcen stellen persönliche Fertigkeiten dar, die zur selbständigen Handhabe von schwierigen Situationen gebraucht werden. Dadurch entsteht der Eindruck, dass insge- samt die Zuversicht in die internalen Widerstandsressourcen gestiegen ist. Nur eine Person (J) benennt die „Zuversicht in die Unterstützung durch Mitarbeitende“ als ihre externale Ressource zur Spannungsbewältigung. Die gewachsene Bereitschaft zur Eigeninitiative und das Vertrauen in die persönlichen Fertigkeiten wurden auch durch die erfolgreiche Körper– und Bewegungserfahrung unter- stützt, denn die dahingehenden Erlebnisse führten bei einigen Befragten zu beeindrucken- den Veränderungen im Hinblick auf: - ihren Mut, sich Anforderungen des Lebens zu stellen, - ihre Wege der Problemlösung, - ihr Planungs- und Bilanzierungsverhalten, und schließlich in Bezug auf ihr gesamtes Copingverstehen und -verhalten. Im Hinblick auf die Hypothese H1 bestätigen die Ergebnisse zur Frage 11, dass auf der Jakobuswanderung wertvolle internale Widerstandressourcen zur Handhabe von Span- nungssituationen gewonnen werden. 10.2.2 Stärkung der Zuversicht in die Handhabbarkeit von Anforderungen während der Wanderung Die Hypothesen H2 und H3 beschäftigen sich mit möglichen Zusammenhängen zwischen dem Gefühl von Gemeinschaftlichkeit und dem Erleben von Handhabbarkeit während der Wanderung. Generell geht es um die Frage, ob die ständige Präsenz der Gruppe die Zuversicht in exter- nale Ressourcen stärkt. In der Auswertung wurde die Funktion der Gemeinschaft beim Erleben von Handhabbar- keit differenzierter untersucht. Folgende Fragen sollten dabei diskutiert werden: - Wurde bei Problemen auf die Ressourcen der Gemeinschaft zurückgegriffen? 226 - Wurden Einzelpersonen durch die Gruppe zum Einsatz persönlicher Widerstandsres- sourcen angeregt? - Hatte die Präsenz der Gemeinschaft einen entspannenden, beruhigenden Effekt? - Hatte die Gemeinschaft im Vergleich zu anderen Wirkungsfaktoren einen herausragen- den Stellenwert? Als bisherige hauptsächliche Wirkungsfaktoren, die aus Sicht der Teilnehmenden das Er- leben von Handhabbarkeit begünstigen, traten in den Antworten zu Fragen 3-3b „soziale Faktoren“ hervor - also Erfahrungen, Rahmenbedingungen und andere Gegebenheiten, die sich aus dem Zusammensein mit der Gruppe ergaben. Vor der Untersuchung der Funktion der Gemeinschaft im Erleben von Handhabbarkeit erfolgte als Zwischenschritt mit Frage 12 die Überprüfung der allgemeinen Zuversicht in die Handhabbarkeit von Anforderungen während der Wanderung. Die Hypothese H2 geht dabei von der folgenden Annahme aus: Hypothese H2: Das kontinuierliche Erleben, dass im Falle von Spannungszuständen, verursacht durch innere und/oder äußere Stimuli, genügend (externale) Ressourcen zur Verfü- gung stehen, um diese Stimuli handhaben zu können, stärkt auch die Zuversicht in die Handhabbarkeit von Situationen während der Wanderung. Basierend auf der Hypothese H2 vertieft Frage 12 die Untersuchung des Erlebens von Handhabbarkeit während der Wanderung wie folgt: „Konnte aus Ihrer Sicht für den Zeitraum der Wanderung die Zuversicht bestärkt werden, dass Anforderungen des Weges (jeglicher Art) lösbar sind?“ Die Antworten werden in Tabelle 32 dargestellt. 227 Tabelle 32: Auswertung der Hypothese H2 Selektionskriterium Kategorien Personen N Zuversicht in die Bewältigung von Anfor- derungen auf der Wanderung gegeben Unterstützende Faktoren: - Distanz von zu Hause - Zuversicht in Ressourcen anderer - erfolgreicher Einsatz persönlicher Res- sourcen im richtigen Moment A, B, C, D, E, F, G, H, I, J E J J 10 Hypothese H2: Zuversicht in die Bewälti- gung von Anforderungen der Wanderung Längerfristige Zuversicht in die Hand- habbarkeit, z. B. durch: - mehrmalige Teilnahme - Erarbeitung des Kohärenzgefühls E, G, H, I E G 4 Die Ergebnisse zeigen, dass zehn Personen für den Zeitraum der Wanderung Vertrauen in die Handhabbarkeit von Anforderungen hatten (s. Tabelle 32). Vier dieser Personen kön- nen sich sogar eine längerfristige Zuversicht vorstellen. Von Person K existieren an dieser Stelle keine Angaben. Person K nennt aber bei Frage 3a verschiedene Widerstandsressourcen, die sie während der Wanderung zur Handhabe von Anforderungen eingesetzt hat und die sich bestimmt auch als nützliche Hilfen im Alltag erweisen werden wie beispielsweise: „Übertragung von Metaphern/Symbolik in den Alltag z.B. Weg Schritt für Schritt bewältigen“. Person K spricht außerdem schon bei Frage 3a von der persönlichen Zuversicht in positive Auswirkungen der Wanderung auf den Gesun- dungsprozess. Daher ist wahrscheinlich, dass diese Person auch während der Wanderung Vertrauen in die Handhabbarkeit von Anforderungen hatte. Davon ausgehend, dass das Erleben von Handhabbarkeit nach dem salutogenetischen Mo- dell eine Erfahrung ist, die als Widerstandsressource integriert wird, lässt sich sagen, dass alle Befragten Widerstandsressourcen im Bereich Handhabbarkeit gewonnen haben. Die bewusste Wahrnehmung dieser Erfahrungen als Widerstandsressourcen im Alltag kann den bisherigen Aussagen nach nur vermutet werden. Genauere Erkenntnisse dazu sind bei der Diskussion der Hypothese H1 (s. Abschn. 10.2.1) und der abschließenden Fragestellung (s. Abschn. 10.2.5) zu finden. 228 10.2.3 Stärkung der Zuversicht in externale Ressourcen durch die Gemeinschaft Wie in Abschnitt 10.2.2 bereits eingeleitet wurde, möchte die Untersuchung erörtern, wel- che Rolle die Gruppe oder das Gefühl der Gemeinschaftlichkeit bei der allgemeinen Zu- versicht der Teilnehmenden in die Handhabbarkeit von Anforderungen spielte. Überprüft wird nun Hypothese H3: Hypothese H3: Insbesondere die sehr intensive Wahrnehmung von Gemeinschaftlichkeit stärkt die Zuversicht der Teilnehmenden in die Handhabbarkeit von Anforderungen des We- ges. Die Fragen 13-13c untersuchen die Hypothese H3. Um den Stellenwert der Gemeinschaftlichkeit im Vergleich zu anderen Wirkungsfaktoren zu ermitteln, lautet die Fragestellung wie folgt: „Welche Faktoren bestärken ein solches Vertrauen? (mehrere der folgenden Angaben mög- lich): 13a. ein starkes Gruppengefühl bzw. die Gemeinschaftlichkeit, die durch das gemeinsame Wandern entstanden ist? 13b. die Unterstützung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? 13c. andere Faktoren? Wenn ja: welche?“ 1. Auswertung der Frage 13a: Im Hinblick auf die Rolle der Gemeinschaft zeigt sich das folgende Ergebnis in Tabelle 33. 229 Tabelle 33: Auswertung der Hypothese H3 (Frage 13a) Selektionskriterium Kategorien Personen N Erleben von Handhabbarkeit durch die Gemeinschaft bzw. Gefühl der Gemein- schaftlichkeit trifft zu Wirkungsfaktoren: - enge soziale Kontakte - Zuversicht, dass Probleme in der Ge- meinschaft gelöst werden - Vertrauensverhältnis zwischen neuen und erfahrenen Wanderern - Möglichkeit, miteinander zu sprechen - nette Mitwanderer - Hinderung am Alleinsein mit Gedanken und Grübeln durch Gemeinschaft - öfter aus Gedanken herausgerissen als in Klinik - Möglichkeit, viele Erfahrungen zu sam- meln - wichtige positive Erfahrungen im sozia- len Bereich - Beziehungen zu Einzelnen aus der Grup- pe - Gruppendynamik als Motor, dem nichts entgegengesetzt werden kann - gute Gruppenzusammenstellung (Krank- heitszustand, Alter und Ressourcen, z. B. Universalwissen wichtig) - Gruppengefühl - gegenseitiges aufeinander Achten - viele Ressourcen durch Vielschichtigkeit, Vielseitigkeit der Gruppe - Möglichkeit von Nähe und Distanz an- stelle intensiver Verbrüderung - trotz unterschiedlicher Persönlichkeiten keine Spannungen A, C, E, F, G, H, J, K A A A C C E E G G J J J G K K K K 8 Erleben von Handhabbarkeit durch Ge- meinschaft trifft nicht zu B 1 Hypothese H3: Erleben von Handhabbarkeit durch die Gemeinschaft bzw. das Gefühl der Gemein- schaftlichkeit Erleben von Handhabbarkeit durch die Gemeinschaft trifft zu, wenn eigene Res- sourcen nicht ausreichen D 1 Schon bei den offen gestellten Fragen 3a-3b (s. Abschn. 9.3) wird ersichtlich, dass die so- zialen Faktoren, die als gesundungsfördernde Aspekte bewertet wurden, Elemente sind, die der SOC-Ebene Handhabbarkeit zugeordnet werden können. Dabei stellt sich heraus, dass die Gruppe die folgenden Ressourcen zur Belastungsbalance zur Verfügung stellt: - positive Umgangsweise (Person A), 230 - Aktivität in der Gemeinschaft als Ressource gegen ständiges Grübeln (Person E) und als externale Ressource, die die Bewältigung körperlicher Herausforderungen als ge- sundungsfördernd erleben lässt (Person F), - intensive Gespräche bzw. verbaler Austausch (Personen B, C u. G), - Training von Kontaktfertigkeiten (Person F), - Durchmischung von Krankheitsbildern und dadurch gegenseitige Ergänzung sowie Beratung, Geben und Nehmen, gegenseitige Unterstützung (Person J), - Wertschätzung des persönlichen Gesundungsstatus bei Vergleich mit anderen Teil- nehmenden (Person J). Insgesamt geben bei den offenen Fragen sieben Personen (A, B, C, E, F, G, J) diese sozia- len Faktoren an. Das Ergebnis der hypothesengerichteten Fragestellung (Frage 13-13c) zeigt, dass acht Be- fragte (Personen A, C, E, F, G, H, J u. K) durch die Gemeinschaft das Vertrauen in die Handhabbarkeit von Anforderungen des Weges gehabt haben (vgl. Tab. 10 s. Anhang). Die zustimmende Personengruppe entspricht fast der obigen bei den Fragen 3a-3b und wird durch die Teilnehmenden H und K sogar erweitert. Die genannten Wirkungsfaktoren der Gemeinschaft waren so individuell, dass bei der Auswertung eine Zusammenfassung zu Hauptkategorien kaum möglich war. Zu beobach- ten sind aber die folgenden verschiedenen Wirkungsmechanismen der Gruppe, die von den Teilnehmenden während der Wanderung wahrgenommen wurden: Durch ihre Präsenz als Pool externaler Widerstandsressourcen stärkt die Gruppe laut Per- son A die Zuversicht, dass Probleme gemeinsam gelöst werden können. Person D trifft mit ihrer Antwort den Kern der Hypothese H3. Aus ihrer Sicht tritt die Ge- meinschaft mit ihrer Vielfalt an externalen Widerstandsressourcen besonders dann in den Vordergrund, wenn persönliche Ressourcen zur Lösung von Problemen nicht mehr ausrei- chen. Es bleibt jedoch nicht nur bei der Funktion der Gemeinschaft als Ressourcenpool, der die Wanderer und Wanderinnen bei Bedarf versorgt. Die Gruppe bewegt Einzelne zu mehr Aktivität. Person J beschreibt diese Gruppendynamik eindrucksvoll als „Motor, dem nichts entgegengesetzt werden kann“. Den Aussagen von Person E folgend unterbrechen 231 gruppendynamische Prozesse das Grübeln und das Alleinsein mit Gedanken. Person E be- obachtete auch, öfter aus ihren Gedanken herausgerissen worden zu sein als in der Klinik. Die Angaben der Personen A und G sprechen darüber hinaus dafür, dass die Gruppe auf der Wanderung zur Aneignung neuer Widerstandsressourcen anregt. Das spiegelt sich in Nennungen wieder wie: „enge soziale Kontakte“, die Person A auf der Wanderung ge- knüpft hat und die ihr das Erleben von Handhabbarkeit vermittelten. Person G führt die „Möglichkeit, viele Erfahrungen zu sammeln“, insbesondere „wichtige positive Erfahrun- gen im sozialen Bereich“ als unterstützende Ressource der Gruppe auf, die das Vertrauen in die Handhabbarkeit von Situationen stärkt. Weitere Angaben weisen auf, dass die Gruppe auf der Wanderung als Trainingsfeld sozia- ler Kompetenzen genutzt wird und auf welchen Wegen das möglicherweise geschieht. Die Aussage von Person K: „gegenseitiges aufeinander Achten“, zeigt beispielsweise, dass eine Gemeinschaft zu mehr Umsicht und Verantwortungsübernahme bewegt. Dafür sprechen auch die von Personen A und G benannten neu geknüpften sozialen Kontakte oder die von Person G aufgeführten „wichtige(n) positive(n) Erfahrungen im sozialen Bereich“, auf die sie ihre Zuversicht in die Handhabbarkeit von Anforderungen zurückführen. Person K berührt in ihren Angaben zwei weitere Themen des Miteinanders, die während der Wanderung bearbeitet werden können. Gemeint ist der Umgang mit Nähe und Distanz, was sich in der Angabe „Möglichkeit von Nähe und Distanz, statt intensiver Verbrüde- rung“ wiederspiegelt, sowie das Thema Kooperation. Person K ist der Ansicht, dass das Vertrauen in die Handhabbarkeit auch durch die vielseitigen Ressourcen der Gruppe be- dingt werde. Demzufolge muss Person K während der Wanderung eine grundsätzliche Be- reitschaft der Gruppe zum Einsatz dieser Ressourcen, gegebenenfalls zur gemeinsamen Kooperation, wahrgenommen haben. Ein deutlicherer Hinweis für ein kooperatives Mit- einander innerhalb der Gruppe ist vor allem ihre Nennung: „trotz unterschiedlicher Persön- lichkeiten keine Spannungen“. Mit dieser Angabe rückt Person K ein Phänomen in den Vordergrund, das viele Teilnehmende nach einer Jakobuswanderung im Rahmen eines abschließenden Gruppengespräches herausstellen. Sie sind erstaunt über die gute Koopera- tion der Gruppe während der gesamten Reise, obwohl es sich um Menschen mit psychi- schen Problemen handelt. Dieses konstruktive Miteinander lässt auf eine ausgeprägte Mo- tivation zur Bewältigung zumindest dieser Teiletappe des Jakobusweges schließen. 232 Der Effekt auf die Gesundheit ist dabei, dass durch die optimale Kooperation das Vertrau- en in die externalen Ressourcen steigt. Es zeigt sich aber auch, dass diese Gruppendynamik Prozesse in Gang setzt, die die aktive Aneignung neuer internaler Ressourcen provoziert. Dementsprechend können die Wanderinnen und Wanderer durch die Gruppe positive Er- fahrungen und Hilfen für ihre Beziehungsgestaltung im Alltag gewinnen. Aus den Aussagen der Befragten geht weiter hervor, dass die Gruppe nicht nur diese akti- vierende Funktion hat, sondern, dass schon die bloße Präsenz der Gemeinschaft als ent- spannender, Zuversicht vermittelnder Faktor wirkt. Person G schöpfte ihre Zuversicht bei- spielsweise allein aus dem „Gruppengefühl“. Zu den eingangs formulierten Fragen hinsichtlich der Bedeutung der Gruppe im Erleben von Handhabbarkeit der oder des Einzelnen (s. Abschn. 10.2.2) lässt sich festhalten, dass mindestens eine Person (siehe Person D) erlebt hat, dass bei mangelnden eigenen Ressour- cen aufgetretene Schwierigkeiten mit Unterstützung der Gruppe gelöst wurden. Ferner lässt sich beobachten, dass während der Wanderung ein Bewusstsein für das Vorhanden- sein vieler unterschiedlicher Ressourcen präsent war, was Personen A, J und K direkt for- mulieren, während die anderen fünf Teilnehmenden (C, E, F, G, H) diese Zuversicht indi- rekt ansprechen durch die Aufzählung einzelner Ressourcen der Gemeinschaft. Die Antwort auf die Frage „Hatte die Präsenz der Gemeinschaft einen entspannenden, be- ruhigenden Effekt?“ ergibt sich aus den Angaben zuvor. Wenn durch die Gruppe ein Erle- ben von Handhabbarkeit aufgekommen war, dann wirkte sich diese Zuversicht aus saluto- genetischer Perspektive mit großer Wahrscheinlichkeit auch beruhigend aus. Darüber hin- aus sprechen die Befragten direkt Schlagworte an, die auf eine insgesamt beruhigende, angstlindernde Ausstrahlung der Gruppe hindeuten, so zum Beispiel „Zuversicht, dass Probleme in der Gemeinschaft gelöst werden“, „Vertrauensverhältnis zwischen neuen und erfahrenen Wanderern“, „Gruppengefühl“, „Gegenseitiges aufeinander Achten“ usw.. Zur Hypothese H3 kann somit gesagt werden, dass aus Sicht von acht Teilnehmenden das Vertrauen in die Handhabbarkeit durch die Gemeinschaft bestärkt wird. Zuzüglich der aus den Fragen 3a-3b resultierenden Ressourcen der Gemeinschaft zum Er- leben von Handhabbarkeit sind die nun ermittelten weiteren möglichen Wege, durch die die Effekte der Gemeinschaft zum Tragen kommen können: 233 - die Gruppe als Pool vielseitiger externaler Ressourcen, - die Gruppendynamik, die zum Einsatz und zur Aneignung individueller bzw. internaler Widerstandsressourcen anregt, - die Präsenz der Gruppe, die aus dem Alleinsein mit gesundungsschädigenden Gedan- ken herausreißt, - eine starke gemeinsame Motivation, die zur optimalen Kooperation unterschiedlicher Persönlichkeiten führt, wodurch das Vertrauen in die gemeinsame Lösung von Schwie- rigkeiten wächst und wodurch Ressourcen zur gesundungsfördernden Beziehungsges- taltung gewonnen werden können, - ein Gruppengefühl, das die Zuversicht in die Handhabbarkeit von Anforderungen stärkt. Offen bleibt noch die Frage, ob die Gemeinschaft im Vergleich zu anderen Wirkungsfakto- ren aus Sicht der Interviewten einen herausragenden Stellenwert einnimmt. Diesbezüglich folgt die Untersuchung der Rolle der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Wirkungsfaktoren im Erleben von Handhabbarkeit. 2. Auswertung der Frage 13b: Tabelle 34: Auswertung der Hypothese H3 (Frage 13b) Selektionskriterium Kategorien Personen N Erleben von Handhabbarkeit durch die Mitarbeitenden Erleben von Handhabbarkeit durch die Mitarbeitenden trifft zu Beispiele für Wirkungsfaktoren: - Mitarbeitende ermutigen zur Bewälti- gung neuer Herausforderungen Auswirkungen: - kein Verharren auf einer Stufe - Bewältigung vorher nicht zugetrauter Anforderungen C, D, E, F, G, I, J, K J 8 Fortsetzung 234 Fortsetzung Tabelle 34: Auswertung der Hypothese H3 (Frage 13b) Selektionskriterium Kategorien Personen N Beispiele für Wirkungsfaktoren: - toller Effekt - Möglichkeit, mit Menschen zu sprechen, die viel Lebenserfahrung haben und Tipps geben können - das Verhalten der Mitarbeitenden - auf dem Jakobusweg andere Beziehungs- ebene als im Krankenhaus, d. h.: - gut, dass alles mehr verschmilzt - nicht nur in der Patientenrolle wie im Krankenhaus - Beziehung gleichberechtigter, aber an- dere Aspekte spielen auch eine Rolle - weniger Distanz im Kontakt als in Kli- nik - Unterstützung bei beruflichen Dingen - Mitarbeiter merken, wenn es jemandem schlecht geht - Kontaktaufnahme, Ermutigung - Aufklärung von Missverständnissen - Anwesenheit der Betreuer - Anwesenheit des bekannten Psychologen - Mitarbeitende fördern das Erleben von Handhabbarkeit durch Unterstützung der Eigenverantwortlichkeit Beispiele: - trotz Hilfestellung sollten Aufgaben eigenverantwortlich übernommen werden - Mitarbeitende ziehen sich zurück, da- mit Teilnehmende selbständiger wer- den - der Einsatz von eigenen Ressourcen steht vor dem Rückgriff auf die Res- sourcen anderer - Aufgaben werden verbindlich über- nommen, bei Ausfall wird für Vertre- tung gesorgt J C E E, G G G G E F H H I K K D Erleben von Handhabbarkeit durch die Mitarbeitenden Erleben von Handhabbarkeit durch Mit- arbeitende trifft nicht zu B 1 Die Mitarbeitenden fördern aus Sicht von 8 Befragten verschiedentlich das Erleben von Handhabbarkeit (s. Tabelle 34). Ähnlich wie bei dem Wirkungsfaktor Gemeinschaft fun- gieren sie als allgegenwärtiger Pool an Ressourcen. Die Angaben von Person K zeigen, dass die bloße „Anwesenheit des bekannten Psychologen“ oder „die Anwesenheit der Be- 235 treuer“ die Zuversicht in die Handhabbarkeit von Schwierigkeiten stärken kann. Person C bewertet diesbezüglich die Möglichkeit des verbalen Austausches, also der Beratung durch Menschen mit viel Lebenserfahrung, als unterstützend. Insgesamt scheint auch die „ande- re“, weniger distanzierte Beziehungsebene auf der Wanderung bestärkende Effekte im Hinblick auf das Erleben von Handhabbarkeit zu haben, was aus den Angaben der Perso- nen G und E hervorgeht. Personen D und J stellen mit vielen Beispielen heraus, dass die Mitarbeitenden den Teil- nehmenden nicht nur als externale Widerstandsressource zur Verfügung stehen, sondern dass sie den Gewinn internaler Widerstandsressourcen durch die Ermutigung zur Bewälti- gung von Anforderungen fördern. Dabei zeigen vor allem die Ausführungen von Person D auf, dass es in der therapeutischen Arbeit um die Entwicklung von Eigenverantwortung, Selbständigkeit und auch Verbindlichkeit geht. Bei den Ausführungen zur Verstehbarkeit des Kontaktes zwischen den Teilnehmenden und den Mitarbeitenden wurde bereits deut- lich, dass diese therapeutischen Ziele der Gruppe klar vermittelt werden. Person J stellt jetzt die positiven Auswirkungen dieser Arbeit auf den therapeutischen Prozess durch Bei- spiele heraus wie: „kein Verharren auf einer Stufe“ oder die „Bewältigung vorher nicht zugetrauter Anforderungen“. Diese Nennungen sprechen eindeutig für den Gewinn an Wi- derstandsressourcen, den Person J als „tollen Effekt“ bewertet. Bei dem Wirkungsfaktor Mitarbeitende kommen ähnliche Mechanismen zum Tragen, wie sie bei dem Wirkungsfaktor Gemeinschaft ermittelt wurden. Das therapeutische Team hat darüber hinaus noch andere Potentiale, mit denen es die Zu- versicht der Teilnehmenden bestärken kann. Einzelne Ergebnisse sprechen dafür, dass die Präsenz der Professionen aus dem Bereich der Psychiatrie einen beruhigenden Einfluss hat. Die Nennungen von Person K „Anwesenheit eines bekannten Psychologen“ oder „die An- wesenheit der Betreuer“ wurden dazu bereits angeführt. Darüber hinaus können die Mitar- beitenden aus Sicht von Person I Missverständnisse aufklären. Sie können also eine Ge- fährdung der Wanderung durch einen Streit in der Gruppe verhindern, wenn die Ressour- cen der Gruppe zur Einigung oder zur Kooperation nicht mehr ausreichen. Das Wissen um diese Möglichkeit wirkt sich bestärkend auf die Zuversicht in die Handhabbarkeit von Schwierigkeiten aus. Zusammenfassend zeigt sich im Hinblick auf die Hypothese H3 unter der Berücksichti- gung der quantitativen und der qualitativen Merkmale, dass der Wirkungsfaktor Mitarbei- 236 tende aus Sicht der Befragten gegenüber dem Wirkungsfaktor Gemeinschaft keine min- derwertige Stellung einnimmt. Entsprechend spielt die Gemeinschaft den bisherigen Er- gebnissen nach zwar eine starke aber noch keine herausragende Rolle als Faktor, der die Zuversicht in die Handhabbarkeit von Anforderungen unterstützt. 3. Auswertung der Frage 13c: Tabelle 35: Auswertung der Hypothese H3 (Frage 13c) Selektionskriterium Kategorien Personen N Distanz: Beispiele: - zu einzelnen Teilnehmenden - zu Problemen - zu lähmenden Faktoren - zu äußeren Einflüssen, um Entscheidun- gen treffen - zu Belastungen, um klaren Blick zu be- kommen B, C, E, F B C F F F 4 Möglichkeit des Zurückziehens, z. B. beim Wandern zurückfallen lassen zur Auseinandersetzung mit sich selbst B, F F 2 Projekt gibt Kraft, z. B. durch: - das Erfolgserlebnis, im dritten Jahr beim Projekt zu sein - Kontinuität/Langfristigkeit B, C C C 2 Anforderungen langsam, in einzelnen Schritten bewältigen D 1 Konzentration auf den Weg F 1 Konzentration auf Lösbarkeit von Anfor- derungen F 1 Vertrauen zu Gott, Glaube G 1 Zuwachs an Kohärenz, Zuversicht durch positive Erfahrungen G 1 Zuversicht in persönliche Ressourcen J 1 Entdecken neuer Möglichkeiten/Horizont erweitern J 1 Erleben von Handhabbarkeit durch sonstige Faktoren Druck, um sich neuen Anforderungen zu stellen J 1 Fortsetzung 237 Fortsetzung Tabelle 35: Auswertung der Hypothese H3 (Frage 13c) Selektionskriterium Kategorien Personen N Vergangenheitsbewältigung durch Ausei- nandersetzung mit Friedhöfen K 1 Überschaubarer Zeitraum B 1 Möglichkeit des Austausches K 1 Erleben von Handhabbarkeit durch sonstige Faktoren Das Durchhalten C 1 Das Ergebnis zur Frage 13c zeigt ein breites Spektrum individueller Wirkungsfaktoren, die in den Augen von acht Befragten das Erleben von Handhabbarkeit begünstigen (s. Tabelle 35). Ein deutlicher gemeinsamer Schwerpunkt innerhalb der Angaben ist die Ansicht, dass Distanz ein gesundungsfördernder Faktor im Sinne der Handhabbarkeit ist. Gemeint ist die Distanz zu Problemen, zum Alltag, wie auch der Umgang mit Nähe und Distanz auf der Wanderung. Personen B und F bewerten die Möglichkeit des Rückzugs auf der Wanderung als wertvolle Ressource zur Handhabe von Spannung. Person F sieht dabei die Chance zur Auseinandersetzung mit sich selbst. Darüber hinaus kann aus ihrer Sicht Distanz genutzt werden, um „einen klaren Blick zu bekommen“ oder um Entscheidungen besser treffen zu können. Einige Teilnehmende haben sich außerdem auf erfolgsversprechende Lösungsvarianten eingelassen und können damit auch Erfolgserlebnisse verbuchen wie z.B. Person D: „An- forderungen langsam in einzelnen Schritten bewältigen oder Person F: „Konzentration auf den Weg“ bzw. „Konzentration auf die Lösbarkeit von Anforderungen“. Eine weitere Gemeinsamkeit lässt sich in den Aussagen von Personen B, C, G und J fin- den. Sie beschreiben ein Wachstum an Widerstandsressourcen, der unter anderem auf die Kontinuität und Langfristigkeit des Projektes zurückzuführen ist. Diese Weiterentwicklung beschreiben Angaben wie: „Zuwachs an Kohärenz/Zuversicht durch positive Erfahrun- gen“, „Entdecken neuer Möglichkeiten/Horizont erweitern“ und schließlich „Projekt gibt Kraft durch Kontinuität/Langfristigkeit“. Personen B, J, und K sprechen darüber hinaus noch äußere Einflussgrößen, teilweise auch Rahmenbedingungen, der Wanderung an, die die Entdeckung neuer Widerstandressourcen begünstigen können, nämlich: den „überschaubaren Zeitraum“, die Friedhöfe, die zur Trauerbewältigung anregen und schließlich den „Druck, um sich neuen Anforderungen zu stellen.“ 238 Die Antworten zu den Fragen 13a-13c machen deutlich, dass alle Personen in jedem Fall während der Wanderung die Zuversicht in die Handhabbarkeit von Anforderungen hatten. Diese Zuversicht ist den Ergebnissen nach sowohl auf den Wirkungsfaktor Mitarbeitende (8 Personen) sowie auf die Gemeinschaft (8 Personen) und schließlich auf sonstige indivi- duelle Wirkungsfaktoren (8 Personen) zurückzuführen. Bezug nehmend auf die Hypothese H3 bedeutet das an dieser Stelle, dass die Gemeinschaft eine wichtige Ressource zur För- derung von Handhabbarkeit ist, dass sie jedoch keinen herausragenden Stellenwert gegen- über den anderen Wirkungsmechanismen einnimmt. 10.2.4 Erleben von Handhabbarkeit nach der Wanderung durch weiteren Kontakt zur Gruppe Nach der Auseinandersetzung mit dem Stellenwert der Gemeinschaft im Erleben von Handhabbarkeit sollte diskutiert werden, was passiert, wenn nach der Wanderung die Un- terstützung der Gemeinschaft in der erfahrenen Konstellation nicht mehr zur sofortigen Verfügung steht. Entsprechende Annahmen werden in Hypothese H4 formuliert: H4: Die Zuversicht in externale Ressourcen zur Handhabbarkeit von Alltagssituationen wird nach der Jakobuswanderung durch den Kontakt zur Gemeinschaft (z.B. im pri- vaten Rahmen oder im Jakobuswegprojekt) weiterhin kontinuierlich bestärkt. Diese Hypothese wurde vordergründig mit Frage 14 überprüft: „Es wäre denkbar, dass sich diese oben genannten Faktoren (Gemeinschaftlichkeit, Unter- stützung, andere Faktoren) nach der Wanderung im privaten Rahmen oder im Jakobus- wegprojekt fortsetzen. Wie sehen Sie das?“ Das Ergebnis zur Frage 14 zeigt, dass schon sechs Personen (A, B, C, D, E, F) ihre Zuver- sicht in die Handhabbarkeit von Anforderungen nach der Wanderung mit dem Kontakt zur Gemeinschaft begründen. 239 Bei der Betrachtung der abschließenden Fragestellung 20a zur Handhabbarkeit wird deut- lich, wie wichtig die Gemeinschaft als externaler Ressourcenpool für Person J wird. Daher wurde dieses Ergebnis in die fragenübergreifende Auswertung einbezogen. Weitere Angaben zur Hypothese H4 finden sich außerdem bei der offenen Fragestellung 5b. Dort benennen Personen I, C, und F die Gemeinschaft als „Selbsthilfegruppe mit Aus- tausch zwischen Menschen mit gleichen Problemen“ als einen gesundungsfördernden Fak- tor im gesamten Jakobuswegprojekt. Demnach ergibt sich die folgende Verteilung: Tabelle 36: Auswertung der Hypothese H4 Selektionskriterium Kategorien Personen N Hypothese H4: Erleben von Handhabbarkeit nach der Wanderung durch den Kontakt zur Gemein- schaft (Fragen 14, 5b u. 20a) Erleben von Handhabbarkeit nach der Wanderung durch den Kontakt zur Ge- meinschaft trifft zu Fortsetzung (positiver Effekte) der Gemein- schaft im Jakobuswegprojekt Beispiele: - Jakobuswegprojekt ist neuer eigener bedeutungsvoller Lebensbereich gewor- den - regelmäßige Besuche der Jakobustreffen zur Bewältigung von Stimmungstief - Austausch von Erinnerungen und Fotos zur Bewältigung von Stimmungstief - Kameradschaft, das Wiedersehen mit Pilgern hilft bei Stimmungstief - Weiterentwicklung der Gruppe im Laufe der Jahre - Bewältigung von Schwierigkeiten der Gruppe in Vorjahren - Synergieeffekte in den nächsten Jahren stärker - Wiedersehen mit Wanderern gibt Kraft und Mut - Jakobustreffen wie Selbsthilfegruppe - Austausch - Erinnerungen an Etappen - Angenommen wie man ist - Verständnis A, B.C, D, E, F, I, J A, B, C, D, E, F, I, J C E E E F F F J C, F, I, J J J J J 8 Fortsetzung 240 Fortsetzung Tabelle 36: Auswertung der Hypothese H4 Selektionskriterium Kategorien Personen N Anwendung neuer Ressourcen im Alltag Beispiele: - Fortsetzung erfahrener Schwerpunkte im Bereich Handhabbarkeit vorstellbar - vielleicht Geist des Jakobuswegprojektes dem Ehepartner bzw. der Ehepartnerin vermitteln - Erleben von Handhabbarkeit im privaten Rahmen - Bewältigung außerberuflicher Anforde- rungen ist Lerneffekt für Alltag A, B, J A A B J 3 Kontinuierliches Dazulernen im Jako- buswegprojekt Beispiele: - im Jakobuswegprojekt werden Erfahrun- gen intensiviert - Teilnahme an Jakobustreffen und Trai- ningswanderungen zur Entdeckung neuer Ressourcen - weiteres Erleben von Handhabbarkeit durch Engagement in Planungsarbeit - am weiteren Engagement interessiert - Trainingswanderungen vorbereiten - Zeitungsartikel schreiben - Kuchen backen - vielschichtige Aufgaben - Zeit zwischen den Etappen ist Zeit zum Lernen B, D, E, F D F E G G G G G G 4 Erfahrungen auf Freundschaften über- tragen: - Freundschaften sehr wichtig - Freunde stärken H 1 Erleben von Handhabbarkeit durch die Fortsetzung der therapeutischen Arbeitsweise (bzw. anderer Faktoren siehe Frage 13c) im privaten Rah- men oder im Jakobusweg- projekt Frage 14 Schwierigkeiten: - zu große Unterschiede zwischen Jako- buspilgern und anderen Menschen, weil viele nicht aus den Äußerlichkeiten, aus dem Alltag heraus können - zu großer Schritt zwischen Jakobuswan- derung und Alltag - am Ende der Wanderung und im privaten Rahmen zunächst Stimmungstief, aber durch Behandlung Ressourcen zur Be- wältigung von Stimmungstief erworben A, E, J A J E 3 241 Unter Einbezug der Antworten zu den Fragen 5b und 20a wird Hypothese H4 von 8 Perso- nen befürwortet (s. Tabelle 36). Person E stellt dabei den therapeutischen Einfluss der Ge- meinschaft gegen Stimmungstiefs in den Vordergrund. Aus den Aussagen von Person F geht hervor, dass die Gemeinschaft nicht nur nach der Wanderung zusammenbleibt, son- dern dass sich die Gruppe der mehrmals Teilnehmenden auch im Laufe der Jahre z.B. durch gemeinsame Bewältigung von Anforderungen weiterentwickelt hat und stärker zu- sammengewachsen ist. Im Vordergrund steht das Verständnis der Treffen als Selbsthilfegruppe mit entsprechen- den Ressourcen zur Handhabbarkeit von Problemen. Neben der Gemeinschaft werden aus Sicht von acht Personen auch andere Wirkungsfakto- ren nach der Wanderung gepflegt. Dabei wird in den Ergebnissen zur Frage 14 deutlich, dass mindestens drei Personen (A, B, J) neue Ressourcen im Alltag anwenden möchten. Dazu zählt auch die Kategorie „Erfahrungen auf Freundschaften übertragen“, die aus den Aussagen von Person H gebildet wurde. Diese Kategorie wird gesondert aufgeführt, um herauszustellen, wie stark die Erfahrungen positiver Beziehungsgestaltung im Alltag nachwirken. Weitere vier Personen (B, D, E, F) beschreiben ein Phänomen, das bereits in den Ausführungen zur Handhabbarkeit (s. Abschn. 10.2.3) erörtert wurde, nämlich dass während der Wanderung oder im Rahmen des Projektes nicht nur die Präsenz externaler Wirkungsfaktoren im Hinblick auf den Gesundungsprozess bedeutsam wird, sondern dass ein Erfahrungsraum bereit steht, der zum Gewinn internaler Widerstandsressourcen anregt. Die Aussagen der Personen B, D, E und F sprechen somit dafür, dass nach der Pilgerreise der Erfahrungsraum Wanderung durch das Jakobuswegprojekt ersetzt wird. Aus ihrer Sicht bietet das Projekt Rahmenbedingungen, innerhalb derer zum einen die therapeutischen Effekte laut Person D sogar intensiviert werden und zum anderen ein kontinuierliches Da- zulernen erfolgt. Diese Weiterentwicklung geschieht durch Aufgaben wie: „Trainingswan- derungen vorbereiten“, „Zeitungsartikel schreiben“ oder durch die generelle Übernahme vielschichtiger Aufgaben. An dieser Stelle zeigt sich ganz eindeutig, dass das Jakobuswegprojekt eine generalisierte Widerstandsressource ist, die Lebenserfahrungen bereitstellt, durch die neue Widerstands- ressourcen hinzugewonnen werden können. Die nachfolgenden Ausführungen sprechen außerdem dafür, dass das Projekt, welches die gesundungsfördernden Faktoren Jakobus- 242 treffen, Pilgergruppe und den Aspekt der Gemeinschaftlichkeit integriert, ein notwendiger Baustein zur Handhabbarkeit des Wiedereinstiegs in den Alltag ist. Person E verweist dazu auf eine Schwierigkeit, die mit dem plötzlichen Abbruch der besonderen Lebenssituation auf der Jakobuswanderung einhergehen könnte. Ihrer Erfahrung nach kann der Wegfall des über sechzehn Tage andauernden Erlebnisfeldes mit der Gemeinschaft, mit schönen Ereig- nissen, zu einem Stimmungstief führen. Der Weg, wie Person E mit dieser niedergedrück- ten Stimmung umgegangen ist, zeigt aber, dass nach der Wanderung sowohl die Gemein- schaft als auch weitere internale und externale Wirkungsfaktoren zum Erleben von Hand- habbarkeit fortgeführt werden, so dass eine kurzfristige Krise aufgefangen werden kann. Eine Hilfe war für Person E beispielsweise das Wiedersehen mit der Gruppe im Rahmen der Jakobustreffen, verbunden mit dem Austausch von Bildern oder von Erinnerungen. Darüber hinaus standen offenbar auch die Mitarbeitenden zur Verfügung, denn Person E sagt, sie habe durch „Behandlung“ Ressourcen zur Bewältigung dieses Stimmungstiefs erworben. Personen A und J befürworten die Hypothese H4. Sie verweisen aber auch auf Unterschie- de zwischen dem Wanderalltag und der Lebenssituation zu Hause. Diese Unterschiede können aus ihrer Sicht sowohl bei dem Versuch, das Erlebte aufrechtzuerhalten als auch bei der Umsetzung von Erfahrungen im Alltag hinderlich sein. Person A führt dazu die Verschiedenheiten zwischen der Jakobusgruppe und anderen Menschen an. Schwierigkei- ten ergäben sich, „weil viele nicht aus den Äußerlichkeiten, aus dem Alltag heraus kön- nen“. Neben den naheliegenden Zwängen und Hürden des Alltags, die den Übergang von der Jakobuswanderung ins Leben danach möglicherweise auch Person J als „zu großen Schritt“ empfinden lassen, deutet Person A mit ihrer bereits zitierten Nennung an, dass es sich bei den Jakobuspilgerinnen und -pilgern um eine besondere Gruppe handelt, die sich von Gemeinschaften im Alltag unterscheidet. Im Hinblick auf die Hypothese H4 lässt sich zusammenfassen, dass die Ergebnisse zur Frage 14 über die Bestätigung der Inhalte der Hypothese weit hinausgehen. Etwa die Hälf- te der Teilnehmenden bringt das weitere Erleben von Handhabbarkeit mit dem Kontakt zur Gruppe in Verbindung und stimmt damit den konkreten Inhalten der Hypothese H4 zu. Zuzüglich der Ergebnisse aus Fragen 20a und 5b handelt es sich insgesamt um 8 Personen. 243 Darüber hinaus belegen die Aussagen von vier Personen zur Frage 14 sogar eine Intensi- vierung bzw. Fortentwicklung der therapeutischen Effekte nach der Wanderung im Jako- buswegprojekt. Das Projekt kann somit als eine generalisierte Widerstandsressource be- trachtet werden, die für Erfahrungsräume sowie Erfahrungen sorgt, durch die neue Wider- standsressourcen gewonnen werden können. Darüber hinaus ist eine Umsetzung des Ge- lernten zum weiteren Erleben von Handhabbarkeit sogar außerhalb des Projektes zu beo- bachten. Nichtsdestotrotz sprechen Einzelfälle für die Notwendigkeit eines Projektes um die Pilgerreise herum zur Gewährleistung eines gesundungsfördernden Übergangs in den Alltag. Außerdem können im Rahmen des Projektes weitere herausragende u.a. jakobus- wegspezifische therapeutische Erfahrungen immer wieder aufleben. Nach der Reflexion der Subjektiven Theorien der Teilnehmenden zum Themenkomplex Handhabbarkeit sollte mit Frage 14a ein Zwischenergebnis erörtet werden. Die Frage hieß: „Würden Sie sagen, dass Sie durch die Jakobuswanderung zuversichtlicher geworden sind, dass Schwierigkeiten oder Anforderungen auch im Alltag lösbar sind?“ Hier die tabellarische Übersicht: Tabelle 37: Auswertung der Haupthypothese H Frage (14a) Selektionskriterium Kategorien Personen N Antworten auf Frage 14a; nur Angaben zum Thema Zuversicht in die Handhabbarkeit von Anforderungen nach der Wanderung gestiegen A, C, E, F, H 5 Zu diesem Zeitpunkt des Interviews zeigte sich, dass bei fünf Personen die Zuversicht in die Handhabbarkeit von Anforderungen gestiegen ist. Von den anderen Befragten liegen an dieser Stelle keine Angaben vor. Bei der Überprüfung der Transkriptionen stellte sich diesbezüglich heraus, dass diese Frage nicht allen Personen gestellt wurde. 