Stadt und Symbol: Die Bedeutung von Symbolen in städtischen Lebenswelten. Angebote der hermeneutischen Methode des Therapeutischen Sandspiels. Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades (Dr. rer. pol.) an der Fakultät Raumplanung der Universität Dortmund Vorgelegt von Thomas Knappstein aus Schwerte Dortmund 2002 Gutachter und Vorsitzender der Promotionskommission: Herr Univ.-Prof. Dr. Klaus M. Schmals, Universität Dortmund Gutachter: Herr Prof. Dr. Volker Riegels, Ev. Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Bochum Prüfer: Herr AOR Dr. Sebastian Müller, Universität Dortmund Tag der Promotion: 29. Oktober 2002 Stadt und Symbol: Die Bedeutung von Symbolen in städtischen Lebenswelten. Angebote der hermeneutischen Methode des Therapeutischen Sandspiels. Vorgelegt von Thomas Knappstein 4 Inhaltsverzeichnis Seite 1. Einleitung, Thesen, Zielsetzungen 7 2. Die Geschichte der Stadt in historischen Vergesellschaftungsprozessen 2.1. Einleitung 10 2.2. Gesellschaftliche Prozesse in der Stadt zwischen Mittelalter und Neuzeit 11 2.3. Max Webers „Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ 19 2.4. Die Entfaltung der Stadt zwischen Neuzeit, Moderne und Postmoderne 27 2.4.1. Die Neuzeit 28 2.4.2. Neuzeit und neuzeitliche Moderne 30 2.4.3. Die Moderne des 20. Jahrhunderts 33 2.4.4. Die geistige, politsche und gesellschaftliche Moderne bei S. Hradil 34 2.4.5. Die Postmoderne 36 2.5. „Le Corbusiers“ Charta von Athen 38 2.6. Individualisierungstendenzen in der „Risikogesellschaft“ 41 2.7. Zusammenfassung 45 3. Der symbolische Interaktionismus: Ein gesellschaftstheoretisches Interpretationsmodell zur Verbindung von Individuum, städtischer Lebenswelt und Gesellschaft 3.1. Einleitung 47 3.2. Einführung in die Hermeneutik 48 3.3. Das Modell des Symbolischen Interaktionismus 50 3.3.1. Das normative Paradigma 51 3.3.2. Das interpretative Programm 53 3.3.3. Rollentheorien und Rollenübernahme 56 3.3.4. Methodologische Aspekte der Analyse symbolischer Interaktionen 60 3.3.5. Rollenübernahme und Perspektivenwechsel bei Piaget 62 3.4. Sozialisation, der Grundstein zur symbolischen Interaktion 64 3.5. Sprache, Interaktion und Symbolbildung 69 3.6. G.H. Meads Theoriekonzept des Generalisierten Anderen 72 3.7. Schichtenspezifische Sozialisation 79 3.8. Zusammenfassung 83 4. Das Symbol und seine Bedeutung in städtischen Interaktionsprozessen 4.1. Einleitung 85 4.2. Etymologie, Definitionen 85 4.3. Das Symbol in der Analytischen Psychologie C. G. Jungs 88 4.4. Das Symbol in räumlichen Prozessen 93 4.4.1. Was ist Raum? 93 4.4.2. Raumplanung als symbolisches Handlungsfeld der Kosmogonie 95 5 4.5. Präsentative Symbolik und symbolische Raumbezogenheit 100 4.6. Zusammenfassung 112 5. Das Bild städtischer Lebenswelt als menschlicher Erfahrungshintergrund 5.1. Einleitung 114 5.2. Die Blickverschränkung: Das chiastische Modell bei Jacques Lacan 114 5.3. Wahrnehmungspsychologie 117 5.3.1. Figurative und operative Wahrnehmung bei J. Piaget 119 5.3.2. Zentrierung und Dezentrierungsvorgänge 120 5.3.3. Wahrnehmung und soziale Schichtung 122 5.3.4. Bewusste und unbewusste Einflussgrößen 123 5.4. Das Phänomenologische Modell 123 5.4.1. Wahrnehmungsabschattung und persönliche Standpunkte 124 5.4.2. Die phänomenologische Sicht am Beispiel des Hauses 126 5.4.3. Das Bewusstseinsfeld 127 5.5. Gestalttheoretische Aspekte der Umweltwahrnehmung 129 5.6. Das Bild der Stadt bei Kevin Lynch 134 5.6.1. Komponenten des Vorstellungsbildes 137 5.6.2. Kernaussagen K. Lynchs Untersuchung und symbolische Aspekte 139 5.7. Semiotik, Symbolik und Bildinterpretation 144 5.7.1. Architektonische und Ikonische Codes 144 5.7.2. Denotation und Konnotation 147 5.7.3. Signifikant und Signifikans 148 5.7.4. Bildwahrnehmung nach Stefan Müller-Doohm 150 5.8. Zusammenfassung 152 6. Die städtische Lebenswelt der Moderne und ihre Einflüsse aus sozialpsychologischer Sicht 6.1. Einleitung 154 6.2. Gesellschaftliche Psychodynamik der Nachkriegszeit 156 6.3. Elemente des funktionalen Städtebaus aus sozialpsychologischer Sicht 157 6.3.1. Traditioneller und moderner Städtebau im Vergleich 157 6.3.2. Entmischung städtischer Funktionen 159 6.3.3. Kernverlust der Städte und Umgestaltung der Zentren 159 6.3.4. Agglomeration und Suburbanität 160 6.3.5. Entfremdung von der Natur 161 6.3.6. Monotonie der Satellitenstädte 162 6.4. Städtebau und psychogene Reaktionen 162 6.4.1. Psychosoziale