244 10.2.5 Anstieg der Zuversicht in die Handhabbarkeit von Anforderungen Nach der Reflexion einzelner Hypothesen mit Hilfe des Interviewleitfadens, wurde in der abschließenden Fragestellung - ähnlich wie in Frage 14a - untersucht, ob die Zuversicht in die Handhabbarkeit von Anforderungen nach der Wanderung gestiegen ist. Die entspre- chende Hypothese HW1 (Handhabbarkeit) lautet dazu: Haupthypothese Wanderung HW1 (Handhabbarkeit): Auf der Jakobuswanderung wird der Gesundungsprozess psychisch kranker Men- schen durch handhabbarkeitsförderliche Erfahrungen wie folgt verbessert: • die Zuversicht wird bestärkt, dass Anforderungen des Lebens lösbar sind. Die Untersuchung dieser Hypothese erfolgte mit Frage 20a): „20. Man kann nach einer Pilgerreise verschiedene Schlüsse ziehen. Eine mögliche Annahme im Hinblick auf den Gesundungsprozeß eines psychisch kranken Menschen wäre, daß die Teilnahme an der Jakobuswanderung folgende drei Dinge bewirkt: a) Die Zuversicht wird bestärkt, daß Anforderungen des Lebens lösbar sind. (durch die gewonnenen persönlichen Bewältigungsfertigkeiten oder durch die er- fahrenen Potentiale der Gemeinschaft) b) Neue Informationen oder unerwartete Situationen werden besser verstanden, Zusam- menhänge können deutlicher erkannt werden und das vorrausschauende Denken hat sich verbessert. (durch Erfahrungen der Beständigkeit, der Transparenz und durch den Gewinn an Wissen) c) Die Motivation sich für etwas einzusetzen ist gestiegen, und Anforderungen des Le- bens werden mehr als Herausforderung, denn als Belastung erlebt. (durch Erfahrungen von Lebenssinn, durch neue Hobbies, durch die Erfahrungen, et- was getan zu haben, was für die Gruppe wichtig war) Trifft eine oder mehrere dieser Angaben Ihrer Meinung nach zu?“ 245 Hier die Antworten: Tabelle 38: Auswertung der Hypothese HW1 (Handhabbarkeit) Selektionskriterium Kategorien Personen N Hypothese HW1 (Handhabbarkeit) trifft zu Mögliche Gründe: - Anstieg persönlicher Zuversicht und die der Wandernden - Verharren in der Krankheit wird abge- baut - Vorfreude als Widerstandsressource - Vorfreude motiviert zur Teilnahme an Jakobustreffen - Wiedersehen mit Wanderern gibt Kraft und Mut - Jakobustreffen wie Selbsthilfegruppe - Austausch - Erinnerungen an Etappen - Angenommen werden wie man ist - Verständnis - sich wichtig nehmen - Ressourcen entdecken - Grenzen kennen lernen - Grenzen akzeptieren A, C, D, E, F, H, I, J, K A A J J J J J J J J K K K K 9 Hypothese HW1 (Handhab- barkeit) Erwerb von Widerstandsres- sourcen im Bereich Hand- habbarkeit bzw. Stärkung der Zuversicht, dass Anforde- rungen des Lebens lösbar sind HW1 (Handhabbarkeit) trifft nicht zu B 1 Der Tabelle 38 nach erweitert sich der Personenkreis von Frage 14a (siehe Personen A, C, E, F, H) um weitere vier Personen (D, I, J, K) nachdem die Teilnehmenden in der ab- schließenden Fragestellung die Möglichkeit hatten, ihre Position zum Vorkommen an Ver- stehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit zu überdenken. Demnach geben neun Per- sonen an, auf der Jakobuswanderung Widerstandsressourcen im Bereich der Handhabbar- keit erworben zu haben, darunter stellen drei Personen entsprechende Widerstandsressour- cen exemplarisch vor. Person B widerspricht der Hypothese und von Person G existieren bei dieser Frage, wie bereits bei der Auswertung von HW1 (Verstehbarkeit) erwähnt, nur Angaben zum Vorkommen an Bedeutsamkeit. 246 10.2.6 Zusammenfassung der Ergebnisse zum Erleben und zur Förderung von Handhabbarkeit 1. Erleben und Förderung von Handhabbarkeit während der Jakobuswanderung Tabelle 39 verdeutlicht die Ergebnisse zu allen Teilhypothesen, die sich mit der Förderung der Zuversicht in die Handhabbarkeit von Anforderung befassen. Tabelle 39: Auswertung der Haupthypothese H Hypothesen zum Erleben und zur Förderung von Handhabbarkeit Personen N Haupthypothese H: Erleben und Förderung von Handhabbarkeit während der Jakobuswan- derung trifft zu Wirkungsfaktoren: Hypothese H1: Neue persönliche/internale Widerstandsressourcen zur Bewältigung von Spannungen (hypothesengerichtete Frage 11) Benennung gesundungsfördernder Faktoren im Bereich Handhabbarkeit (offene Fragen 3a-3b) Hypothese H2: Stärkung der Zuversicht, dass während der Wanderung im Falle von Spannungszuständen, verursacht durch innere und/oder äußere Stimuli, genügend Ressourcen zur Verfügung stehen, um diese Stimuli bewältigen zu können (hypothesengerichtete Frage 12) Hypothese H3: Stärkung der Zuversicht in (externale) Widerstandsressourcen durch die Gemeinschaft bzw. durch das Gefühl der Gemeinschaftlichkeit (hypothesengerichtete Frage 13) Benennung gesundungsfördernder sozialer Faktoren im Bereich Hand- habbarkeit (offene Frage 3a-3b) A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K A, B, D, E, F, G, H, J, K A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K A, B, C, D, E, F, G, H, I, J A, C, E, F, G, H, J, K A, B, C, E, F, G, J 11 9 11 10 8 7 Abschließende Fragestellung: Hypothese HW1 (Handhabbarkeit) trifft zu, denn die Zuversicht ist gestiegen, dass Anforderungen des Lebens lösbar sind (z.B. durch die gewonnenen persönlichen Bewältigungsfertigkeiten oder durch die erfahrenen Potentiale der Gemeinschaft). (hypothesengerichtete Frage 20a) A, C, D, E, F, H, I, J, K 9 247 Der Tabelle 39 zufolge können alle Hypothesen zum Erleben und zur Förderung von Handhabbarkeit bestätigt werden. Aus den offenen Fragen 3a-3b geht hervor, dass alle Teilnehmenden während der Jako- buswanderung Handhabbarkeit erlebt haben. Darüber hinaus empfanden zehn Teilneh- mende während der Wanderung Zuversicht in die Handhabbarkeit von Schwierigkeiten. Damit lässt sich die Hypothese H2 bestätigen, dass während der Wanderung die Zuversicht in externale und internale Ressourcen zur Handhabbarkeit von Anforderung gegeben ist. Bei den unter Fragen 3a-3b genannten Faktoren, die dem Bereich Handhabbarkeit zuge- ordnet werden können, handelt es sich überwiegend um: - soziale Faktoren (7 Personen), - Wandern / Bewegung (6 Personen), - Stress minimierende Faktoren (4 Personen), - Gewinn an Widerstandsressourcen (3 Personen), - Distanz zum Alltag (3 Personen), - Jakobusweg als Therapie verstehen (2 Personen), - Übertragung von Metaphern / Symbolik in den Alltag (2 Personen). Neun Personen können Erfahrungen und Fertigkeiten auf der Pilgerreise bewusst als Wi- derstandsressourcen zur Belastungsbalance im Alltag begreifen. Sie bestätigen damit die Hypothese H1, dass während der Jakobuswanderung neue persönliche Widerstandsres- sourcen zur Belastungsbalance erworben werden können. Die Schwerpunkte sind dabei: - die Bewältigung von Anforderungen generell, - die Spannungsbewältigung mit positiven Autosuggestionen - sowie der Erwerb von Ressourcen zur Handhabbarkeit des zwischenmenschlichen Umgangs. Darüber hinaus zeigten die körperlichen Erfahrungen auf der Wanderung mindestens drei Teilnehmenden, dass große Ziele generell erreicht werden können, sobald Tempo und E- nergie im optimalen Verhältnis zur Größe des Ziels stehen. Zum Vorschein kommen also positive Einflüsse auf das Planungs- und Bilanzierungsverhalten der Teilnehmenden bei größeren oder langfristigen Aufgaben im Alltag. Deutlich wird hier auch eine Entwicklung des Gespürs für Belastung und rechtzeitige Entlastung. Das Wandern tritt somit auch im Bereich Handhabbarkeit als klarer gesundungsfördernder Faktor hervor. 248 Insgesamt weist die Gruppe eine veränderte Haltung zu Anforderungen auf. Die Angaben der Teilnehmenden drücken eine gestiegene Bereitschaft zur Eigeninitiative und eine ge- wachsene Flexibilität im Einsatz von Widerstandsressourcen aus. Dem salutogenetischen Modell nach ist das eine deutliche Bewegung in Richtung health-ease. Als weiteren positi- ven Aspekt im Hinblick auf die Gesundung zeigen die Befragten eine veränderte Bewer- tung von Stimuli auf. Mindestens zwei Personen erkannten, dass bei Anforderungen Span- nungen auftreten können, sie aber nicht sofort gesundungsschädigend sein müssen. Dar- über hinaus haben diese Personen verstanden, dass es für die Gesundung besser sein kann, Anforderungen trotz möglicher Spannungen zu bewältigen. Damit kann die Annahme un- terstützt werden, dass sich die Jakobuswanderung positiv auf das Copingverhalten psy- chisch kranker Menschen auswirkt und dass der Erwerb internaler Widerstandsressourcen zur Handhabe von Anforderungen möglich ist. Erste Schlüsse auf die Funktion der Gemeinschaft im Bereich von Handhabbarkeit lassen die Ergebnisse der offenen Fragen 3a-3b zu. Dort zeigt sich, dass die Gruppe die folgenden Ressourcen bereitstellt, die als Wege zur Belastungsbalance gewertet werden können: - positive Umgangsweise, - Aktivität in der Gemeinschaft als Ressource gegen ständiges Grübeln und als externale Ressource, die die Bewältigung körperlicher Herausforderungen als gesundungs- fördernd erleben lässt, - intensive Gespräche bzw. verbaler Austausch, - Training von Kontaktfertigkeiten, - Durchmischung von Krankheitsbildern und dadurch gegenseitige Ergänzung sowie Beratung, Geben und Nehmen, gegenseitige Unterstützung, - Wertschätzung des persönlichen Gesundungsstatus bei Vergleich mit anderen Teil- nehmenden. Diese Ergebnisse resultieren aus den Angaben von 7 Personen. Die Hypothese H3, dass die Gemeinschaft oder das Gefühl der Gemeinschaftlichkeit als Wirkungsfaktor im Erleben von Handhabbarkeit gegenüber anderen Faktoren heraussticht, kann nach den Ergebnissen zur hypothesengerichteten Fragestellung 13a-c nicht bestätigt werden. Es zeigt sich, dass sowohl Ressourcen der Gemeinschaft bzw. der Aspekt Gemein- 249 schaftlichkeit (8 Personen) als auch Ressourcen der Mitarbeitenden (8 Personen) und schließlich noch sonstige Faktoren (8 Personen) gleichermaßen zur Förderung von Hand- habbarkeit bedeutsam sind. Aus Sicht der Teilnehmenden übernimmt die Gemeinschaft auf der Wanderung im Hinblick auf das Erleben von Handhabbarkeit unterschiedliche Funkti- onen. Die Ergebnisse bieten dazu den folgenden Gesamteindruck: Die Gemeinschaft hat als externaler Ressourcenpool eine beruhigende, angstreduzierende Wirkung auf die Wanderinnen und Wanderer. Die Präsenz der Gruppe unterbricht das Grübeln. Die Gemeinschaft bewegt wie ein „Motor, dem nichts entgegengesetzt werden kann“, zum Tun, zum Entdecken oder zum Einsatz neuer Widerstandsressourcen. Ihre weitere hauptsächliche Funktion ist die Bereitstellung von Rahmenbedingungen, in- nerhalb derer soziale Kompetenzen erprobt werden können. Zu beobachten ist dabei eine starke gemeinsame Motivation, die Wanderung zu bewältigen. Diese Motivation unter- stützt die Kooperation unterschiedlicher Persönlichkeiten. Auf diese Weise können Res- sourcen zur gesundungsfördernden Beziehungsgestaltung gewonnen werden, und das Ver- trauen in die gemeinsame Lösung von Schwierigkeiten steigt. Ähnliche Einflüsse als Wirkungsfaktoren üben den Ergebnissen nach die Mitarbeitenden aus. Sie beruhigen einerseits durch ihre ständige Präsenz, sie fördern aber auch den Ge- winn neuer internaler Widerstandsressourcen durch die Unterstützung der Eigenverant- wortlichkeit, Selbständigkeit und Verbindlichkeit der Teilnehmenden. Ein Kriterium, das sie von der sonstigen Gemeinschaft abgrenzt, ist ihre Profession in Ar- beitsfeldern der Psychiatrie. Aufgrund entsprechender Ressourcen genügte schon die An- wesenheit des therapeutischen Teams, um bei einigen Teilnehmenden für Belastungsbalan- ce zu sorgen. Aus weiteren Angaben der Befragten geht hervor, dass die Mitarbeitenden einen Blick auf die Einhaltung der Therapieziele haben und über die Kooperation der Gruppe wachen. Der zuletzt genannte Aspekt wird eher am Rande wahrgenommen, er ist aber eine elementare Funktion der Mitarbeitenden während der Wanderung, denn ohne die Zusammenarbeit der Gruppe ist die Bewältigung der Jahresetappe nicht durchführbar. So- mit sind die Mitarbeitenden für Einzelne wichtig, damit sie in Krisensituationen eine fach- gerechte Unterstützung erhalten. Sie sind aber auch für die Gruppe und das Fortbestehen der Wanderung notwendig, weil sie im Extremfall die weitere Kooperation der Gemein- schaft professionell steuern können. Das Wissen um diese Ressource ist ein weiterer Wir- kungsfaktor, der die Zuversicht in die Handhabbarkeit von Anforderungen stärkt. 250 Bei den sonstigen Faktoren, die zur Belastungsbalance auf der Wanderung beitragen, sticht die Distanz (4 Personen) zu Belastungen im Alltag besonders hervor. Benannt wird auch das Training von Nähe und Distanz innerhalb der Gruppe. Weitere Wirkungsfaktoren, die unter die Kategorie „sonstige Faktoren“ fallen, sind sehr individuell. Zu beobachten sind einige gemeinsame Tendenzen wie beispielsweise ein ge- nerelles Wachstum an Widerstandsressourcen (4 Personen), das unter anderem auf die Kontinuität und Langfristigkeit des Projektes zurückzuführen ist. Deutlich wird auch, dass es auf der Wanderung Rahmenbedingungen gibt, die das Entdecken neuer Ressourcen be- günstigen. Dieser Faktor wurde von 3 Personen benannt. Dazu zählt der überschaubare Zeitraum der Wanderung oder der Druck von außen, der zur Bewältigung von Anforde- rungen anregt sowie die bereits erwähnte Kontinuität des Projektes, die Widerstandsres- sourcen potenziert. Bei der abschließenden Fragestellung wird deutlich, dass neun Personen nach der Jako- buswanderung bewusst einer gestärkten Zuversicht in die Handhabbarkeit von Anforde- rungen zustimmten. Eine Person wurde zur Hypothese HW1 (Handhabbarkeit) nicht mit Frage 20a befragt und eine weitere Person stimmt dieser Hypothese bei der abschließenden Fragestellung nicht zu. Die Gesamtübersicht (s. Tabelle 39) zeigt aber, dass alle Teilneh- menden Widerstandsressourcen im Bereich Handhabbarkeit erworben haben. Somit kann Hypothese H bestätigt werden. 251 2. Erleben und Förderung von Handhabbarkeit nach der Wanderung Tabelle 40: Erleben und Förderung von Handhabbarkeit nach der Jakobuswanderung durch den Kontakt zur Gruppe Hypothese H4: Fortsetzung des Erlebens von Handhabbarkeit durch den Kontakt zur Gruppe nach der Wanderung im privaten Rahmen und/oder im Jako- buswegprojekt trifft zu (hypothesengerichtete Frage 14) (offene Frage 5b) (Frage 20 a) A, B, C, D, E, F, I, J A, B, C, D, E, F C, F, I J 8 6 3 1 Nach der Wanderung geschieht die Pflege von Widerstandsressourcen im Bereich von Handhabbarkeit aus der Sicht von 8 Teilnehmenden vordergründig durch den Kontakt zur Gemeinschaft, wie es in der Hypothese H4 angenommen wird. Einige Befragte stellten exemplarisch vor, welche Funktionen die Gemeinschaft dabei übernimmt. Daraus konnten die folgenden Wirkungsmechanismen ermittelt werden: - die Gemeinschaft als Selbsthilfegruppe, - die Gruppe fängt Stimmungstiefs nach der Wanderung auf, z. B. durch das Wiederse- hen bei den Jakobustreffen mit Erinnerungs- oder Bilderaustausch, - die Gruppe stärkt die Zuversicht in die Handhabbarkeit von Anforderungen als externa- ler Ressourcenpool, - die Gemeinschaft fördert weiteren Gewinn an Widerstandsressourcen durch die fortge- setzte Bewältigung von Anforderungen. Rückblickend beobachtet eine Person, dass sich die Gruppe im Laufe der Zeit sogar wei- terentwickelt hat. Sie wurde stärker durch die Bewältigung gemeinsamer Anforderungen. Die Untersuchung belegt ferner, dass wenn nach der Pilgerreise die Wanderung und die Gemeinschaft als intensive tägliche Erfahrungsräume in den Hintergrund treten, das Jako- buswegprojekt und der Alltag zu Übungsfeldern für Handhabbarkeit werden. Diesen Ein- druck unterstützen die Ergebnisse zu den Fragen 5b und 14 (s. Tabelle 41). 252 Tabelle 41: Erleben von Handhabbarkeit nach der Jakobuswanderung Selektionskriterium Kategorien Personen N Kontinuierliches Dazulernen im Jako- buswegprojekt Beispiele: - im Jakobuswegprojekt werden Erfahrun- gen intensiviert - Teilnahme an Jakobustreffen und Trai- ningswanderungen zur Entdeckung neuer Ressourcen - weiteres Erleben von Handhabbarkeit durch Engagement in Planungsarbeit - am weiteren Engagement interessiert - Trainingswanderungen vorbereiten - Zeitungsartikel schreiben - Kuchen backen - vielschichtige Aufgaben - Zeit zwischen den Etappen ist Zeit zum Lernen B, D, E, F D F E D D D D D D 4 Erleben von Handhabbarkeit nach der Wanderung durch die Fortsetzung der therapeu- tischen Arbeitsweise (bzw. anderer Faktoren siehe Frage 13c) im privaten Rahmen oder im Jakobuswegprojekt Frage 14 Anwendung neuer Ressourcen im Alltag Beispiele: - Fortsetzung erfahrener Schwerpunkte im Bereich Handhabbarkeit vorstellbar - vielleicht Geist des Jakobuswegprojektes dem Ehepartner bzw. der Ehepartnerin vermitteln - Erleben von Handhabbarkeit im privaten Rahmen - Bewältigung außerberuflicher Anforde- rungen ist Lerneffekt für Alltag - Erfahrungen auf Freundschaften übertra- gen: - Freundschaften sehr wichtig - Freunde stärken A, B, H, J A A B J H 4 Sich auf der Wanderung neuen Situatio- nen Anforderungen stellen/ Erfahrungen im Alltag anwenden I, J 2 Gesundungsfördernde Wir- kungsfaktoren im gesamten Jakobuswegprojekt (Frage 5b) Für sich Verantwortung übernehmen, z. B. Dinge in Eigeninitiative verändern J, K 2 Das Jakobuswegprojekt tritt im Gesamtbild der Aussagen (s. Tabelle 41) deutlich als eine generalisierte Widerstandsressource hervor, die Lebenserfahrungen bereitstellt, durch die weitere Widerstandsressourcen im Bereich von Handhabbarkeit hinzugewonnen werden können. Als Faktoren, die den Übergang von der Wanderung in den Alltag erschweren können und das weitere Erleben von Handhabbarkeit eventuell behindern, werden benannt: 253 - die Lebenssituation im Alltag, die im Vergleich zur Wanderung eventuell zu unter- schiedlich ist, - die Begegnung und Interaktion mit anderen Menschen, die sich von der Jakobusgruppe unterscheiden und - Stimmungstiefs, die nach der Pilgerreise auftreten können. Da sich aber alle Personen, die auf diese Übergangshürden hingewiesen haben, gleicher- maßen dafür aussprechen, dass Ressourcen zur Belastungsbalance nach der Wanderung fortgeführt werden, ist stark zu erwarten, dass trotz dieser Widrigkeiten des Alltags das Erleben von Handhabbarkeit nach der Wanderung gepflegt wird. Darüber hinaus wird aus den geschilderten Schwierigkeiten der Teilnehmenden der Bedarf eines gesundungsfördernden Übergangs von der Wanderung in den Alltag deutlich. Dazu schafft das Jakobuswegprojekt Rahmenbedingungen, innerhalb derer ein solcher Übergang möglich wird. Außerdem stellte sich im Zuge der Überlegungen zu den Ergebnissen her- aus, dass die Gruppe am St. Marien-Hospital Eickel eine elementare Widerstandsressource zur Handhabe eventueller Stimmungstiefs nach der Wanderung ist. Die Ergebnisse zu Fragen 14 und 5b belegen, dass aus Sicht von 9 Personen Widerstands- ressourcen im Bereich von Handhabbarkeit nach der Wanderung im Alltag gefördert wer- den, durch: - den Kontakt zur Gemeinschaft (8 Personen) - die Anwendung neuer Ressourcen im Alltag (6 Personen) - das kontinuierliche Dazulernen im Jakobuswegprojekt (4 Personen). Das ist ein therapeutischer Effekt, der über die in H4 aufgestellten Annahmen hinausgeht. 254 10.3 Auswertung der Hypothesen zum Erleben und zur Förderung von Bedeutsamkeit 10.3.1 Mehr Lebenssinn durch Freude bereitende, sinnstiftende Aktivitäten Überprüft wird die Teilhypothese B1: Hypothese B1: Auf der Jakobuswanderung wird das Erleben von Bedeutsamkeit/Lebenssinn durch viele, Freude bereitende, sinnstiftende Aktivitäten respektive durch das (Wieder-)entdecken von Hobbies gefördert. Die Hypothese B1 wurde insbesondere durch die Fragen 15 - 15a untersucht: „Die Teilnehmenden an den Jakobuswanderungen 1997/1998 nannten als positive Auswir- kungen auf ihren Gesundungsprozess die Erfahrung von Lebenssinn, z.B. durch besondere Aktivitäten, Erlebnisse, neugewonnene Hobbies und andere Dinge. Können Sie diese Er- fahrung teilen?“ „Wenn ja, welchen Nutzen ziehen Sie daraus für den Alltag?“ Schon bei der alleinigen Auswertung der Fragen 15-15a zeigt sich, dass alle Teilnehmen- den Bedeutsamkeit durch schöne, größtenteils sinnstiftende Erlebnisse im Sinne der Frage- stellung erlebt hatten und dass zehn Personen aus diesem Erleben Ressourcen für den All- tag gewannen. Als dominierende Kategorien stechen dabei das „Wandern“ (6 Personen), die „Gruppe“ (4 Personen) und „Schöne Bilder und Ereignisse“ (4 Personen) hervor. Die Verteilung der Teilnehmendenanzahl bei den folgenden weiteren Kategorien bewegt sich zwischen einer und zwei Personen pro Kategorie: - Bewältigung von Anforderungen - 2 Personen (C, J), - Urlaub - 2 Personen (B, I), - Ablenkung - 2 Personen (B, J), - Erleben von Kultur und Geschichte - Person A, - Naturerleben - 2 Personen (D, F), - Bewältigung von Trauer - Person K, - Entdecken persönlicher Ressourcen - Person C, 255 - Meditieren - Person G, - Unterstützung - Person J, - Zusammenspiel verschiedener Faktoren - Person J, - sich bewusst erleben, ernst nehmen - Person K. Bei der Gesamtauswertung wurde deutlich, dass die bloße Berücksichtigung der Ergebnis- se der hypothesengerichteten Fragen 15 – 15a der Auswertung von Hypothese B1 nicht gerecht würde, denn es taten sich weitere Quellen zur Untersuchung dieser Hypothese auf. So wurde in der Frage 1 „Was verbinden Sie mit dem Begriff Jakobusweg?“ nach Definiti- onen oder Konnotationen bezüglich des Jakobusweges gesucht. Was bedeutet der Jako- busweg den Wanderinnen und den Wanderern, was ist ihnen wichtig? Im Prinzip können an dieser Stelle alle Kategorien, die im Zusammenhang mit Frage 1 ermittelt wurden, zur Diskussion von Hypothese B1 aufgeführt werden, weil sie die Sinnebene der Jakobuswan- derung erläutern und damit auch grob auf die Inhalte der Hypothese B1 eingehen. Dem- nach sind für die Wanderinnen und Wanderer die folgenden Aspekte am Jakobusweg bzw. an der Jakobuswanderung bedeutsam: - Gemeinschaft von Gleichgesinnten - 5 Personen (A, B, C, D, J), - Religion/Spiritualität - 4 Personen (G, H, J, K), - Projekt mit besonderem Stellenwert - 2 Personen (C, J,), - Anerkennung durch Teilnahme am Projekt - 2 Personen (D, J), - sich fallen lassen - Person K und die Kategorien, die im Sinne der Fragestellung 15 sinnstiftende, freudebereitende Akti- vitäten, Ereignisse, neue Hobbies etc. ausdrücken: - zweiwöchiger Aufenthalt in Frankreich - Person B, - neue Eindrücke - Person E, - schöne Erinnerungen - Person H, - Natur - Person J. Schließlich zeigten sich im Zuge der Untersuchung gesundungsfördernder Faktoren durch die Fragen 3-3d weitere bedeutsamkeitsfördernde Aspekte im Sinne der Frage 15. Sie wur- den ebenso wie die gerade aufgeführten ausgewählten Ergebnisse von Frage 1 in die Ge- samtauswertung (s. Tabelle 42) einbezogen. 256 Tabelle 42: Auswertung der Hypothese B1 Selektionskriterium Kategorien Personen N Erfahrung von Lebenssinn durch beson- dere Aktivitäten trifft zu A, C, D, E, F, G, H, I, J, K Keine Erfahrung von Lebenssinn, eher Ablenkung von Problemen, Urlaubs- gefühl B 10 1 Gruppe Beispiele: - Freude am Zusammensein mit Menschen - Menschen kennen lernen - Menschen besser kennen lernen - sich miteinander gut verstehen - Kontakte - untereinander achtsam sein - Wärme - Zusammengehörigkeit - menschliche Nähe - Erleben von Gemeinschaftsgefühl - schöne Gruppe - schöne Zeit - positive soziale Einstellungen, z. B. ge- meinsame Freude am Weg A, B, C, D, E, H, I, J, I, D, E D D D B, I J J J J C, J C C A 8 Hypothese B1: Erfahrung von Lebenssinn durch Freude bereitende, sinngebende Aktivitäten, Erlebnisse, (Wieder-)ent- decken von Hobbies auf der Wanderung Nutzen für den Alltag: Adäquate Dosierung von Distanz und Kon- takt/Gespräch ist sinnvoll gegen Nachhän- gen von Gedanken Neue Kontakte: - Bekannte zum Ausgehen - gewachsene Freundschaft zum Jakobus- pilger Möglichkeit zum Austausch Neue Hobbies, z.B.: - zusammen ausgehen - zusammen tanzen - Spieleabend - mit befreundeten Jakobuspilgern spazie- ren gehen E, H E H H H 2 Fortsetzung 257 Fortsetzung Tabelle 42: Auswertung der Hypothese B1 Selektionskriterium Kategorien Personen N Schöne Bilder/Ereignisse Beispiele: - Freude und Erinnerungen durch schöne alte Gebäude - Erfahrung von Lebenssinn durch Sehen von etwas Einzigartigem, Besonderem - bewusstes Aufnehmen neuer Gerüche - saubere Luft - das Land - schöne Landschaften - Entdeckung schöner Seiten am Leben - neue Eindrücke - Erfolgserlebnisse - Seelische Zufriedenheit, z. B. durch ge- nug Geld für Bedürfnisse - Entdeckung von Himbeersirup B, C, E, F, H, I, J B C F F B, C C, E, F J E F I I 7 Nutzen für den Alltag: Erinnerungen als Widerstandsressourcen, z. B.: - schöne Bilder - Erfolgserlebnisse - Kirchenbesichtigungen als Widerstands- ressourcen im Alltag Durch Erfahrungen, tolle Geschichten, An- erkennung bzw. das Interesse der Menschen gewinnen C, F, H, I C, F, H C, F C C I 4 Wandern Beispiele: - neue Erfahrungen machen, z. B. den Körper bewusst erleben - Stimmungsaufhellung durch Wanderung besser als durch Medikamente A, C, D, E, I, J D J 6 Hypothese B1: Erfahrung von Lebenssinn durch Freude bereitende, sinngebende Aktivitäten, Erlebnisse, (Wieder-)ent- decken von Hobbies auf der Wanderung Nutzen für den Alltag: Wandern im Alltag mit Bezügen zu: - Natur - Sport und Technik - Kultur A, C, D, E, I A 5 Fortsetzung 258 Fortsetzung Tabelle 42: Auswertung der Hypothese B1 Selektionskriterium Kategorien Personen N Gewinn gemeinsamer Punkte mit (Ehe-) partner-(in), z. B. mit Partner(-in) wandern Mögliche Erweiterung des Bekanntenkreises durch Wandern Bewussterer Umgang mit Körper Beispiele: - weiter trainieren, auf Körper achten, keinen Raubbau mit Körper mehr - mehr Sport treiben Bewegung zur Vorbeugung negativer Span- nungszustände Zuversicht in körperliche Leistungsfähigkeit A, C C A C, D D E I Naturerleben D, F, J 3 Nutzen für den Alltag: - Naturerleben hat positiven Einfluss auf das Wohlbefinden - Erinnerungen an schöne Bilder D, F D F 2 Erleben von Kultur und Geschichte A, G 2 Nutzen für den Alltag: - mehr Zuwendung zur Kultur und Ge- schichte A 1 Bewältigung von Anforderungen Beispiele: - Bewältigen eines Berganstiegs und Blick in das Tal von Beaujeau C, J C 2 Nutzen für den Alltag: Zuversicht, in Santiago anzukommen durch erfolgreichen Berganstieg Engagement und Motivation ist wichtig für positive Auswirkungen auf Gesundungszu- stand C, J C J 2 Hypothese B1: Erfahrung von Lebenssinn durch Freude bereitende, sinngebende Aktivitäten, Erlebnisse, (Wieder-)ent- decken von Hobbies auf der Wanderung Urlaub: - zweiwöchiger Aufenthalt in Frankreich B, I B 2 Fortsetzung 259 Fortsetzung Tabelle 42: Auswertung der Hypothese B1 Selektionskriterium Kategorien Personen N Festliches Essen mit Rede in friedlicher Atmosphäre: - seltene Gelegenheit, schön zu essen - wie in großer Familie am Tisch sitzen - über Ablauf des Tages sprechen vorher Begrüßung C, H H 2 Ablenkung B, J 2 Bewältigung von Trauer Gründe: - im Todesfall legt Gesellschaft viel Wert auf Äußerlichkeiten - im Alltag keinen Raum für Schmerz im Leben keine Vorbereitung auf Tod K 1 Nutzen für den Alltag: - neuer Lebenssinn K 1 Entdecken persönlicher Ressourcen C 1 Nutzen für den Alltag: - neue Perspektiven, z. B.: - vielleicht wieder studieren - mehr für sich tun C 1 Meditieren G 1 Nutzen für den Alltag: - Meditieren zum Ausgleich kleiner Irrita- tionen - mehr Stabilität G 1 Unterstützung durch: - Gruppe - Mitarbeitende J 1 Zusammenspiel verschiedener Faktoren J 1 Nutzen für den Alltag: - neue Perspektiven J 1 Sich bewusst erleben, ernst nehmen K 1 Nutzen für den Alltag: - Motivation, mehr auf sich zu achten K 1 Hypothese B1: Erfahrung von Lebenssinn durch Freude bereitende, sinngebende Aktivitäten, Erlebnisse, (Wieder-)ent- decken von Hobbies auf der Wanderung Das ganze Drumherum/die Atmosphäre D 1 260 Bei der fragenübergreifenden Untersuchung der Hypothese B1 (s. Tabelle 42) stellt sich wie bei den Ergebnissen zur Frage 15 die Dominanz der Kategorien „Gruppe“, „Wandern“ und „Schöne Bilder/Ereignisse“ ein. Die Kategorie „Gruppe“ weist dabei vier weitere Per- sonen auf, so dass sie mit insgesamt 8 Personen vor die ursprünglich stärker besetzte Kate- gorie „Wandern“ (6 Personen) rückt und damit zur dominantesten Kategorie wird. Danach folgt die Kategorie „schöne Bilder / Ereignisse“ (+ 3 Personen) und schließlich das „Wan- dern“. Einen leichten Zuwachs in der Personenanzahl erfahren ferner die Kategorien „Er- leben von Kultur und Geschichte“ (+ 1 Person) und „Naturerleben“ (+ 1 Person). Veränderungen im Hinblick auf den Nutzen für den Alltag ergaben sich unter der Einbe- ziehung von Fragen 1 und 3-3d nicht. Angaben hierzu sind ausschließlich die Ergebnisse zur hypothesengerichteten Frage 15a. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass alle Teilnehmenden Bedeutsamkeit durch schöne, größtenteils sinnstiftende Erlebnisse im Sinne der Fragestellung erfahren haben. Dabei ordnen zehn Personen diese Aktivitäten bzw. Erlebnisse bewusst der Erfahrung von Lebenssinn zu. Person B wurde auch zu den Teilnehmenden gezählt, die durch schöne Erlebnisse bzw. das Erleben von Schönem, Besonderen auf der Wanderung Bedeutsamkeit erfahren hatten und die Hypothese B1 befürworteten, obwohl sie die bewusste Wahrnehmung von Lebenssinn verneinte. Für diese Wertung spricht, dass Person B positive Angaben zu den Kategorien, „Gruppe“, „Urlaub“ (d.h. zweiwöchiger Aufenthalt in Frankreich) „Ablenkung“ und „schöne Bilder / Ereignisse“ als sinnstiftende Aktivitäten machte. Darüber hinaus zeigt sich bei Frage 2, dass bei Person B das Bedürfnis nach diesen sinnstiftenden Erlebnissen und Aktivitäten wie „Wandern“, „Urlaub“ sowie nach der Freude an der Landschaft ein wesentlicher Motivationsfaktor zur Teilnahme war. Die Kategorie „Gruppe“ sticht im Hinblick auf die Personenzahl (8 Personen) am stärksten hervor. Hierbei fällt auf, dass die Teilnehmenden die positiven Effekte der Gruppe über- wiegend während der Wanderung nutzten. Den entsprechenden Gewinn für den Alltag, der bei Frage 15a) erfragt wurde, formulieren zwei Personen (E und H). Person H profitiert im Alltag auf vielfältigen Ebenen von der Gruppe. Sie nutzt neue Kontakte, sieht darin die Möglichkeiten zum Austausch und zum Gewinn neuer Ressourcen. Bei Betrachtung der Angaben von Person H kommt eine gewachsene Freizeitgestaltung zum Vorschein und 261 eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität wird spürbar. Die neuen Hobbies, die Per- son H aufzählt, wie beispielsweise „zusammen ausgehen“, „zusammen tanzen“ oder „Spie- leabende“ sprechen für viel Lebensfreude. Person E profitiert im Alltag von einem adäqua- ten Umgang mit Nähe und Distanz und von der Erkenntnis, dass der Kontakt zu anderen Menschen in Form von Gesprächen sinnvoller ist, als das Nachhängen von Gedanken. Bei den übrigen Teilnehmenden zeigt sich eine starke Wertschätzung menschlicher Nähe, die durch die Gruppe vermittelt wurde. Die Spannbreite an Bedürfnissen, die aus Sicht der Teilnehmenden durch die Gruppe angesprochen werden, bewegt sich dabei von der allge- meinen „Freude am Zusammensein mit Menschen“ (vgl. Personen I, D, E) über Interesse an Kontakten wie bei Personen I und B bis hin zu elementaren Bedürfnissen wie „Wärme“, „menschliche Nähe“ oder „Gemeinschaftlichkeit“ (vgl. Personen J und C). Als nächst stärkere Kategorie treten „schöne Bilder/Ereignisse“ (7 Personen) hervor. Die schönen Ereignisse und Bilder werden aus Sicht von vier Personen im Alltag erinnert und verschiedentlich eingesetzt. Diese Erinnerungen fungieren entweder als Widerstandsres- sourcen vermutlich bei Stimmungstiefs (vgl. Personen C und F) oder werden als Geschich- ten wertvoll, die im Freundes- bzw. Bekanntenkreis für Anerkennung sorgen (vgl. Person I). Die Kategorie „Festliches Essen mit Rede in friedlicher Atmosphäre“ hätte auch mit den Schlagwörtern „schöne Bilder/Ereignisse“ überschrieben werden können. Jedoch bestätigt sich bei Frage 15a durch die Angabe von Person C, dass die herausragende Esskultur mit ihrer feierlichen Atmosphäre und ihren Ritualen einen ganz eigenen heilsamen Effekt hat. Person H hat die gesundungsfördernde Auswirkung bereits bei Frage 3b erläutert, daher muss an dieser Stelle nicht erneut darauf eingegangen werden. Wichtig wäre nur wieder- holt herauszustellen, dass dieses gemeinsame Essen wesentlichen Bedürfnissen der Pil- gernden nachkommt, die im Alltag vernachlässigt werden bzw. schwer aufzufangen sind und daher als ein starker therapeutischer Wirkungsfaktor zu bewerten ist. Eine weitere dominante Kategorie ist das „Wandern“. Im Vergleich zur Kategorie „Grup- pe“ zeigt sich bei Frage 15a, dass beim Wandern das Verhältnis zwischen dem Erleben von Bedeutsamkeit und dem bewussten Erkennen des Nutzens für den Alltag besser ist. Sechs 262 Personen nehmen das Wandern als sinnstiftende Aktivität wahr, und fünf Teilnehmende erkennen den Nutzen der Aktivität als Widerstandsressource für den Alltag. Interessant ist dabei, wie differenziert die Bedeutungsebene des Wanderns dargestellt wird. Genannt wird das Wandern mit seinen sozialen Bezügen (vgl. Person A: „mögliche Erwei- terung des Bekanntenkreises durch Wandern“ oder Personen A u. C: „Gewinn gemeinsa- mer Punkte mit (Ehe-)partner(-in)“). Wichtig ist auch das Wandern mit Bezügen zur Kul- tur (vgl. Person A) oder das Wandern in Verbindung mit Körpergefühl respektive der Zu- versicht in körperliche Leistungsfähigkeit (vgl. Personen C u. D). Eine entscheidende Erkenntnis für das persönliche Coping gewann Person E, nämlich, dass sich Bewegung ideal zur Vorbeugung negativer Spannungszustände eignet. Als herausragend gilt an dieser Stelle auch die Kategorie „Naturerleben“ (Personen D, F und J). Person D nutzt das Naturerleben auch im Alltag, um sich Wohlbefinden zu ver- schaffen und Person F nennt sowohl für das Erleben schöner Bilder/Ereignisse als auch für das Naturerleben die Erinnerung an schöne Bilder als Widerstandsressource nach der Wanderung. Die Verteilung der Teilnehmendenanzahl bei den weiteren Kategorien bewegt sich zwi- schen einer und zwei Personen pro Kategorie. Die Aussagen der Teilnehmenden sprechen für sich, so dass es an dieser Stelle keiner vertiefenden Ausführung mehr bedarf. Als wichtiges Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass insgesamt alle elf Personen Be- deutsamkeit durch Freude bereitende, sinnstiftende Aktivitäten erlebt haben und dass zehn Personen aus diesem Erleben bewusst Widerstandsressourcen für den Alltag gewannen. Gemeinsame Trends lassen sich bei der Auswirkung des Erlebten beobachten. Ein Teil der Wanderer und Wanderinnen spricht zunächst von generellen Veränderungen wie bei- spielsweise von neuen Perspektiven (vgl. Personen C und J). Person I berichtet davon, zu Hause anders zu sein. Zu sehen ist auch, wie sich Interessen verändern können so wie bei Person A, die von mehr Zuwendung zur Kultur und Geschichte spricht oder wie bei Person H, die neue Hobbies gewonnen hat. Deutlich wird auch mehr Bewegung im Alltag, mehr Bereitschaft zur Selbsthilfe (z. B.: Person G: „Meditieren zum Ausgleich kleiner Irritatio- nen“; Person E: „Bewegung zur Vorbeugung negativer Spannungszustände“; Person C: „mehr für sich tun“) und einzelne Teilnehmende deuten schon vor der abschließenden Fragestellung die gestiegene Motivation zum Engagement und mehr Zuversicht an (vgl. 263 Person J: „Engagement und Motivation ist wichtig für positive Auswirkungen auf Gesun- dung“; Person K: „Motivation, mehr auf sich zu achten“; Person I: „Zuversicht in körperli- che Leistungsfähigkeit“; Person C: „Zuversicht, in Santiago anzukommen“). Da der An- stieg von Motivation und Zuversicht dem salutogenetischen Modell nach ein eindeutiges Zeichen für eine Bewegung in Richtung health-ease bedeutet, geht schon zu diesem Zeit- punkt der Untersuchung aus den Aussagen einzelner Teilnehmender ein deutlicher gesund- heitlicher Fortschritt hervor. 10.3.2 Erleben von Mitspracherecht durch das Ausüben wichtiger Aufgaben Mit den Fragen 16 und 17 wurde die konkrete Untersuchung des Mitspracherechts einge- leitet. Fragen 16/16a prüften die Erfahrung von Mitspracherecht durch die Übernahme von Auf- gaben bzw. Diensten. Mit Frage 17 sollte die Wahrnehmung des Mitspracherechts im Hin- blick auf wichtige Entscheidungsprozesse während der Wanderung erörtert werden. Begonnen wurde mit der Erforschung von Hypothese B2. Hypothese B2: Die Vielfalt an Mitwirkungsmöglichkeiten durch die Übernahme von wichtigen Auf- gaben sowie durch die Notwendigkeit individueller Beiträge zur Gestaltung der Wanderung bedingen ein kontinuierliches Erleben von Mitsprache und Partizipation, das sich positiv auf die Komponente Bedeutsamkeit auswirkt. Die entsprechenden Fragen 16/16a dazu lauten: „Hatten Sie auf der Wanderung die Möglichkeit, etwas zu tun, was für die Gruppe oder für den Verlauf der Wanderung wichtig war?“. „Wenn ja: Haben Sie die Möglichkeit genutzt? Hatte das Auswirkungen auf Ihren Gesundungsprozess?" Tabelle 43 fasst die entsprechenden Ergebnisse zusammen. 