Entwicklungsphasen nach Erik H. Erikson 163 6.4.2. Ätiologische Aspekte der Neurose und psychogener Reaktionen 165 6.4.3. „Die schizoide Gesellschaft“ nach F. Riemann 170 6.5. Einflüsse der städtischen Lebenswelt der Moderne auf die Psyche 174 6.5.1. Einflussfaktor „städtebauliche Gestalt“ 174 6.5.2. Funktionstrennung und mögliche sozialpsychologischen Folgen 177 6.5.3. Fehlende Räume für Sinneserfahrungen und Autonomie 180 6 6.5.4. Verlust städtischer Identität, Heimat und Symbolik 185 6.6. Brasilia: Beispiel einer funktional-städtebaulichen Lebenswelt 188 6.7. Zusammenfassung 191 7. Das therapeutische Sandspiel nach D. M. Kalff: Eine Methode zur Visualisierung innerpsychischer Lebenswelten 7.1. Einleitung 193 7.2. Fundamente des Therapeutischen Sandspieles 194 7.2.1. Das Städtebauspiel nach H.G. Wells 194 7.2.2. Die „World Technique“ Margaret Lowenfelds 194 7.3. Das Strukturmodell der Analytischen Psychologie C.G. Jungs 197 7.3.1. Das Bewusstsein 199 7.3.2. Strukturen des Bewusstseins 202 7.3.3. Das Unbewusste, seine Struktur und seine Inhalte 205 7.3.4. Die Archetypen 208 7.3.5. Das Assoziationsexperiment 209 7.4. Das Therapeutische Sandspiel nach D.M. Kalff 210 7.4.1. Methode, Materialien und Elemente 211 7.4.2. Projektive Verfahren 211 7.4.3. Die Materialien und der „freie geschützte Raum“ 212 7.5. Transformations- und Entwicklungsprozesse im Sandspiel 221 7.6. Dokumentation und Deutung 225 7.7. Archetypische Symbolik 230 7.8. Zusammenfassung 233 8. Das Haus als Symbol, Lebenswelt und Visualisierung individueller Problemstellungen 8.1. Einleitung 235 8.2. Der symbolische Kontext des Hauses 235 8.3. Geometrische Strukturelemente des Symbolsystems Haus 240 8.4. Einzelne Hauskomponenten 242 8.5. Das Haus in der Dialektik zwischen Individuum und Kollektiv 247 8.6. Zusammenfassung der Ergebnisse vor dem Symbolkontext Haus 253 8.7. Beispiele lebensgeschichtlicher Erfahrungen und symbolischer Übertragungen auf Haus und Wohnen 256 8.7.1. Häuser im Therapeutischen Sandspiel 256 8.7.2. Hauszeichnungen 258 8.7.3. C.G. Jungs Traum und Interpretationen zum Thema Haus 260 8.7.4. Der „Fall Dahl“: Die Bedeutung einer Wohnung im narrativen Interview 262 8.8. Zusammenfassung der Symbolaspekte des Hauses 268 9. Ausblick 270 10. Literaturverzeichnis 275 Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 288 71. Einleitung, Thesen, Zielsetzungen Planung, Gestaltung und Aneignung von Lebensräumen geschieht in Prozessen, die nicht nur durch bewusste, rationale Aspekte, sondern auch durch unbewusste psychische Faktoren beeinflusst werden. Zwischen der inneren psychischen Welt der Menschen und ihrer äußeren, bebauten und unbebauten Umwelt besteht eine Wechselbeziehung. Die individuellen Erfahrungen, die ein Mensch insbesondere in den frühen Entwicklungsjahren erwirbt, vermögen ihn nachhaltig zu prägen. Internalisierte Bilder des primären Interaktionsgeschehens können den Menschen auch bei der Ausgestaltung seiner Umwelt wesentlich beeinflussen. Eigene Lebensentwürfe werden - symbolisch codiert - in die Lebenswelt projiziert, und sie entfalten dann wiederum Rück-Wirkungen auf ihre Bewohner und Betrachter. ArchitektInnen, Stadt- und RaumplanerInnen bilden jedoch nicht nur unbewusste innerpsychische Welten auf symbolischer Ebene ab, sondern sie setzen ebenso gesellschaftliche Normen und Wertsysteme sowie kollektive Zeitströmungen in Bauformen, Stadt- und Landschaftsbildern um. Lebenswelten, die den entwicklungs- und sozialpsychologischen Erfordernissen des Menschen nicht entsprechen, können als Wegbereiter für psychogene Erkrankungen beim Menschen aufgefasst werden. Insbesondere der Städtebau der Moderne hat die oben genannten Grundbedürfnisse nur unzureichend berücksichtigt. Er gestaltet Räume vorwiegend unter den rationalen Aspekten der Funktionalität und verändert ihre traditionellen Symbole. Mit der Trennung von Nutzungen hat ein ungeahnter Entmischungsprozess mit erheblichen sozialpsychologischen Auswirkungen auf das Individuum und die Gesellschaft begonnen. Städtische Gemeinschaftsidentität wird nur noch schwer vermittelbar. Viele Individuen vermögen zur zweckrational gestalteten Lebenswelt kaum emotionale Bezüge herzustellen. Diese sind aber Basis eines Identifikationsprozesses. Gemeinschaft wird über Symbole hergestellt. Das einflussreichste städtebauliche Leitbild des vergangenen Jahrhunderts, die Charta von Athen, verkörpert die Norm der Zweckrationalität und Funktionalität. Sie ist jedoch nicht wie ein Naturereignis plötzlich über die Menschheit hereingebrochen, sondern sie ist das Produkt einer kontinuierlichen historischen Entwicklungslinie, die das Subjekt und seine Lebenswelt nachhaltig geformt hat. Über welche Mechanismen ist nun die Umwelt an der Entstehung psychogener Reaktionen mitbeteiligt? Ich gehe zunächst von der Hypothese aus, dass menschliches und soziales Handeln direkt oder indirekt, d.h., seinem Sinn nach, auf Objekte wie Personen oder Dinge bezogen ist. Dieses Handeln geschieht interaktiv und symbolvermittelt. Symbole umfassen Bedeutungsgehalte, die über das Gegenständlich-Denotative hinausgehen, nämlich tiefere, auch emotionale Sinngehalte und Konnotationen, die diskursiv nur unvollständig erfassbar sind. In unserer Lebenswelt finden wir eine schier unendliche Mannigfaltigkeit von Symbolen und Deutungsvarianten. Aber diese Bedeutungen sind, so 8lautet die These, nicht verobjektivierbar. Symbole bedürfen der Interpretation vor einem subjektiven Kontext, d.h., sie erhalten ihre sinngebende Bedeutung in einem konkreten lebensgeschichtlichen oder gesellschaftlichen Zusammenhang, der zu einer Persönlichkeit oder zu einer entsprechenden Gruppe passt. In dieser Arbeit werde ich anhand ausgewählter Theorien und empirischer Methoden auf die Erfordernis von Einzellfallbetrachtung und Subjektivität aufmerksam machen. Eindrücke unserer Lebenswelt internalisieren wir in Form von Bildern. Auf dem Wege der Wahrnehmung und Erfahrung gelangen sie in unsere Innenwelt und hinterlassen dort Prägungen und Erlebnisse, die u. U. zu pathogenen psychischen Reaktionen führen können. Betrachten wir die Umwelt oder schaut sie uns an? Gibt es eine Instanz, die uns aufgrund unser psychosozialen Situation Motive auswählen lässt, welche uns besonders ansprechen oder die uns vertraut sind? Hat der Städtebau der Moderne die Stadt entsymbolisiert oder ist seine nüchterne Gradlinigkeit und „Affektlosigkeit“ auch eine Form von Symbolik, die zwar von Menschen gemacht wurde, die Menschen aber nicht mehr (positiv) berührt? Sozialisation führt zur Entwicklung der individuellen Persönlichkeitsstruktur des Menschen und das Individuum zu dem Platz, den es in der Gesellschaft einnimmt. Mit diesem Thema setzen sich sowohl die Soziologie als auch die Psychologie auseinander. Kurzgefasst kann man sagen, dass das soziologische Interesse sich insbesondere auf gesellschaftliche Dimension der Sozialisation konzentriert, d.h. die Evaluierung der Möglichkeiten, die sich eine Gesellschaft „schafft“, um Individuuen im allgemeinen Sinn „gesellschaftsfähig“ zu machen. Voraussetzungen, Inhalte und die Vermittlung des sozialen Handelns und sozialer Kompetenzen bilden Untersuchungsschwerpunkte. Die psychologische Perspektive betont eher das Individuum, seine psychische Strukturierung und Genese der Persönlichkeit durch gesellschaftliche Beeinflussungen. Sozialisation bildet eine thematische Verknüpfung der soziologischen und der psychoanalytischen Perspektive. Als soziologischen Untersuchungsansatz wählte ich für diese Arbeit den Symbolischen Interaktionismus. Er verbindet die genannten wissenschaftlichen Disziplinen und trägt der interpretativen Methode Rechnung. Als tiefenpsychologisches Modell wählte ich die Analytische Psychologie Carl Gustav Jungs. Sie enthält über die psychoanalytischen Grundstrukturen von Bewusstsein und Unbewusstem hinaus eine wesentliche Erweiterung durch die Komponente des kollektiven Unbewussten und der Archetypen. Auf diesem Modell fußt das Therapeutische SandspieI Dora M. Kalffs. Dieses ist eine tiefenpsychologisch arbeitende Methode, die Menschen wieder einen Zugang zu Symbolen verschaffen möchte, um die o.g. psychogenen Problemstellungen aufzuarbeiten. In Selbsterfahrungsprozessen versteht es sich als Angebot, den eigenen Umgang mit Symbolen, die wir in unsere Außenwelt übertragen oder präsentieren, zu erleben und zu begreifen. Es versteht sich von daher auch als eine Forschungsmethode, um die (kollektive) Bedeutung von Symbolik zu ergründen. Ich wählte das Haus als ein bedeutsames Symbol unserer Kultur, um daran die Tiefgründigkeit der Symbolik zu erläutern. 