264 Tabelle 43: Auswertung der Hypothese B2 Selektionskriterium Kategorien Personen N Hypothese B2 trifft zu A, B, C, D, E, F, G, H, I, J 10 Übernahme von Diensten/Aufgaben: - Kartenleser(-in) bzw. Wanderführer(-in) - Fahnenträger(-in) - Rauchbeauftragte(r) - Wartung des VW-Busses A, B, C, D, E, F, H, I A, C, D C, D, E, F, H, I C, F, H D 8 Hypothese B2: Wichtige Beiträge für die Wanderung und die Gruppe und ihre Konsequenz auf den Gesundungsprozess Auswirkung auf den Gesundungsprozess: Positives Feedback, z. B. bei guter Ausführung des Amtes Freude Sinn der Verantwortungsübernahme erken- nen: Beispiele: - Verantwortung übernehmen tat gut - Verantwortung für andere übernehmen ist wichtig Persönliche Ressourcen und Nutzen wieder bewusst machen, dadurch weniger Angst vor Wiedereinstieg in Beruf Empfinden des Engagements als nicht be- deutend herausragend bei: - Unterforderung bzw. Wunsch nach mehr Herausforderung - Bewertung persönl. Leistung als selbst- verständlich bzw. nicht wichtiger als die der anderen Stress B, D, E, H, I B B E, H E H D B, D, I B D, I H 5 Fortsetzung 265 Fortsetzung Tabelle 43: Auswertung der Hypothese B2 Selektionskriterium Kategorien Personen N Unterstützung der Gruppe mit sozialen Kompetenzen: - sich integrieren - mit Gesprächen für Spaß und Erleichte- rung sorgen - Zuhören und loben - Hilfsbereitschaft - Verantwortung für andere übernehmen - Zuversicht vermitteln - Humor, Fröhlichkeit weitergeben - Beitrag für Gruppe in zwischenmenschli- chen Kontakten - kleine Führungsaufgaben übernommen - sich in Gruppe einbringen und unterstüt- zen - andere zum Lachen bringen - Erinnerungen an lustige Geschichten A, C, D E, F, G, H, I A A A C D E E F G H I I 8 Auswirkungen auf den Gesundungsprozess: Wohlfühlen Positives Gefühl Mehr Gesundheit Mehr Zuversicht in persönliche Ressourcen Mehr Selbstbewusstsein Mehr Eigenständigkeit Sich als wichtig für die Gemeinschaft erle- ben Persönliche Weiterentwicklung Freude empfunden A, F, G, H, I A G G G, H G G F, G, I G I 5 Engagement für das Projekt nach der Wanderung: - Mitgestaltung des Weihnachtsessens - im Garten Kaffeetrinken ausrichten C 1 Hypothese B2: Wichtige Beiträge für die Wanderung und die Gruppe und ihre Konsequenz auf den Gesundungsprozess Auswirkungen auf den Gesundungsprozess: Erleben von Freude und positivem Feedback C 1 Fortsetzung 266 Fortsetzung Tabelle 43: Auswertung der Hypothese B2 Selektionskriterium Kategorien Personen N Anfangs mehr Nutznießer(-in) (statt Bei- träge für Gemeinschaft); dann Veränderung des Anspruchs im Hinblick auf Aufgaben und Ziele J 1 Hypothese B2: Wichtige Beiträge für die Wanderung und die Gruppe und ihre Konsequenz auf den Gesundungsprozess Auswirkungen auf den Gesundungsprozess: Gefühl von Gleichberechtigung und Mit- sprache durch Beteiligung nach persönli- chen Ressourcen J 1 Zehn Personen hatten während der Wanderung das Gefühl, etwas Wichtiges für die Grup- pe bzw. zum Gelingen der Wanderung beigetragen zu haben (s. Tabelle 43). Neun Perso- nen haben während der Wanderung positiv von ihrem Engagement profitiert. Eine Person gibt an, nach der Wanderung etwas für das Projekt geleistet zu haben und darüber Freude und positives Feedback erlebt zu haben. Person J verweist darauf, dass auch Nutznießen innerhalb der Gemeinschaft möglich ist. Doch auch bei dieser Person scheint im Laufe der Zeit ein Umdenken erfolgt zu sein. An die Stelle des Nutznießens trat ihren Angaben nach ein erhöhter Anspruch an persönliche Zielsetzungen und Aufgaben. Daher ist zu erwarten, dass auch diese Person auf der Wan- derung Aufgaben übernommen hat, die für die Gruppe oder die Wanderung wichtig waren. Person J wurde außerdem auch deshalb zu den Mitgestaltenden der Wanderung gezählt, weil sie Angaben zu Auswirkungen auf den Gesundungsprozess machte, zu denen sie nur über die Erfahrung von Mitspracherecht kommen konnte. Als positiven Effekt auf die Ge- sundheit benannte sie nämlich das „Gefühl von Gleichberechtigung und Mitsprache durch Beteiligung nach persönlichen Ressourcen“. Somit bestätigen die Angaben von zehn Per- sonen die Hypothese B2, dass die Mitsprache durch die Übernahme wichtiger Beiträge möglich ist und dass somit die Förderung von Bedeutsamkeit über diesen Kanal erfolgt. Die Angaben der Befragten konnten hauptsächlich zu zwei Hauptkategorien gebündelt werden. Die Kategorie „Übernahme von Aufgaben“ beinhaltet mit Ausnahme der Aussage von Person D überwiegend Angaben zu übernommenen Diensten wie z.B. “Fahnenträger(in)“ oder „Rauchbeauftragte(r)“. Für Person D eröffnete sich aus der Situation heraus ein Auf- 267 gabenfeld, innerhalb dessen sie ihre individuellen Ressourcen geltend machen konnte. Sie hat der Gruppe mit der Wartung des Kleinbusses geholfen. Ihre Unterstützung bezog sich somit nicht auf ein vorweg konstruiertes Aufgabengebiet, sondern entstand aus einer spon- tanen Notsituation heraus. Dieser Einsatz persönlicher Ressourcen bei einer Anforderung erwies sich für Person D als eine „Generalprobe“ für den beruflichen Alltag, die sie offen- bar so erfolgreich bewältigte, dass sie danach zuversichtlicher dem beruflichen Wiederein- stieg entgegenblicken konnte. Eben diese intensiven Erfahrungen mit solch nachhaltiger Tragweite verdeutlichen die therapeutischen Potentiale und die Effizienz des Jakobusweg- projektes. Insgesamt kann bei den Angaben zu den Auswirkungen der Übernahme von Aufgaben auf den Gesundungsprozess Unterschiedliches beobachtet werden: Zunächst benennen acht Personen die Verrichtung von Diensten als wichtige Beiträge für die Gruppe. Daher kann vermutet werden, dass die Ausführung dieser Dienste im übertra- genden Sinne als Teilhabe an sozial anerkannten, wichtigen Aktivitäten verstanden wurde. Darunter gibt es auch drei Teilnehmende, die - trotz Wahrnehmung positiver gesundheitli- cher Effekte - die Bedeutung des Ausübens einer Aufgabe als wertvollen Beitrag relativie- ren, da für sie ein solcher Beitrag entweder selbstverständlich war oder nicht anspruchsvoll genug war, um als wichtig zu gelten. Für die Diskussion der Hypothese B2 heißt das, dass zur Förderung des bewussten Erlebens von Mitsprache Aufgaben wichtig sind, die im Hin- blick auf die jeweiligen individuellen Ressourcen anspruchsvoll genug sein müssen. An- sonsten könnte der therapeutische Effekt verpuffen. Abgesehen von diesem Einwand zeigen sich innerhalb dieser Kategorie bei vier Personen sehr positive Einflüsse auf den Gesundungsprozess. Darunter stechen therapeutische Effek- te hervor, die durch die Übernahme von Verantwortung erzielt wurden. Dabei haben Per- sonen E und H die Bedeutung von Verantwortungsübernahme für ihre Gesundung erkannt. Person H bleibt bei dieser Erkenntnis, obwohl sie bei der Ausführung eines Amtes Stress empfunden hat und diesen als Auswirkung auf den Gesundungsprozess angibt. Person B spricht sogar von Freude als positiven Effekt der Verantwortungsübernahme. In der Hauptkategorie „Unterstützung der Gruppe mit sozialen Kompetenzen“ erscheinen ebenfalls acht Nennungen. Fünf dieser acht Personen konnten eindeutig positiv von ihren 268 Beiträgen für die Gemeinschaft profitieren. Hinsichtlich der Auswirkungen auf den Ge- sundungsprozess scheint die Unterstützung der Gruppe mit sozialen Kompetenzen leicht eindeutiger oder effektiver zu wirken als die Verrichtung der konstruierten Aufgaben. Für die Hypothese B2 lässt sich festhalten, dass zehn Personen durch die Übernahme von sozial anerkannten Tätigkeiten und Aufgaben die Gestaltung der Wanderung mittrugen und daher ihr Mitspracherecht auf diesem Wege geltend machten. Neun Personen nahmen durch diese Mitgestaltung positive Effekte auf ihren Gesundungsprozess wahr. Die Hypo- these B2 kann dahingehend ergänzt werden, dass es für das bewusste Erleben von Partizi- pation wichtig ist, dass die zu verrichteten Aufgaben den jeweiligen individuellen Ressour- cen der Beteiligten gerecht werden. 10.3.3 Teilhabemöglichkeiten an sozial anerkannten wichtigen Entscheidungs- prozessen Bei der Aufstellung der Hypothese B3 wurde überlegt, dass die Reflexionsrunden auf der Wanderung, die unter gruppenpsychotherapeutischen Rahmenbedingungen abgehalten werden, ein konstantes Feld zum Erleben von Mitspracherecht darstellen. Alle Mitglieder haben dort die Möglichkeit, ihre Eindrücke des Tages zu schildern und eventuelle Anliegen zur Diskussion zu stellen. Darüber hinaus ergeben sich natürlich auch im Tagesgeschehen Situationen, in denen spontane Entscheidungen getroffen werden müssen. Zur Untersuchung des Mitsprache- rechts des oder der Einzelnen stellt sich die Frage, wie die Gruppe mit Entscheidungen umgeht. Die Hypothese B3 dazu lautet: Hypothese B3: Die SOC-Komponente Bedeutsamkeit wird gefördert, da die Wanderinnen und Wanderer in sozial anerkannte wichtige Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Zur Untersuchung der Hypothese wurde die folgende Frage 17 gestellt: 269 „Hatten Sie auf der Wanderung ein Mitspracherecht bei wichtigen Entscheidungsprozes- sen, die die Wanderung oder die Gruppe betrafen?“ Tabelle 44: Auswertung der Hypothese B3 Selektionskriterium Kategorien Personen N Mitspracherecht bei wichtigen Entschei- dungsprozessen die Wanderung oder die Gruppe betreffend erlebt Beispiele: - ausgeglichenes Verhältnis von Regeln und Mitspracherecht - Veränderungen möglich - Gefühl von Mitspracherecht, obwohl keine persönlichen Änderungsvorschläge gemacht - Mitspracherecht bei Planung und Inter- pretation der Karte - Mitspracherecht bei Entscheidungen zum Wegverlauf; Entscheidungen nie aufge- zwungen - je nach Willen und Zutrauen viel Ein- fluss möglich - Erleben von Mitspracherecht bei Über- nahme eines Amtes - alle Teilnehmenden übernehmen Ver- antwortung - Beteiligung nach persönlichen Ressour- cen möglich - wechselseitige Verantwortung zwischen Gruppe und dem Einzelnen A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K D E F F F G I K K K 11 Mitspracherecht bei wichtigen Entschei- dungsprozessen die Wanderung oder die Gruppe betreffend erlebt, aber: - Gefühl von Mitspracherecht muss sich bei Einzelnen entwickeln - Beteiligung auf allen Gebieten nicht er- forderlich - Gruppe folgen, ohne Beteiligung mög- lich, weil Gruppe ermöglicht, sich auf etwas einzulassen C, K C K K 2 Erleben von Mitspracherecht in Bezug auf das eigene Wohl durch: - Distanz zum kränkeren Zimmernachbarn - sich wichtig nehmen K 1 Hypothese B3: Erleben von Mitspracherecht bei wichtigen Entschei- dungsprozessen die Wande- rung oder die Gruppe betref- fend Als Delegierte(r)/Patienten-Vertreter(-in) mit Mitspracherrecht vertraut J 1 Fortsetzung 270 Fortsetzung Tabelle 44: Auswertung der Hypothese B3 Selektionskriterium Kategorien Personen N Umgang mit Mitspracherecht der Mitar- beitenden manchmal problematisch Gründe: - Minderwertigkeitskomplex aus berufli- chen Gründen - akzeptiert nur wenige Ärzte - professionelle Ratschläge entstammen der Theorie und nicht aus Selbsterfah- rung der Krankheit J 1 Hypothese B3: Erleben von Mitspracherecht bei wichtigen Entschei- dungsprozessen die Wande- rung oder die Gruppe betref- fend Problematischer Umgang mit Mitspra- cherecht kann Gesundungsprozess blo- ckieren J 1 Die Ergebnisse sprechen klar für die Annahmen in Hypothese B3 (s. Tabelle 44). Alle Befragten haben Mitspracherecht bei wichtigen Entscheidungsprozessen erlebt und können diese Erfahrungen teilweise mit konkreten Beispielen belegen. Zwei Teilnehmende geben darüber hinaus folgende interessante Punkte zu bedenken: Person C folgend muss sich das Gefühl des Mitspracherechts erst entwickeln. Aus der Sicht von Person K bestand auf der Wanderung kein Zwang, sich überall beteili- gen zu müssen. An einer anderen Stelle spricht Person K ferner von wechselseitiger Ver- antwortung zwischen der Gruppe und dem Einzelnen. Es war also möglich, sich in die Gemeinschaft einzubringen und für diese Verantwortung zu übernehmen. Dann und wann konnte der oder die Einzelne aber auch Verantwortung abgeben, der Gruppe ohne Beteili- gung folgen, um sich statt dessen auf etwas anderes einlassen zu können. Diese Aussagen sprechen für eine gut funktionierende Gemeinschaft, in der Einzelne Verantwortung über- nehmen, in der aber genug Vertrauen und Stabilität gegenwärtig ist, um sich fallen lassen zu können. Mit einer solchen Gruppe können unterschiedliche therapeutische Zielsetzungen erarbeitet und eine Vielfalt an Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten aufgegriffen werden. Personen J und K beschreiben ein Mitspracherecht, das sich jenseits der Entscheidungen die Gruppe bzw. die Wanderung betreffend bewegt. Es geht um die Mitbestimmung im Hinblick auf das eigene Wohlbefinden. Person K konn- te erfolgreich eigene Bedürfnisse durchsetzen, d.h. sich beispielsweise im Hinblick auf die eigene Gesundung vom kränkeren Zimmernachbarn distanzieren. 271 Person J verweist auf Blockaden des Gesundungsprozesses, wenn der Umgang mit Mit- spracherecht problematisch wird. Schwierigkeiten kommen somit dann auf, wenn der selbstbestimmte Umgang mit der Erkrankung aus verschiedenen Gründen die Mitsprache der Therapeutinnen und Therapeuten im Sinne von Hilfe nicht mehr zulässt. Diese Aussa- gen deuten darauf hin, dass ein konstruktiver Umgang mit Mitspracherecht nicht selbstver- ständlich ist und von gegenseitiger Akzeptanz sowie Vertrauen abhängt. Person J spricht auch im Zusammenhang von Verstehbarkeit des Kontaktes von leichten Irritationen, die sie aber auf ihre persönlichen Hintergründe zurückführt. Zuzüglich der hier erfolgten Anga- ben, in der Person J ihre Skepsis Ärzten und therapeutischen Interventionen gegenüber äußert, wird deutlich, dass die Zusammenarbeit hier nicht immer einfach ist. Umso ein- drucksvoller ist der Erfolg der therapeutischen Begegnung zu bewerten, wenn diese Person die Beziehung zum Chefarzt an einer anderen Stelle (s. Tabelle 15) besonders hervorhebt und wie folgt darstellt: „ - Vertrauen aufgrund seiner hohen Kompetenz - Vertrauen durch langjährigen Kontakt - Achtung u. Respekt vor Chefarzt als Arzt u. Mensch“. 10.3.4 Erleben von Bedeutsamkeit durch den historischen, religiösen und kulturellen Hintergrund des Jakobusweges Ziel der Frage 1 war die Erforschung des persönlichen Stellenwertes des Jakobusweges für die Wanderinnen und Wanderer. Frage 18 vertiefte die Untersuchung des Jakobusweges als berühmten historischen Pilgerweg und seine Auswirkung auf das Erleben von Bedeut- samkeit. Die entsprechende Hypothese B4 dazu lautet: Hypothese B4: Die Teilnahme an der Jakobuswanderung fördert das Erleben von Bedeutsamkeit und Lebenssinn durch den historischen, religiösen und kulturellen Hintergrund des Pilgerweges. Hypothese B4 wurde im Hinblick auf die Rolle des Jakobusweges in diese Teilhypothesen gegliedert: 272 Hypothese J1: Die historische, religiöse und kulturelle Attraktivität/Größe des Jakobusweges sowie das berühmte Ziel Santiago de Compostela sind wichtige Motivations- faktoren bei der Entscheidung zur Teilnahme und bei der Bewältigung von Anforderungen. Hypothese J2: Historische, religiöse und kulturelle Hintergründe des Jakobusweges regen zur Introspektion an. Hypothesengerichtet konstruiert wurde Frage 18: „Der Jakobusweg hat bekannterweise als Pilgerweg eine lange geschichtliche, kulturelle und religiöse Tradition. Denken Sie, dass diese Tradition ein wichtiges Motiv ist, sich auf die Jakobuswanderung zu begeben?“ Vor der Auseinandersetzung mit der Größe des Jakobuswegs als Motivationsfaktor, wird der Chronologie entsprechend Hypothese B4 untersucht. Hatten die Wanderinnen und Wanderer generell Bedeutsamkeit durch die historische und religiöse Größe des Pilgerweges erfahren? Das war die Forschungsfrage aus deren Per- spektive heraus die Angaben der Gruppe zusammengefasst wurden. Dazu zeigte sich schon bei den Antworten zur Frage 18 ein starkes Ergebnis. Es stellte sich heraus, dass neun Personen in unterschiedlichen Formen Lebenssinn oder Bedeutsamkeit durch den historischen Pilgerweg erfahren hatten. Darüber hinaus gaben die Personen an, dass für sie die dahinterstehende geschichtliche, religiöse oder kulturelle Tra- dition ein wichtiger Beweggrund zur Teilnahme war. Bei der fragenübergreifenden Auswertung der Hypothese B4 wurden Ergebnisse der Fra- gen 1, 2, und 3c,d berücksichtigt (s. Tabelle 45). 273 Tabelle 45: Auswertung der Hypothese B4 Selektionskriterium Kategorien Personen N Hypothese B4 trifft zu A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K 11 Hypothese B4: Förderung von Bedeutsam- keit durch den beeindru- ckenden historischen, religi- ösen und kulturellen Hinter- grund des Jakobusweges Wahrnehmung, Erleben von Religion/ Spiritualität: Beispiele: - langer Pilgerweg - Religiosität - mehr Zuwendung zur Kirche durch: - Kirchen- und Klösterbesichtigungen - mehr Wissen - Konfrontation mit Kirche, Glauben, Friedhöfen, Tod - religiöse Hintergründe wichtig, weil: - Gang nach Jerusalem oder Rom ähn- lich - Religion gibt Hoffnung - Rückkehr zur Religion - der Glaube (ist gesundungsförderndes Element) - der Begriff „Pilgern“ könnte ein Hinde- rungsgrund zur Teilnahme sein - bei Anwesenheit des Krankenhaus-Paters - wenn schöne Monumente gegeben - religiöser Hintergrund löst Bewunderung für frühere Pilger aus, aber hat keinen Einfluss auf den persönlichen Glauben - religiöser/historischer Hintergrund ver- deutlicht den heutigen Komfort beim Pil- gern im Gegensatz zu früheren Strapazen - bei vielen positive Auswirkung auf den Gesundungsprozess besonders durch den religiösen Aspekt - obwohl Spaß an der Kirche verloren, beeindruckt von Kirchen und Kapellen auf der Strecke - Ausstrahlung und Wirkung der Glau- bensstätten auf der gesamten Strecke nach Santiago - Hilfe und Kraft in Leidensphasen durch: - Religion - Glauben - Bibel - Geschichte A, C, D, E, F, G, H, I, J, K G, H J J K G E C, D C C C C E F F J 10 Fortsetzung 274 Fortsetzung Tabelle 45: Auswertung der Hypothese B4 Selektionskriterium Kategorien Personen N Wahrnehmung, Erleben von Religi- on/Spiritualität: Beispiele: - Zauber, dem man sich nicht entziehen kann - in Kirchen, weil: - Orte der Stille mit besonderer Atmo- sphäre - Anregung zum Beten - Anregung zur Stille - Anregung zum In-sich-kehren - in Kirchen Erkenntnis und Lösungen möglich - manchmal zu viele Kirchen - mehr Jakobus als Wanderung - Anregung zum Nachdenken über Gott, religiöser geworden - Ehrfurcht, Stolz beim Erwandern eines Jahrhunderte alten Weges verspürt - Spiritualität des Pilgerweges wahrge- nommen - Vertrauen zu Gott, der Glaube (fördert Erleben von Handhabbarkeit) A, C, D, E, F, G, H, I, J, K A H, I, K H H H H I K K C E E G 10Hypothese B4: Förderung von Bedeutsam- keit durch den beeindru- ckenden historischen, religi- ösen und kulturellen Hinter- grund des Jakobusweges Wahrnehmung/Erleben von Kultur, Ge- schichte bzw. Pilgertradition Beispiele: - dahinterstehende Entwicklung und Sinn - sich über Jahrhunderte entwickelter Grundgedanke - echter kultureller sozialgeschichtlicher Hintergrund - Abwechslung zwischen dem Körperli- chem und Kultur Besonderheit des Jakobusweges trifft zu wegen: - Vergangenheit, Pilger u. Geschichte - vieler Gedanken an historischen Hinter- grund - Bewegung seit vielen Jahren - Tradition Beständigkeit - man verbindet etwas mit dem Jakobus- weg - Freude und Erinnerungen durch schöne alte Gebäude A, B, C, D, G, J, K, A B, K K K K K B B 7 Fortsetzung 275 Fortsetzung Tabelle 45: Auswertung der Hypothese B4 Selektionskriterium Kategorien Personen N Hypothese B4: Förderung von Bedeutsam- keit durch den beeindru- ckenden historischen, religi- ösen und kulturellen Hinter- grund des Jakobusweges Wahrnehmung jahrhundertlanger Pilgertra- dition fördert: - Erfahrung von Werten, Aspekten, die heute selten bzw. verloren gegangen sind oder übertrieben werden - Erfahrung von Beständigkeit und Tradi- tion - Erleben von Bedeutsamkeit - Bewusstsein für heutigen Komfort - Wahrnehmung des Werkes vieler Men- schen - Hochachtung vor Leistung und Bau- kunst der Menschen A, C, D, G, J A, J J C, G C A D 5 Alle Teilnehmenden haben Bedeutsamkeit durch den beeindruckenden historischen Hin- tergrund erfahren (s. Tabelle 45). Zehn Personen bringen in ihren Schilderungen ein Erleben von Religion oder Spiritualität zum Ausdruck. Im Vergleich zur Wahrnehmung von Kultur und Geschichte auf der Wan- derung war der Faktor „Religion/Spiritualität“ in den Ergebnissen präsenter. Interessant ist dabei zu beobachten, dass die Bedeutsamkeit von Religion hier unterschiedliche Aspekte hat. Bei Personen G und H beginnt die Wahrnehmung von Religiosität mit dem Begriff „Pilgerweg“. Ein weiterer Teil der Gruppe (z. B. Personen A, C, und F) bewertet die Reli- gion bzw. Spiritualität als sinnstiftendes oder besinnliches Ereignis. Person A spricht bei- spielsweise von einem „Zauber, dem man sich nicht entziehen kann“, Person C nennt „schöne Monumente“, die sie sah, und Person F war „beeindruckt von Kirchen und Kapel- len auf der Strecke“. Anderen Teilnehmenden bedeutet der religiöse Aspekt mehr als die Wahrnehmung von Schönem und Besinnlichem. Dabei sind Glaube und Religion für Personen G, E, und J elementare Widerstandsressourcen in Krankheitsphasen. „Religion gibt Hoffnung“, sagt Person G. Person E bewertet für sich den Glauben als gesundungsförderndes Element und beobachtete bei anderen Menschen: „positive Auswirkungen auf den Gesundungsprozess, besonders durch den religiösen Aspekt“. Schließlich beschreibt Person J ganz eindeutig, dass sie in Leidensphasen Hilfe und Kraft durch die Religion, den Glauben und die Bibel erlange. 276 Bei der weiteren Untersuchung der Aussagen kommt noch eine andere charakteristische Gruppe der Befragten zum Vorschein. Aus den Angaben von den Personen C, E, H, I und K lässt sich schließen, dass - egal ob gesundungsfördernd oder nicht - der religiöse oder spirituelle Hintergrund des Pilgerweges einen Einfluss auf die Wanderinnen und Wanderer hatte, der etwas auslöste oder der sie in irgendeiner Form bewegte. Abgesehen von Person K, der das Thema „Jakobus“ und die vielen Kirchen eindeutig zu viel wurden, waren die anderen Befragten diesbezüglich überwiegend positiv angerührt. So löste dieses Charisma bei Person C „Bewunderung für frühere Pilger“ aus und regte sie zum „Nachdenken über Gott“ an. Person E spürte „Ehrfurcht und Stolz“ beim Erwandern des alten Pilgerweges. Personen H und I nahmen besonders in Kirchen einen starken Impuls zur Introspektion wahr. Introspektion bewirkt aus Sicht der Teilnehmenden auch der historische und kulturelle Hintergrund des Jakobusweges. Das Empfinden von Bedeutsamkeit zeigt sich dabei ähn- lich differenziert wie bei den religiösen Aspekten. Einerseits bewerten die Interviewten kulturelle Güter als sinnstiftende Erlebnisse. Das ist beispielsweise bei Person B beobacht- bar, die auf der Wanderung „Freude und Erinnerungen durch schöne alte Gebäude“ emp- funden hat oder es wird bei Person A deutlich, die einen „sich über Jahrhunderte entwi- ckelten Grundgedanken“ sieht und den „echten kulturellen sozialgeschichtlichen Hinter- grund“ wertschätzt. Dann gibt es aber auch andere Teilnehmende, bei denen die innerliche Bewegung intensiver war (siehe Personen A, C, D, J und G). Die Wahrnehmung jahrhun- dertlanger Pilgertradition förderte aus Sicht von Personen A und J die Erfahrung von „Werten“ oder die „Erfahrungen von Beständigkeit und Tradition“ (Personen J u. K). Zweifelsohne können sich diese tiefen Eindrücke von Bodenständigkeit und Unvergäng- lichkeit in Krisensituationen als wertvolle Widerstandsressourcen erweisen. Zusammenfassend wird Hypothese B4 bestätigt. Der Auswertung nach fördert der historische, religiöse und kulturelle Hintergrund des Ja- kobusweges das Erleben von Bedeutsamkeit durch: - Religion und Spiritualität als sinnstiftendes und besinnliches Ereignis sowie als Erfah- rungsfeld, das die Wahrnehmung von Schönem ermöglicht, - das Erleben von Glauben und Religion als wichtige Widerstandsressourcen in Krank- heitsphasen, 277 - die Wahrnehmung einer starken innerlichen Bewegung oder eines Impulses zur Introspektion, ausgelöst durch das historische oder religiöse Charisma des mittelalterli- chen Pilgerweges, - die Wahrnehmung einer jahrhundertlangen Pilgertradition, die Werte, Bodenständig- keit und Tradition wieder aufleben lässt. Darüber hinaus werden schon zu diesem Zeitpunkt der Auswertung therapeutische Effekte dieser Erfahrungen sichtbar. Die Diskussion dieser Effekte erfolgt im Rahmen der weiter- führenden Auseinandersetzung zur Rolle des Jakobusweges im Hinblick auf den Gesun- dungsprozess (s. Abschnitt 10.3.5 f.) 10.3.5 Die Attraktivität des Jakobusweges als Beweggrund zur Teilnahme Hypothese J1: Die historische, religiöse und kulturelle Attraktivität/Größe des Jakobusweges sowie das berühmte Ziel Santiago de Compostela sind wichtige Motivationsfaktoren bei der Entscheidung zur Teilnahme und bei der Bewältigung von Anforderungen. Im Rahmen des Fragetyps „offene Fragen“ wurden bereits erste Beweggründe zur Wande- rung auf dem Jakobusweg ermittelt (siehe Frage 2). Dabei stellte sich heraus, dass die Grö- ße oder die Attraktivität des Jakobusweges in dem hier definierten Sinne nicht als Motiv zur Teilnahme benannt wurde. Es dominierte der Wunsch nach Gesundung bzw. nach Wei- terentwicklung. Anders sah es bei den Antworten zur Frage 18 aus, als hypothesengerichtet gefragt wurde, ob die Bedeutsamkeit des Jakobusweges ein wichtiges Motiv zur Teilnahme an der Wan- derung sein kann. An der Stelle stimmten 9 Personen der Hypothese J1 zu. Bei der fragenübergreifenden Bewertung fanden sich in den Antworten zu den Fragen 3b und 5 Hinweise auf das Ziel Santiago de Compostela als motivationalen Faktor. Tabelle 46 fasst die Ergebnisse zusammen. 278 Tabelle 46: Auswertung der Hypothese J1 Selektionskriterium Kategorien Personen N Hypothese J1: Historische, religiöse und kulturelle Attraktivität/Größe des Jakobusweges sowie das berühmte Ziel Santiago de Compostela sind wichtige Motivationsfaktoren zum Aufbruch und zur Bewälti- gung von Anforderungen Die Bedeutsamkeit des Jakobusweges sowie das berühmte Ziel Santiago de Compostela sind wichtige Motivationsfak- toren bei der Entscheidung zur Teilnah- me und bei der Bewältigung von Anfor- derungen Gründe: Erfahrung von Bedeutsamkeit durch Teilha- be an einem sozial anerkannten wichtigen Entscheidungsprozess: - sonst nur ein Spaziergang - Erfahrung von Bedeutsamkeit, die ein Leben lang anhält und an die man sich im Alter erinnert - Erwanderung eines besonderen Pilger- weges anfangs ein Motivationsfaktor - Bedeutsamkeit durch die Erwanderung eines besonderen Pilgerweges zuneh- mend bewusster/ wichtiger - Anerkennung (bei Nachbarn und Freun- den) durch Ankunft in Santiago, d. h.: - Würdigung der Ankunft mit Feier und Ehrungen - Festhalten der schönen Geschichte in Büchern - stolz darauf, dazu zu gehören Bedeutsamkeit des geschichtlichen und reli- giösen Hintergrundes/des Charisma des Pilgerweges Gründe: - bei vielen positive Auswirkung auf den Gesundungsprozess besonders durch den religiösen Aspekt - obwohl Spaß an der Kirche verloren, beeindruckt von Kirchen und Kapellen auf der Strecke - Ausstrahlung und Wirkung der Glau- bensstätten auf der gesamten Strecke nach Santiago A, B, C, D, E, F, G, H, I, J A, B, G, I A B G G I C, E, F, H, J E F F 10 Fortsetzung 279 Fortsetzung Tabelle 46: Auswertung der Hypothese J1 Selektionskriterium Kategorien Personen N - Hilfe und Kraft in Leidensphasen durch: - Religion - Glauben - Bibel - Geschichte - Jakobus(-figur) bei Bewältigung der Strecke wichtig, z. B. als Symbol für weiteres Stück erfolgreich bewältigen Weges Das Ziel Santiago de Compostela Gründe: - eventuelle Sündenvergebung - Santiago de Compostela ist der Anstren- gung wert - Ankunft in Santiago ist wichtig - das Ende des Weges - Ziel verfolgen Wahrnehmung jahrhundertlanger Pilgertra- dition fördert: - Erfahrung von Werten, Aspekten, die heute selten bzw. verloren gegangen sind oder übertrieben werden - Erfahrung von Beständigkeit und Tradi- tion - Erleben von Bedeutsamkeit - Bewusstsein für heutigen Komfort J H A, C, D, G, I G G I D C, G, I A, C, G, J A, J J C, G C J1 trifft zu, vermutlich je nach Einstel- lung zur Religion G 1 Hypothese J1: Historische, religiöse und kulturelle Attraktivität/Größe des Jakobusweges sowie das berühmte Ziel Santiago de Compostela sind wichtige Motivationsfaktoren zum Aufbruch und zur Bewälti- gung von Anforderungen Andere wichtige Motive: - Distanz und andere aufgeführten Dinge wie z. B. Landschaft, Natur, Gruppe wichtiger als das Religiöse - Motivation durch Zuversicht in mehr Gesundheit auf dem Jakobusweg - Motivation, Strapazen auszuhalten durch Bedeutsamkeit der Gruppe F, G, H F G H 3 10 Personen befürworten, dass der religiöse, kulturelle oder historische Hintergrund ein wichtiges Motiv ist, um sich auf den Weg zu machen, bzw. um den Anforderungen des Weges standzuhalten (siehe Tabelle 46). Dabei werden vier motivationale Ebenen deutlich: 280 a) Erfahrung von Bedeutsamkeit durch Teilhabe an einem sozial anerkannten wichtigen Entscheidungsprozess (Personen A, B, G und I), b) Bedeutsamkeit des geschichtlichen und religiösen Hintergrundes/des Charisma des Pilgerweges (Personen C, E, F, J und H), c) Wahrnehmung jahrhundertlanger Pilgertradition (Personen A, C, G und J) und d) Erreichen des Ziels Santiago de Compostela (Personen A, C, D G und I). Die Punkte „Bedeutsamkeit des geschichtlichen und religiösen Hintergrundes/des Charis- ma des Pilgerweges“ und die „Wahrnehmung jahrhundertlanger Pilgertradition“ wurden als wichtige Bedeutsamkeitsträger bereits in Abschnitt 10.3.4 diskutiert. Nun soll näher beleuchtet werden, inwiefern bei den Wanderinnen und Wanderern eine Wertschätzung dieser Größe des Jakobusweges vorlag, dass sie seine Erwanderung als Teilhabe an einem sozial anerkannten wichtigen Entscheidungsprozess bewerteten. Die eindeutige Wahrnehmung der Jakobuswanderung in diesem Sinne zeigt sich bei Per- sonen A, B, G und I (s. Tabelle 46). Person G benennt die Besonderheit des Pilgerweges direkt als „Motivationsfaktor“. Sie wurde sich ihrer Wertschätzung dieses Wanderweges im Laufe der Zeit sogar bewuss- ter. Für Person A wäre das Ganze ohne den entsprechenden Hintergrund wohl „nur ein Spa- ziergang“ und für Person I hat die Erwanderung des Jakobusweges einen ganz hohen Stel- lenwert. Das Erreichen des Ziels Santiago de Compostela ist für sie offenbar etwas Großar- tiges, das Anerkennung verschafft, auf das man stolz sein kann. Für Personen B und I ist das Gehen auf dem Jakobusweg ein einschneidendes Erlebnis, das Person I am liebsten „in Büchern festhalten“ möchte, während Person B diese Erfahrung ihrer Einschätzung nach bis ins hohe Alter behalten wird. Man kann also festhalten, dass mindestens vier Personen nicht nur Bedeutsamkeit auf dem Jakobusweg erfahren haben, sondern dass sie darüber hinaus die Wanderung auf dem his- torischen Pilgerweg als Teilhabe an einem sozial anerkannten wichtigen Entscheidungs- prozess wahrgenommen haben und dafür bestimmt auch so manche Schwierigkeit bewäl- tigten. Die Ankunft in Santiago de Compostela ist ebenso eine Teilnahme an einem wichtigen Entscheidungsprozess wie der Gang auf dem Jakobusweg. Dennoch wurde eine gesonderte 281 Kategorie mit der Überschrift „Das Ziel Santiago de Compostela“ gebildet, denn das Errei- chen eines Ziels an sich birgt noch weitere Motivationsquellen zum Engagement in sich. Die alleinige Berücksichtigung der Attraktivität des Pilgerortes aufgrund seiner Berühmt- heit würde demnach diese wichtigen Dimensionen des Wirkungsfaktors „Santiago de Compostela“ außer Acht lassen. Personen C, G und I erklären die Möglichkeit, ein Ziel zu verfolgen zur wichtigen Antriebsquelle. Sie sprechen damit einen wesentlichen heilsamen Faktor an, denn je nach Lebenssituation kann es für einen Menschen mit Blick auf seine Gesundung sehr wertvoll sein, überhaupt ein Ziel zu haben, das er verfolgen kann. Person G betrachtet Santiago de Compostela als Ziel, das der Anstrengung wert ist. Für Person G ist dieses Ziel auch im Hinblick auf eventuelle Sündenvergebung von Bedeutung. Personen I und D sagen, dass die Ankunft in Santiago de Compostela wichtig sei. Wobei bei Person I schon festgestellt wurde, dass sie sich von dieser Ankunft Anerkennung sei- tens des Freundes- und Bekanntenkreises sowie Stolz auf die bewältigte Leistung ver- spricht. Für Person D steht Santiago symbolisch für das Ende eines langen Weges. Das Ziel dieser Person ist offenbar die Bewältigung dieser großen Anforderung. Zusammenfassend werden aus den Aussagen der Teilnehmenden zum Ziel Santiago de Compostela im Hinblick auf seine Bedeutung als Motivationsfaktor folgende Wirkungs- mechanismen erkennbar: - es ist ein berühmter Pilgerort, der grundsätzlich einer Anstrengung wert ist, - es ist ein symbolisches Zeichen für die Teilhabe an einem wichtigen Entscheidungs- prozess, daher besteht bei der Ankunft Aussicht auf Anerkennung seitens der Umwelt, - Santiago bietet ein Ziel, das verfolgt werden kann, - Santiago de Compostela steht als Ende eines langen Weges symbolisch für das erfolg- reiche Ende einer großen Anforderung. Obwohl die Hypothese J1 durch die Angaben der Befragten stark unterstützt wird, sind das Ziel Santiago de Compostela und die Würde des alten Pilgerweges nicht für alle Teilneh- menden die wichtigsten Motive, sich auf den Weg zu machen. Einzelnen Befragten sind andere Motivationsfaktoren nach wie vor ebenso wertvoll oder sogar bedeutender, und diese kommen in den Antworten zur Frage 18 erneut zur Sprache. Für Person F sind As- pekte wie z.B.: „Landschaft, Natur, Gruppe“ wichtiger als die Würde des historischen Pil- 282 gerweges. Personen G und H sprechen sich zwar eindeutig für die besonderen Hintergrün- de des Jakobusweges und ihre Rolle als Motivationsfaktoren aus, sie lassen dabei aber nicht andere unterstützenden Aspekte wie die Gruppe oder den Wunsch nach Gesundung außer Acht. 10.3.6 Anregung zur Introspektion Zahlreiche historische, kulturelle und religiöse Stätten lassen den Wanderweg wie eine Zeitreise durch das Mittelalter erscheinen. Im Folgenden geht es um eine Auseinanderset- zung darüber, inwieweit sich das Erleben der Historizität auf die Introspektionsfähigkeit auswirkte. Hypothese J2: Historische, religiöse und kulturelle Hintergründe des Jakobusweges regen zur Introspektion an. Diese Hypothese wurde hauptsächlich durch Frage 19/19a untersucht. „Während der Wanderung begleitet einen das Charisma (die Größe, die Erhabenheit, die Würde, Atmosphäre, Ausstrahlung...) des mittelalterlichen Pilgerweges auf Schritt und Tritt. Man trifft häufig auf Gedenkstätten, Kathedralen und andere Zeugnisse der Vergan- genheit. Denken Sie, dass eben diese Monumente dazu anregen, mehr in sich zu gehen, sich mit wichtigen Lebensfragen oder mit dem Sinn des Lebens auseinanderzusetzen?“ Bei Befürwortung, wurde erfragt, wie sich das Insichgehen auf den Gesundungsprozess ausgewirkt hatte. Da auch in den Antworten zu Frage 3a die Anregung zur Introspektionsfähigkeit durch den Jakobusweg als gesundungsfördernder Wirkungsfaktor benannt wurde, erfolgte die fragen- übergreifende Auswertung (s. Tabelle 47) unter Berücksichtigung der dortigen Angaben. 