9Im folgenden Kapitel 2 werde ich in einem kurzen Abriss „Die Geschichte der Stadt in historischen Vergesellschaftungsprozessen“ darstellen und der Fragestellung nachgehen, wie sich „die Stadt“ in einem komplexen kontinuierlich fortschreitenden Wandlungsprozess auf dem Weg in die Moderne zu einem rational-funktionalen Gebilde entwickeln konnte. Der Symbolische Interaktionismus bildet den soziologischen Kern dieser Arbeit, den ich im Kapitel 3 vorstellen werde. Dieses gesellschaftstheoretisches Modell verbindet Individuum, städtische Lebenswelt und Gesellschaft über Symbolik. Symbole sind nicht nur Bestandteile der bildhaften Kommunikation zwischen den Bildern der Umwelt und der Psyche, sondern Symbolik ist das verbindende Element jeglicher Interaktion. Wir befinden uns mit unserer Umwelt in einem permanenten Interaktions- und Interpretationsprozess. Im Kapitel 4 werde ich das Symbol in räumlichen Prozessen untersuchen und seine Bedeutung insbesondere für städtische und planerische Interaktionsprozesse darlegen: Räume sind Orte unserer Interpretation. Unsere Lebenswelt nehmen wir über Sinnesreize wahr, welche die Bilder, Zeichen und Symbole beinhalten, die wiederum zu uns in Bezug treten. In Kapitel 5 werde ich darstellen, durch welche Prozesse und Wechselwirkungen Umwelteindrücke in uns aufgenommen werden. Die Internalisierung der städtischen Lebenswelt und ihrer Objekte als Erfahrungshintergrund des Menschen werde ich anhand einiger praxisbezogenen Modelle verdeutlichen. Im folgenden Kapitel 6 werde ich analysieren, welche Einflüsse die städtische Lebenswelt der Moderne aus sozialpsychologischer Sicht auf die Entwicklung der Persönlichkeit ausüben kann. Psychogene Reaktionen und psychopathologische Veränderungen können sowohl das Individuum betreffen als auch zum Ausdruck für den Zeitgeist einer Gesellschaft werden. Das Therapeutische Sandspiel nach Dora M. Kalff werde ich in Kapitel 7 als eine tiefenpsychologisch-analytische Methode vorstellen, die die Bezüge zwischen dem Individuum und seiner Lebenswelt „en-miniature“ über das Symbol visualisieren kann. Es versteht sich als Therapieangebot zur Behandlung von Konflikten und psychogenen Reaktionen aus (post)modernen Lebenswelten, als Selbsterfahrungsangebot um eigene Bedürfnisse und unbewusste Inhalte besser kennenzulernen sowie als Möglichkeit für PlanerInnen, Symbole für eine bedarfsgerechtete Planung entwickeln zu können. Die bis zum Kapitel 8 zusammengetragenen Erkenntnisse über die subjektive Interpretationsbedürftigkeit von Symbolen werden anhand exemplarischer Beispiele und individueller Problemstellungen vor dem Kontext des Symboles Haus zusammengeführt: Wie alle Symbole dient das Haus als Projektionsfläche verinnerlichter psychosozialer Strukturen. Im Ausblick möchte ich einige Anregungen der Arbeit zusammenfassen, wie Planungskonzepte durch mehr Symbolbewusstsein zu einer höheren Akzeptanz führen können. 10 2. Die Geschichte der Stadt in historischen Vergesellschaftungsprozessen 2.1. Einleitung Der funktionale Städtebau der Moderne stellt sich uns u.a. in monotonen mehrgeschossigen Trabantensiedlungen, entleerten, leblosen und verbürokratisierten Stadtzentren dar. Funktionstrennung, zweckrational-zwanghafte Gradlinigkeit und Nutzungsentmischung als Struktur- und Ästhetikkonzepte dieser Planungsideologie haben viele Lebenswelten konstruiert, die oftmals den sozialen und entwicklungspsychologischen Erfordernissen des Menschen nicht gerecht werden können. Stadt, Gesellschaft und Individuen sind jedoch Resultate eines historischen Wandlungs- und sich wechselseitig beeinflussenden Entwicklungsprozesses. Daher erscheint mir zuerst die Klärung der Frage erforderlich, wie sich die städtischen Lebenswelten der Moderne historisch entwickeln konnten. Mit dieser Problemstellung ist die Frage verknüpft, wie sich „das“ Individuum vor dem Hintergrund der sich wandelnden gesellschafts- und herrschaftspolitischen Interessen verändert. Meine Hypothese ist, dass die Rationalität und Funktionalität der „Charta von Athen“ lediglich den evidenten „Endpunkt“ eines historischen, sich kontinuierlich entwickelnden Verkettungsprozesses gesellschaftlicher, wissenschaftstheoretischer, ideologischer, theologischer und politischer Theorien, Bewegungen und Zeitströmungen auf dem Weg in die Moderne darstellt. Sie wird erklärbar durch die rationale Grundhaltung und Lebensführung der (proto-) bürgerlichen Gesellschaft, die der verstehende Soziologe Max Weber in „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ beschreibt. Bei der Analyse der historischen Entwicklungslinie auf dem Weg in die Moderne