283 Tabelle 47: Auswertung der Hypothese J2 Selektionskriterium Kategorien Personen N Anregung zur Introspektionsfähigkeit durch den bedeutsamen Hintergrund des Pilgerweges trifft zu: Beispiele: - Wahrnehmung des Werkes vieler Men- schen - Zauber, dem man sich nicht entziehen kann - Denken in anderen Bahnen - Hochachtung vor Leistung und Bau- kunst der Menschen - bei Anblick der Monumente, weil das das Ausmaß des persönlichen Erfolges (ver- deutlichte) - Vergangenheit spüren in unserer Gegen- wart sich zurückversetzen in Situation früherer Pilger - Wahrnehmung der Anforderungen trotz guter Ausrüstung - in Kirchen, weil: - Orte der Stille mit besonderer Atmo- sphäre - Anregung zum Beten - Anregung zur Stille - Anregung zum In-sich-kehren - in Kirchen Erkenntnis und Lösungen möglich A, D, F, H, I, K A A A D D K K H, I H H H H I 6 Hypothese J2: Anregung zur Introspekti- onsfähigkeit durch den be- deutsamen Hintergrund des Pilgerweges Auswirkungen auf den Gesundungsprozess: - in Stress-Situationen ruhiger, zufriedener und gelassener, weil: - diese im Vergleich zu der Größe des Jakobusweges u. der Monumente an Bedeutung verlieren - persönlicher Stress an Bedeutung ver- liert im Vergleich zur Religiosität, die sich über Jahrhunderte erhalten hat - trotz genereller Skepsis Betrachtung von Religiosität aus anderem Blick- winkel - mehr Zuversicht in Zukunft bzw. Moti- vation, sich Anforderungen des Lebens zu stellen - Atmosphäre schöne Begleiterscheinung, aber Wandern und Gemeinschaft wichti- ger A, F, H A F H 3 Fortsetzung 284 Fortsetzung Tabelle 47: Auswertung der Hypothese J2 Selektionskriterium Kategorien Personen N Starke Anregung zur Introspektion in Trauerphase Gründe: - keine Kirche ohne Friedhof - durch Landschaft Erinnerungen an Ehe- partner-(in) wach geworden - manchmal zu viele Kirchen - mehr Jakobus als Wanderung K 1 Auswirkungen auf den Gesundungsprozess: - in Trauerphase können starke, teilweise beängstigende emotionale Reaktionen auftreten K 1 Keine Anregung zur Introspektion, durch den bedeutsamen Hintergrund des Jako- busweges, aber: - Anregung zum Nachdenken über Gott, religiöser geworden - Ehrfurcht, Stolz beim Erwandern eines Jahrhunderte alten Weges verspürt - Spiritualität des Pilgerweges wahrge- nommen C, E C E E 2 Wenig Anregung zur Introspektion über den bedeutsamen Hintergrund des Pil- gerweges, wenn: - schwere Wegabschnitte - Bildung nicht gegeben - Erlernen von Ressourcen zur Handhab- barkeit wichtiger als Auseinandersetzung mit Historie - Kultur und Historie eher Ablenkung von Krankheit B, J B J J 2 Hypothese J2: Anregung zur Introspekti- onsfähigkeit durch den be- deutsamen Hintergrund des Pilgerweges Keine Anregung zur Introspektion, durch den bedeutsamen Hintergrund des Jako- busweges Gründe: - eher anders herum, d. h. man kommt, z. B. durch das Singen aus sich heraus - das Charisma des Heiligen Jakobus spielt keine Rolle - Anregung zur Introspektionsfähigkeit durch Wandern, z.B. beim alleine Gehen B, C B C C 2 285 Aus den Antworten zur Frage 19 geht hervor, dass fünf Teilnehmende auf der Jakobus- wanderung eine Anregung zum Nachdenken im Sinne der Fragestellung erlebten und die Annahmen in Hypothese J2 bestätigen (s. Tabelle 47). Die sechste in der tabellarischen Übersicht aufgeführte Person (K) befürwortete diese Hypothese bereits bei Frage 3a. Per- sonen C und J distanzieren sich hier von Introspektion im Sinne einer intensiven Ausei- nandersetzung mit sich und wichtigen Lebensfragen. In Abschnitt 10.3.5 gehören sie aber zu denjenigen, die bei der Wahrnehmung jahrhundertlanger Pilgertradition ein Bewusstsein für Werte, Beständigkeit und Tradition aufzeigen. Auch Person B war durch Geschichte und Kultur innerlich bewegt. Bei Frage 18 spricht sie von „Freude und Erinnerungen beim Anblick schöner Gebäude“. Somit stimulierten die Monumente des Mittelalters bei neun Teilnehmenden die Vorstel- lungskraft und bewegten sie zu Augenblicken der Besinnung. Hypothese J2 gilt damit als bestätigt. Im Hinblick auf die Ergebnisse zu den Fragen 19 und 19a lässt sich das Folgende beobach- ten: Personen A und D waren offenbar besonders durch die historischen Gebäude bewegt, bei deren Anblick sie Achtung vor der Baukunst der Menschen damals verspürten. Ein anderer Faktor, der aus der Sicht von Personen H und I zur Besinnlichkeit oder zur Introspektion anregt, sind Kirchen als „Orte der Stille mit besonderer Atmosphäre“. Neben des Impulses zum „In-sich-kehren“ oder zum Gebet, wie ihn Person H schildert, seien dort aus Sicht von Person I sogar Erkenntnisse und Lösungen möglich. Person A bringt die Wahrnehmung der Bedeutsamkeit von Monumenten mit den Auswir- kungen auf den Gesundungsprozess sehr deutlich in Verbindung. Die Wirkung des Erle- bens zeigt sich ihren Angaben nach darin, dass im Alltag stresshafte Lebenssituationen im Vergleich zu der Größe des Jakobusweges an Bedeutung verlieren. Vielleicht wird sich dieser Effekt auch bei Person D einstellen, die vergleichbar von der Baukunst angetan war. Person D war in jedem Fall durch den historischen Hintergrund des Jakobusweges inner- lich bewegt, weil sie beim Anblick der Bauten das Ausmaß des persönlichen (therapeuti- schen) Erfolges realisierte. Wie wesentlich dieser Effekt für die Gesundheit sein kann, wird deutlicher bei der Erinne- rung daran, in welcher Lebenssituation sich ein Teil der Mitwirkenden vor der Wanderung 286 befand. Einige von ihnen waren in ihrer Selbstwahrnehmung in erster Linie Patientinnen und Patienten eines psychiatrischen Akutkrankenhauses. Noch vor kurzer Zeit waren sie froh, im geschützten Rahmen einer Einrichtung zu sein und verspürten wahrscheinlich we- nig Ambitionen, sich von diesem sicheren Ort weiter als nötig zu entfernen. Darüber hin- aus ist davon auszugehen, dass sie in der akuten Krise Anforderungen eher als Bedrohun- gen wahrnahmen, die den gerade erkämpften Zustand des Wohlbefindens gefährden könn- ten. Wie überwältigend muss dann die bewusste Wahrnehmung sein, dass sich die Situati- on so verändern kann. Statt in einer psychiatrischen Klinik befindet man sich nun auf ei- nem mittelalterlichen Pilgerweg und ist in der Lage, sich an Orten wohlzufühlen, die über 1000 Kilometer von dieser Klinik entfernt sind. Darüber hinaus ist es möglich mindestens 15 Kilometer am Tag zu wandern und mit Menschen erfolgreich in Kontakt zu treten, de- ren Sprache man nicht spricht. Somit kann ein wesentlicher therapeutischer Effekt der Monumente sein, dass sie durch visuelle und atmosphärische Eindrücke eine bewusste Wahrnehmung dieses Situations- wechsels bewirken. Die Folge davon ist den Angaben von Personen D und F nach ein deut- licher Motivationsschub. Person D beginnt wieder zu glauben, dass sich nach einer erfolg- reich bewältigten Wanderung auch andere, größere Träume erfüllen könnten. Auch Person F verspürte durch den historischen Hintergrund „mehr Zuversicht in Zukunft bzw. Motivation, sich Anforderungen des Lebens zu stellen“. Die Angaben von Person K „Vergangenheit spüren in unserer Gegenwart; sich zurückver- setzen in Situation früherer Pilger“ sowie „Wahrnehmung von Anforderungen trotz guter Ausrüstung“ deuten darauf hin, dass ihr durch das Hineinversetzen in die Situation früherer Pilgernder das Ausmaß der gesamten Anforderung bewusst wurde, was ähnlich wie bei Person D die Wertschätzung des persönlichen Erfolges zur Folge haben könnte. Möglich wäre auch wie bei Person A die Relativierung persönlicher Beschwerden im Vergleich zu den Anforderungen, vor denen damalige Pilgernde mit weitaus weniger komfortabler Aus- rüstung standen. Auch Person E schildert ihre Wahrnehmung von Spiritualität und spricht von „Ehrfurcht und Stolz beim Erwandern eines jahrhundertealten Weges“. Sie wurde aber dadurch nicht zu mehr Introspektion im Sinne der Fragestellung angeregt. Person H befürwortet eindeutig die Anregung zur Introspektion. Im Hinblick auf die Ge- sundung gesteht sie jedoch den Wirkungsfaktoren „Gemeinschaft“ oder „Wandern“ mehr 287 Bedeutung zu. Person C fühlte sich nicht durch das „Charisma des heiligen Jakobus“ zur Auseinandersetzung mit sich und dem Sinn des Lebens bewegt. Sie wurde zwar zum „Nachdenken über Gott“ angeregt, aber die Introspektion im Sinne der Fragestellung er- folgte eher beim Wandern. Für Personen B und J waren andere therapeutische Effekte der Wanderung bedeutender. Person B wurde während der Wanderung zu mehr Extrover- tiertheit angeregt z. B. durch das gemeinsame Singen. Darüber hinaus war es aus ihrer Sicht bei schwierigen Wegabschnitten aus rein pragmatischen Gründen mit dem Blick nach Innen nicht so einfach. Person J empfand die Kultur und Historie eher als Ablenkung von Krankheit. Darüber hin- aus deuten ihre Aussagen darauf hin, dass ein angemessenes Bildungsniveau erforderlich sei, um von diesen Aspekten profitierten zu können. Für ihren persönlichen Gesundungs- prozess bewertet Person J das Erlernen von Ressourcen zur Handhabbarkeit von Anforde- rungen als relevanter. Es zeigt sich also, dass die charismatische Wirkung des mittelalterlichen Pilgerweges auch von der Empfänglichkeit, von den Bedürfnissen und von sonstigen Voraussetzungen der Wanderer und Wanderinnen abhängig ist. Interessant sind hierzu die Angaben von Person K. Bei Frage 3a führt Person K Beispiele für den Impuls zur Introspektion als gesundungs- fördernde Aspekte an. Person K erlebte aber auch eine herausragende, teilweise beängsti- gende, emotionale Bewegung bei der häufigen Begegnung mit Kirchen. Sie bewertet den ständigen Kontakt mit Friedhöfen und Kirche aus ihrer Lebenssituation heraus ab und an als überdosiert. Diese Angaben bestätigen somit wiederholt den starken Einfluss von Ge- bäuden, Plätzen und Atmosphären auf dem Jakobusweg und verdeutlichen, dass dieser Einfluss Menschen je nach Stimmung oder Lebenssituation unterschiedlich bewegen kann. Daher darf die Stärke dieser Aura nicht unterschätzt werden und muss bei Überlegungen zur Indikation berücksichtigt werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Größe oder Spiritualität des Jakobusweges wahrgenommen wurde und bei den meisten Befragten einen Impuls zum Nachdenken setz- te. Den bisherigen Ausführungen nach kann die Historizität des Jakobusweges das Folgende bewirken: 288 - Achtung und Ehrfurcht vor dem Werk anderer Menschen, - Ablenkung von Krankheit, - stresshafte Lebenssituationen im Alltag verlieren im Vergleich zur Größe des Jako- busweges an Bedeutung, - das Spüren von Vergangenheit in unserer Gegenwart und das Hineinversetzten in die Situation früherer Pilgernder verdeutlicht das Ausmaß der Anforderung, die zu bewäl- tigen ist, - visuelle und atmosphärische Eindrücke machen den Situationswechsel von dem Auf- enthalt in einem psychiatrischen Akutkrankenhaus zur Wanderung auf dem Jakobus- weg bewusst und verdeutlichen den therapeutischen Erfolg; der Effekt ist dabei ein Motivationsschub im Hinblick auf andere (größere) Anforderungen, - Kirchen, als Orte der Stille mit besonderer Atmosphäre, bewegen zur Introspektion und ermöglichen Erkenntnisse oder Lösungen. 10.3.7 Anstieg der Motivation zum Engagement und Bewertung von Anforderungen als Herausforderungen Frage 20c gehört zu dem Frageblock der abschließenden Fragestellung, in dem die Teil- nehmenden direkt mit den Haupthypothesen konfrontiert wurden. Die Haupthypothese zum Erleben und zur Förderung von Bedeutsamkeit durch die Jako- buswanderung lautet: Haupthypothese Wanderung HW1 (Bedeutsamkeit): Auf der Jakobuswanderung wird der Gesundungsprozess psychisch kranker Men- schen durch bedeutsamkeitsförderliche Erfahrungen wie folgt verbessert: • die Motivation, sich für etwas einzusetzen steigt und Anforderungen des Le- bens werden mehr als Herausforderung denn als Belastung erlebt. Die daraus resultierende Fragestellung 20c) lautet: „20. Man kann nach einer Pilgerreise verschiedene Schlüsse ziehen. 289 Eine mögliche Annahme im Hinblick auf den Gesundungsprozeß eines psychisch kranken Menschen wäre, daß die Teilnahme an der Jakobuswanderung folgende drei Dinge bewirkt: a) Die Zuversicht wird bestärkt, daß Anforderungen des Lebens lösbar sind (durch die gewonnenen persönlichen Bewältigungsfertigkeiten oder durch die erfahrenen Po- tentiale der Gemeinschaft) b) Neue Informationen oder unerwartete Situationen werden besser verstanden, Zu- sammenhänge können deutlicher erkannt werden und das vorausschauende Denken hat sich verbessert. (durch Erfahrungen der Beständigkeit, der Transparenz und durch den Gewinn an Wissen) c) Die Motivation sich für etwas einzusetzen ist gestiegen, und Anforderungen des Lebens werden mehr als Herausforderung, denn als Belastung erlebt. (durch Erfahrungen von Lebenssinn, durch neue Hobbies, durch die Erfah- rungen, etwas getan zu haben, was für die Gruppe wichtig war) Trifft eine oder mehrere dieser Angaben Ihrer Meinung nach zu? Nach der Reflexion der Teilhypothesen zeigt sich bei der direkten Auseinandersetzung mit der Haupthypothese das Folgende: Tabelle 48: Auswertung der Hypothese HW1 (Bedeutsamkeit) Selektionskriterium Kategorien Personen N Hypothese HW1 (Bedeut- samkeit): Erwerb von Widerstandsres- sourcen in Bezug auf Be- deutsamkeit bzw. Anstieg der Motivation zum Enga- gement; Erleben von Anfor- derungen als Herausforde- rung statt als Belastung HW1 (Bedeutsamkeit) trifft zu Gründe: Motivation, sich zu engagieren gestiegen Beispiele: - Motivation, erworbene Widerstandsres- sourcen weiterzuführen - Motivation, für Wohlfühlen zu sorgen steigt A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K A, B, C, D, F, G, H, I, K B, G D 11 Fortsetzung 290 Fortsetzung Tabelle 48: Auswertung der Hypothese HW1 (Bedeutsamkeit) Selektionskriterium Kategorien Personen N Hypothese HW1 (Bedeut- samkeit): Erwerb von Widerstandsres- sourcen in Bezug auf Be- deutsamkeit bzw. Anstieg der Motivation zum Enga- gement; Erleben von Anfor- derungen als Herausforde- rung statt als Belastung - Motivation, das Ziel Santiago de Com- postela zu erreichen, weil: - eventuelle Sündenvergebung - Santiago de Compostela ist der An- strengung wert - Motivation zur weiteren Teilnahme am Projekt (z. B. Mithilfe bei Veranstaltun- gen) - Hilfsbereitschaft gestiegen - mehr Energie Bereitschaft für andere etwas zu tun - durch weitere Teilnahme mehr Selbstbe- wusstsein - Motivation steigt durch Zuversicht, dass Anforderungen des Lebens bewältigt werden, z.B.: - weil spontan angegangene Anforde- rungen erfolgreich bewältigt wurden - weil erfahren, dass sich Engagement lohnt, z. B. trotz schmerzender Füße wohl gefühlt Anforderungen werden nicht als Belastung sondern als Herausforderung erlebt Gründe: - 14 Tage weg von zu Hause und Familie ist Herausforderung - für sich sorgen, sich wichtig nehmen war große Herausforderung - intensivere Unterstützung als im Alltag - Vertrauen in geschütztes Erfahrungsfeld - Umdenken von Belastung zu Motivation - Bewältigung von Anforderungen gehört zum Leben Erweiterung bedeutungsvoller Lebensberei- che: - Hobbies - Kontakt mit Mitmenschen G H I I H D, K K K A, B E, F, G, J, K E B, G J J K K B, H B H Alle Teilnehmenden bestätigen die Hypothese HFW1 (Bedeutsamkeit) (s. Tabelle 48). Der Erwerb von Widerstandsressourcen gewichtet sich an dieser Stelle wie folgt: Neun Personen sprechen eindeutig von einer gestiegenen Motivation, sich zu engagieren. Sieben Personen betonen mehr den Teil, Anforderungen eher als Herausforderungen und 291 nicht als Belastungen wahrzunehmen und das vereinzelt schon vor und während der Pilger- reise. In den Schilderungen von Personen B, E, und G wird deutlich, dass sie auf der Wanderung vor persönlich großen Hürden standen (siehe Personen B u. G: „für sich sorgen, sich wich- tig nehmen war große Herausforderung“; Person E: „14 Tage weg von zu Hause und Fami- lie ist Herausforderung“). Die Bewertung dieser Anforderungen als Herausforderung sowie der Antrieb zur Bewältigung der Schwierigkeiten zeugen von einer hohen Motivation zum Engagement schon während der Pilgerreise. Den Wanderinnen und Wanderern ist auf der einen Seite klar, dass der Weg für sie schwierig werden könnte, aber sie sehen auch einen Sinn hinter diesen Beschwerlichkeiten und sie erwarten trotz dieser Hürden eine positive Erfahrung. Diese Aussicht ist stark genug, um Sorgen überwinden zu lassen. Person J begründet ihren Mut, sich Anforderungen zu stellen mit der intensiveren Unter- stützung während der Wanderung im Vergleich zum Alltag. Person K stellt für sich nach der Wanderung heraus, dass die Bewältigung von Anforde- rungen zum Leben gehöre. Eine bessere Erkenntnis für das persönliche Coping kann man wohl kaum gewinnen. Darüber hinaus spricht ihre Umbewertung einer Belastung zur Her- ausforderung für einen eindeutigen Schritt in Richtung health-ease. Als Hintergrund für den Anstieg an Motivation zeigt sich sowohl bei Person K als auch bei den Teilnehmenden D, H, B und I die Erfahrung, dass sich Engagement lohnt. Ein entscheidender Beitrag der Jakobuswanderung ist demnach die Aktivierung zum En- gagement und die Bestätigung dieses Engagements mit einer positiven Erfahrung, so dass die Teilnehmenden nach der Wanderung Resumées ziehen wie: Personen D u. K: „Motivation steigt durch Zuversicht, dass Anforderungen des Lebens bewältigt werden z. B. weil spontan angegangene Anforderungen bewältigt wurden; weil erfahren, dass sich Engagement lohnt z. B. trotz schmerzender Füße wohlgefühlt“ oder Person H: „durch weitere Teilnahme mehr Selbstbewusstsein“ und Personen B und G: “Motivation, erworbene Widerstandsressourcen weiterzuführen“ usw.. Auch der Gewinn neuer bedeutungsvoller Lebensbereiche, der für einen Anstieg an Be- deutsamkeit spricht, wird von den Befragten B und H angeführt. Letztendlich zählt auch Person G zu dieser Gruppe, die in Santiago de Compostela ein Ziel sieht, das der Anstren- gung wert ist und somit ihr Leben als neues Feld des Engagements bereichert hat. 292 Zusammenfassend lässt sich im Hinblick auf Hypothese HW1 (Bedeutsamkeit) festhalten, dass die folgenden therapeutischen Effekte, die gleichzeitig auch Indizien für den Anstieg an Bedeutsamkeit sind, nachgewiesen werden konnten: - Anstieg der Motivation zum Engagement - vor allem durch die Aktivierung zum Engagement während der Wanderung und Bes- tätigung dieses Engagements mit positiven Erfahrungen, - durch die Zuversicht in die erfolgreiche Bewältigung von Anforderungen, - Anforderungen werden umbewertet von Belastungen zu Herausforderungen, - Erweiterung von bedeutungsvollen Lebensbereichen. 293 10.3.8 Zusammenfassung der Ergebnisse zum Erleben und zur Förderung von Bedeutsamkeit Die fragenübergreifende Auswertung der Hypothesen zum Erleben und zur Förderung von Bedeutsamkeit ergibt das folgende Ergebnis: Tabelle 49: Auswertung der Haupthypothese B Hypothesen zum Erleben und zur Förderung von Bedeutsamkeit Personen N Haupthypothese B: Erleben und Förderung von Bedeutsamkeit während der Jakobuswande- rung trifft zu Wirkungsfaktoren: Hypothese B1: Viele Freude bereitende, sinnstiftende Aktivitäten respektive das Entde- cken von Hobbies (hypothesengerichtete Fragen 15-15a) (offene Frage 1) (offene Fragen 3-3d) Hypothese B2: Vielfältige Möglichkeiten zum Erleben des eigenen Mitspracherechts durch das Ausüben wichtiger Aufgaben (hypothesengerichtete Fragen 16, 16a) Hypothese B3: Teilhabemöglichkeiten an sozial anerkannten Entscheidungsprozes- sen/Erleben von Mitspracherecht (hypothesengerichtete Frage 17) Hypothese B4: Beeindruckender historischer, religiöser und kultureller Hintergrund des Jakobusweges (Fragen 1, 2, 3c-d, 18) A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K B, E, H, J A, B, C,D, E, F, G, I, J A, B, C, D, E, F, G, H, I, J A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K 11 11 11 4 9 10 11 11 Fortsetzung 294 Fortsetzung Tabelle 49: Auswertung der Haupthypothese B Hypothesen zum Erleben und zur Förderung von Bedeutsamkeit Personen N Wirkungsfaktoren: Hypothese J1: Die historische, religiöse und kulturelle Attraktivität/Größe des Jakobus- weges sowie das berühmten Ziel Santiago de Compostela sind wichtige Motivationsfaktoren bei der Entscheidung zur Teilnahme und bei der Bewältigung von Anforderungen. (hypothesengerichtete Frage 18) (offene Frage 3b) (offene Frage 5) Hypothese J2: Historische, religiöse und kulturelle Hintergründe des Jakobusweges re- gen zur Introspektion an. (hypothesengerichtete Fragen 19, 19a) (offene Frage 3a) A, B, C, D, E, F, G, H, I, J A, B, C, D, E, F, G, I, J I, G A, C, D A, D, F, H, I, K A, D, F, H, I K 10 9 2 3 6 5 1 Hypothese HW1 (Bedeutsamkeit) trifft zu, denn die Motivation sich für etwas einzusetzen ist gestiegen, und Anforderungen des Lebens werden mehr als Herausforderung, denn als Belastung erlebt (z. B. durch Erfahrungen von Lebenssinn, durch neue Hobbies, durch die Erfahrun- gen, etwas getan zu haben, was für die Gruppe wichtig war). (hypothesengerichtete Frage 20c) A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K 11 Den Aussagen der Teilnehmenden nach wurden das Erleben und die Förderung von Be- deutsamkeit auf allen erwarteten Ebenen möglich (s. Tabelle 49). 1. Förderung von Bedeutsamkeit durch sinnstiftende Aktivitäten Sowohl bei der alleinigen Untersuchung der hypothesengerichteten Fragen 15 – 15a als auch bei der frageübergreifenden Zusammenfassung der Ergebnisse stellt sich heraus, dass alle Teilnehmenden auf der Jakobuswanderung Bedeutsamkeit durch sinnstiftende Erleb- nisse erfuhren und dass zehn Teilnehmende darüber auch Widerstandsressourcen für den Alltag gewannen. Die Hypothese B1 kann somit bestätigt werden. Die Kategorie „Gruppe“ wird bei der frageübergreifenden Zusammenfassung von acht Personen benannt und tritt damit am deutlichsten als Erfahrungsfeld für Bedeutsamkeit während der Wanderung in den Vordergrund. Dabei kann die „Gruppe“ aus der Sicht der Befragten - neben vielen anderen Effekten (s. Tabelle 42) - insbesondere die folgenden sinnstiftenden Erfahrungen vermitteln: 295 - Freude am Zusammensein mit Menschen, - neue Kontakte, - Befriedigung von elementaren Bedürfnissen wie z. B. „menschliche Nähe“, „Wärme“ oder „Gemeinschaftlichkeit“ und vor allem - das Erleben einer positiven Beziehungsgestaltung, das sich beispielsweise ausdrückt in Angaben wie: „untereinander achtsam sein“, „Zusammengehörigkeit“, „sich miteinan- der gut verstehen“ usw.. Obwohl die Gruppe den Angaben der Befragten nach als herausragender Wirkungsfaktor zur Förderung von Bedeutsamkeit während Wanderung eingestuft wurde, zeigt sich, dass bei der Kategorie „Wandern“, benannt von 6 Teilnehmenden, mehr Personen auch den Nutzen dieser Aktivität für den Alltag bewusst erkennen. Nichtsdestotrotz lassen die Aus- sagen von zwei Personen ganz eindrucksvoll darauf schließen, dass durch die Gruppe der folgende langfristige Gewinn an Ressourcen für den Alltag nachweislich möglich ist: - durch neue Kontakte mehr Möglichkeiten zum Austausch und zum Gewinn weiterer Widerstandsressourcen, - verbesserte Freizeitgestaltung (z. B. „zusammen ausgehen“, „zusammen tanzen“ oder „Spieleabende“) und somit mehr Lebensfreude, - verbesserter Umgang mit Nähe und Distanz, - die Erkenntnis des gesundungsfördernden Effektes von neuen Kontakten (z. B. Kontakt zu anderen Menschen ist sinnvoller als Grübeln). Wie bereits erwähnt, wird das Erleben von Bedeutsamkeit nach Aussagen der Teilnehmen- den auch durch das Wandern unterstützt. Die Benennung des Nutzens der Aktivität für den Alltag ist im Vergleich zur Kategorie „Gruppe“ im Hinblick auf die Personenanzahl sogar höher. Der Wertschätzung des Wanderns als sinnvolle Aktivität im Alltag liegen die fol- genden dazugehörenden Aspekte zu Grunde: - die sozialen Bezüge, - Bezüge zur Kultur, - Förderung des Körpergefühls, - Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit, - Vorbeugung negativer, gesundungsschädigender Spannungszustände. 296 Als weitere dominante Kategorien zur Förderung von Bedeutsamkeit rücken „schöne Bil- der/Ereignisse“ (7 Personen) sowie das „Naturerleben“ (3 Personen) in den Vordergrund. Diese Faktoren können aus Sicht der Befragten als Erinnerungen im Alltag zu wertvollen Widerstandsressourcen gegen Stimmungstiefs werden. Darüber hinaus können lustige A- nekdoten oder außergewöhnliche Erlebnisse, die im Freundeskreis erzählt werden, für An- erkennung und somit für die Steigerung des Selbstwertgefühls sorgen. Abschließend zeigt sich bei den weiteren vielfältigen sinnstiftenden Erlebnissen und Akti- vitäten ein deutlicher gemeinsamer Trend hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf den Alltag. So wird in den Angaben der Teilnehmenden erkennbar, dass sie durch diese vielen Erfah- rungen von Bedeutsamkeit oder Lebenssinn bei sich mehr Bewegung im Alltag beobach- ten. Diese Bewegung äußert sich in: - neuen Perspektiven, - neuen Interessen und Hobbies, - mehr Bereitschaft zur Selbsthilfe. Die Teilnehmenden berichten darüber hinaus von mehr Zuversicht und einer gestiegenen Motivation zum Engagement, was sie ebenso auf die Vielzahl an sinnstiftenden Ereignis- sen zurückführen. Das Erleben des Jakobusweges und seines spirituellen, kulturellen sowie religiösen Hintergrundes als sinnstiftendes Ereignis wird (unter Punkt 3) gesondert unter- sucht werden. 2. Erleben von Mitspracherecht a) Erleben von Mitspracherecht durch wichtige persönliche Beiträge Im Hinblick auf die Hypothese B2 lässt sich festhalten, dass zehn Personen durch die Ü- bernahme von sozial anerkannten Tätigkeiten und Aufgaben die Gestaltung der Wande- rung mittrugen und daher ihr Mitspracherecht auf diesem Wege geltend machten. Neun Personen benennen positive gesundheitliche Effekte, die auf diese Mitgestaltung zurückzuführen sind. Die genannten Beiträge der Einzelnen zur Unterstützung der Pilger- reise lassen sich hauptsächlich in die Kategorien: „Übernahme von Diensten und Aufga- ben“ (8 Personen) sowie in „Unterstützung der Gruppe mit sozialen Kompetenzen“ (8 Per- sonen) gliedern. 297 Neben der Freude über positives Feedback war bei der Übernahme von Diensten/Aufgaben ein entscheidender gesundungsfördernder Faktor die Erkenntnis, dass sich die Übernahme von Verantwortung sowie die Bewältigung von Anforderungen positiv auf den Gesun- dungsprozess auswirkt. Die Sinnebene des Engagements konnte also vermittelt werden. Auffällig wird auch, dass das Erleben von Mitspracherecht durch das Ausüben wichtiger Beiträge in Abhängigkeit zum Niveau der Aufgabe und dem individuellen Ressourcenpo- tential steht. Bei Unterforderung der oder des Teilnehmenden zeigte sich, dass die geleiste- te Unterstützung der Gruppe persönlich nicht als wichtiger Beitrag wertgeschätzt wurde. Entsprechend verpufft möglicherweise der gesundungsfördernde Effekt. Das Einbringen sozialer Kompetenzen wird von acht Personen als wichtige persönliche Leistung bewertet. Fünf dieser acht Personen konnten eindeutig positiv von ihren Beiträ- gen für die Gemeinschaft profitieren. Mit Blick auf die Auswirkungen dieser Beiträge auf den Gesundungsprozess scheint die Unterstützung der Gruppe mit sozialen Kompetenzen leicht eindeutiger oder effektiver zu wirken, im Vergleich zur Verrichtung von konstruier- ten Diensten und Aufgaben. Zusammenfassend konnte mit dieser Untersuchung nachgewiesen werden, dass Mitspra- cherecht durch die Übernahme von Aufgaben bzw. wichtiger Beiträge für die Gruppe mög- lich ist, und dass sich daraus positive Effekte auf die Gesundung ergeben. b) Erleben von Mitspracherecht durch Teilhabe an sozial anerkannten Entscheidungs- prozessen Alle Befragten erlebten auf der Wanderung Mitspracherecht bei wichtigen Entscheidungs- prozessen. Die Hypothese B3 gilt damit als bestätigt. Das Mitspracherecht wurde sowohl bei der Gestaltung der Pilgerreise als auch im Umgang mit dem persönlichen Wohlbefinden verwirklicht. Aus der Sicht von einer Person bestehe aber kein Zwang, sich überall beteiligen zu müs- sen. Anstelle dessen ergäbe sich auf natürliche Weise eine wechselseitige Verantwortungs- übernahme. Dabei übernähmen Einzelne Verantwortung für die Gruppe und die Gruppe würde widerum Einzelne auffangen, um ihnen bei entsprechender Indikation Entlastung zu ermöglichen. 298 Es zeigt sich, dass der Umgang mit Mitspracherecht professionell gehandhabt werden muss, um gesundungsfördernd zu wirken. Im Sinne der Belastungsbalance sollte es den Ressourcen der Teilnehmenden entsprechen. Je nach Persönlichkeit kann auch eine Zeit- spanne erforderlich sein, innerhalb derer sich die Wahrnehmung von Mitspracherecht erst entwickelt. Deutlich wird auch, dass ein gesundungsfördernder Umgang mit Mitsprache von gegensei- tiger Akzeptanz abhängt. 3. Erleben von Bedeutsamkeit durch den religiösen und kulturellen Hintergrund des Jako- busweges Bei der Auswertung der Hypothese B4 stellt sich heraus, dass alle Teilnehmenden die Be- deutsamkeit des Jakobusweges durch den beeindruckenden religiösen, geschichtlichen und kulturellen Hintergrund wahrgenommen hatten. Entsprechend kann stark davon ausgegan- gen werden, dass das Charisma des mittelalterlichen Pilgerweges nicht spurlos an Men- schen vorbeizieht, die auf diesem Weg wandern. Die hier untersuchte Pilgergruppe nahm den Faktor „Religion/Spiritualität“ deutlicher wahr als die Kultur und die Geschichte, die den Weg begleiten. Anzumerken bleibt, dass dies je nach Teilstrecke des Jakobusweges oder Gruppenkonstellation und noch vielen anderen Einflussfaktoren unterschiedlich sein kann. Die hier vorliegende Auswertung spricht dafür, dass der historische, religiöse und kulturel- le Hintergrund des Jakobusweges das Erleben von Bedeutsamkeit fördern kann durch: - Religion und Spiritualität als sinnstiftendes und besinnliches Ereignis sowie als Erfah- rungsfeld, das die Wahrnehmung von Schönem ermöglicht, - das Erleben von Glauben und Religion als wichtige Widerstandsressourcen in Krank- heitsphasen, - die Wahrnehmung einer starken innerlichen Bewegung oder eines Impulses zur Introspektion, ausgelöst durch das historische oder religiöse Charisma des mittelalterli- chen Pilgerweges, - die Wahrnehmung einer jahrhundertlangen Pilgertradition, die Werte, Bodenständigkeit und Tradition wieder aufleben lässt. 299 a) Größe und Attraktivität des Pilgerweges und des Ziels Santiago de Compostela als Motivationsfaktor Während bei den Ergebnissen zur offenen Frage 2 der Wunsch nach Gesundung oder nach Weiterentwicklung als Motiv zur Teilnahme an der Jakobuswanderung dominiert, zeigt sich bei der Auswertung der hypothesengerichteten Fragestellung (vgl. Frage 18) ein ande- res Bild. Neun Personen sagen bei den Antworten zur Frage 18, dass der religiöse, kulturelle oder historische Hintergrund ein wichtiges Motiv sei, um sich auf den Weg zu machen bzw. um den Anforderungen des Weges standzuhalten. Dabei werden drei motivationale Ebenen erkennbar: - Erfahrung von Bedeutsamkeit durch Wahrnehmung der Jakobuswanderung als Teilhabe an einem sozial anerkannten wichtigen Entscheidungsprozess - Bedeutsamkeit des geschichtlichen und religiösen Hintergrundes/des Charisma des Pilgerweges, - Wahrnehmung jahrhundertlanger Pilgertradition. Bei der fragenübergreifenden Bewertung fanden sich in den Antworten zu den Fragen 3b und 5 Hinweise auf eine weitere motivationale Ebene, nämlich: - Erreichen des Ziels Santiago de Compostela. Somit stimmen insgesamt 10 Personen der Hypothese J1 zu. Die Angaben der Befragten liefern folgende Argumente dafür, dass das Ziel Santiago de Compostela ein wesentlicher Motivationsfaktor zum Engagement sein kann: - es ist ein berühmter Pilgerort, der grundsätzlich einer Anstrengung wert ist, - es ist ein symbolisches Zeichen für die Teilhabe an einem wichtigen Entscheidungs- prozess, daher besteht bei der Ankunft Aussicht auf Anerkennung seitens des sozialen Umfeldes, - Santiago bietet ein Ziel, das verfolgt werden kann, - Santiago de Compostela steht als Ende eines langen Weges symbolisch für das erfolg- reiche Ende einer großen Anforderung. 300 Wie bereits ausgeführt, handelt es sich hier um Möglichkeiten, inwiefern das Ziel Santiago de Compostela die Motivation zum Engagement unterstützen kann. Diese Argumente er- gaben sich im Zuge der fragenübergreifenden Auswertung aus den Antworten von neun Personen. Bei der Konfrontation der Teilnehmenden mit der hypothesengerichteten Frage 18 befin- den allerdings drei Personen sowohl die Attraktivität des Jakobusweges mit dem großen Ziel Santiago de Compostela als auch andere Aspekte für wichtig zur Förderung von Moti- vation. So ist Personen G und H die Gruppe oder der Wunsch nach Gesundung ein ebenso starkes Argument für mehr Engagement. Für Person F sind die Landschaft, die Gruppe oder die Natur bedeutsamer als die Würde des historischen Pilgerweges. b) Anregung zur Introspektion durch den bedeutsamen Hintergrund des Jakobusweges Die Untersuchung zeigt, dass die historischen Bauwerke, die vielen religiösen Orte und die Spiritualität des mittelalterlichen Pilgerweges bei neun Teilnehmenden die Vorstellungs- kraft belebten und sie zu Momenten der Besinnung bewegten. Je nach Schwere der Erkrankung kann die Unterstützung der Fähigkeit zur Besinnung schon ein wichtiger Schritt in Richtung Gesundung sein. Die erfragte Innensicht im Sinne von Auseinandersetzung mit sich und wichtigen Lebens- fragen - angeregt durch den Jakobusweg - wird von sechs Personen befürwortet. Besonders starke Impulse gehen dabei zunächst von historischen Bauwerken aus. Sie regen die Fantasie an, ermöglichen das Hineinversetzten in die Zeit und die Lebensumstände der Menschen und der Pilgernden im Mittelalter. Darüber hinaus bewegen die Monumente emotional, indem sie beispielsweise das Empfinden von Stolz und Ehrfurcht beim Wan- dern auf diesem bedeutsamen Wanderweg aufkommen lassen oder indem sie Achtung vor der Baukunst der Menschen damals hervorrufen. Weitere wichtige Wirkungsfaktoren sind die Kirche und die Religion an sich. Als atmosphärische Orte der Stille fördern Kirchen Momente der Besinnung und ermögli- chen sogar entscheidende persönliche Erkenntnisse. Zusammenfassend kann die Größe und Historizität des Jakobusweges im Hinblick auf die Annahmen in Hypothese J2 das Folgende bewirken: 301 - Achtung und Ehrfurcht vor dem Werk anderer Menschen, - Ablenkung von Krankheit, - stresshafte Lebenssituationen im Alltag verlieren im Vergleich zur Größe des Jakobus- weges an Bedeutung, - das Spüren von Vergangenheit in unserer Gegenwart und das Hineinversetzten in die Situation früherer Pilgernder verdeutlichen das Ausmaß der Anforderung, die zu bewäl- tigen ist, - visuelle und atmosphärische Eindrücke machen den Situationswechsel von dem Auf- enthalt in einem psychiatrischen Akutkrankenhaus zur Wanderung auf dem Jakobusweg bewusst und verdeutlichen den therapeutischen Erfolg; der Effekt ist dabei ein Motiva- tionsschub im Hinblick auf andere (größere) Anforderungen, - Kirchen, als Orte der Stille mit besonderer Atmosphäre, bewegen zur Introspektion und ermöglichen Erkenntnisse oder Lösungen. 4. Erwerb von Widerstandsressourcen im Bereich Bedeutsamkeit Bei der direkten Konfrontation der Teilnehmenden mit der Haupthypothese zur Förderung von Bedeutsamkeit sagen alle Befragten, sie hätten Widerstandsressourcen im Bereich der Bedeutsamkeit im Sinne der Hypothese HW1 (Bedeutsamkeit) erworben. Das machen sie überwiegend an der gestiegenen Motivation zum Engagement fest (9 Personen). Sieben Personen betonen in ihren Antworten, Anforderungen mehr als Herausforderungen, denn als Belastungen wahrzunehmen. Der Gewinn neuer bedeutender Lebensbereiche (2 Personen) wird auch bei der abschließenden Fragestellung als Beleg für den Gewinn an Bedeutsamkeit angeführt. Daran wie die Teilnehmenden ihre erhöhte Motivation begründen, wird erkennbar, dass ihnen während der Pilgerreise der Sinn von Engagement vermittelt werden konnte - zum einen durch die generelle Erfahrung, dass sich Engagement lohnt und zum anderen durch die Zuversicht, dass Anforderungen bewältigt werden können. Insgesamt wird bei den Ergebnissen zur abschließenden Fragestellung deutlich, dass alle Faktoren, die für den Anstieg an Bedeutsamkeit sprechen, nachgewiesen werden konnten. 302 5. Weitere therapeutische Effekte a) Das Erleben persönlicher Bedeutsamkeit Eine neue Hypothese, die sich im Zuge des Forschungsprozesses entwickelte, ist, dass auf dem Jakobusweg durch unterschiedliche Faktoren das Erleben oder Entdecken der persön- lichen Bedeutsamkeit gefördert wird. Mit persönlicher Bedeutsamkeit ist gemeint, dass man sich als Mensch, als Person, wichtig genug nimmt, um sich für sich zu engagieren. Die nachstehende Tabelle 50 fasst die Angaben der Befragten zu diesem Aspekt aus den Ergebnissen der Fragen 2, 3a, 5b und 20c zusammen: Tabelle 50: Erleben und Förderung persönlicher Bedeutsamkeit Hypothesen zum Erleben und zur Förderung von Bedeutsamkeit Personen N Erleben/Förderung persönlicher Bedeutsamkeit: - Möglichkeit, für sich etwas zu tun - sich ernst/wichtig nehmen, d. h.: - persönliche Angelegenheiten regeln - an sich denken - sich etwas Gutes tun - sich etwas gönnen, z. B. französische Süßigkeiten, Kuchen - für sich sorgen - auf sich selbst achten zur Milderung von Trauer - für sich sorgen, sich wichtig nehmen war große Herausforderung - für sich Verantwortung übernehmen, z.B. Dinge in Eigeninitiative verän- dern B, G, I, J, K G I, K I K K K K K B, G J, K 5 Hier zeigt sich, dass diese Selbstwertschätzung für einige Teilnehmende vor der Wande- rung nicht selbstverständlich war. Sie bezeichneten den positiven fürsorgenden Umgang mit sich sogar als „große Herausforderung“ (vgl. Personen B und G). Aus der obigen Tabelle geht außerdem hervor, dass diese befragten Personen vor der Wan- derung einige bedeutende Lebensbereiche, die unmittelbar mit ihrer Person zu tun haben, ausgegrenzt hatten. Die von ihnen geschilderte Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse oder der persönlichen Angelegenheiten, die zu regeln sind, zeigt, dass die Grenzen durch die Teilnahme an der Jakobuswanderung wieder weiter ausgedehnt wurden. Das Engage- ment für sich und die Übernahme von Selbstverantwortung macht für sie wieder Sinn. Deutlich wird außerdem eine Bereitschaft zu einem gesünderen Umgang mit sich selbst. Einen Anstoß dazu gab wahrscheinlich die körperliche Bewegung, die bewirkt, dass man im wahrsten Sinne des Wortes wieder „in den Gang“ kommt. Mögliche Quelle ist sicher- 303 lich auch das Land Frankreich, das mit seinen kulinarischen Spezialitäten oder seiner be- sonderen Esskultur zum Genießen und zu dem Vorsatz, sich etwas Gutes tun, animiert. Für diese Annahme sprechen die Angaben von Person K: „sich etwas gönnen z.B. französische Süßigkeiten, Kuchen; sich etwas Gutes tun“. Darüber hinaus konnte mit dieser Untersuchung belegt werden, dass die Gruppe und die Mitarbeitenden zu mehr Selbständigkeit und Eigenverantwortung anregen (s. Abschn. 10.2.6). Daher ist wahrscheinlich, dass entsprechende Anregungen zur Selbstwertschät- zung durch Vorbilder seitens des therapeutischen Teams oder durch Impulse aus der Grup- pe erfolgten. b) Übertragung von Metaphern und Symbolik in den Alltag Tabelle 51: Übertragung von Metaphern und Symbolik in den Alltag Hypothesen zum Erleben und zur Förderung von Bedeutsamkeit Personen N Wirkung/Übertragung von Metaphern/Symbolik in den Alltag (Fragen 3a, 11, 13c) Beispiele: - bei Schwierigkeiten Weg Stein für Stein bewältigen - Jakobus(-figur) bei Bewältigung der Strecke wichtig, z.B. als Symbol für weiteres Stück erfolgreich bewältigen Weges - Weg Schritt für Schritt bewältigen D, H, J, K H H K 4 Die Metapher „einen Weg Schritt für Schritt gehen“ oder „Einen Weg Stein für Stein be- wältigen“ wird von den Teilnehmenden immer wieder angeführt als ein Bild, das sie bei der Lösung von Schwierigkeiten unterstützt. Bereits bei Frage 3a zeigen Personen H und K auf, wie sie sich des Bildes der schrittweisen Bewältigung eines schwierigen Wegabschnit- tes bei großen Anforderungen im Alltag bedienen. Personen D, H und J benennen die An- wendung der Symbolik bei Frage 11 als ihre internale Widerstandsressource zur Handhabe von Aufgaben. Dieses bewusste körperliche Erleben und die praktische Erfahrung, eine schwierige Anforderung tatsächlich in kleinen Schritten erfolgreich bewältigt zu haben, scheint demnach eine sehr prägnante Erfahrung im Bereich Handhabbarkeit zu sein. Das Bedienen der Symbolik und der Metaphern zur Lebenshilfe im Alltag deutet aber auch an, dass das Pilgerwesen und der Zeitgeist des Mittelalters auch auf Bedeutsamkeitsebene bei einigen Wanderinnen und Wanderern Spuren hinterlassen haben. Person H gibt zum Bei- spiel bei Frage 18 an, dass ihr die Jakobusfigur, welche ihr in den Kirchen begegnete, symbolisch verdeutlichte, wieder ein Stück des Weges erfolgreich bewältigt zu haben. 