und Postmoderne werde ich mich auch auf die Arbeiten von Wolfgang Welsch beziehen, der den Wandlungsprozess in philosophischer Tradition beschrieben hat. Zu Beginn dieses Kapitels untersuche ich in einem kurzen historischen Abriss die Entwicklung „der“ Stadt. Aufgrund der Komplexität des Gegenstandes und der Verschiedenartigkeit städtischer Entwicklungen kann aber eine solche Darstellung immer nur einen Ausschnitt mit sehr fragmentarischem Charakter abbilden. In meinen Ausführungen möchte ich mich im Wesentlichen auf die Ausarbeitungen des Stadtsoziologen und Architekten Klaus M. Schmals beziehen, der u.a. in seiner Arbeit „Soziologie der Stadt“1 ein gesellschaftskritisches Bild der Stadt aus soziologisch-epochaltypisch-historischer Perspektive entfaltet hat. 1 Schmals, Klaus M.: Soziologie der Stadt. In: Schmals, Klaus M. (Hrsg.): Stadt und Gesellschaft. Ein Arbeits- und Grundlagenwerk. Reihe Stadt und Regionalsoziologie, Band 1 / 2 , Edition Academic, München 1983 11 2.2. Gesellschaftliche Prozesse der Stadt zwischen Mittelalter und Neuzeit Versuche, den Gegenstand Stadt zu definieren, beziehungsweise seine historische Entwicklung bis zur gegenwärtigen Situation zu beschreiben, tragen die Attribute fragmentarisch und schlaglichtartig. Durch die Entfaltung der in ihr lebenden Gesellschaft ist die Stadt, historisch gesehen, ein Ort zahlreicher prozessualer Wandlungen. Die kontinuierlich fortschreitende Stadtentwicklung prägt Lebensbedingungen und -grundlagen des Subjekts vor dem nicht widerspruchsfreien und konfliktreichen Hintergrund sich ebenso permanent verändernder Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen, Weltbilder und Zeitströmungen. Viele Strukturen und Formen wurden in diesem Lebensraum geschaffen, verändert, neu entwickelt, restauriert oder sie gingen verloren. Der Versuch, dieses vielschichtige System darzustellen, stößt bald an erkenntnistheoretische und erkenntnispraktische Schwierigkeiten, die zweifelsohne mit der Komplexität des Untersuchungsobjektes Stadt, seiner Vielschichtigkeit, aber auch mit seiner Widersprüchlichkeit und seinem Konfliktpotential zusammenhängen. „Eine allgemein verbindliche – die unterschiedlichen in der Gesellschaft existenten Anliegen aufnehmende – Definition des Gegenstandes Stadt ist im Rahmen der disparaten – und dabei gesellschaftlich bedingten – Interessensstrukturen nicht zu leisten: Sie scheitert sowohl an der qualitativen und quantitativen Komplexität des Gegenstands, als auch an der normativen Widersprüchlichkeit ihrer Einschätzung durch konkurrierende Wissenschaftsgemeinschaften und politisch-ökonomische Interessensgruppierungen.“2 Die Komplexität des Systems Stadt, „dieses Ursymbols differenzierten menschlichen Zusammenlebens“3, wird an der immensen Verstrickung von Merkmalsausprägungen auf verschiedensten Ebenen offenkundig. So verorten sich in diesem System u.a. Wohn-, Arbeits-, Produktions-, Konsum-, Freizeit-, Bildungs- und Verkehrsstrukturen, die technische, soziale, medizinische und psychosoziale Versorgung der hier lebenden Menschen, kommunalpolitische Probleme und ihre Lösungsversuche in politisch-administrativen Organisationen und Institutionen, Umweltproblemstellungen und Machtdemonstrationen, materiell-kapitalistische Interessen der Gewinnmaximierung und die Verdrängung wenig Privilegierter. Es sind „inhaltliche Merkmale der Stadt, die sowohl von prozessualer, struktureller und funktionaler, als auch von handlungs- und verhaltensdeterminierender und –stimulierender Bedeutung.“4 Klaus M. Schmals versteht in seinem stadtsoziologischen Ansatz der „Soziologie der Stadt zwischen Neuzeit, Moderne und Postmoderne“ folgerichtig Stadtgeschichte nicht als Geschichte einzelner Persönlichkeiten wie Vertreter der klassischen Historiographie dies in der Regel tun: Die Geschichte der Stadt erklärt er aus den sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen der jeweiligen Epoche und rekonstruiert den Prozess der Stadtwerdung in allergröbsten Entwicklungszügen. Die Entwicklung der Stadt in Westeuropa verlief in einem Höchstmaß ungleich und ungleichzeitig (Nichtlinearität bzw. Diskontinuität). 2 ebenda, S. 12 3 Giedion, S.: Raum, Zeit, Architektur. Ravensburg 1965, zit. bei: Lorenzer, Alfred: Städtebau: Funktionalismus und Sozialmontage? Zur sozialpsychologischen Funktion der Architektur. In: Berndt, Heide, Lorenzer, Alfred, Horn, Klaus: Architektur als Ideologie, Frankfurt, Suhrkamp, 1968, S. 101 4 Schmals, Klaus M. (1983): a.a.O., S. 12 12 Die Stadtentwicklung wird hier in der „epochaltypischen“ Wechselwirkung aus gesellschaftlichen Lebensverhältnissen, Produktionsformen, Herrschaftsstrukturen und Weltbildern aufgezeigt.5 Viele Sonderströmungen und auch ihre häufig gegenläufigen Bewegungen haben den Entwicklungsprozess der Stadt häufig zu einem nur schwer entwirrbaren Knäuel werden lassen. Den Weg des epochaltypischen Ansatzes der kontinuierlichen historischen Fortentwicklung beschreitet auch der Soziologe Norbert Elias. Er versteht die Entwicklung von Zivilisation als jahrhundertelangen Integrationsprozess: „Die umfassende soziale Entwicklung, als deren Repräsentant hier eine ihrer Zentralerscheinungen, eine jahrhundertelange Welle fortschreitender Integrierung, ein Staatsbildungsprozess mit dem Komplementärprozess einer fortschreitenden Differenzierung untersucht und dargestellt wurde, ist ein FigurationswandeI, der im Hin und Her der Vor- und Rückbewegungen – auf längere Sicht betrachtet – über viele Generationen hin in ein- und dieselbe Richtung geht. Diese gerichtete Strukturwandlung lässt sich als Faktum nachweisen, gleichgültig wie man sie bewertet.“6 Die vielschichtigen historischen Transformations-, Entfaltungs- sowie Veränderungsprozesse lassen sich mit dem Begriff des Sozialen Wandels charakterisieren. „Seitdem William F. Ogburn7 im Jahr 1922 diesen Begriff erstmals in einem Buchtitel benutzte, hat er die Kategorien, mit denen die Klassiker gesellschaftliche Veränderungen analysiert haben – soziale Dynamik, Transformation, Umwälzung, Evolution, Differenzierung, Zirkulation, Fortschritt, Untergang – sehr rasch ersetzt oder subsumiert (...). Heute stimmen die meisten Theorien darin überein, dass sozialer Wandel die Veränderung ‚sozialer Strukturen’ bedeutet, die Abweichung von relativ stabilen Zuständen, deren Stabilitätsbedingungen wir kennen müssen, um Wandlungspotentiale und Entwicklungsrichtung analysieren und erklären zu können.“8 P. Heintz versteht unter sozialem Wandel die Gesamtheit der in einem Zeitabschnitt erfolgenden Veränderungen in der Struktur der Gesellschaft.9 Die Entfaltung des okzidentalen Lebensraumes, von der feudalistischen Agrargesellschaft bis zu kapitalistischen Industrie- und Dienstgesellschaftsformen lässt sich als kontinuierlicher Veränderungs- und Entwicklungsprozess, als Prozess des Umbaus, der Modernisierung, 5 vgl.: Schmals, Klaus M.: Soziologie der Stadt zwischen Neuzeit, Moderne und Postmoderne. Dortmund 2001, S. 8 6 Elias Norbert: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Suhrkamp 13. Aufl., 1988, S. XII 7 Der amerikanische Soziologe William Fielding Ogburn benutzte diesen Begriff erstmalig (Ogburn, W. F.: Social Change. Dell, New York 1922 [1966]. Er prägte darüber hinaus 1922 den Begriff des „Cultural Lag“, der sog. kulturellen Verspätung, beziehungsweise der Phasenverschiebung. Er beschrieb hierdurch ein krisenhaftes Phänomen des Anpassungsrückstandes der immateriellen Kultur (z. ÿ B.: soziale Organisation, Recht, Ethik) gegenüber der sich beschleunigt wandelnden materiellen Kultur (naturwissenschaftlich- technisch-ökonomischer Fortschritt) im Industriezeitalter. 8 Schmals, Klaus M.: Gesellschaftstheoretische Grundlagen der Raumplanung, Dortmund 1998, S. 13, zit. nach Zapf, W. (1971): S. 11 9 Schmals, Klaus M. (1998): a.a.O., S. 13. zit. nach Heintz, P. 1971, S. 124. Weitere Definitionen des Sozialen Wandels sind z.B.: „Der Begriff ‚sozialer Wandel’ wird benutzt, um den Wandel in der institutionellen Struktur eines sozialen Systems zu bezeichnen; spezieller: eine Veränderung der zentralen institutionellen Ordnung einer Gesellschaft, so dass man von einem Wandel im Typus der Gesellschaft sprechen kann“ (D. Lockwood, 1971, S. 124); „Wir definieren einen Wandel in der Struktur eines sozialen Systems als Wandel seiner normativen Kultur. Wenn wir die oberste Ebene sozialer Systeme betrachten, handelt es sich um einen Wandel des gesamtgesellschaftlichen Wertsystems“ (T. Parsons, 1961,S.73). 