304 Der Jakobusweg ist somit von viel Symbolik, Gleichnissen, Traditionen, Ritualen und Bräuchen umgeben, die bis heute aussagekräftig sind und sich wunderbar als Lebenshilfe eignen. Das ist ein heilender Wirkungsfaktor im Bereich Handhabbarkeit und Bedeutsam- keit, der sich im Zuge der Auswertung herausstellte. Dieser Wirkungsfaktor hebt den Un- terschied zwischen einem historischen Pilgerweg und „herkömmlichen“ Wanderwegen hervor. c) Der Glaube Ein weiterer therapeutischer Wirkungsfaktor, der Zuversicht vermittelt und der nicht mit jedem Wanderweg in Verbindung gebracht werden kann, ist der Glaube an Gott. Dieser Aspekt ist drei Personen wichtig: Tabelle 52: Der Glaube Hypothesen zum Erleben und zur Förderung von Bedeutsamkeit Personen N Der Glaube: (Fragen 5, 13c, 18) Beispiele: - Vertrauen zu Gott - durch Glauben Hilfe und Kraft in Leidensphasen E, G, J G J 3 305 10.4 Auswertung der Haupthypothesen zum Erleben und zur Förde- rung von Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsam-keit während der Jakobuswanderung 1. Auswertung der Hypothese HW1: Wie schon erwähnt, wurden die Teilnehmenden nach den offenen und hypothesengerichte- ten Fragen mit dem Frageblock abschließende Fragestellung konfrontiert. Die untere Ü- bersicht beinhaltet die Hypothesen, mit denen sich die Interviewten dabei auseinandersetz- ten. Die Ergebnisse der hypothesengerichteten Frage 20 zu den Bereichen Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit wurden bereits vereinzelt dargestellt (s. Tabellen 28, 38 u. 48 ). Hier nun die Gesamtübersicht der Ergebnisse zur Hypothese HW1: Tabelle 53: Auswertung der Haupthypothese HW1 (Frage 20) Haupthypothese zum Erleben und zur Förderung von Verstehbar- keit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit während der Wanderung (HW1) Personen N HW1 (Handhabbarkeit) trifft zu, denn: die Zuversicht ist gestiegen, dass Anforderungen des Lebens lösbar sind (z. B. durch die gewonnenen persönlichen Bewältigungsfertigkeiten oder durch die erfahrenen Potentiale der Gemeinschaft). (hypothesengerichtete Frage 20a). A, C, D, E, F, H, I, J, K 9 HW1 (Verstehbarkeit) trifft zu, denn: neue Informationen oder unerwartete Situationen werden besser verstanden, Zusammenhänge können deutlicher erkannt werden und das vorrausschauende Denken hat sich verbessert (z. B. durch Erfahrungen der Beständigkeit, der Transparenz und durch den Gewinn an Wissen). (hypothesengerichtete Frage 20b). A, C, D, E, F, H, J, K 8 HW1 (Bedeutsamkeit) trifft zu, denn: die Motivation, sich für etwas einzusetzen ist gestiegen, und Anforderungen des Lebens werden mehr als Herausforderung denn als Belastung erlebt (z. B. durch Erfahrungen von Lebenssinn, durch neue Hobbies, durch die Erfahrun- gen, etwas getan zu haben, was für die Gruppe wichtig war. (hypothesengerichtete Frage 20c). A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K 11 Insgesamt bestätigen in der abschließenden Fragestellung acht Personen (A, C, D, E, F, H, J und K) bewusst therapeutische Effekte in allen drei SOC-Komponenten (s. Tabelle 53). Person I geht nicht auf den Frageteil zur Verstehbarkeit ein, sondern reagiert direkt auf die Fragen zur Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit, Person B verneint die Frage 20 in Bezug 306 auf Handhabbarkeit und Verstehbarkeit und Person G wurde an dieser Stelle nur zur Be- deutsamkeit befragt. Dass auch diese Personen eindeutig Widerstandsressourcen in allen Bereichen des SOC hinzugewonnen haben, zeigt Tabelle 54. Tabelle 54: Auswertung der Hypothese HW1 (fragenübergreifend) Person Zustimmung bei Hypothesen A Verstehbarkeit: V1, V2, V3, HW1 (Verstehbarkeit) Handhabbarkeit: H1, H2, H3, H4, HW1 (Handhabbarkeit) Bedeutsamkeit: B1, B2, B3, B4, J1, J2, HW1 (Bedeutsamkeit) B Verstehbarkeit: V1, V2, V3 Handhabbarkeit: H1, H2, H3 (offene Fragen.), H4, Bedeutsamkeit: B1, B2, B3, B4, J1, HW1 (Bedeutsamkeit), HW2 C Verstehbarkeit: V1, V2, V3, HW1 (Verstehbarkeit) Handhabbarkeit: H1 (offene Fragen), H2, H3, H4, HW1 (Handhabbarkeit) Bedeutsamkeit: B1, B2, B3, B4, J1, J2, HW1 (Bedeutsamkeit), HW2 D Verstehbarkeit: V1, V2, V3, HW1 (Verstehbarkeit) Handhabbarkeit: H1, H2, H4 HW1 (Handhabbarkeit) Bedeutsamkeit: B1, B2, B3, B4, J1, J2, HW1 (Bedeutsamkeit), HW2 E Verstehbarkeit: V1, V2, V3, HW1 (Verstehbarkeit) Handhabbarkeit: H1, H2, H3, H4, HW1 (Handhabbarkeit) Bedeutsamkeit: B1, B2, B3, B4, J1, HW1 (Bedeutsamkeit) F Verstehbarkeit: V1, V2, V3, HW1 (Verstehbarkeit) Handhabbarkeit: H1, H2, H3, H4, HW1 (Handhabbarkeit) Bedeutsamkeit: B1, B2, B3, B4, J1, HW1 (Bedeutsamkeit) G Verstehbarkeit: V1, V2 Handhabbarkeit: H1, H2, H3 Bedeutsamkeit: B1, B2, B3, B4, J1, HFW1 (Bedeutsamkeit) Fortsetzung 307 Fortsetzung Tabelle 54: Auswertung der Hypothese HW1 (fragenübergreifend) Person Zustimmung bei Hypothesen H Verstehbarkeit: V1, V2, V3, HW1 (Verstehbarkeit) Handhabbarkeit: H1, H2, H3, HW1 (Handhabbarkeit) Bedeutsamkeit: B1, B2, B3, B4, J2 HW1 (Bedeutsamkeit), HW2 I Verstehbarkeit: V1, V3 Handhabbarkeit: H1 (offene Fragen), H2, H4, HW1 (Handhabbarkeit) Bedeutsamkeit: B1, B2, B3, B4, J1, J2 HW1 (Bedeutsamkeit) J Verstehbarkeit: V1, V3, HW1 (Verstehbarkeit) Handhabbarkeit: H1, H2, H3, H4, HW1 (Handhabbarkeit) Bedeutsamkeit: B1, B3, B4, J1, HW1 (Bedeutsamkeit) K Verstehbarkeit: V1, V2, V3, Hw1 (Verstehbarkeit) Handhabbarkeit: H1, H3, HW1 (Handhabbarkeit) Bedeutsamkeit: B1, B3, B4, J2, HW1 (Bedeutsamkeit), HW2 Bei allen befragten Personen therapeutische Effekte auf allen drei SOC-Ebenen nachge- wiesen werden (s. Tabelle 54). Demzufolge kann die Hypothese HW1 bestätigt werden, dass durch die Jakobuswanderung Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit erlebt und gefördert werden. Dem salutogenetischen Modell nach ist die positive Auswirkung der Jakobuswanderung auf den Gesundungsprozess psychisch kranker Menschen damit nachgewiesen. Ein wesentliches Argument für diesen Schluss ist ferner, dass bei allen Personen eine er- höhte Motivation zum Engagement besteht (s. Abschn. 10.3.8). Somit wird in jedem Fall die SOC-Komponente Bedeutsamkeit gefördert, die maßgeblich für die Erhöhung des Ko- härenzgefühls ist. Inwiefern der Zuwachs an Widerstandsressourcen im Bereich Bedeutsamkeit dominiert, zeigt sich in der nun folgenden Auswertung der Hypothese HW2 (Bedeutsamkeit). 2. Auswertung der Hypothese HW2: Nachdem in der abschließenden Fragestellung der Erwerb von Widerstandsressourcen in den Bereichen Verstehbarkeit, Bedeutsamkeit und Handhabbarkeit untersucht wurde, stellt sich die Frage (20d) nach der Dominanz der einzelnen SOC-Komponenten. 308 Frage 20d: „Welche dieser Angaben trifft am deutlichsten zu?“ Die zu diskutierende Hypothese lautet: Hypothese HW2: Auf der Jakobuswanderung dominieren bedeutsamkeitsfördernde Erfahrungen. Die nachstehende Tabelle 55 fasst die Ergebnisse zur Frage 20d zusammen. Tabelle 55: Auswertung der Hypothese HW2 (Frage 20d) Selektionskriterium Kategorien Personen N Hypothese HW2: Dominanz von Bedeutsam- keit in der Jakobuswande- rung (Frage 20d) HW2 trifft zu Gründe: - Bedeutsamkeit wird durch die Gemein- schaft erfahren - Teilnahme an der Wanderung war Her- ausforderung - Teilnahme an der Wanderung war Chance, eine große Anforderung des Le- bens zu bewältigen und positiven Ein- fluss auf den Gesundungsprozess zu be- wirken - schon beim Wissen um die Möglichkeit zur Teilnahme Willen/Motivation ver- spürt, diese Anforderung des Lebens zu bewältigen - vor der Wanderung Tiefpunkt, nach der Wanderung bald entlassen mit der Zuver- sicht, wieder ein Stück vorwärts zu kommen - motiviert weiter zu machen im Leben und bei Jakobusprojekt - Wanderung bewältigen war so wichtig, dass neue Schuhe gekauft - Wanderung ist Chance, etwas auszupro- bieren - positives Fazit: außergewöhnlich intensi- ve wichtige Therapie - Zuversicht in Bewältigung von Anforde- rungen, z. B. will wieder in Beruf zurück - kann mehr, als vorher gedacht B, C, D, H, K C D D D D H K K K K K 5 Fortsetzung 309 Fortsetzung Tabelle 55: Auswertung der Hypothese HW2 (Frage 20d) Selektionskriterium Kategorien Personen N - kann mehr, als vorher gedacht - verstärkte Wahrnehmung persönlicher Ressourcen im Krankenhaus in so kurzer Zeit nicht möglich - befristete Zeitspanne erleichtert das Ein- lassen auf Therapie, z. B. sich selbst tes- ten, Ressourcen entdecken K K K HW2 trifft nicht zu, sondern: 1. Handhabbarkeit 2. Bedeutsamkeit 3. Verstehbarkeit A, F 2 Hypothese HW2: Dominanz von Bedeutsam- keit in der Jakobuswande- rung (Frage 20d) Das Zusammenwirken aller drei Kompo- nenten dominiert E 1 Die Frage 20d wurde von 7 Personen direkt beantwortet (s. Tabelle 55). Vier Personen (G, I, J und K) wurden zur Hypothese HW2 nicht befragt. Person K wurde dennoch zu den Befürwortenden der Hypothese HW2 gezählt, weil ihre Ausführungen bei Frage 20c zur HW1 (Bedeutsamkeit) im Vergleich zu den anderen SOC-Komponenten einen auffällig größeren Raum einnehmen. Ihre deutlich erhöhte Motivation zum Engagement, die Er- kenntnis, dass sich Engagement lohnt sowie die Umbewertung der Anforderung von Belas- tung zur Herausforderung sind herausragend. Diese auffällige Begeisterung im Bereich Bedeutsamkeit im Vergleich zu den anderen SOC-Komponenten konnte bei den Personen G, I und J nicht beobachtet werden. In den exemplarischen Begründungen der übrigen Teilnehmenden für die Bestätigung der Hypothese HW2 setzt sich fort, was in den Antworten zur Frage 20c angedeutet wurde. Die Bewertung von Anforderungen als Herausforderungen und nicht als Belastung geschah vor der Wanderung (siehe Person D), während der Wanderung (siehe Person K) wie auch danach (siehe Person H). Eine Ursache liegt darin, dass der Sinn dieses Engagements von vornherein deutlich war oder im Zuge der Therapie erkannt wurde. Insbesondere für Per- sonen D und K ergibt sich dieser Sinn aus der Wertschätzung der Wanderung als große Chance, den Gesundungsprozess zu verbessern. Entsprechend hatte Person D „schon beim Wissen um die Möglichkeit zur Teilnahme die Motivation verspürt, diese Anforderung zu bewältigen.“ Person K bewertete die Bewältigung der Wanderung für so wichtig, dass sie während dessen neue Schuhe gekauft hatte, um weitergehen zu können. Aus den Aussagen 310 dieser Person geht hervor, dass sie von vornherein sehr motiviert war, sich engagiert hatte und entsprechende Fortschritte im Bereich von Handhabbarkeit gemacht hatte. Im Hinblick auf die Hypothese HW2 lässt sich das Folgende festhalten: Bei den direkt befragten Personen zur Gewichtung der therapeutischen Effekte auf den drei SOC-Ebenen stimmen vier Personen der Dominanz von Bedeutsamkeit zu, zwei Personen favorisieren Handhabbarkeit noch vor Bedeutsamkeit und eine Person ist der Meinung, dass gesundheitliche Effekte gleichwertig auf allen drei Ebenen verteilt seien. Bezieht man Person K ein, bestätigen fünf von acht Personen die Dominanz von Bedeutsamkeit. Bei dem Vergleich der Ergebnisse zur Frage 20, bei dem auch sichtbar wird, auf welcher SOC-Ebene die Befragten ihre Widerstandsressourcen am deutlichsten wahrnehmen und den Ergebnissen zur Frage 20d, zeigt sich die folgende Verteilung: Tabelle 56: Auswertung der Haupthypothese HW2 (fragenübergreifend) Hypothese Personen N Hypothese HW2 Erleben und Förderung von Bedeutsamkeit auf der Wanderung domi- niert im Vergleich zur Verstehbarkeit und Handhabbarkeit trifft zu (hypothesengerichtete Frage 20d) Vergleich der SOC-Komponenten bei der Abschließenden Fragestellung: HW1 (Handhabbarkeit) trifft zu (hypothesengerichtete Frage 20a) HW1 (Verstehbarkeit trifft zu (hypothesengerichtete Frage 20b) HW1 (Bedeutsamkeit) trifft zu (hypothesengerichtete Frage 20c) B, C, D, H, K A, C, D, E, F, H, I, J, K A, C, D, E, F, H, J, K A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K 5 9 8 11 Bei dieser Zusammenfassung (s. Tabelle 56) bestätigt sich das Ergebnis von Frage 20d, dass das Erleben und die Förderung von Bedeutsamkeit dominiert, danach die Handhab- barkeit und daraufhin die Verstehbarkeit. Auch wenn man Person G aus der Wertung he- rausnehmen würde, da diese bei Frage 20 nur zur Bedeutsamkeit befragt wurde, bliebe diese Gewichtung. 311 Eine weitere Beobachtung, die für die Dominanz an neuen Widerstandressourcen im Be- reich Bedeutsamkeit spricht, ist die erhöhte Motivation zum Engagement, der insgesamt alle Personen in der Abschlussreflexion zustimmen. Personen A, B, C, D, F, G, H, I, und K betonen diese Motivation im Bereich Bedeutsam- keit. Personen A, E, G und J thematisieren diesen Aspekt auf der Ebene Verstehbarkeit und Person J spricht mehr Motivation auch im Bereich Handhabbarkeit an. Bei den Interviews zeigt sich dazu, dass die Befragten stark auf den Impuls „die Motivati- on, sich für etwas einzusetzen, ist gestiegen“ reagierten. Das bestätigen auch die Ergebnis- se zur Frage 20c. Somit kann zur Hypothese HW2 abschließend erfasst werden, dass sowohl die Ergebnisse der hypothesengerichteten Frage 20d als auch der quantitative Vergleich der Frage 20 die Dominanz therapeutischer Effekte im Bereich Bedeutsamkeit belegen. Der stärkste Effekt ist dabei, dass die Motivation zum Engagement gestiegen ist, vor allem auch dadurch, dass die Gesundungsförderung als Sinn von Engagement erkannt wurde. 10.5 Auswertung der Haupthypothesen zum Erleben und zur Förde- rung von Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit durch das Jakobuswegprojekt 1. Auswertung der Hypothese HP1: Mit Frage 21 sollte die Diskussion über die Fortführung der therapeutischen Effekte im Jakobuswegprojekt vertieft werden. Die zugrundeliegende Hypothese HP1 lautet: Hypothese HP1: Die Teilnahme am Jakobuswegprojekt stärkt den Gesundungsprozess psychisch kranker Menschen, weil das Projekt aufgrund seiner Langfristigkeit im Sinne einer chronischen Widerstandsressource kontinuierlich für Erfahrungen sorgt, die die SOC-Komponenten Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit fördern. Schon in den Antworten zur Frage 2 zeigt sich, dass drei Personen (A, F und J) in der Möglichkeit zum weiteren Engagement innerhalb des Jakobuswegprojektes und in der 312 Chance zur generellen Weiterentwicklung ihren Beweggrund zur Teilnahme an der Pilger- reise sahen. Ihre Interessensschwerpunkte liegen dabei insbesondere auf: - den Trainingswanderungen und den Treffen, - der Aussicht auf einen Anlaufpunkt zum Austausch, mit Verständnis und zur Weiter- entwicklung, - der Auseinandersetzung mit Salutogenese. Bei den Ergebnissen zu Fragen 5a-5b bestätigen sieben Personen, dass sich das Engage- ment innerhalb des Projektes positiv auf den Gesundungsprozess psychisch kranker Men- schen auswirkt. Die Verteilung der therapeutischen Effekte innerhalb der drei SOC- Komponenten stellt sich dabei wie folgt dar: Tabelle 57: Auswertung der Haupthypothese HP1 (Fragen 5a-5b) Hypothese HP1: Fortsetzung verstehbarkeits- handhabbarkeits- und be- deutsamkeitsfördernder Erfahrungen im Jakobusweg- projekt Personen N Gesundungsförderung durch Engagement im gesamten Ja- kobuswegprojekt trifft zu (offene Fragen 5a-5b) - Förderung und Erleben von Handhabbarkeit - Förderung und Erleben von Bedeutsamkeit - Förderung und Erleben von Verstehbarkeit A, B, C, F, I, J, K B, C, F, I, J, K B, C, F, J B, J, K 7 Darüber hinaus belegt die Untersuchung der Hypothese H4, dass nach der Wanderung die Pflege von Widerstandsressourcen im Bereich Handhabbarkeit fortgeführt wird. Die wich- tigsten Kategorien, die nachweisen, dass das Jakobuswegprojekt wie eine chronische Wi- derstandsressource zu bewerten ist, sind dabei: - Erleben von Handhabbarkeit nach der Wanderung durch den Kontakt zur Gemeinschaft (Personen A, B, C, D, E, F, I und J) und - kontinuierliches Dazulernen im Jakobuswegprojekt (Personen B, D, E und F). Somit bestätigen schon jetzt die Aussagen von zehn Personen, dass die Fortführung der therapeutischen Effekte im Rahmen des Jakobuswegprojektes möglich ist. 313 Die hypothesengerichtete Frage 21 zur Hypothese HP1 heißt: „Eine Annahme zum therapeutischen Wert des gesamten Jakobuswegprojektes könnte sein, dass die Teilnehmenden die gesundungsfördernden Aspekte wie z.B. den Erwerb neuer Bewältigungsfertigkeiten, die Erweiterung des Wissens, die Erfahrung von Bestän- digkeit und Lebenssinn über Jahre hin immer wieder erfahren können. Wie sehen Sie das?“ Die nun folgende Übersicht zeigt die Zusammenfassung der Antworten. Tabelle 58: Auswertung der Hypothese HP1 (Frage 21) Selektionskriterium Kategorien Personen N Hypothese HP1: Fortsetzung verstehbarkeits, handhabbarkeits- und bedeutsamkeits-fördernder Erfahrungen im Jakobus- wegprojekt (hypothesengerichtete Frage 21) HP1 trifft zu Gründe: - auf Jakobuswanderung Gelerntes kann konkret im Alltag angewandt werden, d.h.: - für Klinikaufenthalt nicht wie für Mo- denschau packen - sich etwas Gutes tun, z. B. Tasse Kaf- fee trinken und wunderschöne Waffel essen - im Beruf funktionieren und auf sich achten geht parallel - Anforderungen im Alltag lebenswich- tig - nach der Jakobuswanderung Stärkung vorhandener Ressourcen und deren Er- gänzung durch neue Erfahrungen: - Gewinn an Fertigkeiten/ Ressourcen - Gewinn an Erfahrung - Anlaufstelle/Treffpunkt: - zur Fortsetzung der Gemeinschaft ge- geben - zum Erarbeiten verschiedener Punkte/ Mitspracherecht - Informationsfluss und Transparenz wer- den fortgesetzt - Jakobusprojekt ein Erfolg für Gesun- dungsprozess, weitere Teilnahme, wenn Zeit gegeben - langfristige Teilnahme wirkt sich positiv auf den Gesundungsprozess aus, weil: - langfristige Teilnahme ist gewinnbrin- gend für Patienten A, B, C, D, F, G, H, I, J, K A, K K K K K A, I, J I I, J C, H C, H C C D B, C, F, G B 10 Fortsetzung 314 Fortsetzung Tabelle 58: Auswertung der Hypothese HP1 (Frage 21) Selektionskriterium Kategorien Personen N - eine Wanderstrecke keine Lösung von Problemen, sondern langfristige Unter- stützung wichtig, um auf positivem Weg zu bleiben - Weiterarbeit im Projekt sinnvoll für Weiterentwicklung - Wandern in Etappen besser als Durch- gehen nach Santiago, weil durch Lang- fristigkeit und Zeit zwischen Etappen mehr Zeit zum Lernen - viele Aufgaben in der Zwischenzeit übernommen, die wichtig für die Ent- wicklung sind, z. B.: - Trainingswanderungen vorbereiten - Zeitungsartikel schreiben - Kuchen backen - vielschichtige Aufgaben - Teilnahme an Veranstaltungen mög- lich F F G G, H G H, J Das Erleben von Bedeutsamkeit setzt sich fort Gründe: - je weiter entwickelt und länger am Pro- jekt, desto wichtiger die Besonderheit des Jakobusweges - Wille zur weiteren Teilnahme - Motivation zur Teilnahme an nächster Wanderung - Motivation zum Engagement steigt durch Vorfreude an nächster Wanderung - Überprüfung der persönlichen Entwick- lung wichtig - Wahrnehmung von Lebensbereichen außer Krankheit G, J, K G K K K J J 3 Alternative zu Medikamenten, Ärzten, Gruppen J 1 Langfristigkeit des Projektes bedeutet kontinuierliches Wachstum an Erfahrun- gen für Mitarbeitende B 1 Hypothese HP1: Fortsetzung verstehbarkeits, handhabbarkeits- und bedeutsamkeits-fördernder Erfahrungen im Jakobus- wegprojekt (hypothesengerichtete Frage 21) Sich in Alltag einfügen schwierig K 1 Zehn Personen befürworten die Fortsetzung des Erwerbs neuer Bewältigungsfertigkeiten im Rahmen des Jakobuswegprojektes und bestärken somit den Eindruck aus den bisheri- gen Ergebnissen (s. Tabelle 58). 315 Person E wurde die Frage 21 nicht gestellt, sie bestätigt aber bei der Auseinandersetzung mit der Hypothese H4 (s. Abschn. 10.2.4), dass durch das Jakobuswegprojekt ein kontinu- ierliches Dazulernen möglich ist und dass Widerstandsressourcen im Rahmen der Gemein- schaft weiter gefördert werden. Darüber hinaus befürwortet sie in der nachfolgenden Fra- gestellung (s. Tabelle 60), dass sich das Erleben von Bedeutsamkeit im gesamten Jako- buswegprojekt fortsetzt. Somit wird deutlich, dass nach Angaben aller Befragten das Jako- buswegprojekt wie eine chronische Widerstandsressource wirksam ist. Die Pflege der gesundungsfördernden Erfahrungen zeigt sich erstens im Lernen auf der Jakobuswanderung und in der sich anschließenden konkreten Anwendung des Gelernten im Alltag. Dafür sprechen die Angaben von Personen A und K. Person K thematisiert da- bei insbesondere die bereits bei Frage 5a angesprochene Konzentration auf das Wesentli- che, auf die Setzung von Prioritäten wie z.B.: „für Klinikalltag nicht wie für Modenschau packen“ und somit auf die Förderung des Planungs- und Bilanzierungsverhaltens. Darüber hinaus spricht sie erneut die Entdeckung der Eigenverantwortlichkeit und die Pflege der persönlichen Bedeutsamkeit an. Das spiegelt sich in Aussagen wieder wie: „sich etwas Gutes tun z.B. Tasse Kaffee trinken und wunderschöne Waffel essen“ oder „im Beruf funktionieren und auf sich achten geht parallel“. Als weiteres Argument für die Hypothese HP1 spricht aus Sicht einiger Teilnehmender, dass Erfahrungen nicht nur im Alltag angewandt werden, sondern dass es im Alltag und durch das Projekt zum Gewinn weiterer Widerstandsressourcen kommt. Ein prägnantes Beispiel dafür ist die Kategorie „nach der Jakobuswanderung Stärkung vorhandener Res- sourcen und deren Ergänzung durch neue Erfahrungen“ (vgl. Personen A, I, J). Der Aspekt „Weiterentwicklung“ zeigt sich außerdem in nahezu allen Kategorien, die von den Befragten als Gründe für die Hypothese HP1 genannt werden. Wie an anderen Stellen der Auswertung (z.B. bei Frage 5) tritt auch hier die Wertschätzung des Jakobuswegprojektes in seiner Funktion als Treffpunkt oder Anlaufstelle hervor. Be- zogen auf die momentane Fragestellung wird diese Anlaufstelle von Personen C und H definiert als Forum „zur Fortsetzung der Gemeinschaft“ (Person C) und „zum Erarbeiten verschiedener Punkte/Mitspracherecht“ (Person H). 316 Die Teilnehmenden unterstützen die Hypothese HP1 mit Beispielen zu gesundungsför- dernden Erfahrungen, die im Rahmen des Projektes fortgeführt werden oder die neu ge- wonnen werden. Sie betrachten aber auch die Langfristigkeit des Projektes an sich als ei- nen gesundungsfördernden Faktor, den sie im übrigen am häufigsten benennen. Person F führt dazu als Argument an, dass psychisch kranke Menschen kontinuierliche Unterstüt- zung brauchen und nicht durch eine einzige Wanderung geheilt werden können. Durch den einjährigen Arbeitszyklus entstehen aus Sicht der Teilnehmenden vielschichtige Aufgaben- felder, innerhalb derer sich auch nach der Wanderung weiter betätigt werden kann. Laut Person B profitieren die Mitarbeitenden ebenso von der Langfristigkeit, weil auch sie sich weiterentwickeln können und weil sie weitere Ideen für das Projekt gewinnen. Den Angaben von Personen G, J und K nach setzt sich insbesondere das Erleben von Be- deutsamkeit im Rahmen des Jakobuswegprojektes fort. Die Erfahrung von Bedeutsamkeit ist beispielsweise in der Motivation zum Engagement zu sehen, wie sie sich bei Personen K und J zeigt. Dabei ist ihre Motivationsquelle die Aussicht auf die Teilnahme an der nächsten Jahreswanderung. Person G entdeckt im Zuge des längeren Engagements die Be- sonderheit des Jakobusweges, die ihr wichtig wird und sich somit für sie als Quelle der Erfahrungen von Bedeutsamkeit herausstellt. Person J unterstützt die Hypothese HP1 mit ihrer Angabe „Wahrnehmung von Lebensbereichen außer Krankheit“ insofern als dass sie befürwortet, dass das Projekt für neue bedeutungsvolle Lebensbereiche sorgt. Laut Aron Antonovsky (1987/1997) braucht der Mensch eben solche Lebensbereiche für eine optima- le Position auf dem HEDE-Kontinuum. Bei all den positiven Rückmeldungen zum gesundungsfördernden Effekt des gesamten Projektes, deutet Person K an, dass es nicht einfach ist, sich danach in den Alltag einzufü- gen. Die große Leistung der Wanderinnen und Wanderer ist also der Übergang ins tägliche Leben, der trotz der Unterstützung durch das Jakobuswegprojekt eine Anforderung bleibt. Dennoch bestätigen die Teilnehmenden sowohl bei den offenen Fragen als auch bei der hypothesengerichteten Fragestellung eindeutig, dass das Jakobuswegprojekt eine chroni- sche Widerstandsressource ist, die für Rahmenbedingungen sorgt, die die SOC- Komponenten Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit fördern (s. Tabelle 59). 317 Tabelle 59: Auswertung der Haupthypothese HP1 (fragenübergreifend) Hypothese HP1: Gesundungsförderung durch Fortsetzung verstehbarkeits- hand- habbarkeits- und bedeutsamkeitsfördernder Erfahrungen im Ja- kobuswegprojekt Personen N Hypothese HP1 trifft zu: (hypothesengerichtete Frage 21) Gesundungsförderung durch Engagement im gesamten Jakobuswegpro- jekt trifft zu durch: (offene Fragen 5a-5b) - Förderung und Erleben von Handhabbarkeit - Förderung und Erleben von Bedeutsamkeit - Förderung und Erleben von Verstehbarkeit Fortsetzung des Erlebens und der Förderung von Handhabbarkeit im Jakobuswegprojekt (Auswertung der Hypothese H4) Fortsetzung des Erlebens und der Förderung von Bedeutsamkeit im Jakobuswegprojekt (Auswertung der Hypothese HP2) A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K A, B, C, D, F, G, H, I, J, K A, B, C, F, I, J, K B, C, F, I, J, K B, C, F, J B, J, K A, B, C, D, E, F, I, J A, B, C, E, F, G, H, J, K 11 10 7 8 9 2. Auswertung der Hypothese HP2: Die nun folgenden Ausführungen beschäftigen sich mit dem Potential an Bedeutsamkeit im gesamten Jakobuswegprojekt. Dazu wurde die Hypothese HP2 aufgestellt: Hypothese HP2: Die Teilnahme am Jakobuswegprojekt wirkt sich positiv auf den Gesundungsprozess psychisch kranker Menschen aus, weil es ihnen ein langfristiges Erfahrungsfeld be- deutsamer Erlebnisse und Tätigkeiten erschließt. Die ersten sinnstiftenden, weil motivationalen, Aspekte wurden bereits bei Frage 5a ermit- telt. Demzufolge sind die folgenden Faktoren die Bedeutsamkeitsträger im gesamten Jako- buswegprojekt, die zum jahrelangen Engagement bewegen: - Gruppe bzw. Gemeinschaft der Jakobuspilger (Personen A, B, C, D, E, G, K), 318 - Motivation durch enorme Fortschritte, Weiterentwicklung (Personen A, E, F, G, J), - das gemeinsame Tun (Personen C, E, J, G), - Projekt als wertvoller Ausgleich zum Alltag bzw. als Anlaufstelle (Personen A, F, J), - das Ziel Santiago de Compostela (Personen A, C, D), - die Treffen der Jakobuspilger (Personen C, G), - Möglichkeit des Engagements / Mitsprache nach persönlichen Ressourcen (Personen B, C), - erfolgreiches Feedback untereinander (Personen B, K), - herausragender Stellenwert des Projektes (Personen I, J), - Spaß am Projekt, wie am Sportverein (Person B), - die gesamte Projektarbeit statt einmaliger Teilnahme an Wanderung (Person G), - Gespräche (Person C), - der Glaube (Person E), - Aspekte, die das Einlassen auf die Wanderung erleichtern (Person E). Somit bestätigen schon bei der offenen Frage 5 zehn Personen, dass das Jakobuswegpro- jekt psychisch kranken Menschen ein langfristiges Erfahrungsfeld bedeutsamer Erlebnisse und Tätigkeiten erschließt. Von Person H liegen keine Angaben zur Frage 5 vor, weil ihr diese Frage nicht gestellt wurde. Den wichtigsten Beweggrund zum jahrelangen Engagement liefert diesen Ergebnissen nach die Gemeinschaft mit dem Ziel Santiago de Compostela als stärkstes gemeinsames Charakteristikum. Die hypothesengerichtete Frage 22 zur Hypothese HP2 lautet: „Was halten Sie von der folgenden Aussage: Der therapeutische Wert des gesamten Jakobuswegprojektes liegt hauptsächlich darin, dass es psychisch kranken Menschen ein langfristiges Erfahrungsfeld voller sinngebender Tä- tigkeiten und Erlebnisse erschließt“ 319 Tabelle 60: Auswertung Hypothese HP2 (Frage 22) Selektionskriterium Kategorien Personen N Hypothese HP2: Dominanz von Bedeutsam- keit im Jakobuswegprojekt (hypothesengerichtete Frage 22) HP2 trifft zu Gründe: - Projekt ist vielschichtig - intensives Engagement möglich - Einsatz individueller Ressourcen möglich - Erleben von Spaß möglich - langfristige Erfahrung von Lebenssinn außerhalb der Rolle als Mutter/Vater und Ehefrau/Ehemann - Erfahrung der persönlichen Bedeutsam- keit, d. h. sich selbst wichtig nehmen - durch Jakobusweg Anfang, nach Verän- derungen zu schauen, die langfristig, Ge- sundungsprozess fördern - ein Stück Lebensweg erwandert - Distanz zum Alltag und Krankheit - mit kranken Menschen Sinne neu erleben - kontinuierliche Auseinandersetzung mit Problemen gelingt im Projekt optimal - sowohl Pflege vorhandener Ressourcen als auch Gewinn neuer Ressourcen - etappenweise Steigerung der Anforde- rung - Einsatz erworbener Widerstandsressour- cen nach der Wanderung - Urlaub - Einsatz für das Fortbestehen des Projek- tes wichtig - Ende des Projektes wäre schlimm - Motivation, den Krankenhausaufenthalt zu verkürzen - Motivation, sich auf Gesundungsprozess zu konzentrieren - Zuversicht, sich Anforderungen zu stel- len gestärkt - in Krisensituationen Konzentration auf Zugewinn neuer Widerstandsressourcen A, B, C, E, F, G, H, J, K C C C C E E E E E J J J J J J J J J K K K 9 Die Frage 22 wurde nicht von allen Teilnehmenden beantwortet (s. Tabelle 60). Vermut- lich wurde sie nicht von allen Interviewenden zur Diskussion gestellt, da sie als Wiederho- lung von Frage 21 verstanden wurde. In Frage 22 ging es jedoch um eine vertiefende Erör- terung der Bedeutsamkeitsträger im gesamten Projekt. Alle neun Personen, die auf die Fra- ge antworteten, stimmen auch der entsprechenden Hypothese HP2 zu. Darüber hinaus ge- 320 ben vier Teilnehmende Beispiele für sinngebende Tätigkeiten und Erfahrungen oder spüren Rahmenbedingungen des Projektes als Quellen zum Erleben von Bedeutsamkeit auf. Eine dieser Quellen ist aus Sicht von Person C die Vielschichtigkeit des Projektes. Diese Vielschichtigkeit ermöglicht laut Person C „intensives Engagement“ sowie den „Einsatz individueller Ressourcen“. Damit trifft das Projekt verschiedene Interessen und erfasst ein breites Spektrum der Klientel. Eine weitere therapeutische Leistung des Projektes ist die Förderung von Lebensfreude. Davon spricht Person C mit der Aussage „Erleben von Spaß möglich“ oder Person J mit der Nennung „Urlaub“. Dazu gehört auch die Angabe von Person J, dass durch das Projekt die Distanz zum Alltag und zur Krankheit möglich sei. Denn Distanz zur Krankheit gewin- nen heißt mit anderen Worten, dass Krankheit an Bedeutung verliert und Platz freiräumt für andere Aspekte des Lebens. Die Ergebnisse zur Frage 22 zeigen, dass das Jakobusweg- projekt die so entstandene Lücke mit sinnvollen Tätigkeiten und Erlebnissen füllen kann. Im Zuge dieses Engagements kann es laut Person E zu neuen Rollendefinitionen kommen, denn hier können Rollen des Alltags verlassen werden und neue Rollen und Fertigkeiten erprobt werden (siehe: „Langfristige Erfahrung von Lebenssinn außerhalb der Rolle als Mutter/Vater und Ehefrau/Ehemann“). Neben den bisher dargestellten Möglichkeiten bewerten die Teilnehmenden überwiegend die Arbeit an ihrer Gesundung und den Erwerb neuer Widerstandsressourcen als sinnvolle Tätigkeiten im Rahmen des Jakobuswegprojektes. Das zeigt sich exemplarisch in der Aus- sage von Person E: „durch Jakobusweg Anfang nach Veränderungen zu schauen, die lang- fristig Gesundungsprozess fördern“ oder bei Person J: „sowohl Pflege vorhandener Res- sourcen als auch Gewinn neuer Widerstandsressourcen“ und schließlich in der Nennung von Person K: „Motivation, um sich auf Gesundungsprozess zu konzentrieren.“ Der frageübergreifenden Auswertung nach wird die Hypothese HP2 von allen Befragten bestätigt (s. Tabelle 61). Bei den Ergebnissen zur Frage 5 dominiert die Gemeinschaft als stärkster sinnstiftender Aspekt. Nah dran ist auch die Kategorie „Motivation durch enorme Fortschritte und Wei- terentwicklung“. Den Ergebnissen der Frage 22 nach hat die letztere Kategorie mit Perso- 321 nen C und E zwei weitere Fürsprechende gewonnen und ist damit von der Personenanzahl gleichstark wie die Kategorie „Gruppe bzw. Gemeinschaft der Jakobuspilger“. Damit zeigt sich, dass aus Sicht der Teilnehmenden die Gemeinschaft und die Arbeit an der Gesundheit verbunden mit enormen Fortschritten und Weiterentwicklung die stärksten Motivationsquellen zum Engagement für das gesamte Projekt darstellen. Tabelle 61: Auswertung der Haupthypothese HP2 (fragenübergreifend) Hypothese HP2: Gesundungsförderung durch Dominanz von Bedeutsamkeit im Jakobuswegprojekt Personen N Hypothese HP2 trifft zu: Dominanz von Bedeutsamkeit im Jakobuswegprojekt hypothesengerichtete (Frage 22) Benennung sinnstiftender Ereignisse, die die Motivation zum Engage- ment im Jakobuswegprojekt anregen (offene Frage 5a) A, B, C, D, E, F, G, H, I, J, K A, B, C, E, F, G, H, J, K A, B, C, D, E, F, G, I, J, K 11 9 10 322 Teil IV Interpretation und Diskussion der Ergebnisse 323 11. Beantwortung der Forschungsfragen Ziel der Untersuchung war die Erforschung salutogenetischer Faktoren im gesamten Jakobuswegprojekt. Dazu wurden therapeutische Effekte auf den drei SOC-Ebenen Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit ermittelt sowie die hauptsächlichen Quellen, denen diese Faktoren entspringen. Im Folgenden werden die Ergebnisse im Hinblick auf die Forschungsfragen interpretiert und zusammengefasst. 1. Ermöglichen das Jakobuswegprojekt und die Wanderung auf dem Jakobusweg das Erleben und die Förderung von Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit? Da die Ergebnisse zu dieser Frage bereits in den Kapiteln 9-10 ausführlich dargestellt und interpretiert wurden, sollte an dieser Stelle die folgende Zusammenfassung genügen: In dieser Untersuchung konnte nachgewiesen werden, dass durch die Jakobuswanderung Widerstandsressourcen auf allen drei Ebenen des Kohärenzgefühls erworben werden können und dass die Zuversicht in die Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit von Anforderungen steigt. Entscheidend ist dabei, dass sich bei allen Befragten die Motivation zum Engagement verstärkt hat. Mit diesem Zuwachs an Sinnhaftigkeit ist der Anstieg des SOC und damit auch ein wesentlicher Schritt in Richtung health-ease zu erwarten. Die therapeutischen Faktoren des Jakobuswegprojektes werden unter Punkt 4 aufgeführt. 2. Ist die Begegnung zwischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Patientinnen und Patienten salutogenetisch orientiert? Die Merkmale einer salutogenetisch orientierten therapeutischen Begegnung wurden im Theorieteil dieser Untersuchung (s. Abschnitt 3.1) ausführlich beschrieben. In Kurzform gebracht handelt es sich dabei um die folgenden Aspekte: - gesund und krank sind keine Kriterien für Rollenzuweisungen, - keine ungleiche Machtverteilung zwischen Patienten und professionell Tätigen, 324 - Mitarbeitende erheben sich nicht wie gesunde allwissende Experten über kranke ahnungslose, von ihnen abhängige Patientinnen und Patienten, - die therapeutische Beziehung ist durch ein partnerschaftliches Miteinander gekennzeichnet, - innerhalb der therapeutischen Begegnung erleben sich die Patientinnen und Patienten konsistent, Belastungen sind ausgeglichen und die Bedeutung der Begegnung wird verstanden, - Gesundheit, Krankheit und Tod sind natürliche zum Leben gehörende Prozesse, so dass absolute Gesundheit kein angestrebtes Idealziel ist, - die gesamte Geschichte des Menschen wird berücksichtigt - mit seiner Subjektivität, seinen sozialen Rollen und seinem aktuellen Lebenskontext, - der Behandlungsfokus liegt auf externalen und internalen Ressourcen der Patientinnen und Patienten, die zur Stärkung des SOC beitragen. Den Ergebnissen nach können diese Kriterien bestätigt werden. Die Untersuchung zeigt, dass die Mitarbeitenden in der Gruppe integriert sind. Aus Sicht der Befragten heben sie sich nicht wie allwissende Expertinnen und Experten über kranke, von ihnen abhängige Unwissende ab. Schon in der offen gestellten Fragestellung zur Begegnung zwischen den Teilnehmenden und dem multiprofessionellen Team sprechen über die Hälfte der Befragten von sich aus ihr Mitspracherecht und die Gleichberechtigung im Kontakt an (s. Abschn. 9.5). Das Mitspracherecht bezieht sich sowohl auf den Behandlungsweg als auch auf die Mitgestaltung der Pilgerreise. Eindeutigere Belege für dieses Ergebnis finden sich in der Untersuchung zum Vorkommen an Bedeutsamkeit (s. Abschn. 