13 Rationalisierung und Individualisierung von Lebens- und Gesellschaftsformen, Wirtschafts- und Herrschaftsstrukturen, Wertsystemen und Weltbildern beschreiben. Abbildung 1: Die Entfaltung der Planung im gesellschaftlichen Entwicklungsprozess Quelle: K. M. Schmals10 Klaus M. Schmals hat den gesellschaftlich epochalen Entwicklungsprozess analysiert und ihn in Bezug zum Planungsaufwand der Gesellschaft gesetzt (siehe Abbildung 1). Dabei stellte er fest, dass sich mit steigender Differenzierung und Komplexität der Gesellschaft auch der Planungsaufwand erhöht: „Die Teilstrukturen (wie Ökonomie, Politik, Ideologie oder Alltagswelt) dieser einzelnen Epochen waren jeweils unterschiedlich entwickelt, funktionalisiert und wurden unterschiedlich gesteuert. So kann man eher religiös-, politisch-, ökonomisch-, technologisch- oder wissensgesteuerte Gesellschaften unterscheiden. In diesem historischen Wandlungsprozess gesellschaftlicher Strukturen tritt Planung – zur Steuerung gesellschaftlicher und individueller Interessen – immer deutlicher ins Blickfeld der Öffentlichkeit. War sie zu Beginn des abendländischen Modernisierungsprozesses eher im Handlungsalltag verborgen, also handlungsimplizit, so wurde sie im Fortgang des Rationalisierungsprozesses immer offenkundiger, handlungsexpliziter. D.h., je arbeitsteiliger die Gesellschaft, je kleiner die Familienverbände, je individueller die Bedürfnisse und Weltbilder, je mobiler die Gesellschaft und je demokratischer die politischen Strukturen wurden, desto notwendiger wurde Planung. Dies nicht nur, um die differenzierter gewordene 10 Schmals, Klaus M. (1998): a.a.O., S. 14 14 Gesellschaft zusammenzuhalten, sondern auch, um die einzelnen Subsysteme der Gesellschaft funktional aufeinander zu beziehen. Im Wandlungsprozess der Gesellschaft, im Rationalisierungsprozess okzidentaler Gesellschaften, wandelte, entwickelte sich Planung von Alltagsroutine zum universellen – zweck-rationalen – Herrschaftsprinzip, ohne dessen Existenz die heutige Gesellschaft nicht mehr steuerbar scheint.“11 Erste städtische Siedlungsformen als Ausdruck gesellschaftlicher Herrschafts- und Gemeinwesenordnungen entstanden beispielsweise in den alluvialen Flusstälern von Euphrat und Tigris, am Nil oder Indus zu Beginn der Kupferzeit. Aufgrund der hohen Fruchtbarkeit dieser Täler bildete im Wesentlichen die landwirtschaftliche Überschussproduktion die Lebensgrundlage dieser Städte, d.h., die Urbanisierung entwickelte sich schrittweise aus einer agrarisch orientierten Gesellschaftsform heraus.12/13 Zahlreiche Römerstädte haben ihre Befestigungen nach ihrer Plünderung um ca. 300 n.Chr. bis in das Mittelalter erhalten können. Oft blieb nicht nur die wichtige verkehrsgünstige Lage als Standortfaktor übrig, sondern sie erlangten auch später wieder ihre Bedeutung als Zentren und Ausgangspunkte neuer Besiedlungen. Obwohl sicher auch römisch - antike, arabisch - orientalische und asiatische Einflussfaktoren für die Entwicklung der Stadt eine Rolle gespielt haben, möchte ich meinen historischen Abriss mit dem Übergang zum frühen Mittelalter beginnen lassen. Etwa um das 6. Jhd. liegt, historisch gesehen, eine Zäsur, die als Anfang der Entfaltung eines neuen okzidentalen, west- und mitteleuropäischen Kulturkreises gesehen werden kann.14 L. Kofler hat in der „Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft“15 vier mögliche Entwicklungslinien für die Bildung der Stadt im frühen Mittelalter aufgezeigt. „Er verwies • auf die von Savigny vorgeschlagene Erklärungsfigur einer direkten Fortentwicklung resp. Funktionserneuerung der über ganz Europa verstreut angelegten römischen Siedlungen; • auf die von Bethmann-Hollweg vermutete städtische Wiederbelebung in Oberitalien im Zeitraum des 11. Jahrhunderts, bedingt durch die Veränderung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse; 11 Schmals, Klaus M. (1998): a.a.O., S. 15 12 vgl. Berndt, Heide: Ist der Funktionalismus eine funktionale Architektur? Soziologische Betrachtung einer architektonischen Kategorie. In: Berndt, Heide; Lorenzer, Alfred; Horn, Klaus: Architektur als Ideologie. Frankfurt 1968, S. 12 13 Im mitteleuropäischen Raum war gemäß der ersten Quellen dieser Zeit die Besiedlung fast ausschließlich bäuerlich. Die Kelten besaßen eine Anzahl stadtähnlicher Besiedlungen, die in Anlehnung an Caesars Bericht über die Eroberung Galliens „oppida“ (Singular: Oppidum) genannt werden. Es handelte sich hierbei um Plätze in verteidigungstechnisch guter Lage, mit Graben und Steinwall verstärkt. 