10.3.2 u. 10.3.3). Dort zeigt sich, dass alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer Mitspracherecht durch den Einbezug in wichtige Entscheidungsprozesse erfahren haben. Darüber hinaus erlebten 10 Personen bewusst Partizipation durch die Übernahme wichtiger Beiträge für die Gruppe. Demnach treten laut dieser Untersuchung weder klinisches Wissen oder die Attribute gesund bzw. krank als Kriterien für die Verteilung von Mitspracherecht hervor, sondern die Übernahme von Verantwortung. Dabei ruht die Verantwortung für das Gelingen der Pilgerreise auf den Schultern aller Beteiligten. Lediglich in Krisensituationen hat die höchste Entscheidungsgewalt die Person mit der größten Verantwortung. Ansonsten bestätigt sich 325 eindeutig ein partnerschaftliches, demokratisches Miteinander, bei dem ein Austausch zu allen Themengebieten möglich ist. Diese Beziehung entsteht im Wesentlichen durch eine entsprechende innere therapeutische Haltung des Teams. Sie wird außerdem durch die Rahmenbedingung der Wanderung gefördert, denn der Wegfall räumlicher Begrenzungen geht mit der Minimierung institutioneller Einflüsse einher, die im Klinikalltag eine gesundungsfördernde Beziehungsgestaltung behindern. Während der Jakobuswanderung ist die Begegnung natürlicher, ungezwungener und insgesamt menschlicher. Die Bewertung dieses Kontaktes seitens der Teilnehmenden als positiv bis sehr positiv lässt den Schluss zu, dass eben dieses Miteinander den therapeutischen Prozess begünstigt. Die Begegnung auf dem Jakobusweg lässt Hemmungen im Kontakt auf Seiten der Patientinnen und Patienten sinken und beschleunigt das Sich-Einlassen auf die Therapie. Die Teilnehmenden suchen schneller nach Hilfe und ermöglichen damit das rechtzeitige Intervenieren seitens der Therapeutinnen und Therapeuten. Das professionelle Team kann insgesamt effizienter arbeiten, weil es in der Gruppe integriert ist. Eine Person bewertet diese Integration sogar als das Erfolgsrezept der Behandlung. Auch die übrigen Teilnehmenden befürworten die gesundungsfördernde Auswirkung des Kontaktes. Als Argumente dafür fallen zum einen, dass auf diese Weise ein Austausch zu unterschiedlichen Themen, die nichts mit der Erkrankung zu tun haben, möglich wird. Darüber hinaus bestätigt sich der heilsame Einfluss der Begegnung in unterschiedlichen Rollen, die sich jenseits des Daseins als Patient(-in) und Kliniker(-in) bewegen, ohne dass dabei die professionelle Distanz verletzt wird. Diese Begegnung von Subjekt zu Subjekt bewerten die Befragten als förderlich für den therapeutischen Prozess, da sie sich stabilisierend auf die therapeutische Beziehung auswirkt. Darüber hinaus wird der Einblick des therapeutischen Teams in den Alltag der Patientinnen und Patienten als günstig für die Therapie empfunden, weil diese aufgrund der Zusatzinformationen effektiver wird. Aus salutogenetischer Perspektive arbeitet das multiprofessionelle Team somit gesundungsfördernd, denn es berücksichtigt die gesamte Geschichte des Menschen - mit seiner Subjektivität, seinen sozialen Rollen und seinem aktuellen Lebenskontext. Die Evaluation belegt, dass gesund oder krank keine Kriterien für Rollenzuweisungen sind, sondern dass die Rollenvielfalt aller Beteiligten - auch der Mitarbeitenden - zum Tragen 326 kommt. Bestätigt wird ferner, dass die Therapeutinnen und Therapeuten bei ihrer Arbeit die internalen und die externalen Ressourcen der Klientel berücksichtigen. Besondere Wertschätzung im Hinblick auf den Gesundungsprozess erfahren die fachliche Kompetenz und die Multiprofessionalität des Teams. Als salutogenetisch arbeitend ist dabei zu bewerten, dass eine Vielfalt an externalen professionellen Ressourcen zur Verfügung steht, die die Teilnehmenden als zuverlässig empfinden. Schon die alleinige Präsenz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Professionelle und als Mitmenschen mit viel Lebenserfahrung vermittelt das Gefühl von Handhabbarkeit. Dabei ist allen Beteiligten klar, dass auf diese Ressourcen nur zurückgegriffen werden kann, wenn die eigenen Fertigkeiten zur Selbsthilfe erschöpft sind. Mit dieser professionellen Haltung fördert das therapeutische Team sowohl die Zuversicht in externale Ressourcen als auch die Mobilisation und den Zugewinn neuer internaler Fertigkeiten zur Bewältigung von Anforderungen. Diese Unterstützung zur Selbsthilfe belegt, dass die Mitarbeitenden die Teilnehmenden als eigenständig handelnde Subjekte verstehen und nicht als zu versorgende Invaliden. Bei den Ergebnissen zur Funktion des therapeutischen Teams im Erleben von Handhabbarkeit wird außerdem deutlich, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihren professionellen Fertigkeiten auch die Kooperation der Gruppe fördern und bei Streitigkeiten zuverlässig vermitteln. Das Bewusstsein um diese Professionalität ist auf Seiten der Patienten und Patientinnen eine weitere externale Widerstandsressource, die für Belastungsbalance sorgt. Die Untersuchungen zur Hypothese V2 belegen eindrucksvoll, dass die therapeutisch Tätigen transparent arbeiten und somit zusätzliche Kränkungen durch vermehrte Unverstehbarkeit vermeiden. Die Umsetzung der verstehbarkeitsfördernden Arbeitsweise zeigt sich hauptsächlich in: - der Transparenz / Verstehbarkeit der Rollenverteilung bzw. des Kontaktes, - der Vermittlung transparenter Botschaften (insbesondere im Hinblick auf Regeln der Zusammenarbeit), - der Wahrung von Distanz, trotz eines freundlichen Kontaktes, - der Erfahrung von Vorhersehbarkeit und Konsistenz innerhalb der therapeutischen Beziehung, 327 - der Zuversicht der Teilnehmenden, dass Missverständnisse oder Unklarheiten in der therapeutischen Begegnung geklärt werden können. Demnach ist davon auszugehen, dass die Patientinnen und Patienten in der Begegnung Verstehbarkeit und Konsistenz erleben, dass die Belastungen innerhalb der therapeutischen Beziehung ausgeglichen sind und ihnen die Bedeutung der Behandlung deutlich ist. Eine intensivere Unterstützung im gemeinsamen Kontakt benötigen eventuell erstmalig Teilnehmende, die bei den vielen Unvorhersehbarkeiten, die mit der Wanderung einhergehen, noch verunsichert sind. Näher zu beobachten sind auch langjährige Teilnehmende, die keine aktuellen Patientinnen und Patienten mehr sind. Ein Einzelfall spricht dafür, dass diese Klientel aufgrund ihrer Position in der Gruppe Irritationen im eigenen Rollenverständnis erfahren könnte. Als weiterer gesundungsfördernder Effekt bestätigt sich die Kontinuität als Behandlungsprinzip nach Krisor (2005). Einige Befragte bewerten die kontinuierliche Begleitung des Projektes durch das gleiche therapeutische Team als wichtig für die Beziehungsgestaltung. Das lange miteinander Gehen über mehrere Etappen festigt die therapeutische Beziehung und das Vertrauen zur Klinik. 3. Wie wirkt sich die Teilnahme an der Jakobuswanderung oder am Jakobuswegprojekt auf das Copingverhalten psychisch kranker Menschen aus? An verschiedenen Stellen dieser Untersuchung wurde deutlich, dass die Teilnahme an der Jakobuswanderung den Umgang mit Spannung, die durch überraschend auftretende Ereignisse erzeugt werden kann, gesundungsfördernd beeinflusst. Die Antworten zu den offenen Fragen (s. Abschn. 9.3) zeigen, dass während der Wanderung Belastungsbalance durch entlastende, Stress minimierende Faktoren wie beispielsweise Distanz oder eine ruhige entspannende Umgebung erfahren wird. Die Fähigkeit bzw. Möglichkeit, bestimmte Zustände zu genießen, Verantwortung abzugeben, sich fallen zu lassen, wird von den Befragten ebenso als Weg der Gesundungsförderung bewertet wie die aktive Bewältigung von Spannung durch das Wandern oder durch einen günstigeren Ressourcenhaushalt. 328 Die Ergebnisse zur Verstehbarkeit belegen, dass auf der Wanderung die beständige Ausgeglichenheit zwischen Situationen der Unvorhersehbarkeit auf der einen Seite und Ordnung, Planung sowie Struktur auf der anderen Seite für die Stärkung der Zuversicht in die Konsistenz der physikalischen und sozialen Umwelt gesorgt hat. Mit einer tiefergehenden Gewissheit, dass es bei überraschend auftretenden Stimuli zu Irritationen kommen kann, dass sich aber die persönliche Umwelt nicht im Wesentlichen verändert, dürfte mit mehr Ruhe und weniger Anspannung im Umgang mit Stressoren zu rechnen sein. Ein weiterer entspannender Faktor im Umgang mit Stimuli ist die Zuversicht in externale Ressourcen. Die Ergebnisse zeigen, dass gerade auf der SOC-Ebene Verstehbarkeit das Vertrauen in die Ressourcen anderer viele Unsicherheiten ausgeglichen hat. Ein entscheidendes Argument dafür, dass sich die Teilnahme an der Jakobuswanderung positiv auf das Copingverhalten auswirkt, ist die Tatsache, dass ein Training des Spannungsmanagements möglich ist. Zu beobachten ist dabei, dass die Übung mit Spannungsbewältigung schon Widerstandsressourcen hinterlassen hat. Das belegen Aussagen wie: „Erfahrung, dass Unvorhersehbarkeit zum Alltag gehört“, „schöne Erfahrung, wenn Situation gut ausgeht“ oder „Zuversicht in die Ressourcen anderer gestiegen“. Das verbesserte Copingverhalten bei unverstehbaren Situationen äußert sich eindrucksvoll in konkreten Aspekten wie z. B.: - mehr Flexibilität im Einsatz von Widerstandsressourcen und erhöhte Fähigkeit zur Korrektur nach erhaltenem Feedback, - Akzeptanz von Misserfolgen, - mehr Gelassenheit und Ruhe bei Unverstehbarkeiten im Alltag, - Abnahme von Schüchternheit und Zurückhaltung, - mehr Durchhaltevermögen beim Lösen von Anforderungen, - weniger Irritierbarkeit, - Zuversicht in das Gelingen geplanter Aktivitäten, - Zuversicht in die Verstehbarkeit neuer Situationen und dadurch mehr Mut, sich neuen Situationen zu stellen. 329 Diese Aspekte sprechen für mehr lösungsorientiertes Vorgehen im Alltag. Flexibler Einsatz von Widerstandressourcen und beweglicher Umgang mit Feedback werden als gesundungsfördernde Verhaltensweisen im Gegensatz zum Verharren in paralysierenden Gefühlen und Ignoranz von Feedback favorisiert. Mehr Gelassenheit und Ruhe im Alltag zeugen von einer positiv veränderten Bewertung von Stimuli. Demzufolge bringen überraschend auftretende unverstehbare Situationen einzelne Personen nicht mehr so leicht aus der Fassung und sorgen nicht mehr so schnell für Anspannung. Für eine positive Entwicklung des Spannungsmanagements sprechen auch der Mut und die Bereitschaft der Teilnehmenden, sich neuen, zunächst noch undurchsichtigen Situationen stellen zu wollen. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass bei der zukünftigen Bewältigung von Anforderungen die Konzentration eher auf dem instrumentellen Teil des Problems liegen wird und weniger auf dem diffus emotionalen Anteil, bei dem es lediglich darum geht, unangenehme Gefühle beseitigen zu wollen. Auch im Bereich der Handhabbarkeit zeigen sich Ergebnisse, die ein verbessertes Copingverhalten belegen. Die Veränderung beginnt mit einer generell neuen Haltung zu Anforderungen. Diese spiegelt sich wider in: - der gestiegenen Bereitschaft zur Eigeninitiative, - der verstärkten Konzentration auf die instrumentelle Seite des Problems, - der Erkenntnis, dass Spannungen, die bei Anforderungen auftreten können, nicht unbedingt gesundungsschädigend sein müssen, - der Erkenntnis, dass es sich im Hinblick auf die Gesundung lohnt, Anforderungen zu bewältigen, auch wenn Spannung entsteht. Die gewachsene Bereitschaft zur Eigeninitiative und das Vertrauen in die persönlichen Fertigkeiten wurden unter anderem durch die erfolgreiche Körper– und Bewegungserfahrung unterstützt, da die dahingehenden Erlebnisse bei einigen Teilnehmenden zu beeindruckenden positiven Veränderungen führten im Hinblick auf: - ihren Mut, sich Anforderungen des Lebens zu stellen, - ihre Wege der Problemlösung, - ihr Planungs- und Bilanzierungsverhalten, 330 - und schließlich in Bezug auf ihr gesamtes Copingverstehen und –verhalten. Wie bei der SOC-Komponente Verstehbarkeit kann auch im Bereich von Handhabbarkeit mehr Flexibilität im Einsatz von Widerstandressourcen beobachtet werden. Das Copingverhalten wird außerdem durch den Zugewinn von internalen und externalen Widerstandsressourcen verbessert. Bei der Aufzählung der individuellen Widerstandsressourcen treten als Schwerpunkte - neben der Einsicht, dass das Bewältigen von Anforderungen zur Belastungsbalance gehört - die Kategorien: „Spannungsbewältigung mit positiven Autosuggestionen“ und „Ressourcen im zwischenmenschlichen Umgang“ deutlich in den Vordergrund. Bei den externalen Faktoren, die die Verbesserung des Copings begünstigen, spielen die Gemeinschaft und die Mitarbeitenden eine starke Rolle, weil sie den Zugewinn an internalen und externalen Widerstandsressourcen fördern. Die Evaluation zur Bedeutsamkeit belegt, dass die Wanderung dort ebenfalls Einfluss auf das Copingverhalten genommen hat durch: - das Wandern zur Vorbeugung negativer, gesundungsschädigender Spannungszustände, - sinnstiftende, Freude bringende Ereignisse, die zu internalen Widerstandsressourcen gegen Stimmungstiefs und damit auch gegen Spannungen werden, - mehr Bereitschaft zur Selbsthilfe und geeignete Ressourcen zur Selbsthilfe, - die gestiegene Bereitschaft zum Engagement, - mehr Zuversicht in die Bewältigung von Anforderungen, - Erkenntnis, dass sich die Übernahme von Verantwortung und die Bewältigung von Anforderungen - also die Konzentration auf den instrumentellen Teil des Problems - lohnt. Ein positiver Effekt des Jakobusweges auf Coping ist, dass bei der Wahrnehmung seiner Größe und Würde sowie der Leistung früherer Baumeister und Pilgernder stresshafte Lebenssituationen im Alltag an Bedeutung verlieren. Weitere Wirkungsfaktoren sind Religion und Glaube. In dieser Untersuchung konnte aufgezeigt werden, dass der Glaube in Krankheitsphasen eine wichtige Widerstandsressource sein kann, die Kraft und Hoffnung gibt. 331 Der Glaube ist somit die Widerstandsressource, die bei Stress-Lebensereingnissen oder stresshaften Lebenssituationen die Zuversicht vermittelt, dass sich Spannung auflösen wird. Kirchen und andere bedeutende spirituelle Orte regen dabei die Innensicht an und bewegen zur Besinnung und zu Lösungen. Darüber hinaus zeigt sich im Bereich von Bedeutsamkeit, dass der gesundungsfördernde Sinn von Engagement und von der Bewältigung einer Anforderung vermittelt werden konnte. Auch hier stellten Teilnehmende fest, dass Anforderungen zum Leben gehören. Stressoren werden so in ihrer Allgegenwärtigkeit erkannt und verlieren an Bedrohung. Ein therapeutischer Effekt, der sich in jedem Fall positiv auf das Copingverhalten auswirkt, ist die bei allen Personen festgestellte erhöhte Motivation zum Engagement und die Zustimmung, dass Anforderungen eher als Herausforderungen denn als Belastungen wahrgenommen werden. Demzufolge ist bei allen Befragten zukünftig ein mutigerer, aktiverer und lösungsorientierter Umgang mit Anspannung wahrscheinlich. 4. Kann das Projekt als chronische Widerstandsressource dienen? In dieser Gruppe konnte eindeutig nachgewiesen werden, dass das Jakobuswegprojekt als chronische Widerstandsressource dienen kann, die aufgrund ihrer Langfristigkeit für kontinuierliche Erfahrungen sorgt, die Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit fördern. Im Bereich Handhabbarkeit werden individuelle Ressourcen zur Belastungsbalance hauptsächlich gepflegt bzw. weiterentwickelt durch: - die kontinuierliche Förderung von Eigeninitiative und Selbstverantwortung, - die fortwährende Bewältigung von Anforderungen, - die weitere Pflege des Planungs- und Bilanzierungsverhaltens, - die immer wiederkehrende Möglichkeit der „Kur für die Seele“, d.h. Ruhe, fallen lassen, Halt spüren, Zeit für die Seele usw.. Hinsichtlich der externalen Ressourcen konnte nachgewiesen werden, dass die Unterstützung durch die Gemeinschaft (im Sinne einer Selbsthilfegruppe) sowie durch das multiprofessionelle Team als beständige Widerstandsressource bewertet wird. Dabei 332 stechen die stabilisierenden Potentiale der Gemeinschaft und des Projektes in der Gestaltung eines gesundungsfördernden Übergangs von der Wanderung in den Alltag hervor. Die Ergebnisse zur Handhabbarkeit bestätigen, dass durch das Projekt ein kontinuierliches Dazulernen möglich ist. Im kognitiven Bereich zeigt sich, dass die Langfristigkeit des Projektes eine ständige Reflexion des therapeutischen Prozesses gewährleistet. Darüber hinaus wird deutlich, dass die Gruppe und das therapeutische Team für ein konstantes Feedback sorgen, das die persönliche Weiterentwicklung fördert. Benannt werden auch die zunehmende Verstehbarkeit von psychischen und physischen Zusammenhängen sowie ihre optimale Handhabe zur Förderung des allgemeinen Gesundungsprozesses. Die SOC-Variable Bedeutsamkeit ist im gesamten Jakobuswegprojekt sehr stark ausgeprägt. Für dieses Fazit sprechen die folgenden Aspekte: Die Motivation zum Engagement für das Projekt, die bei allen Teilnehmenden nachgewiesen werden konnte, beweist sein hohes Potential an Bedeutsamkeit. Darüber hinaus spiegelt die Vielzahl der benannten Motivationsquellen die Vielschichtigkeit des Projektes wider und belegt, dass es für viele unterschiedliche bedeutungsvolle Lebensfelder - auch außerhalb der Krankheit - sorgt. Damit ist ebenfalls bestätigt, dass das Projekt mit seiner Vielseitigkeit unterschiedliche Bedürfnisse anspricht und somit ein breites Spektrum der Klientel erfasst. Es bietet Menschen mit unterschiedlichen Erkrankungen, unterschiedlichen soziokulturellen Hintergründen, Biographien und aus unterschiedlichen Altersgruppen langfristige Möglichkeiten des Engagements, der Mitsprache und der Erfahrung von Sinnerleben. Als herausragende Motivationsquellen zum Engagement für das Projekt treten in dieser Untersuchung die Gemeinschaft sowie die Arbeit an der Gesundheit hervor. Dabei resultiert die Motivation zur Therapie aus den enormen Erfolgserlebnissen sowie dem Zugewinn an Widerstandsressourcen durch die Jakobuswanderung und durch das bisherige Engagement im Jakobuswegprojekt. Insbesondere dieses Ergebnis belegt die 333 therapeutischen Potentiale des Jakobuswegprojektes respektive sein Wirken als chronische Widerstandsressource. 5. Welche Rolle spielt der Jakobusweg? Von dem historischen Pilgerweg gehen Einflüsse aus, die per se therapeutisch wirken. Diese Faktoren sollen im Folgenden in Abgrenzung zur Funktion des Projektes dargestellt werden. Es zeigt sich, dass der Jakobusweg eine Vielfalt an Interessen und Bedürfnissen von (psychisch kranken) Menschen anspricht. Im Jahr 2001 sah sich die gesamte befragte Gruppe auf dieser Pilgerreise verstanden, richtig aufgehoben und gefördert. Bei den Teilnehmenden konnten therapeutische Effekte auf allen drei SOC-Ebenen nachgewiesen werden. Zum Teil geschahen therapeutische Prozesse im natürlichen Ablauf eines Wanderalltages von selbst, dann zeigte sich aber auch, dass professionelle Rahmenbedingungen nötig waren, um das breite Spektrum von Interessen respektive heilsamen Faktoren innerhalb einer Gruppe zu ermöglichen und in Therapie umzuformen. Als Pilgerweg bietet der Jakobusweg die Erfahrung eines selbstwertstabilisierenden Rollenwechsels, d. h. weg von der Wahrnehmung als psychisch erkrankter Mensch mit einem Stigma behafteten Selbstbild, hin zum Erleben als Pilgernder, der in die Fußstapfen von Millionen Pilgerinnen und Pilgern tritt, um ein weltweit anerkanntes Ziel zu erreichen. Der Untersuchung nach wirkt sich sowohl dieser Rollenwechsel positiv auf die Gesundheit aus als auch die Tatsache, dass man überhaupt ein Ziel hat und schließlich, dass es sich um das Ziel Santiago de Compostela handelt. Letzteres wirkt therapeutisch, weil es ein Ziel darstellt, für das sich der Einsatz lohnt - es steigert also die Motivation zum Engagement - und weil es das Erleben von Teilhabe an einem gesellschaftlich anerkannten Entscheidungsprozess vermittelt. Diese Aspekte nehmen Einfluss auf die SOC-Ebene Bedeutsamkeit. Der schützende Rahmen des Jakobuswegprojektes ermutigt zum ersten Schritt in Richtung Santiago und somit auch zum Erleben der therapeutischen Effekte. Sowohl die hier vorliegende Untersuchung als auch die Erfahrung zeigen, dass viele psychisch erkrankte Menschen es nur mit professioneller Unterstützung überhaupt wagen, zu verreisen. So 334 bedarf es für eine Klientel mit weniger Zuversicht in die Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit von Anforderungen eines Projektes, das diese Zuversicht vermittelt. Über diese Bestärkung hinaus bietet das Jakobuswegprojekt die Selbstwahrnehmung als Teilnehmerin oder Teilnehmer an einem einmaligen sozialpsychiatrischen Projekt mit Pioniercharakter. Auch das hat einen selbstwertstabilisierenden Effekt. Die Ergebnisse belegen, dass die Wanderung auf dem mittelalterlichen Pilgerweg ein Ausweg aus einer verfahrenen oder frustrierenden Lebenssituation sein kann. Es ist zwar nur ein temporärer Ausstieg, er kann jedoch schon aufgrund der Distanz zu dieser Situation sehr heilsam sein und für Klärung sorgen. Mit dem Aufbruch zur Wanderschaft geht die Hoffnung auf neue Perspektiven einher. Dabei zeigt sich, dass der Jakobusweg die Bereitschaft mobilisiert, etwas zu verändern. Er weckt die Neugierde auf Erfahrungen über sich, auf neue Eindrücke, Informationen und auf mehr Verstehbarkeit von Informationen. Der Untersuchung nach wird die Wanderung diesen Bedürfnissen gerecht. Neben der physischen und psychischen Weiterentwicklung konnte auch die Weiterbildung durch kulturelle und botanische Ressourcen des Pilgerweges nachgewiesen werden. Darüber hinaus ist die Abwechslung zwischen dem Körperlichen und der Kultur ein wesentliches Kriterium, das den Wanderweg für die Teilnehmenden so wertvoll macht. Auf dem Weg in Richtung health-ease stellt der Jakobusweg natürliche, landschaftliche, architektonische und kulturelle Umweltbedingungen bereit, die das Abschalten und die Ablenkung von stresshaften Lebensereignissen begünstigen und im Gegenzug die Besinnung auf gesundungsstärkende Faktoren fördern. Dabei wirken geographische sowie landschaftliche Bedingungen beruhigend - helfen dabei, den Kopf klar zu kriegen und führen zu mehr Wohlbefinden. Die Ergebnisse zeigen, dass das Charisma des mittelalterlichen Pilgerweges tatsächlich nicht spurlos an Wanderinnen und Wanderern vorbeizieht. Der historische, kulturelle und spirituelle Hintergrund berührt emotional, erweckt die Fantasie und mobilisiert die Reflexion der persönlichen Lebenssituation. Die Auseinandersetzung mit sich selbst fördert dementsprechend die Lösungsfindung. Darüber hinaus erwecken schöne Gebäude schöne Erinnerungen und sorgen für das Erleben von Freude und Lebenssinn. 335 Ein weiteres wesentliches Moment, das eben ein unbedeutender Wanderweg nicht vermitteln kann, ist das Erleben von Bodenständigkeit und Tradition. Mit seinem Bestehen über Jahrtausende lässt dieser Pilgerweg Konsistenz spüren. Aus der Untersuchung geht außerdem hervor, dass der religiöse Hintergrund einen Zugang zu einer starken Zuversicht vermittelnden Widerstandsressource schafft, nämlich zum Glauben. Die Ergebnisse belegen, dass der Glaube an Gott gerade in Krankheitsphasen ein stabilisierender Faktor ist. Der Jakobusweg erinnert mit Kirchen, Klöstern und seinem religiösen Charakter an die Möglichkeit zu dieser Ressource. Nachgewiesen wurde auch, dass der Jakobusweg intensive therapeutische Erfahrungen schafft, die in der Klinik und auch im Alltag mancher Teilnehmender nicht erlebbar wären. Dabei sind Anforderungen authentisch und sorgen für Anspannung, die zur Gesundung aufgelöst werden muss. Die Gemeinschaft sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ermutigen zur Bewältigung von Schwierigkeiten und verdeutlichen durch gemeinsame therapeutische Reflexionen den gesundungsfördernden Sinn dieser Bewältigung. Der Sinn der Überwindung solcher Hürden liegt aber auch in der Sache selbst, sobald jemand vorhat, Santiago de Compostela zu erreichen. Als weitere therapeutische Aspekte der Pilgerreise stechen soziale Faktoren hervor. Hintergrund der insgesamt positiven Beziehungsgestaltung innerhalb der Gruppe ist dabei ein großes gemeinsames Ziel, das erreicht werden will. Dementsprechend mobilisieren alle Beteiligten ihre sozialen Kompetenzen, um dieses Ziel mit der Gemeinschaft verwirklichen zu können. Das professionelle Team unterstützt die konstruktive Umsetzung des Ziels, sobald Schwierigkeiten in der Kooperation entstehen. Ein weiteres wesentliches Kriterium, das den Jakobusweg therapeutisch wertvoll macht, ist seine Länge. Diese Länge gewährleistet die Chance einer jahrelangen Weiterentwicklung und Therapie und bietet damit einen Weg, das SOC überdauernd zu verändern. 336 11.1 Interpretation der Ergebnisse im Hinblick auf die Wandergruppe 2001 Als herausragendes Potential der Pilgerreise ist zu bewerten, dass sich hier eine heterogene Gruppe im Hinblick auf das Alter, die Diagnosegruppen, die Position auf dem HEDE- Kontinuum, den soziokulturellen Hintergrund, das Bildungsniveau, den familiären und den beruflichen Status usw. auf den Weg gemacht hat und dass bei allen Teilnehmenden ein Zugewinn an Widerstandsressourcen in allen drei Bereichen des Kohärenzgefühls nachgewiesen werden konnte. In dieser Untersuchung ging es um die Erforschung möglichst vieler unterschiedlicher Fälle, wobei die Offenheit für vielseitige Impulse zum Untersuchungsgegenstand im Vordergrund stand. Auf diese Weise wurde deutlich, wie differenziert das Projekt auf die Individualität jeder Person eingehen kann. In Bezug auf die Diagnosegruppen sowie auf die Daten zur Soziodemografie gibt es aber auch einige Gemeinsamkeiten, vor deren Hintergrund die Bedürfnisse der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie die therapeutischen Potentiale des Projektes noch deutlicher werden. Das Ergebnis beispielsweise, dass allen Teilnehmenden während der Wanderung das Gefühl von Verstehbarkeit und Konsistenz vermittelt werden konnte, gewinnt seine besondere Relevanz angesichts der Tatsache, dass 45,5% der Wanderinnen und Wanderer der Diagnosegruppe F2 zugeordnet werden können. Bei Schizophrenie, schizotypen und wahnhaften Störungen handelt es sich um Erkrankungen, die gerade im akuten Stadium die Wahrnehmung von Konsistenz sowie Verstehbarkeit der inneren und äußeren Umwelt deutlich stören. Folgt man dem Salutogenesemodell, so besteht die Möglichkeit, dass die bei der Wanderung erfahrene Beständigkeit und der Zugewinn an Kompetenz in Krisensituationen auch bei der Bewältigung der Erkrankung als Widerstandsressource zum Einsatz kommen können. Ebenso beachtlich ist die gelungene Vermittlung von Wissen auf verschiedenen Sachgebieten vor dem Hintergrund des unterschiedlichen Bildungsniveaus der Befragten. Interessant im Bereich Verstehbarkeit ist auch der Zuwachs an Wissen und Kenntnissen, die Emotionen sowie den zwischenmenschlichen Umgang verstehbarer bzw. einschätzbarer werden lassen bei einer Wandergruppe, in der 27,3% mit der 337 Diagnosegruppe F6 (Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen) vertreten sind. Laut ICD- 10 ist ein wesentliches Kriterium dieser Diagnosegruppe, dass sich Betroffene durch ihr Denken, Fühlen und vor allem durch ihre Beziehungsgestaltung mehr in Richtung dis-ease bewegen. Darüber hinaus erschweren tief verwurzelte überdauernde Verhaltensmuster, die sich in starren Reaktionen auf unterschiedliche persönliche und soziale Lebenssituationen zeigen, unter anderem auch einen gesundungsfördernden Lebensstil. Zugehörige zu dieser Diagnosegruppe sind demnach eher unflexibel im Einsatz von Widerstandsressourcen und wenig empfänglich für Feedback aus der Umwelt. Menschen mit dieser Problematik zählen ebenso zu der Wandergruppe 2001, in der Gesundungsförderung durch positive Beziehungsgestaltung erlebt wurde. Darüber hinaus konnten in der Gruppe ein verbessertes Copingverhalten durch die Teilnahme an der Jakobuswanderung nachgewiesen werden sowie insgesamt mehr Beweglichkeit und Flexibilität im Einsatz von Widerstandsressourcen. Die erhöhte Flexibilität zeigte sich auch in der Interaktion mit anderen Menschen. Die therapeutischen Effekte im Bereich des Copings sind außerdem hoch anzusiedeln im Hinblick auf die Diagnosegruppe F2. Personen, die an einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis leiden, reagieren je nach Vulnerabilität schon bei der Bewältigung relativ harmloser Stress-Situationen mit dysfunktionalen Coping- und Abwehrmechanismen. Zugehörige zu dieser Gruppe machen 45,5% der befragten Wandergruppe 2001 aus. Sie und Betroffene aus dem Diagnosebereich F6 (27,3%) gehören zu der hier interviewten Gruppe, in der in Bezug auf Verbesserung von Coping unter anderem Folgendes nachgewiesen werden konnte: - die Erkenntnis, dass Stressoren allgegenwärtig sind und zum Leben dazugehören, - dass Stressoren an Bedrohung verloren haben, - die Erkenntnis, dass Spannungen, die bei Anforderungen auftreten können, nicht unbedingt gesundungsschädigend sein müssen, - die Erkenntnis, dass es sich im Hinblick auf die Gesundung lohnt, Anforderungen zu bewältigen, auch wenn Spannung entsteht, - mehr Konzentration auf den instrumentellen Teil des Problems. Darüber hinaus haben alle Teilnehmenden der hinsichtlich der Diagnosegruppen heterogen besetzten Wandergruppe Belastungsbalance erlebt und konnten mit der Ausnahme von 338 zwei Personen bewusst Widerstandsressourcen zum Umgang mit Spannungssituationen im Alltag gewinnen. Wesentlich ist in diesem Kontext auch die erfolgreiche Vermittlung des gesundungsfördernden Sinns von Wandern, wenn man bedenkt, dass bei 45,5% der Befragten die Erstaufnahme in den Jahren 1970-1990 lag und weitere 45,5% der Gruppe mit mehr als fünf Aufnahmen auf eine lange Erkrankungsgeschichte mit der dazugehörenden Medikation und entsprechenden gesundheitlichen Einbußen zurückblicken. Einige Befragte haben außerdem auch aufgrund von Bewegungsarmut und der damit verbundenen mangelnden Kenntnis ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit großen Respekt vor dieser Anforderung gehabt. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Erkenntnis der Teilnehmenden, dass Wandern ein effektiver Weg ohne schädigende Nebenwirkungen zu mehr Wohlbefinden, Selbstregulation und Selbstvertrauen sein kann, noch mehr an Gewicht. Ein weiteres bedeutendes Ergebnis ist die gelungene Vermittlung von Partizipation und Mitsprache, wenn man bedenkt, dass die Mehrheit der Teilnehmenden (63,6%) zum Zeitpunkt der Wanderung nicht berufstätig war. Nur vier Personen gingen einer Vollzeitbeschäftigung nach, wobei eine Person beschützt beschäftigt war. Somit fällt bei dem Großteil der Befragten ein wesentliches Lebensfeld weg, das einem Menschen das Gefühl vermittelt, an einem gesellschaftlich anerkannten Produktionsprozess beteiligt zu sein. Der Untersuchung nach konnte belegt werden, dass nicht nur die Wanderung sondern auch das Jakobuswegprojekt Erfahrungsräume für Mitsprache und Lebenssinn bietet. Das wurde bestätigt von chronisch kranken Menschen, von Menschen, die zwar aufgrund ihrer Erkrankung ihrem Beruf nicht nachgehen können, sich aber dennoch in diesem Zustand möglicherweise in einer chronischen Unterforderungssituation befinden sowie von ersterkrankten Personen, die beruflich und/oder sozial gut verortet sind. Es ist demzufolge ein gesundungsförderndes Projekt, das dieser breitgefächerten Klientel ein langfristiges Erfahrungsfeld von Bedeutsamkeit gewährleisten kann und erfolgreich den gesundungsfördernden Sinn von Engagement und Eigenverantwortung vermittelt. Die Gesamtheit der positiven Effekte bündelt sich in der erhöhten Motivation zum Engagement im Alltag. 339 11.2 Interpretation der Ergebnisse unter Bezugnahme auf die bisherige Begleitforschung Die von Krisor und Pfannkuch (1999) untersuchten Wandergruppen aus den Jahren 1997 und 1998 lassen sowohl bezüglich der Gruppenkonstellation als auch im Hinblick auf die Ergebnisse einige Parallelen zu den im Jahr 2001 befragten Pilgernden erkennen. Demzufolge kann verschiedentlich an den damaligen Forschungsstand angeknüpft werden. Es zeigen sich aber auch Unterschiede in den Gruppenkonstellationen, vor deren Hintergrund dennoch gemeinsame Trends in Bezug auf die salutogenen Faktoren während der Jakobuswanderung sowie im Jakobuswegprojekt aufzufinden sind. Als Grundlage für die nachstehende Darstellung und Diskussion dieser Sachverhalte erfolgt zunächst ein Vergleich der Gruppenzusammensetzungen. Im Anschluss daran werden die Ergebnisse der Untersuchungsgruppen unter Berücksichtigung der soziodemographischen Daten sowie der Daten zur Psychopathologie auf gemeinsame Trends untersucht. In der Vergleichsgruppe wurden die Daten von 24 Personen ausgewertet, die an den Pilgerreisen 1997 und/oder 1998 teilgenommen haben. Im Durchschnitt entspricht die Anzahl der Befragten pro Etappe etwa der Größe der hier vorliegenden Untersuchungsgruppe (n=11). In Bezug auf die Geschlechterverteilung zeigt sich, dass der Anteil der Männer 63,6% (88%) 1 gegenüber den Frauen 36,4% (12%) in beiden Gruppen deutlich überwiegt. Dabei ist die Gruppe 2001 heterogener besetzt. Das durchschnittliche Lebensalter ist in der Vergleichsgruppe (44 Jahre) nur unwesentlich höher als in der hier untersuchten (41 Jahre). Allerdings ist in der Vergleichsgruppe die Altersspanne von 25 bis 70 Jahren noch größer als in der Gruppe 2001 mit 23 bis 53 Jahren. Im Hinblick auf den Behandlungsstatus lässt sich sagen, dass die Wandergruppe 2001 heterogener besetzt ist als die der befragten Personen der Wanderungen 1997/98. Während in der letzteren Gruppe ein hoher Anteil an vollstationären Patientinnen und Patienten (71%) mitwanderte und 29% den Anteil der teilstationären Klientel ausmachten, befanden sich 2001 36,4% der Wanderinnen und Wanderer in vollstationärer Behandlung der Klinik, 1 Die Zahlen in Klammern sind Daten der Untersuchungsgruppe aus den Wanderungen 1997/98 (vgl. Krisor & Pfannkuch, 1999) . 340 18,2% in der Behandlung der Medizinischen Rehabilitationseinrichtung für psychisch Kranke und 45,5% waren ehemalige Patientinnen und Patienten. Im Jahr 2001 sind also mehr Positionen auf dem Hede-Kontinuum zu sehen. Darüber hinaus spricht der Anteil der ehemaligen Patientinnen und Patienten (45,5%) dafür, dass sich insgesamt eine etwas stabilisiertere Gruppe auf den Weg machte als in den Jahren 1997/98. Bei den soziodemographischen Daten zeigt sich in beiden Gruppen, dass etwa die Hälfte der Teilnehmenden alleine lebt. 1997/98 waren es 58% und 2001 lebten 45,5% ohne Partnerin bzw. Partner. Fast gleich sind die Anteile der Befragten mit Ehe- bzw. Lebenspartner(-in) und Kindern 18,2% (12%) sowie mit Ehe- bzw. Lebenspartner(-in) ohne Kinder 9,1% (12%). Zu beobachten ist außerdem der hohe Anteil der Personen, die in einer Privatwohnung leben. 1997/98 sind es 94,1 % und 2001 handelt es sich um 72,7%. In beiden Gruppen dürfte eventuell der Wunsch nach Kontakt oder nach Gemeinschaft auffällig ausgeprägt sein. Außerdem spricht der hohe Anteil derjenigen, die in einer Privatwohnung leben für einen hohen Grad an Autonomie in beiden Gruppen. Nichtsdestotrotz machten sich während der Wanderungen auch Menschen auf den Weg, die innerhalb schützender, versorgender Rahmenbedingungen einer Institution lebten. Neben der Lebenssituation lassen sich auch Ähnlichkeiten im Bildungsniveau beobachten. So absolvierten in beiden Gruppen die meisten Personen die Hauptschule 63,6% (65%), 9,1% (6%) erlangten die Fachoberschulreife und 27,3% (23%) die Fachhochschulreife. In der Vergleichsgruppe hatten 6% keine abgeschlossene Schulausbildung. Zur beruflichen Situation lässt sich sagen, dass in den Wandergruppen 1997/98 mit 88% mehr Personen über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügten als in der hier untersuchten Gruppe (64%). Dabei ist der Akademikeranteil von 18,2% (18%) in beiden Gruppen gleich, eine abgeschlossene Lehre weisen 45,5% (70%) auf, und in der Wandergruppe 2001 hatte mit 36,4% ein deutlich höherer Anteil keine abgeschlossene Berufsaubildung im Vergleich zu der Untersuchungsgruppe 1997/98. Vergleichbar gering ist der Anteil der Vollzeitbeschäftigten 36,4% (39%), darunter auch der beschützt Beschäftigten. Dieser Anteil ist in beiden Gruppen niedriger gegenüber denen, die mit 63,6% (45%) zu den Personen gehören, die arbeitslos gemeldet sind bzw. anderweitig nicht berufstätig sind oder eine Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeitsrente 341 beziehen. Allerdings ist 2001 das Gefälle zwischen Vollzeitbeschäftigten und Nichtberufstätigen deutlich größer. Im Hinblick auf die Erkrankungen der Befragten lässt sich beobachten, dass beide Gruppen bezüglich der Diagnosen heterogen besetzt sind. Der Vergleich ist etwas schwierig, weil in den Gruppen unterschiedlich klassifiziert wurde. In beiden Untersuchungen wurde grob zwischen vier Diagnosegruppen unterschieden, wobei die hier vorliegende Erhebung die F2 in die Untergruppen Schizophrenie (F20) und schizoaffektive Störung (F25) gliedert. Die Tatsache, dass in der Untersuchungsgruppe der Wanderungen 1997/98 u.a. Betroffene von schizophrenen Psychosen (35,5%), affektiven Psychosen (30%), Neurosen und Persönlichkeitsstörungen (23,5%) befragt wurden, lässt das Vorkommen an Diagnosegruppen F2, F4 und F6 nach ICD-10 erwarten. Für die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse bleibt vor allem die Durchmischung der Diagnosen in beiden Gruppen festzuhalten. Vergleichbarer sind Ähnlichkeiten in der Zusammensetzung der Gruppe hinsichtlich der Anzahl der Behandlungen. So hat in beiden Gruppen mit 45,5% (47%) nahezu die Hälfte der Patientinnen und Patienten mehr als 5 (teil-)stationäre Aufnahmen hinter sich. Fast gleich ist auch der Anteil derjenigen, die mit 9,1% (12%) 3-5 Aufnahmen und mit 18,2% (23%) 1-2 Aufnahmen zu verzeichnen haben. Die erstmalig aufgenommenen Patientinnen und Patienten sind in der Gruppe 2001 mit 27,3% etwas häufiger gegenüber der Untersuchungsgruppe 1997/98 mit 17% vertreten. Der nachfolgende Vergleich der Ergebnisse geschieht also vor dem Hintergrund zweier Untersuchungsgruppen, die sich im Hinblick auf die ungleiche Verteilung von Geschlecht und Durchschnittsalter ähneln. Gleichzeitig unterscheiden sich diese Gruppen in Bezug auf die Altersspanne sowie die Heterogenität das Geschlecht betreffend. Ähnlich sind das Bildungsniveau und die Verteilung der Personen auf die Schulabschlüsse. Dabei sind die Personen mit Hauptschulabschluss am häufigsten vertreten. In beiden Gruppen ist der Anteil der Vollzeitbeschäftigten geringer gegenüber denen, die zur Zeit der Untersuchung nicht berufstätig waren. Abgesehen davon sind die berufliche Situation und die Verteilung hinsichtlich des beruflichen Werdegangs unterschiedlich. Beide Gruppen lassen auf einen hohen Grad an Autonomie und die Fähigkeit zur Selbstversorgung schließen, da die meisten Befragten in einer Privatwohnung leben. In beiden 342 Untersuchungsgruppen ist etwa die Hälfte der Patientinnen und Patienten als chronisch krank einzustufen. Bei der Verteilung der Diagnosegruppen kann eine heterogene Zusammensetzung sowohl in der Untersuchungsgruppe 1997/98 als auch in der Wandergruppe 2001 beobachtet werden. 1. Salutogene Faktoren der Gemeinschaft Bei der Aufstellung von Hypothesen zu der hier vorliegenden Untersuchung wurden bereits die therapeutischen Effekte der Pilgerreisen 1997/1998 im Hinblick auf das Vorkommen von Bedeutsamkeit, Handhabbarkeit und Verstehbarkeit untersucht (s. Kap. 5). Nach der Evaluation der Gruppe 2001 zeigt sich, dass es bei den drei Wanderetappen durchaus eine Kontinuität im Vorkommen bestimmter salutogener Effekte sowie der Quellen für den Zugewinn an Widerstandsressourcen gibt. Krisor und Pfannkuch fanden heraus, dass insbesondere die Gemeinschaftlichkeit im Sinne von Gruppenerleben, Zusammensein, Gemeinsamkeit, Gemeinschaftsgefühl, Gemeinschaftserlebnis oder Gemeinschaftlichkeit und die körperliche Belastung die Gesundheit fördern. In ihrer Publikation (1999) liegen zu diesen Bereichen ausführliche Kategoriensysteme vor, die einen Vergleich mit einigen Ergebnissen der Wanderung 2001 ermöglichen (s. Tabellen 1-6, Anhang (3), S. 383-389). Begonnen wird mit dem Vergleich der therapeutischen Effekte, die auf die Gemeinschaft zurückzuführen sind. In allen drei Wanderetappen wurden Kompetenzen erworben, die Emotionen, das Denken und Verhalten sowie den Umgang mit anderen Menschen verstehbarer und handhabbarer werden lassen (s. Tabellen 1 u. 2, Anhang (3), S. 383-385). Die Gemeinschaft bzw. der Aspekt Gemeinschaftlichkeit lässt soziale Kompetenzen erleben oder wiederentdecken und die dazugehörenden Emotionen spüren, verstehen oder nachahmen. Entscheidend ist dabei die Gruppendynamik, die den Zugewinn an internalen Widerstandsressourcen der Verstehbarkeit und Handhabbarkeit fördert. Wesentlich für diesen Zugewinn ist die Möglichkeit der Kommunikation (mit verschiedenen Gesprächspartnerinnen und -partnern). In den Ergebnissen von allen Wandergruppen wird sichtbar, wie sich durch Kommunikation die Fertigkeit, anderen Menschen persönliche Anliegen und Bedürfnisse verstehbar zu machen, verbessert, weil 343 im Bereich Verstehbarkeit und Handhabbarkeit entsprechende Kompetenzen erworben wurden. Deutlich wird auch, dass in beiden Untersuchungsgruppen Kommunikation als Weg zu mehr Belastungsbalance erkannt wurde. Das ist bei Menschen, die sich einer verbalen Therapieform unterziehen und diese auch nach der Pilgerreise fortsetzen, ein wesentlicher Schritt im therapeutischen Prozess. Ein weiteres Phänomen, das im Bereich von Verstehbarkeit und Bedeutsamkeit ersichtlich wird, ist die generelle Erkenntnis des gesundungsfördernden Sinns von Kontakten (s. Tabellen 2 u. 3, Anhang (3), S. 385-387). So geben Befragte aus beiden Untersuchungen die Ablenkung von Gedankenkreisen durch Kontakte zur Gruppe als therapeutischen Faktor an und können im Austausch zu dem eher gesundungslähmenden Verhalten Widerstandsressourcen wie Wohlbefinden, Wärme, Nähe, Zugehörigkeit oder positive Wertschätzung wahrnehmen. Insgesamt wird der hier geschilderte therapeutische Erfolg deutlich, wenn man bedenkt, dass in beiden Untersuchungsgruppen die Hälfte der Befragten alleine lebt und die bisher aufgeführten gesundungsfördernden Aspekte im Alltag eher als chronische Widerstandsdefizite zu verbuchen hat. Möglicherweise ist auch dieser soziale Hintergrund eine Erklärung dafür, warum die Gemeinschaft als therapeutisches Phänomen in beiden Untersuchungen so deutlich in den Vordergrund tritt. Als weitere Gemeinsamkeit der Erhebungen zeigt sich, dass der Aspekt der positiven Beziehungsgestaltung als generalisierte Widerstandressource auf allen drei SOC-Ebenen gefunden wurde. Die so konstruktive und gesundungsfördernde Gestaltung der täglichen Begegnung mit der Gruppe spricht sowohl für die therapeutischen Potenziale der Pilgerreise als auch für die hohe Ausprägung der gemeinsamen Motivation, ein großes Ziel zu erreichen, vor dem Hintergrund dass: a) etwa die Hälfte der Befragten in beiden Untersuchungsgruppen allein lebt und den täglichen Kontakt bzw. die tägliche Nähe mit anderen Menschen, wie sie auf der Wanderung gegeben ist, nicht gewohnt ist, b) in beiden Gruppen eine Durchmischung der Diagnosegruppen gegeben ist (darunter auch Menschen, die aufgrund ihrer Wege der Beziehungsgestaltung oder Interaktion mit anderen, psychisch erkranken), 344 c) in beiden Gruppen Menschen unterschiedlichen Alters, mit unterschiedlichem Bildungsniveau und ihren individuellen Lebensbiographien zusammen wandern. Neben der Bewertung guter Kooperation und sozialer Kompetenz als gesundungsfördernd, wird zudem die beruhigende Wirkung der Gemeinschaft als externaler Ressourcenpool deutlich. Hier muss jedoch eingeräumt werden, dass sich in der Wandergruppe 1998 keine konkreten Angaben zur Funktion der Gruppe bei dem entspannenden Effekt der Pilgerreise finden. Dennoch sprechen Nennungen wie: „leichtes Aushalten von angstbesetzten Situationen“, „Verlust vieler Ängste“ oder generell „Gelassenheit“ für eine Zuversicht in internale und externale Ressourcen zur Bewältigung von Anforderungen. Als weitere Gemeinsamkeit ist die Verbesserung der Freizeitgestaltung durch die Gemeinschaft bzw. durch neue Kontakte zu beobachten. Das zeigt sich in Äußerungen wie „sehr guter Kontakt zu speziellen Mitpatienten“, „konkrete Interessen entwickelt“ oder „Hilfsbereitschaft führte zu Freundschaften“. Die Gemeinschaft führt somit den Studien nach zum Gewinn neuer bedeutsamer Lebensfelder und auf diesem Weg zur Stärkung der SOC-Variablen Bedeutsamkeit. Einerseits liefern die Parallelen im Lebenskontext der Wanderinnen und Wanderer Hinweise dafür, warum die Gemeinschaft in beiden Untersuchungen so deutlich als therapeutischer Faktor herausragt und unterstreichen eher die Kontextbezogenheit der qualitativen Studie. Andererseits sprechen die mehrfach genannten Unterschiede in den Gruppenkonstellationen für die Generalisierbarkeit der Gemeinschaft oder Gemeinschaftlichkeit als einem herausragenden therapeutischen Faktor auf den Jakobuswanderungen. Neben der Interpretation der gesundungsfördernden Einflüsse der Gruppe unter Bezugnahme auf das Modell zur Salutogenese werden in allen drei Wanderetappen auch gruppentherapeutische Faktoren deutlich wie sie beispielsweise Yalom (1983/2005) definiert. Als therapeutische Faktoren, die Yalom im gesamten Feld der Gruppentherapie für gültig befindet und die auch in beiden Untersuchungsgruppen vorkommen, können angeführt werden: 345 Tabelle 62: Gruppentherapeutische Faktoren der Wanderungen 1997, 1998 und 2001 Gruppentherapeutische Faktoren nach Yalom (1983/2005) Gesundungsfördernde Faktoren durch die Gemeinschaft in den Gruppen 1997/98 und 2001 Einflößen von Hoffnung - Zuversicht, dass Probleme in der Gemeinschaft gelöst werden Informationsvermittlung - intensive Gespräche / verbaler Austausch - Kenntnisse und Wissen, die den zwischenmenschlichen Umgang verstehbarer machen usw. Altruismus - Durchmischung von Krankheitsbildern und dadurch gegenseitige Ergänzung sowie Beratung, Geben und Nehmen, gegenseitige Unterstützung usw. Entwicklung sozialer Umgangsformen - positive Umgangsweise - Training von Kontaktfertigkeiten - Kenntnisse und Wissen im Bereich sozialer Kompetenz - Gruppendynamik, die zum Einsatz bzw. zur Aneignung internaler Widerstandsressourcen anregt usw. Konfliktlösendes Aufarbeiten der Erfahrungen in der Herkunftsfamilie - Erleben einer positiven Beziehungsgestaltung - Kenntnisse und Wissen, die den zwischenmenschlichen Umgang verstehbarer machen usw. Nachahmendes Verhalten - Gruppendynamik, die zum Einsatz bzw. zur Aneignung internaler Widerstandsressourcen anregt - Durchmischung von Krankheitsbildern und dadurch gegenseitige Ergänzung sowie Beratung, Geben und Nehmen, gegenseitige Unterstützung usw. Katharsis - mehr Verstehbarkeit und Ausdrucksfähigkeit von Gefühlen Existentielle Faktoren - Erleben von Bedeutsamkeit, Lebenssinn durch die Gemeinschaft usw. Kohäsion - Freude am Zusammensein mit Menschen - Befriedigung von elementaren Bedürfnissen wie z.B. menschliche Nähe, Wärme oder Gemeinschaftlichkeit - Erleben einer positiven Beziehungsgestaltung wie z.B. untereinander achtsam sein, Zusammengehörigkeit, sich miteinander gut verstehen - beruhigende, angstlindernde Wirkung der Gruppe als Pool externaler Widerstandsressourcen usw. Fortsetzung 346 Fortsetzung Tabelle 62: Gruppentherapeutische Faktoren der Wanderungen 1997, 1998 und 2001 Gruppentherapeutische Faktoren nach Yalom (1983/2005) Gesundungsfördernde Faktoren durch die Gemeinschaft in den Gruppen 1997/98 und 2001 Interpersonelles Lernen - Durchmischung von Krankheitsbildern und dadurch gegenseitige Ergänzung sowie Beratung, Geben und Nehmen, gegenseitige Unterstützung - positive Umgangsweise - Training von Kontaktfertigkeiten - Kenntnisse und Wissen im Bereich sozialer Kompetenz - Gruppendynamik, die zum Einsatz bzw. zur Aneignung internaler Widerstandsressourcen anregt usw. Sowohl in der Untersuchung der Wandergruppen 1997/98 als auch in der Untersuchung 2001 sind noch andere Beispiele zu finden, die das Aufkommen dieser gruppen- therapeutischen Faktoren bestätigen. Die Beschränkung auf die thematischen Schwerpunkte aus beiden Untersuchungsgruppen, die den therapeutischen Faktoren nach Yalom gegenübergestellt wurden, geschah zur besseren Übersichtlichkeit. Das Phänomen Universalität wurde aus der Übersicht herausgenommen, weil es sich in diesen Gruppen in besonderer Weise darstellt. Folgt man Yalom, so wird auch in den therapeutischen Wandergruppen ein Erleben von Erleichterung und Selbstwertstabilisierung durch die Wahrnehmung von Menschen mit ähnlichen Problematiken stattfinden. Das Erleben von Universalität geht auf der Jakobuswanderung jedoch über diese an der Pathologie orientierte Wahrnehmung hinaus. In den Wandergruppen steht mehr die selbstwertstabilisierende Identität als Jakobuspilgerin oder -pilger unter Gleichgesinnten im Vordergrund. Das Hier und Jetzt des Wanderalltags lenkt von der Pathologie ab und minimiert defizitorientiertes Denken, weil die Wanderung und die Gemeinschaft täglich Lösungen fordern, die nur mit Ressourcen zu bewältigen sind. Zusammengenommen belegt die obige Gegenüberstellung der therapeutischen Faktoren aus einem weiteren wissenschaftlichen Paradigma heraus, dass auf der Jakobuswanderung trotz der außergewöhnlichen Rahmenbedingungen professionelle Gruppentherapie erfolgt. Die nun folgenden Ausführungen setzen sich mit dem Vergleich der Ergebnisse der Studien 1999 und 2001 in Bezug auf das Wandern auseinander. 347 2. Therapeutische Effekte des Wanderns Das Wandern sorgt für Widerstandsressourcen auf allen drei Ebenen des Kohärenzgefühls (s. Tabellen 4-6, Anhang (3), S. 388-389). Die Ergebnisse aller drei Etappen zeigen außerdem die Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit als therapeutischen Effekt auf. Im Bereich Verstehbarkeit wird ersichtlich, dass Befragte in den Wandergruppen 1997/98 und 2001 kognitiv einordnen können, dass sich körperliche Betätigung auch positiv auf das psychische Wohlbefinden auswirkt und dass sie generell Zusammenhänge zwischen physischen und psychischen Abläufen besser begreifen. Die bei Krisor und Pfannkuch erforschten Motivationsebenen Gemeinschaft und Naturerleben für das Wandern können nach dem Vergleich mit der Untersuchung 2001 um den Faktor Förderung psychischer und physischer Gesundheit als erkannter Anreiz zum Wandern erweitert werden. Die gesundungsfördernde Wirkung der körperlichen Aktivität wurde sowohl im Bereich Verstehbarkeit als auch im Bereich Handhabbarkeit wahrgenommen. Auf pragmatischer Ebene zeigt sich die Erkenntnis des Wanderns als Weg zum Spannungsabbau bzw. zur Belastungsbalance. Darüber hinaus wird das Wandern auch als Widerstandsressource zur Förderung von Bedeutsamkeit deutlich, weil es sich als sinnstiftende, Freude bereitende Aktivität herausstellt, die Wohlbefinden schafft, die Erfolgserlebnisse vermittelt und die in der Funktion als neues Hobby zum neuen bedeutsamen Lebensfeld wird. In allen drei Etappen finden sich außerdem Belege dafür, dass durch das Wandern Widerstandsressourcen zur Verbesserung des Planungs- und Bilanzierungsverhaltens gewonnen werden. Bei diesen Ressourcen handelt es sich um: - die Förderung von Körperwahrnehmung bzw. des (positiven) Körpergefühls und das Erleben bzw. die Erweiterung des Leistungsniveaus - also die Verstehbarkeit des Körpers als Voraussetzung für eine adäquate Dosierung der Energie im Verhältnis zum Ausmaß der Anforderung - sowie - das Vertrauen in die körperliche Leistungsfähigkeit - also die Zuversicht in die Verstehbarkeit und Handhabbarkeit des Körpers als Motivationsquelle, um Anforderungen oder Ziele überhaupt anzugehen. 348 Daneben zeigt sich in beiden Untersuchungen, dass Pilgernde während des Wanderns von der damit einhergehenden Metaphorik berührt wurden und daraus Bewältigungsstrategien für den Alltag entwickelten wie „die Entwicklung der ‘eigenen’ Philosophie, daß der Weg das Ziel sei“ (Krisor & Pfannkuch 1999, S. 140) oder „in kleinen Schritten/steinigen Weg Schritt für Schritt bewältigen“ (s. Tabelle 51). In den Etappen 1998 und 2001 wird darüber hinaus der Zugewinn an logistischen Kenntnissen deutlich. Die Untersuchung zur Etappe 2001 zeigt zudem einen größeren Zuwachs an Kenntnissen zu dem Sport Wandern auf. Als abschließendes wesentliches Ergebnis beider Studien in Bezug auf das Wandern als salutogener Faktor bleibt festzuhalten, dass durch die körperliche Betätigung der Mut steigt, sich Anforderungen zu stellen. Aus bewegungstherapeutischer Sicht kann in den Wandergruppen die Umsetzung der Basisziele der Mototherapie nach Hölter (1993) bestätigt werden. Hierzu der folgende Überblick: Tabelle 63: Bewegungstherapeutische Effekte des Wanderns in den Wandergruppen 1997, 1998 und 2001 Basisziele der Mototherapie nach Hölter (1993, S. 12 ff.) Therapeutische Effekte des Wanderns in den Gruppen 1997/98 und 2001 Aktivierung - Allgemeine Aktivierung - Überwindung von Passivität - Stabilisierung der somatischen Basis - Steigerung des Wohlbefindens Primäre Aktivierung - Rehabilitation einfacher sinnlicher Erfahrungen - Förderung von ‚Körperbewusstsein‛ - Verbesserung des Aktivitätsniveaus - Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit - mehr Wohlbefinden - Förderung von (positiver) Körperwahrnehmung - Erfahrung des persönlichen Leistungsniveaus Freizeitgestaltung - Förderung des Wohlbefindens und der Selbstregulation - Vorbereitung eines sozial unterstützenden Netzwerkes - Erkenntnis des gesundungsfördernden Sinns von Wandern - Wandern im Alltag mit Bezügen zur Kultur, Technik und Natur - Wandern zum Spannungsabbau bzw. zur Belastungsbalance Fortsetzung 349 Fortsetzung Tabelle 63: Bewegungstherapeutische Effekte des Wanderns in den Wandergruppen 1997, 1998 und 2001 Basisziele der Mototherapie nach Hölter (1993, S. 12 ff.) Therapeutische Effekte des Wanderns in den Gruppen 1997/98 und 2001 Vermittlung von Fertigkeiten und Wissen - Vermittlung von Bewegungs-, Spiel und Sportformen - Vermittlung von körper- und bewegungsbezogenen Lebenshilfen - Zugewinn logistischer Kenntnisse - positive Auswirkungen auf Wege der Problemlösung z.B. in ´kleinen Schritten steinigen Weg Schritt für Schritt bewältigen oder Konzentration auf den Weg - Verbesserung des Planungs- und Bilanzierungsverhalten - Verbesserung des Copingverstehens und- verhaltens - Wandern zum Spannungsabbau bzw. zur Belastungsbalance z.B. Wandern beruhigt, körperliche Anstrengung befreit von Sorgen - mehr Verstehbarkeit psychischer und physischer Zusammenhänge Bewegung als Medium der Psychotherapie - Unterstützung der Diagnostik - Begleitung einer verbalen Therapie - Primärtherapie - mehr Mut, sich Anforderungen zu stellen - positive Auswirkungen auf Wege der Problemlösung z.B. in ´kleinen Schritten steinigen Weg Schritt für Schritt bewältigen oder Konzentration auf den Weg - Verbesserung des Planungs- und Bilanzierungsverhalten - Verbesserung des Copingverstehens und- verhaltens Neben den Basiszielen gliedert Hölter den therapeutischen Prozess während der Therapiedurchführung in Anlehnung an Braun (1983) in drei verschiedene Ebenen des therapeutischen Geschehens. Die funktionelle Ebene umfasst „ ... Maßnahmen, die auf eine Steigerung des Wohlbefindens durch Verbesserung der physiologischen Körperfunktionen, auf eine Allgemeine Aktivierung des Organismus, auf eine Erhöhung der Leistungsfähigkeit, auf ökonomischeres Bewegungsverhalten durch Trainingsprozesse usw. zielen“ (Hölter,1993, S. 63-64). Das Erleben dieser Erfahrungen zeigt sich in Tabelle 63 bei den Basiszielen vor allem unter dem Punkt Aktivierung. Auf der Beziehungsebene tritt der Mensch in Beziehung zu seinem Körper und zum Selbst. Darüber hinaus geht es auch um die Beziehung zur Gruppe oder zur Umwelt, zu Materialien usw.. In Beziehung zu sich selbst treten umfasst das Spüren des Körpers, das 350 Erleben seiner Leistungsfähigkeit bzw. seiner Grenzen, das Wahrnemen von Spannung und Entspannung, das „Zu-Hause-Sein“ im eigenen Körper, usw.. Nach Hölter findet sich diese Beziehungsebene in anderen bewegungstherapeutischen Richtungen unter dem Begriff awareness (Brooks/Selver) oder Bewusstheit (Feldenkreis) wieder. Die Beziehung zur Gruppe und die dazugehörigen therapeutischen Faktoren wurden bereits thematisiert. Hölter integriert die gruppentherapeutischen Faktoren nach Yalom in das therapeutische Geschehen der Bewegungstherapie auf der Beziehungsebene. Der Kontakt zur Umwelt und zu Materialien sollte die Aufmerksamkeit für die unterschiedlichen Qualitäten des Umfeldes und des Materials schulen. Gefördert wird auch der sachgerechte und kreative Umgang mit Materialien. Diese Ebene kommt in den Untersuchungen 1997/98 und 2001 insbesondere unter den Basiszielen Freizeitgestaltung und Vermittlung von Fertigkeiten und Wissen zum Ausdruck. Hierzu gehört außerdem die Anregung der Fantasie und der damit verbundenen psychotherapeutischen Prozesse wie sie durch das In-Beziehung-Treten mit den kulturellen, architektonischen, landschaftlichen und anderen Aspekten des Jakobusweges aufkommen (vgl. z. B. Abschn. 10.3.8). Auf der Metaebene werden alle diese Erfahrungen verbalisiert, reflektiert, kognitiv verarbeitet und emotional integriert. Dieser Aspekt findet sich insbesondere unter den Basiszielen Bewegung als Medium der Psychotherapie sowie Vermittlung von Fertigkeiten und Wissen wieder. Zusammenfassend belegen die Ergebnisse somit, dass auf der Jakobuswanderung bewegungstherapeutische Prozesse wirksam werden und Basisziele professioneller Bewegungstherapie umgesetzt werden. 3. Weitere salutogene Faktoren Neben der Gemeinschaft und dem Wandern werden in der Untersuchung 2001 die folgenden weiteren Quellen zur Gesundheitsförderung bestätigt, die bereits bei Krisor und Pfannkuch erforscht wurden: In beiden Untersuchungen zeigt sich die Förderung von Verstehbarkeit durch den Zugewinn an Wissen, der auf die Ressourcen des Jakobusweges zurückzuführen ist, und das bei dem ähnlich gelagerten unterschiedlichen Bildungsniveau in beiden Gruppen. 351 Bei der Befragung von Krisor und Pfannkuch bewerteten 10 Personen das Befassen mit Kultur und Geschichte sogar als das schönste Ereignis der Pilgerreise. Demzufolge konnte in beiden Untersuchungen auch die Vermittlung von Bedeutsamkeit bzw. von Sinnerleben durch die Geschichtsträchtigkeit und den kulturellen Hintergrund des Pilgerweges nachgewiesen werden. Darüber hinaus zeigt sich, dass ein Teil der Wanderinnen und Wanderer durch das Charisma des Jakobusweges zur Introspektion angeregt wurde. Weitere salutogene Faktoren im Bereich Bedeutsamkeit, die in beiden Studien identifiziert werden konnten, sind sinnliche Aspekte wie das gemeinsame Essen, die Atmosphäre, das Naturerleben oder die Wahrnehmung schöner Landschaften und Bilder. Darüber hinaus sind - neben den bereits erwähnten starken Faktoren Gruppe bzw. Gemeinschaftlichkeit und Wandern - schöne Ereignisse, die Bewältigung von Anforderungen bzw. das Erreichen von besonderen Zielen sowie neue Hobbys als sinnstiftende, Freude bereitende Aspekte zu bestätigen. Der Zugewinn an Widerstandsressourcen im Bereich Handhabbarkeit wurde bereits in den Ausführungen zur Gemeinschaft und Wandern verdeutlicht. Beide Untersuchungen zeigen dabei, dass gerade im Bereich Handhabbarkeit die Gemeinschaft und das Wandern wesentliche Rahmenbedingungen zum Gewinn internaler und externaler Widerstandsressourcen der Belastungsbalance bereitstellen und den Zugewinn auch bedingen. Die Erhebung 2001 stellt außerdem heraus, dass dem multiprofessionellen Team hierbei eine ebenso starke Funktion als salutogener Faktor zukommt. Darüber hinaus zeigt sich in dieser Wandergruppe und ansatzweise auch in den Gruppen 1997/98, dass die Teilnehmenden selbständig individuelle Ressourcen zur Handhabe von Anforderungen bzw. zur Belastungsbalance für sich herausgefunden haben, die unabhängig von den therapeutischen Einflüssen der Gemeinschaft, der Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie des Wanderns sind. Beispielsweise tritt in der Untersuchung 2001 die Distanz zu belastenden Situationen zu Hause als starker entlastender, therapeutischer Faktor in den Vordergrund. Wichtig ist in diesem Kontext auch die Ressource „Spannungsbewältigung mit positiven Autosuggestionen“ sowohl während der Wanderung als auch nach der Wanderung durch Erinnerungen an schöne Landschaften oder an Momente des 352 Wohlbefindens. Herausragend ist bei der Gruppe 2001 die Erkenntnis, dass die Bewältigung von Anforderungen für die Belastungsbalance wichtig sein kann. Weitere Gemeinsamkeiten in beiden Gruppen sind – im Übrigen auch im Hinblick auf die Verbesserung des Copingverhaltens – die erhöhte Bereitschaft zur Aktivität und auch mehr Mut oder Kraft, sich Anforderungen zu stellen. Darüber hinaus finden sich in den Untersuchungen Aussagen wie „kreativer bei Lösungsfindung in Spannungssituationen“ (Krisor & Pfannkuch, 1999, S. 146) sowie „flexibler im Einsatz von Lösungsstrategien“ (vgl. vorliegende Untersuchung) Belege dafür, dass die Teilnahme an der Jakobuswanderung mehr Handhabbarkeit von Anforderungen bewirkt. Gleichzeitig bestätigen diese Nennungen, dass sich das Copingverhalten verbessert, da mehr auf die instrumentelle Seite des Problems geachtet wird. Auch die Angabe „entscheidungsfreudiger“ geworden zu sein (a. a. O.) unterstützt das Ergebnis der hier vorliegenden Untersuchung, dass die Bereitschaft zur Eigeninitiative und zur Übernahme von Verantwortung gestärkt wird. Bezüglich der Mitarbeitenden können durch die Untersuchung 2001 ähnliche Schlüsse gezogen werden wie bei Krisor und Pfannkuch. Insgesamt findet in beiden Untersuchungsgruppen eine positive, in der Gruppe 2001 sogar größtenteils sehr positive, Bewertung des Kontaktes statt. Die Beziehung wird in beiden Gruppen als ungezwungener, menschlicher und kameradschaftlich empfunden, in der eine Begegnung außerhalb der klinischen Rollenverteilung möglich wird. Dabei wird trotz des gelösteren Miteinanders die therapeutische Distanz nicht verletzt (vgl. „die Mitarbeitenden wahren auf freundliche Art Distanz“, s. Tabelle 26; „brüderliche Gemeinsamkeit und hierarchischer Respekt“, Krisor & Pfannkuch, 1999, S. 150). Darüber hinaus ist die Kompetenz des therapeutischen Teams den Befragten bewusst und wird in Krisensituationen auch eingefordert. Besondere Wertschätzung erfahren die Teilnahme des Chefarztes und die Erfahrung seiner Ressourcen, die in außerklinischen Rollen zum Ausdruck kommen. In beiden Untersuchungsgruppen wurde dieser ‘andere’ außerklinische Kontakt auch zum gesamten therapeutischen Team als positiv empfunden. Ein entscheidendes Ergebnis im Hinblick auf den Kontakt zu den Mitarbeitenden ist, dass von Gleichberechtigung 353 gesprochen wird. Demzufolge lässt auch die Befragung von Krisor und Pfannkuch die Bestätigung von Mitspracherecht während der Wanderung zu. Das Gesamtergebnis der Publikation 1999 lässt vergleichbare Schlüsse wie die hier vorliegende im Hinblick auf die erhöhte Motivation zum Engagement und die Wahrnehmung von Belastungen als Herausforderungen zu. Das spiegelt sich in den folgenden Nennungen wider: „Erfahrung von Lebenssinn“, „Wanderung gibt Impuls zu weiterer Bewegung auch nach der Aktion“, „Mut zu Aktivitäten gewonnen“, „ andere Kraft im Umgang mit Alltagssorgen“ „Entschlußkraft gelernt“ usw. (Krisor & Pfannkuch 1999, S. 141 ff.). Darüber hinaus geben die Wanderinnen und Wanderer von sich aus Impulse, die darauf schließen lassen, dass auch sie das Jakobuswegprojekt als chronische Widerstandsressource bewerten. Dafür sprechen die folgenden Aussagen: „Vorfreude auf Wanderung im nächsten Jahr besteht“ oder „Jakobusprojekt zu nahezu täglicher Beschäftigung geworden“ (a. a. O, S. 144 ff.). 354 12. Diskussion der Methodik Das Erhebungsinstrument wurde der Forschungsidee, neue Impulse zu einem Gegenstandsbereich zu erkunden sowie bereits bestehende Theorien zu vertiefen bzw. zu überprüfen, gerecht. Der Fragebogen enthielt dabei genügend Explizierungshilfen, um umfangreiches Material zu erhalten, das differenziert auf die Forschungsfragen eingeht. Wie erwartet kam ein reger Austausch zum Untersuchungsgegenstand auf, so dass die Strukturierungshilfen die Moderierenden dabei unterstützten, den roten Faden zu halten. Im Großen und Ganzen waren die Fragen allen Beteiligten verständlich. Bei einzelnen Fragestellungen zahlte es sich allerdings aus, dass die Interviewenden in die theoretischen Hintergründe der Untersuchung eingearbeitet waren und die thematischen Schwerpunkte der Fragen erklären konnten. Auffällig wurde diesbezüglich Frage 7. Diese Frage musste bei einigen Interviewten wiederholt, erklärt oder in Abschnitten vorgelesen werden. Vereinzelt waren Teilnehmende bei längeren Fragestellungen von Konzentrationsstörungen beeinträchtigt, was jedoch nicht weiter hinderlich war, denn durch das abschnittsweise Vorlesen konnten die Inhalte von den Befragten erfasst werden. Die Moderierenden konnten die individuellen Impulse der Alltagsforschenden auffangen und vertiefen. Dabei gelang es ihnen, die Diskussion so zu lenken, dass eine Auseinandersetzung mit den Hypothesen der Untersuchung erfolgte. Zusammenfassend stellte sich heraus, dass die wesentlichen Fragen des Interviews beachtet wurden, während bestimmte Fragen ausgelassen wurden, weil die Antworten dazu bereits an anderer Stelle gefallen sind. Bei näherer Betrachtung bietet es sich auch an, diese Fragen aus dem Leitfaden zu nehmen, da es sich um Wiederholungen von Sachverhalten handelt oder weil sie an der falschen Stelle im Interview positioniert sind. Beispielsweise kann auf die Fragen 5a und 5b verzichtet werden, da bereits genügend Impulse zur Gesundungsförderung im gesamten Jakobuswegprojekt bei der Frage 5 sowie bei der abschließenden Fragestellung fallen. Auch die Fragen 14 und 14a können gestrichen werden, da sie bei der momentanen Positionierung verfrüht die Funktion der abschließenden Fragestellung übernehmen. Sinnvoll wäre ferner die Zusammenfassung der Fragen 4 und 8, die sich mit der Rolle der Mitarbeitenden auseinandersetzen sowie der Fragen 7 und 9, die das Erleben von Konsistenz untersuchen. Bei der Auswertung der 355 Ergebnisse wurde deutlich, dass diese Fragen zu ähnliche thematische Punkte berühren. Mit diesen Streichungen und Zusammenfassungen wäre der Anfang des Leitfadens zwar kürzer aber für den Einstieg in das Gespräch in jedem Fall ausreichend. Darüber hinaus wäre der Frageteil zur Verstehbarkeit kompakter, verständlicher und besser strukturiert. Alle anderen Fragen können so bleiben. Die Interviewerfahrung zeigt, dass auch bei der freieren Handhabe des Fragebogens die thematischen Schwerpunkte dieser Fragen erinnert und gestellt wurden. Eine interviewende Person baute noch die Frage ein: „Kennen Sie jemanden, der nicht von der Pilgerreise profitiert hat?“. Diese oder ähnliche Fragen sollten den Interviewleitfaden ergänzen. So könnte man die Ergebnisse besser überprüfen und darüber hinaus aufzeigen, an welcher Stelle die Projektarbeit optimiert werden könnte. Zur Gesprächsführung sei noch angemerkt, dass bei allen bereits erwähnten Vorzügen der freieren Form viel Textmaterial und ein deutlich aufwändigeres Auswertungsprozedere einzuplanen sind. Letzteres ließe sich bei einer strukturierteren Gesprächsführung einfacher gestalten. Darüber hinaus hätte eine engere Befolgung des Fragebogens wahrscheinlich eine noch schärfere Abbildung der Subjektiven Theorien ermöglicht. Andererseits zeigt die hier vorliegende Interviewerfahrung, dass sowohl bei der freieren Interviewleitung als auch bei der strikteren Befolgung des Leitfadens immer mit Angaben zu rechnen ist, die thematisch zu einer anderen Frage gehören. Somit kann bei der Analyse des Materials generell eine kontextspezifische und eine kontextübergreifende Zusammenfassung eingeplant werden Im Hinblick auf die Objektivität der Untersuchungssituation und die Überprüfung der Verstehbarkeit des Fragebogens wäre eine Interviewführung durch Personen interessant, die das Projekt nicht kennen. Allerdings erwies sich der Umstand, dass alle beteiligten Personen Jakobuspilgerinnen und –pilger waren, aus verschiedenen Gründen eher als förderlich für die Forschungssituation. So konnten die Moderierenden schneller einen Impuls aufgreifen, besser mitschwingen und die Atmosphäre einer Testsituation entschärfen. Davon abgesehen ließen sich die Befragten wenig durch die Tatsache beirren, dass sie u.a. von Mitarbeitenden der Klinik befragt wurden oder von dem Bewusstsein, 356 dass die Forschungsarbeit letztendlich zur Förderung des Projektes geschah. Sobald eine Hypothese nicht ihren Vorstellungen entsprach, stimmten sie ihr auch nicht zu. Ziel der Untersuchung war sowohl die Ermittlung der therapeutischen Faktoren des Projektes als auch die Überprüfung, auf welche Ebenen des Kohärenzgefühls diese Faktoren Einfluss nehmen. Für eine erste Untersuchung des Gegenstandes aus salutogenetischer Perspektive heraus und für die Vorbereitung einer wissenschaftlichen Grundlage für weitere Studien war das qualitative Vorgehen angemessen und ausreichend. Die Ergebnisse hätten durch den Einbezug des Fragebogens zur Lebensorientierung teilweise noch besser überprüft werden können. Der Wert des SOC hätte jedoch nichts Konkretes über die therapeutischen Einflüsse der Gruppe, des Jakobusweges, des Wanderns oder sonstiger Faktoren auf das Erleben von Belastungsbalance, Konsistenz bzw. Partizipation ausgesagt. Auch die Beobachtung eines eventuellen Anstiegs oder Absinkens dieses Wertes reicht nicht aus, um Aussagen zu therapeutischen Potenzialen des Jakobuswegprojektes zu machen. Dagegen wird dieser Untersuchung nach beispielsweise deutlich, auf welchen Ebenen und wodurch psychisch erkrankte Menschen Denkmuster, Verhaltensweisen, Bewertungen usw. im Zuge der Teilnahme am Jakobuswegprojekt verändern können. Unabhängig davon, ob sich der SOC-Wert anheben würde oder nicht, zeigen sich Gewinne auf verschiedenen Ebenen des Kohärenzgefühls und weisen den Betroffenen sowie den Mitarbeitenden den weiteren therapeutischen Weg. Schließlich bleibt in diesem Kontext noch festzuhalten, dass Antonovsky selbst den Fragebogen zur Lebensorientierung zwar als „brauchbares Instrument, aber keineswegs als Ultima ratio“ (Franke, 1997, S. 182) betrachtete. Nach Franke sind auch eine Weiterentwicklung des SOC-Konzeptes sowie die Ausdifferenzierung von Methoden zu seiner angemessenen Erfassung notwendig. Im Hinblick auf den eher geringen Erkenntnisgewinn zu den Forschungsfragen durch die Erhebung des SOC-Wertes wurde aufgrund der erstmaligen Anwendung dieses langen Interviewverfahrens, dessen Tauglichkeit in Bezug auf die Heterogentität der Gruppe und die Belastbarkeit der Teilnehmenden sowie seiner Handhabbarkeit im Interview zu überprüfen war, auf zusätzliche Testverfahren verzichtet. Die Erfahrung gab diesem Verzicht Recht, denn eine Person nahm an der Befragung aus Scheu vor der Testsituation nicht teil und eine andere konnte aus terminlichen Gründen schon an diesem einzelnen Verfahren nicht teilnehmen. 357 Für das weitere wissenschaftliche Vorgehen böte sich an, die hier ermittelten Kategorien einer bzw. den nachfolgenden Gruppen mit anderen Gruppenkonstellationen zur Diskussion zu stellen. Dazu kann basierend auf den Forschungsergebnissen ein neuer, kompakterer Fragebogen entwickelt werden, der auch unter Einbezug weiterer Testverfahren die gesamte Untersuchungssituation überschaubar gestaltet und im Klinikalltag praktikabel ist. Darüber hinaus können die hier induktiv abgeleiteten Kategorien im nächsten Schritt an neu ermitteltes Material herangetragen werden, um mittels einer Strukturierenden Inhaltsanalyse eine deduktive Kategorienbildung zu ermöglichen. Interessant für den weiteren Forschungsweg wäre die vertiefende Untersuchung des Wanderns als therapeutischem Faktor mit standardisierten Erhebungsverfahren aus der Psychomotorik wie z. B. die Frankfurter Körperkonzeptskalen (FKKS) von Deusinger (1998), der Fragebogen zum aktuellen körperlichen Wohlbefinden (FAW) von Frank (1991) oder der Fragebogen zur körperbezogenen Kontrollüberzeugung (KLC - Körperbezogener Locus of Control) von Mrazek (1989) u.a.. Ein wichtiger Grund dafür, warum für diesen Untersuchungsgegenstand dieses Erhebungsverfahren gewählt wurde ist, dass die hier vorliegende Forschungsmethodik und –ethik mit dem therapeutischen Kontext des St. Marien-Hospitals Eickel sowie mit Ideen aus der Salutogenese als wissenschaftliches Paradigma konform geht. Das epistemologische Subjektmodell berücksichtigt die Subjektorientierung des Herner Modells. Der Austausch zwischen subjektiven und objektiven Forschenden drückt außerdem den partnerschaftlichen, transparenten, respektvollen Umgang miteinander aus, der zu den Normen der Interaktion innerhalb der Klinik gehört und auch in den Postulaten der Salutogenese wiederzufinden ist. Eine Untersuchung der Wanderer und Wanderinnen mit verschiedenen standardisierten Testverfahren zur Selbstevaluation, wie die eben angeführten, würde die Betrachtung des Individuums als eigenständiges Subjekt mit seiner Fähigkeit zur Reflexivität, Kommunikation und Handlung fortsetzen. Ein weiterer Vorteil der hier gewählten Untersuchungsmethodik ist, dass die Darstellung der Ergebnisse nah an der Sprache des Materials eine Interpretation der Aussagen aus anderen wissenschaftlichen oder reformpsychiatrischen Paradigmen zulässt wie es ansatzweise in dieser Erhebung vorgenommen wurde. 358 Mit den erstellten individuellen Kategoriensystemen wäre außerdem zu jeder befragten Person eine vertiefende Betrachtung von Einzelfällen möglich, um noch differenziertere Erkenntnisse zu gewinnen. Eine Person ließe darüber hinaus eine retrospektive Langzeitbetrachtung zu, da sie von Anfang an bei diesem Projekt dabei ist. Auch wenn in der hier vorliegenden Studie der SOC-Wert nicht erhoben wurde, wäre es für die Salutogeneseforschung interessant zu überprüfen, ob und inwieweit sich dieser Wert im Zuge des Jahreszyklus der Projektarbeit (oder wenn möglich durch mehrjährige Teilnahme am Jakobuswegprojekt) veränderte und eine Veränderung stabil bliebe. Darüber hinaus wäre es spannend der Frage nachzugehen, ob die Erwanderung des Jakobusweges an einem Stück dem radikalen sozialen, institutionellen und kulturellen Umschwung nach Antonovsky entspräche, durch den der SOC-Wert dauerhaft beeinflusst werden könnte. 359 13. Ausblick Prävention, Gesundheitsförderung und Gesundheitsschutz werden in der Gesundheitspolitik als die Alternativen zur Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung und zur Kostensenkung im Gesundheitswesen betrachtet. Dazu integrieren Krankenkassen vermehrt bewegungsorientierte Angebote in ihre Präventionsprogramme sowie in ihre Maßnahmen zur Gesundheitsförderung. Für die Weiterführung des Projektes ist in diesem Kontext der Begriff Gesundheitssport interessant. Nach Brehm und Bös (2004) wird der Gesundheitssport durch folgende Merkmale von dem Begriff „Sport“ abgegrenzt: - Gesundheitssport ist als Element einer Gesundheitsförderung im Sinne der ‘Health Promotion Paradigma’ der WHO aufzufassen. - Gesundheitssport zielt in diesem Sinne auf Gesundheitswirkungen, auf Verhaltenswirkungen sowie auf Verhältniswirkungen. - Diese Ziele müssen durch geeignete Maßnahmen und Programme systematisch angesteuert sowie durch qualifizierte Bedingungen gesichert werden. (S. 20) Gesundheitssport beschränkt sich dabei nicht nur auf präventive Maßnahmen sondern schließt auch die Bewegungs- und Sporttherapie sowie den Rehabilitationssport mit ein. Auch das Jakobuswegprojekt leistet bewegungsorientierte Gesundheitsförderung für psychisch kranke Menschen in unterschiedlichen Stadien der Erkrankung. Demzufolge wäre im Hinblick auf die zukünftige Pojektfinanzierung eine vertiefende wissenschaftliche Untersuchung des Wanderprojektes als Gesundheitssportprogramm sowie seine Modifizierung dahingehend lohnenswert. Das nachstehende „Modell der Qualitäten von Gesundheitssport“ (Brehm & Bös, 2004, S. 20) stellt die Kernziele sowie theoretische und praktische Inhalte des Gesundheitssports dar. 360 Abbildung 4: Modell der Qualitäten von Gesundheitssport Aus Intervention und Evaluation im Gesundheitssport und in der Sporttherapie (S. 20) von Brehm et al. (Hrsg.), 2004. Hamburg: Czwalina. Die hier vorliegende Untersuchung zeigt bereits wesentliche Potenziale des Wanderprojektes auf, die belegen, dass hier von Gesundheitssport gesprochen werden kann. So konnte der Punkt Gesundheitswirkungen, bei dem es um die gezielte Stärkung physischer sowie psychosozialer Ressourcen geht, in dieser Studie nachgewiesen werden. Allerdings steht eine tiefergehende Überprüfung der physiologischen Parameter noch aus und sollte im Dienste der Qualitätssicherung mit standardisierten sportwissenschaftlichen oder psychomotorischen Testverfahren vorgenommen werden. Sinnvoll wäre außerdem die Erhöhung von Bewegungseinheiten in der Zeit nach der Wanderung, denn nur regelmäßige Bewegung kann den durch die Pilgerreise stabilisierten physiologischen Zustand erhalten und damit die Senkung der körperlichen Risikofaktoren fördern. „Insgesamt scheint die Verknüpfung einer wahrgenommenen Stabilisierung des körperlichen Zustandes (physische Ressourcen) mit wahrgenommenen Stabilisierungen besonders im emotionalen und sozialen Zustand (psychosoziale Ressourcen) auch zu einer Stabilisierung des allgemeinen gesundheitlichen Wohlbefindens zu führen“ (Brehm & Bös, 2004, S. 21). Die Förderung der psychosozialen Widerstandsressourcen wird während und nach der Wanderung durch die Gruppe sowie durch das therapeutische Team abgedeckt. 361 Zur weiteren Stärkung physiologischer Ressourcen böte sich beispielsweise die Integration von Nordic-Walking in das Konzept des Jakobuswegprojektes an. Diese Form von Gesundheitssport wird bereits in der Klinik dreimal wöchentlich unter Anleitung von qualifiziertem Fachpersonal ausgeübt. Dementsprechend wäre die Erweiterung des Wanderprojektes schnell durchführbar und würde keine zusätzlichen Kosten verursachen. Die höhere Frequentierung von Bewegungseinheiten muss jedoch gut durchdacht sein. Sie darf als Zusatz zu der intensiven Projektarbeit und den Trainingswanderungen nicht zur Überlastung führen und von der Teilnahme abschrecken. Aktuell verfügt das Projekt - im Gegensatz zu vielen anderen Maßnahmen - über ein hohes Potenzial an Bedeutsamkeit, so dass eine langfristige Bindung an das Bewegungsangebot zu erwarten ist oder bereits bei einigen Teilnehmenden beobachtet werden kann. Damit kommt das Projekt schon jetzt einem sehr wichtigen und schwer zu verwirklichenden Anliegen von Gesundheitssport nach. Es weist einen großen Erfolg im Hinblick auf den Punkt Verhaltenswirkung auf. Innerhalb dieses Aspektes geht es um die langfristige Bindung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an gesundheitsförderliche Bewegungsangebote, um eine Verhaltensänderung zur gesünderen Lebensführung zu sichern. Angesichts der hohen Dropout-Quoten wird die Forderung nach Maßnahmen zur Gesundheitsförderung laut, die spezifisch auf die Krankheitsgeschichte und die Bedürfnisse von Betroffenen eingehen und vor allem über ein hohes Motivationspotenzial verfügen, um die Teilnehmerinnen und Teilnehmer langfristig an das Bewegungsangebot zu binden. Hierfür entwickeln Forschende im Bereich der Sport- und Gesundheits- wissenschaften bereits Expertensysteme zur Individualisierung von Informationen auf das Profil einzelner Personen, um die Effektivität und Effizienz von Angeboten zu verbessern (vgl. Caspari & Bös, 2006). In diesem Kontext wird das mehrfach geschilderte Integrationspotenzial des Jakobuswegprojektes als wesentliches Qualitätsmerkmal eines Gesundheitssportprogrammes besonders deutlich. Es stellt Rahmenbedingungen bereit, die unterschiedliche Profile von Klientinnen und Klienten auffangen und individuell fördern. Zu dem Aspekt Verhaltensänderung wären weitere Neuerungen überlegenswert. So könnten konkrete Anleitungen zum gesünderen Essverhalten, der Verzicht auf Nikotin oder andere zielgruppenspezifische Maßnahmen zur Gesundheitsförderung das Angebot bereichern. 362 Nach Brehm und Bös (2004) ist ein weiterer entscheidender Faktor für die langfristige Bindung an eine gesundheitssportliche Aktivität die Qualität der Bewegungsverhältnisse. Dieser Punkt findet sich in den Verhältniswirkungen (s. Abbildung 4) als anzustrebendes Ziel des Gesundheitssports wieder. Auch dieses Qualitätsmerkmal wird im Jakobusweg- projekt auf höchstem Niveau erfüllt. Das multiprofessionelle Team weist Berufsgruppen auf, die für die Gesundheitsförderung psychisch kranker Menschen wichtig und qualifiziert sind. Dazu gehören auch Professionelle aus dem Bereich der Sport- und Bewegungs- therapie, die zur Durchführung des Projektes als Gesundheitssportprogramm notwendig sind. Die ausschlaggebende Stärke des Projektes bleibt in diesem Kontext der Jakobusweg selbst, der Umweltbedingungen zur Ausübung von Gesundheitssport bietet, die kaum zu übertreffen sind. Neben dem sportiven Aspekt zeigt die hier vorliegende Untersuchung auf, dass das Jakobuswegprojekt generell zur Selbsthilfe und Eigenverantwortung anleitet. Es vermittelt darüber hinaus individuelle Ressourcen zum Spannungsmanagement. Es könnte demnach als hochwertiges Angebot auf unterschiedlichen Gebieten der Gesundheitsförderung bestehen. Ein wichtiger Punkt, den gesetzliche Krankenversicherungen als Kostenträger präventiver und therapeutischer Maßnahmen bedenken sollten, ist die Frage: „Wie kommen psychisch kranke Menschen - die gerade im chronischen Stadium der Erkrankung hartnäckig bewegungsabstinent sind - mit dem Jakobuswegprojekt in Berührung?“ Die Antwort lautet: „Überwiegend während der stationären Therapie.“ Dort hat ein professionelles Team die Möglichkeit, Patientinnen und Patienten langsam an die Bewegung und ihre gesundheitsfördernden Effekte heranzuführen. Eben dieses behutsame Vorgehen und der hier stark ausgeprägte soziale Faktor sichern nach Brehm und Bös (2004) die erfolgreiche langfristige Anbindung. Wäre da nicht außerdem die Jakobuswanderung als „Highlight“, auf das hingearbeitet werden kann, und als außergewöhnlicher Erfahrungsraum für intensive gesundungsfördernde Erlebnisse, wären viele noch so „Wanderbegeisterte“ nach der stationären Therapie abgesprungen. Somit ist es nicht nur wegen der Gesundheitsförderung sondern auch im Hinblick auf den langfristigen Gesundheitsschutz gerade bei dieser Zielgruppe notwendig, dass das Jakobuswegprojekt von den Kostenträgern als Therapie unterstützt wird. 363 Teil V Literaturverzeichnis 364 Literaturverzeichnis Anson, O., Paran, E., Neumann L. & Cherinchovsky, D. (1993a). Psychological state and health experiences. Gender and social class. International Journal of Health Sciences, 4, 143-149. Anson, O., Paran, E., Neumann L. & Cherinchovsky, D. (1993b). Gender differences in health perceptions and their predictors. Social Science & Medicine, 36, 419-427. Antonovsky, A. (1993). Gesundheitsforschung versus Krankheitsforschung. In A. Franke & M. Broda (Hrsg.), Psychosomatische Gesundheit. Versuch einer Abkehr vom Pathogenese-Konzept (S. 3-14). Tübingen: DGVT. Antonovsky, A. (1987/1997). Unraveling the Mystery of Health. How people manage stress and stay well. San Francisco: Jossey-Bass. 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Würden die von Ihnen insgesamt beschriebenen gesundungsfördernden Einflüsse auch eintreten, wenn ein anderer Wanderweg begangen worden wäre? Wenn nein: 3d. Was macht die Erwanderung des Jakobusweges im Hinblick auf die Gesundheit so besonders? 4. Wie haben Sie die Begegnung zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erlebt bzw. wie erleben Sie sie im Jakobusweg-Projekt? 5. Es gibt Menschen, die sich nun schon seit Jahren für das gesamte Jakobusweg-Projekt engagieren, nicht nur bei den Wanderungen, sondern auch bei der Vor- und Nachbereitung. Was motiviert sie Ihrer Meinung nach dazu? 5a. Wenn Sie auf Ihre bisherigen Erfahrungen am gesamten Jakobusweg-Projekt zurückblicken, meinen Sie, dass das Engagement für das Projekt für den Gesundungsprozess eines psychisch kranken Menschen förderlich sein kann? Wenn ja: 5b. Inwiefern? (auch eigene Erfahrungen möglich) 373 Hypothesengerichtete Fragen zum möglichen Erleben von Verstehbarkeit 6. Gab es auf der Jakobuswanderung Ereignisse, Situationen, die Sie nicht verstanden haben oder die Sie nicht gut überblicken konnten, deren Ende Sie nicht gut abschätzen konnten usw.? (z.B. weil die Situationen zu überraschend auftraten oder zu neu waren, u.ä.) Wenn ja: 6a. Welche? 6b. Wie hat sich das ausgewirkt? 7. Es wäre vorstellbar, dass die täglichen Planungsarbeiten, die feste Tagesstruktur und die Organisation der einzelnen Etappen usw. einen Ausgleich zu den unberechenbaren oder unverständlichen Ereignissen der Wanderung bewirken könnten oder aber, dass das Gefühl der Unsicherheit, Verwirrung, Unverständlichkeit usw. bleibt. Wie haben Sie das erlebt? Welche Erfahrungen haben dominiert? 8. Wie würden Sie in diesem Zusammenhang die Begegnung zwischen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern und den Mitarbeitenden des Hauses als Zugehörende zur Wandergruppe beschreiben? Waren die Verhältnisse immer eindeutig oder kam es in der Rollenzuweisung auch zu Missverständnissen? 9. Bei der Jakobuswanderung gibt es ja immer wieder unklare Situationen und solche, in denen etwas Unerwartetes eintritt – auf der anderen Seite aber auch Organisation, Planung und die Erfahrung, dass etwas so klappt, wie man sich vorgenommen hatte. Meinen Sie, dass diese Erfahrungen der Jakobuswanderung sich auf den Alltag auswirken? Wenn ja: Inwiefern? 10. Haben Sie auf der Wanderung Wissen/Kenntnisse erworben, die Ihnen zukünftig dabei helfen könnten, neue Informationen oder Situationen besser zu verstehen? Wenn ja: Welche? Hypothesengerichtete Fragen zum Erleben von Handhabbarkeit 11. Konnten Sie auf der Wanderung neue Möglichkeiten entdecken, die Ihnen dabei helfen, Spannungszustände auch im Alltag (bei Problemen, Konflikten, Krankheit oder anderen Anforderungen des Lebens) besser bewältigen zu können? Wenn ja: Welche? 374 12. Konnte aus Ihrer Sicht für den Zeitraum der Wanderung die Zuversicht bestärkt werden, dass Anforderungen des Weges (jeglicher Art) lösbar sind? (eventuell zur Erklärung Beispiele nennen) Falls nein: 12a. Was hätte Ihnen diese Zuversicht vermitteln können? Bei Zustimmung: Fortsetzung mit Frage 13 13. Welche Faktoren bestärken ein solches Vertrauen? (mehrere der folgenden Angaben möglich) 13a. - ein starkes Gruppengefühl bzw. die Gemeinschaftlichkeit, die durch das gemeinsame Wandern entstanden ist? 13b. - die Unterstützung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? 13c. - andere Faktoren? Wenn ja: Welche? 14. Es wäre denkbar, dass sich diese oben genannten Faktoren (Gemeinschaftlichkeit, Unterstützung, andere Faktoren) nach der Wanderung im privaten Rahmen oder im Jakobusweg-Projekt fortsetzen. Wie sehen Sie das? Bei Zustimmung: 14a, ansonsten Fortsetzung mit Frage 15; 14a. Würden Sie sagen, dass Sie durch die Jakobuswanderung zuversichtlicher geworden sind, dass Schwierigkeiten oder Anforderungen auch im Alltag lösbar sind? Hypothesengerichtete Fragen zum Erleben von Bedeutsamkeit 15. Die Teilnehmenden an den Jakobuswanderungen 1997/1998 nannten als positive Auswirkung auf ihren Gesundungsprozess die Erfahrung von Lebenssinn, z.B. durch besondere Aktivitäten, Erlebnisse, neugewonnene Hobbys und andere Dinge. Können Sie diese Erfahrung teilen? Falls ja: 15a. Welchen Nutzen ziehen Sie aus dieser Erfahrung für den Alltag? 16. Hatten Sie auf der Wanderung die Möglichkeit, etwas zu tun, was für die Gruppe oder für den Verlauf der Wanderung wichtig war? 375 Wenn ja: 16a. Haben Sie die Möglichkeit genutzt? Hatte das Auswirkungen auf Ihre Gesundheit? Wenn nein: 16b. Glauben Sie, dass andere Wanderinnen oder Wanderer solche Möglichkeiten hatten? Und hat sich das auf deren Gesundungsprozess ausgewirkt? 17. Hatten Sie auf der Wanderung ein Mitspracherecht bei wichtigen Entscheidungsprozessen, die die Wanderung oder die Gruppe betrafen? 18. Der Jakobusweg hat bekannterweise als Pilgerweg eine lange geschichtliche, kulturelle und religiöse Tradition. Denken Sie, dass diese Tradition ein wichtiges Motiv ist, sich auf die Jakobuswanderung zu begeben und auch ihre Strapazen auszuhalten? 19. Während der Wanderung selbst begleitet einen das Charisma (die Größe, die Erhabenheit, die Würde, Atmosphäre, Ausstrahlung....) des mittelalterlichen Pilgerweges auf Schritt und Tritt. Man trifft häufig auf Gedenkstätten, Kathedralen und andere Zeugnisse der Vergangenheit. Denken Sie, dass eben diese Monumente dazu anregen, mehr in sich zu gehen, sich mit wichtigen Lebensfragen oder mit dem Sinn des Lebens auseinandersetzen? Bei Zustimmung: Fortsetzung mit 19a 19a. Haben sich diese Momente des Insichgehens in irgendeiner Form auf Ihren Gesundungsprozess ausgewirkt? Abschließende Fragestellung Abschließende Fragestellung zur Jakobuswanderung 20. Man kann nach einer Pilgerreise verschiedene Schlüsse ziehen. Eine mögliche Annahme im Hinblick auf den Gesundungsprozeß eines psychisch kranken Menschen wäre, daß die Teilnahme an der Jakobuswanderung folgende drei Dinge bewirkt: a) Die Zuversicht wird bestärkt, daß Anforderungen des Lebens lösbar sind. (durch die gewonnenen persönlichen Bewältigungsfertigkeiten oder durch die erfahrenen Potentiale der Gemeinschaft) b) Neue Informationen oder unerwartete Situationen werden besser verstanden, Zusammenhänge können deutlicher erkannt werden und das vorrausschauende Denken hat sich verbessert. (durch Erfahrungen der Beständigkeit, der Transparenz und durch den Gewinn an Wissen) 376 c) Die Motivation sich für etwas einzusetzen ist gestiegen, und Anforderungen des Lebens werden mehr als Herausforderung, denn als Belastung erlebt. (durch Erfahrungen von Lebenssinn, durch neue Hobbys, durch die Erfahrungen, etwas getan zu haben, was für die Gruppe wichtig war) Trifft eine oder mehrere dieser Angaben Ihrer Meinung nach zu? Bei Zustimmung: 20d. Welche dieser Angaben trifft am deutlichsten zu? (Vielleicht hilft dabei die Überlegung weiter, von welcher Erfahrung Sie im Alltag am meisten profitieren.) Abschließende Fragestellung zum Jakobusweg-Projekt 21. Eine Annahme zum therapeutischen Wert des gesamten Jakobusweg-Projektes könnte sein, dass die Teilnehmenden die gesundungsfördernden Aspekte wie z.B. den Erwerb neuer Bewältigungsfertigkeiten, die Erweiterung des Wissens, die Erfahrung von Beständigkeit und von Lebenssinn über Jahre hin immer wieder erfahren können. Wie sehen Sie das? 22. Was halten Sie von der folgenden Aussage: „Der therapeutische Wert des gesamten Jakobusweg-Projektes liegt hauptsächlich darin, dass es psychisch kranken Menschen ein langfristiges Erfahrungsfeld voller sinngebender Tätigkeiten und Erlebnisse erschließt.“ 23. Gibt es etwas, was Sie noch zu diesem Thema oder zu diesem Gespräch hinzufügen möchten? Danke schön für Ihre ..... 377 2. Hinweise zur Interviewdurchführung (Brieseck, 2001, S. 83-84) 1. Der Leitfaden dient einer chronologischen Führung durch den gesamten Themenkomplex. Um ein möglichst flüssiges Gespräch zu gewährleisten, wurden die Fragen in einer möglichst knappen und dennoch für alle verständlichen Form formuliert, aus der der Sinn des zu erfragenden Inhaltes hervorgehen sollte. Zu empfehlen wäre, daß sich die Interviewleiterinnen und -leiter vor dem Gespräch sowohl mit den Fragen als auch mit dem salutogenetischen Modell vertraut machten, um bei Verständnisschwierigkeiten eine Fragestellung sinngemäß ausführlicher bzw. auf einem vereinfachten Sprachniveau beschreiben zu können. 2. Zu Beginn des Interviews sollte eine angenehme, vertraute Gesprächssituation geschaffen werden. 3. Unter Beachtung der folgenden Punkte sollte den Interviewpartnerinnen und –partnern der Verlauf des Interviews sowie der Sinn unterschiedlicher Fragekategorien verdeutlicht werden: a) Zu Beginn des Interviews bietet sich eine kurze Vorstellung des Themas und der Forschungsmotive an. Durch diese transparente Vorgehensweise wird die Vertrauensbasis zwischen den Interviewenden und den Befragten gefördert. Die Vermittlung der Notwendigkeit einer kontinuierlichen Begleitforschung zum Projekt könnte den Gesprächspartnerinnen und- partnern beispielsweise den Sinn und die Wertschätzung ihrer Teilnahme verdeutlichen. b) Eine kurze Beschreibung des Interviewverlaufes und die Erklärung der Fragekategorien sollte das Prinzip des Erhebungsinstruments überschaubar machen, wobei das Ziel des Austausches zwischen subjektiven und objektiven Theorien ersichtlich werden sollte. c) Die Interviewpartnerinnen und –partner sollten darauf hingewiesen werden, daß eine kritische Stellungnahme ihrerseits zur Gewährleistung des in 3b) beschriebenen Austausches zwar wünschenswert ist, daß aber eine Ablehnung von Fragen möglich ist. d) Die Interviewpartnerinnen und –partner sollten dazu ermutigt werden, bei Verständnisschwierigkeiten nachzufragen und auf Widersprüche aufmerksam zu machen. 378 4. Im Hinblick auf eine möglichst optimale Subjekt-Subjekt-Relation sollte der Übergang zu hypothesengerichteten Fragen angesprochen werden. So kommt es zu einer Kombination zwischen weicher (auf Metaebene) und harter (auf Objektebene) Methodik, die die angestrebte Beziehung zwischen beiden Gesprächspartnern fördert. 5. Am Ende des Interviews sollte den Gesprächspartnerinnen und –partnern unbedingt die Gelegenheit zu Rückmeldungen bezüglich des Themas und der gesamten Gesprächssituation gegeben werden. Beispiel: „Gibt es noch etwas, das Sie zum Thema oder zu diesem Gespräch sagen möchten?“ oder „Wie haben Sie das Gespräch erlebt? Waren die Fragen für Sie verständlich? War die Dauer des Interviews für Sie angenehm?“ 379 Anhang (2) Kodieranleitungen 1. Kodieranleitung zur fallspezifischen Auswertung 1. Kontextspezifische Auswertung a) Zusammenfassung und Bildung von Kategorien nach Regeln der Zusammenfassenden Inhaltsanalyse b) Kontextspezifische Auswertung unter Beachtung der Themen der Selektionskriterien c) Abstraktionsniveau: - Bildung von Kategorien möglichst nahe an der an der Textformulierung - Umwandlung der Umgangssprache in eine möglichst korrekte grammatikalische Form, z.B. statt „wat“ „was“ usw. d) Bei Formulierungsschwierigkeiten die Fragestellung zu Hilfe nehmen 2. Kontextübergreifende Auswertung - Zuordnung der verbliebenden Paraphrasen zu entsprechenden Selektionskriterien 2. Kodieranleitung zur fallübergreifenden Auswertung 1. Zusammenfassung und Bildung von Kategorien nach Regeln der Zusammenfassenden Inhaltsanalyse 2. Kategorien in Sprache des Materials wiedergeben; Aussagen allgemeiner fassen, ohne die Bedeutung zu verändern 3. Infinitive oder Satzkonstruktionen mit Nebensätzen zu Bedeutungseinheiten umformulieren 4. Artikel weglassen, es sei denn sie haben eine inhaltstragende Funktion 5. Kategorien mehr aus salutogenetischer Perspektive formulieren, ohne die Individualität, Differenziertheit zu vernachlässigen 6. Bei Formulierungsschwierigkeiten Fragestellung oder salutogenetische Perspektive zur Hilfe nehmen 3. Kodieranleitung zur Bildung von Hauptkategorien fragenspezifisch 1. Untersuchung der Kategorien nach inhaltlichen Schwerpunkten 2. Kernaussage der Kategorie als Überschrift formulieren 3. Zusammenfassung und Bildung von Hauptkategorien nach Regeln der Zusammen- fassenden Inhaltsanalyse bzw. nach Regeln der induktiven Kategorienbildung mit Hilfe der Überschriften als Selektionskriterien 380 4. Wenn möglich in den Überschriften Austausch vornehmen: „weil“ ersetzen durch „Gründe“; „durch“ ersetzen durch „Wirkungsfaktoren“; „z. B.“ ersetzen durch „Beispiele“; „d.h.“ ersetzen durch einen Doppelpunkt. 4. Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse im Hinblick auf die Teilhypothesen fragenübergreifend 1. Zusammenfassung der Ergebnisse der hypothesengerichteten Fragen und der offenen Fragen unter Anwendung der Teilhypothesen als Selektionskriterium An dieser Stelle sei angemerkt, dass bei dem fragenübergreifenden Auswertungsschritt nur Angaben gewertet wurden, die zur entsprechenden hypothesengerichteten Frage und der offenen Fragen gehörten. Das Wandern zeigte beispielsweise Effekte auf der Bedeutsamkeitsebene (z.B. als Freude bringende Aktivität) und auf der Handhabbarkeitsebene (z.B. als Widerstandsressource in Spannungssituationen). In dem Fall würden Aussagen zum Wandern nicht aus dem Frageblock zur Handhabbarkeit einbezogen werden. 2. Quantifizierung der Ergebnisse 5. Kodierregeln zu den SOC-Komponenten 1. Kodierregeln zu gesundungsfördernden Wirkungsfaktoren im Bereich Verstehbarkeit (V) - Erleben von Konsistenz - Gewinn an Wissen - Erleben von Transparenz - Faktoren, die für mehr Verstehbarkeit von Situationen sorgen - Faktoren, die zur Reflexion und Introspektion anregen 2. Kodierregeln zu gesundungsfördernden Wirkungsfaktoren im Bereich Handhabbarkeit (H) - Ressourcen zur Belastungsbalance - Erleben von Spannungsbewältigung/Entspannung - Erleben von Handhabbarkeit von Situationen durch Einsatz externer oder interner Widerstandsressourcen - interne oder externe Ressourcen zur Handhabe von Situationen/Anforderungen - Rahmenbedingungen die die Handhabe von Anforderungen fördern 3. Kodierregeln zu gesundungsfördernden Faktoren im Bereich Bedeutsamkeit (B) - sinnstiftende, Freude bereitende Aktivitäten - motivationale Faktoren/Motivation zum Engagement 381 - Erleben von Mitspracherecht - bedeutsame Lebensbereiche - Rahmenbedingungen, die für Widerstandsressourcen der Bedeutsamkeit sorgen 4. Kodierregeln zu gesundungsfördernden Rahmenbedingungen - Rahmenbedingungen, die als gesundungsfördernd bewertet wurden, wobei keine Spezifizierung auf Bedeutsamkeit, Handhabbarkeit oder Verstehbarkeit erkennbar wird 382 Anhang (3) Anhang zum Kapitel 11.2 Die nachstehenden Übersichten basieren auf den Ergebnissen der Wanderung 2001 sowie auf den zitierten Ergebnissen von Krisor und Pfannkuch (1999, S. 136-153). Dabei wurden die Angaben aus der Publikation 1999 den in der Befragung 2001 ermittelten therapeutischen Schwerpunkten zugeordnet. Diese Zuordnung hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Abgeschlossenheit, sie ist auch variabel, denn das Ziel von Krisor und Pfannkuch war es nicht, explizit aufzuzeigen, auf welchen Ebenen des Kohärenzgefühls die Gemeinschaft oder das Wandern eine Rolle spielen. In den nachfolgenden Tabellen geht es lediglich darum, Impulse hervorzuheben, die dafür sprechen, dass sich die für die Wanderinnen und Wanderer wichtigen therapeutischen Effekte in beiden Untersuchungen wiederholen. Vorweg sollte noch das Folgende angeführt werden: Beispiele, die der SOC-Komponente Bedeutsamkeit zugeordnet wurden, resultierten insbesondere aus diesen Fragen: - „Welche Ereignisse, welche Unternehmungen während dieser Zeit waren für Sie von besonderer Bedeutung?“ (a. a. O., S. 136) - „Welches war für Sie das schönste Ereignis / die schönste Aktivität bei diesem Ausflug?“ (a. a. O., S. 150). Weitere Daten entstammen den folgenden Fragen: - „Wie glauben Sie, wirkt sich diese Wanderung auf Ihren Behandlungsverlauf aus?“ (a. a. O., S. 140) - „Wie erlebten Sie den Kontakt zu Ihren Mitpatientinnen / Mitpatienten, wie erleben Sie den Kontakt zu den teilnehmenden Mitarbeiterinnen / Mitarbeitern des Hospitals?“ (a. a. O. S. 147) - „Wie sind Sie mit den körperlichen Anstrengungen der Wanderung zurechtgekommen?“ (a. a. O., S. 151). Die Ergebnisse zu diesen Fragen ließen auch die Zuordnung therapeutischer Effekte zu allen drei Variablen des Kohärenzgefühls zu. Teilweise werden einer Kategorie der Gruppe 2001 identische Nennungen bei den Wanderungen 1997 und 1998 zugeordnet. Das liegt an der unterschiedlichen Art der Auswertung von Krisor und Pfannkuch. Es gab einerseits 383 Ergebnisse, die die Gesamtgruppe 1997/98 betrafen und andererseits Nennungen, die nur für die Etappe 1997 oder 1998 galten. Daher wurde in den nachstehenden Übersichten zwischen Wandergruppen differenziert. Tabelle 1: Förderung von Handhabbarkeit durch die Gemeinschaft Wanderung 2001 Wanderung 1998 Wanderung 1997 positive Umgangsweise - „sehr guter Kontakt“ - „wechselseitiger persönlicher Respekt“ - „die Rücksichtnahme und Kameradschaft“ - „gelernt, den Ball flach zu halten (anti-manische Wirkung)“ - „sehr guter Kontakt“ - „wechselseitiger persönlicher Respekt“ - „die Rücksichtnahme und Kameradschaft“ Ablenkung, z.B. durch Aktivität in der Gemeinschaft gegen ständiges Grübeln - „die geringere Bedeutung der Krankheit mit zunehmender Reisedauer“ - „Aufhebung von kreisenden Gedanken“ - „die geringere Bedeutung der Krankheit mit zunehmender Reisedauer“ intensive Gespräche bzw. verbaler Austausch - „die Zeit gehabt, miteinander zu reden“ - „soziale Kontakte, therapeutisch gute Gespräche“ - „die Zeit gehabt, miteinander zu reden“ Training von Kontaktfertigkeiten - „häufigeres Sprechen, keine Ermüdungserscheinungen“ - „die Zeit gehabt, miteinander zu reden“ - „Angst in Gruppen kleiner geworden“ - „Probleme mit Menschen als normal erkannt“ - „weniger Angst“ - „weniger Scheu“ Durchmischung von Krankheitsbildern und dadurch gegenseitige Ergänzung, sowie Beratung, Geben und Nehmen, gegenseitige Unterstützung - „Geben und Nehmen in der Gruppe“ - „offene Kommunikation“ - „Unterstützung, Solidarität“ - „Rücksichtnahme und Kameradschaft“ - „Hilfestellung durch Mitpatienten und die Erfahrung, situationsorientiert und spontan handeln zu können“ - „offene Kommunikation“ - „Geben und Nehmen in der Gruppe“ - „offene Kommunikation“ - „Unterstützung, Solidarität“ beruhigende, angstlindernde Wirkung als externaler Ressourcenpool - „Unterstützung, Solidarität“ und dadurch „Geborgenheit, Wohlbefinden“ - „ruhiger geworden“ - „Gelassenheit“ - „Unterstützung, Solidarität“ und dadurch „Geborgenheit, Wohlbefinden“ Fortsetzung 384 Fortsetzung Tabelle 1: Förderung von Handhabbarkeit durch die Gemeinschaft Wanderung 2001 Wanderung 1998 Wanderung 1997 Zuversicht, dass Probleme in der Gemeinschaft gelöst werden - „Unterstützung, Solidarität“ und dadurch „Geborgenheit, Wohlbefinden“ - „andere Kraft im Umgang mit Alltagssorgen“ - „Unterstützung, Solidarität“ und dadurch „Geborgenheit, Wohlbefinden“ - „Gelassenheit“ Gruppendynamik, die zum Einsatz bzw. zur Aneignung individueller / interner Widerstandsressourcen anregt - „Einüben von Konfliktverhalten“ - „ein verändertes eigenes Erleben in der Interaktion“ - „Bedeutung der Aktivität als Übungsfeld sozialer Kompetenzen“ - „‘ich hatte meinen Platz’ in einer Gemeinschaft“ dadurch „Erleben eigener sozialer Kompetenz, erhöhtes Selbstwertgefühl, Wiederentdeckung verloren geglaubter Fähigkeiten“ - „Hilfestellung durch Mitpatienten und die Erfahrung, situationsorientiert und spontan handeln zu können“ - „gelernt, den Ball flach zu halten (anti-manische Wirkung)“ - Vertrauen in die Kraft des eigenen Willens“ - „Selbstvertrauen“ - „Einüben von Konfliktverhalten“ - „ein verändertes eigenes Erleben in der Interaktion“ - „Selbständiges Problemlösen eingeübt“ - „‘ich hatte meinen Platz’ in einer Gemeinschaft“ dadurch „Erleben eigener sozialer Kompetenz, erhöhtes Selbstwertgefühl, Wiederentdeckung verloren geglaubter Fähigkeiten“ starke gemeinsame Motivation, die zur Kooperation unterschiedlicher Persönlichkeiten führt - „Hilfsbereitschaft führte zu Freundschaften“ - „Einüben von Konfliktverhalten“ starke gemeinsame Motivation, wodurch Ressourcen zur positiven Beziehungsgestaltung bzw. zur Erweiterung sozialer Kompetenz hinzugewonnen werden - „sehr guter Kontakt“ - „Einüben von Konfliktverhalten“ - ein verändertes eigenes Erleben in der Interaktion“ - „Bedeutung der Aktivität als Übungsfeld sozialer Kompetenzen“ - „Entschlußkraft gelernt“ - „gelernt, eigene Bedürfnisse besser zu formulieren“ - „sehr guter Kontakt“ - „Einüben von Konfliktverhalten“ 385 Tabelle 2: Förderung von Verstehbarkeit durch die Gemeinschaft Wanderung 2001 Wanderung 1998 Wanderung 1997 Kenntnisse und Wissen im Bereich sozialer Kompetenz - „das Einüben von Konfliktverhalten“ - „Rücksichtnahme und Kameradschaft“ - „ein verändertes eigenes Erleben in der Interaktion“ - „Bedeutung der Aktivität als Übungsfeld sozialer Kompetenzen“ - „das Einüben von Konfliktverhalten“ - „Rücksichtnahme und Kameradschaft“ - „Geben und Nehmen in der Gruppe“ - „Unterstützung und Solidarität“ Kenntnisse und Wissen, die den zwischenmenschlichen Umgang verstehbarer machen - „das Einüben von Konfliktverhalten“ - „gelernt zu kommunizieren“ - „gelernt, eigene Bedürfnisse besser zu formulieren“ - „das Einüben von Konfliktverhalten“ - „offene Kommunikation“ - „gelernt zu kommunizieren“ - „gelernt, eigene Bedürfnisse besser zu formulieren“ mehr Verstehbarkeit von Gefühlen z.B. durch Erfahrungen wie: positive Wertschätzung, Zugehörigkeit, Vertrautheit - „Vertrauen in eigene Impulse/Gefühle“ - „bessere Wahrnehmungs- fähigkeit“ - „Erleben eigener sozialer Kompetenz, erhöhtes Selbstwertgefühl, Wiederentdeckung verloren geglaubter Fähigkeiten“ durch die Erfahrung „‘ich hatte meinen Platz’ in einer Gemeinschaft“ Kenntnisse in der verbalen Kommunikation - „häufigeres Sprechen, keine Ermüdungserscheinungen“ - „gelernt zu kommunizieren“ - „gelernt, eigene Bedürfnisse besser zu formulieren“ 386 Tabelle 3: Förderung von Bedeutsamkeit durch die Gemeinschaft Wanderung 2001 Wanderung 1998 Wanderung 1997 Freude am Zusammensein mit Menschen - „Zusammensein“ - „Aufkommen von Lust und Laune“ - „Aufkommen von Lust und Laune“ neue Kontakte - „sehr guter Kontakt zu einem speziellen Mitpatienten“ - „Hilfsbereitschaft führte zu Freundschaften“ - „soziale Kontakte, therapeutisch gute Gespräche, neue Eindrücke“ - „sehr guter Kontakt zu einem speziellen Mitpatienten“ Befriedigung von elementaren Bedürfnissen wie z.B. menschliche Nähe, Wärme oder Gemeinschaftlichkeit - „‘ich hatte meinen Platz’ in einer Gemeinschaft und dadurch „verbesserte gesundheitliche Stabilität, erhöhtes Selbstwertgefühl“ - „‘ich hatte meinen Platz’ in einer Gemeinschaft und dadurch verbesserte gesundheitliche Stabilität, erhöhtes Selbstwertgefühl“ Erleben einer positiven Beziehungsgestaltung wie z.B. untereinander achtsam sein, Zusammengehörigkeit, sich miteinander gut verstehen“ - „Geben und Nehmen in der Gruppe“ - „offene Kommunikation“ - „Unterstützung, Solidarität“ - „Zusammensein“ - „Erleben von Gleichberechtigung“ - „geringe Konfliktquote“ - Beschreibung des Kontaktes als „gute oder angenehme Beziehung, als aufgelockertes, freundliches warmherziges, offenes heiteres, humorvolles, kameradschaftliches und familiäres Verhältnis“ - „Rücksichtnahme und Kameradschaft“ - „Geben und Nehmen in der Gruppe“ - „offene Kommunikation“ - „Unterstützung, Solidarität“ - „Zusammensein“ - „Erleben von Gleichberechtigung“ - „geringe Konfliktquote“ - Beschreibung des Kontaktes als „gute oder angenehme Beziehung, als aufgelockertes, freundliches warmherziges, offenes heiteres, humorvolles, kameradschaftliches und familiäres Verhältnis“ - „Rücksichtnahme und Kameradschaft“ durch neue Kontakte mehr Möglichkeiten zum Austausch und zum Gewinn weiterer Widerstandsressourcen nach der Reise - „Hilfsbereitschaft führte zu Freundschaften“ - „der sehr gute Kontakt zu einem speziellen Mitpatienten“ verbesserte Freizeitgestaltung - „Hilfsbereitschaft führte zu Freundschaften“ - „der sehr gute Kontakt zu einem speziellen Mitpatienten“ - „konkrete Interessen entwickelt, z.B. Geschichte und Kultur“ Fortsetzung 387 Fortsetzung Tabelle 3: Förderung von Bedeutsamkeit durch die Gemeinschaft Wanderung 2001 Wanderung 1998 Wanderung 1997 Erkenntnis von gesundungsfördernden Effekten von Kontakten (z.B. Kontakt zu anderen Menschen ist sinnvoller als Grübeln) - „konnte abschalten, persönliches Wohlbefinden“ - „persönliches Wohlbefinden“ - „angenehmes Familiengefühl durch Gruppenaktivitäten“ - „gemeinsames Singen“, „Vertreiben eines Hundes“ und dadurch „persönliches Wohlbefinden, vertrauensfördernd und angstmindernd“ - „konnte abschalten, persönliches Wohlbefinden“ - „persönliches Wohlbefinden“ - „angenehmes Familiengefühl durch Gruppenaktivitäten“ - „gemeinsames Singen“, „Vertreiben eines Hundes“ und dadurch „persönliches Wohlbefinden, vertrauensfördernd und angstmindernd“ 388 Tabelle 4: Förderung von Handhabbarkeit durch das Wandern Wanderung 2001 Wanderung 1998 Wanderung 1997 mehr Mut, sich Anforderungen zu stellen - „Forderung durch Anforderung“ positive Auswirkungen auf Wege der Problemlösung z.B. in kleinen Schritten steinigen Weg Schritt für Schritt bewältigen oder Konzentration auf den Weg - „Entwicklung der ‘eigenen’ Lebensphilosophie, dass der Weg das Ziel sei“ Verbesserung des Planungs- und Bilanzierungsverhalten - „Vertrauen in körperliche Leistungsfähigkeit“ Verbesserung des Copingverstehens und -verhaltens - „Erkenntnis, dass körperliche Müdigkeit keine psychischen Folgen hat“ Wandern zum Spannungsabbau bzw. zur Belastungsbalance z.B. Wandern beruhigt, körperliche Anstrengung befreit von Sorgen - „Kopf freier“ - „körperliche Aktivierung, dadurch geregelter Schlaf und bessere Befindlichkeit“ - „gesundheitliche Stabilisierung (psychisch und physisch)“ - „kann Stimmen besser verkraften“ - „bin ruhiger geworden“ - „kann besser einschlafen“ - „gesundheitsstabilisierend durch Wohlbefinden“ - „Aufhebung von kreisenden Gedanken“ Tabelle 5: Förderung von Bedeutsamkeit durch das Wandern Wanderung 2001 Wanderung 1998 Wanderung 1997 Wandern im Alltag mit Bezügen zur Kultur, Natur, Sport und Technik - Entdeckung neuer Hobbys - Wandern mit Bezügen zur Natur - „Entdeckung neuer Hobbys - Wandern mit Bezügen zur Natur Förderung von Körperwahrnehmung u. (positivem) Körpergefühl - „Erfahrung körperlicher Grenzen“ - Erleben körperlicher Leistungsfähigkeit - „einfach schön“ - „Erleben eigener Leistungsfähigkeit“ u. dadurch „Gefühl der Vollkommenheit“ - „Konzentration auf den eigenen Körper“ - „Erfahrung körperlicher Grenzen“ - Erleben körperlicher Leistungsfähigkeit - „einfach schön“ - „angenehmeres Empfinden“ - „Vertrauen in körperliche Leistungsfähigkeit“ Erkenntnis des gesundungsfördernden Sinns von Wandern - „körperliche Belastung als wohltuend erlebt“ - „Aufhebung von kreisenden Gedanken“ - „neues, positives Lebensgefühl“ - „andere Kraft im Umgang mit Alltagssorgen“ - „körperliche Belastung als wohltuend erlebt“ - „körperliche Aktivierung, dadurch geregelter Schlaf und bessere Befindlichkeit“ - „besserer Schlaf“ Fortsetzung 389 Fortsetzung Tabelle 5: Förderung von Bedeutsamkeit durch das Wandern Wanderung 2001 Wanderung 1998 Wanderung 1997 Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit - „Wandern gibt Impuls zu weiterer Bewegung (auch nach der Aktion)“ und somit „aktivierend, Bewegungsdrang fördernd, im weitesten Sinne antidepressiv“ - „bessere Kondition bekommen“ - „wacher, aktiver, weniger müde“ Bewältigung von Anforderungen - Erfolgserlebnisse, z.B. „Erreichen besonderer Ziele“ - „Erfolgserlebnisse, z.B. „das Erklimmen eines Aussichtsfelsens“ Tabelle 6: Förderung von Verstehbarkeit durch das Wandern Wanderung 2001 Wanderung 1998 Wanderung 1997 Zugewinn logistischer Kenntnisse - „Bestätigung der geleisteten Planungsarbeit zur Reisevorbereitung“ mehr Verstehbarkeit physischer und psychischer Zusammenhänge - „‘Kopf freier’ (keine negativen Gedanken)“ - „körperliche Aktivierung, dadurch geregelter Schlaf und bessere Befindlichkeit“ - „besserer Schlaf“ - „wacher und aktiver, weniger müde“ - „gesundheitliche Stabilisierung (psychisch und physisch)“ - „Vertrauen in körperliche Leistungsfähigkeit“ - „Erkenntnis, dass körperliche Müdigkeit keine psychischen Folgen hat“ - „kann Stimmen besser verkraften“ - „bin ruhiger geworden“ - „kann besser einschlafen“ - „gesundheitsstabilisierend durch Wohlbefinden“ - „Aufhebung von kreisenden Gedanken“ - „Gefühl der Vollkommenheit“ durch Erleben eigener Leistungsfähigkeit - „gesundheitsstabilisierend durch Wohlbefinden“ - „bessere Wahrnehmungsfähigkeit“ - Wandern gibt Impuls zu weiterer Bewegung (auch nach der Aktion) und somit „aktivierend, Bewegungs- drang fördernd, im weitesten Sinne antidepressiv“ - „Erkenntnis, dass körperliche Müdigkeit keine psychischen Folgen hat“ verbessertes Planungs- und Bilanzierungsverhalten - „Erkenntnis, dass körperliche Müdigkeit keine psychischen Folgen hat“ - „Vertrauen in körperliche Leistungsfähigkeit“ - „Erfahrung persönlicher Grenzen bzw. Grenzerweiterung“ 390 Ich versichere, dass die von mir vorgelegte Arbeit weder in der gegenwärtigen noch in einer anderen Fassung der Universität Dortmund oder einer anderen Hochschule im Zusammenhang mit einer staatlichen oder akademischen Prüfung vorgelegen hat, und dass ich die Dissertation selbständig verfasst und alle in Anspruch genommenen Quellen und Hilfen in der Dissertation vermerkt habe. Dortmund, 12. Oktober 2006 - Beate Brieseck -