14 Das Mittelalter (MA) bildet den Zeitraum zwischen Altertum und Neuzeit in der europäischen Geschichte. Den Begriff Mittelalter prägten die Humanisten des 15./16. ÿ Jahrhunderts für die Zeit zwischen dem Ende der Antike, der ihrer Ansicht nach eine Epoche des allgemeinen Verfalls der lateinischen Sprache und Bildung folgte, und der Renaissance (Wiedergeburt antiker Gelehrsamkeit). Während die Aufklärung das »finstere Mittelalter« missachtete, verklärte die Romantik diese Epoche als Idealzeit der gläubigen, ritterlichen Gemeinschaft des christlichen Abendlandes. Trotz grundsätzlicher Bedenken aus universalhistorischer Sicht hat sich die Epochenbezeichnung Mittelalter in der modernen Geschichtsschreibung behauptet. Als problematisch erweist sich sowohl die Abgrenzung des Mittelalters von Antike und Neuzeit als auch die Periodisierung innerhalb des Mittelalters. Ein eindeutiger Beginn des Mittelalters lässt sich nicht festlegen, die Spanne entsprechender Datierungen reicht von der Krise des Römischen Reiches im 3. ÿ Jahrhundert über den Untergang Westroms (476) bis zur Kaiserkrönung Karls d. ÿ Gr. (800). Als Übergang von der Antike zum Mittelalter gilt die Zeit der Völkerwanderung (4.6. ÿ Jahrhundert), in der durch die Begegnung von Antike, Germanentum und Christentum wesentliche Grundlagen der frühmittelalterlichen Gesellschaft entstanden. (c) Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG, 1999 15 Kofler, L.: Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Darmstadt und Neuwied 1976, S. 22 ff. 15 • auf die von Büchers und Dopsch gesehene allmähliche Vergesellschaftung des Handwerks gegenüber der geschlossenen Hauswirtschaft und einen durch den vermehrten Austausch des Überflusses sich bildenden Marktverkehr; und nicht zuletzt • auf den von Pirenne unterstellten Entwicklungsverlauf, nach dem rein politische oder ausgenommen subjektive Momente die letzten bzw. letztendlichen Ursachen der Neubildung der Städte des Okzidents waren.“16 Die mittelalterliche Stadt Die mittelalterliche Stadt entfaltete sich im Spannungsbogen zwischen agrarisch-territorial- feudalen und vorbürgerlichen Herrschafts- und Lebensformen. In diesen bestimmten zuerst kaufmännische, später handwerkliche, dann, mit den entsprechenden technologischen Möglichkeiten, zunehmend manufakturelle und schließlich industrielle Ordnungen das Gesellschaftsbild. Signifikante strukturgebende Bedeutung jedoch hatte im Mittelalter der Feudalismus als Form der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ordnung, in der eine adlige Oberschicht vom Herrscher lehnsrechtlich mit Grundherrschaft und politischen, militärischen, verwaltungsmäßigen, richterlichen und gesellschaftlichen Vorrechten ausgestattet war.17 Basis der agrarisch-feudalen Herrschaftsordnung war die Beherrschung der Produktionsverhältnisse durch die Inbesitznahme des Produktionsmittels ‚Grund und Boden’. Hierdurch brachte der Feudaladel die Bauern in Abhängigkeiten wie Leibeigenschaft und Frondienste: „Grundlage dieser Gesellschaftsformation sind die feudalen Produktionsverhältnisse, die durch das Eigentum der Feudalherren (Adel und Geistlichkeit) am damaligen Hauptproduktionsmittel, dem Boden, und durch das beschränkte Eigentum der Feudalherren an den unmittelbaren Produzenten, den hörigen bzw. leibeigenen Bauern, charakterisiert werden. In der Form der Arbeitsrente (Frondienst), der Produktenrente oder der Geldrente eignete sich die Klasse der Feudalherren mit Hilfe außerökonomischen Zwanges das Mehrprodukt der Arbeit an, die die hörigen bzw. leibeigenen Bauern auf den ihnen zur Nutzung von den Feudalherren übergebenen Bodenanteilen leisteten. (...) Die politische Struktur der Feudalgesellschaft wird durch die hierarchischen Über- und Unterordnungsverhältnisse der Feudalherren gekennzeichnet, die den einzelnen Feudalherren in ihrem Herrschaftsbereich weitgehend staatliche Befugnisse gewährleisteten, die jedoch zugleich zum Gehorsam gegenüber ihrem übergeordneten Lehnsherren verpflichteten, dessen Vasallen sie waren.“18 Im frühen Mittelalter lässt sich allgemein eine kontinuierliche Ertragssteigerung in der agrarischen Produktion feststellen, die ein Aufblühen der gewerblichen Produktion nach sich zog. Änderungen der Produktionsmethoden verwandeln auch die Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen. Die geschlossene feudale Hauswirtschaft des „tauschlosen Oikos“ wird zunehmend durch die Vergesellschaftung des Handwerkes und den wachsenden Warenaustausch bestimmt, die ca. im 11. Jahrhundert zur Entfaltung des Marktprinzips 16 Schmals, Klaus M.(2001): a.a.O., S. 9, zit. nach: Kofler, L.: a.a.O., S. 22 f. 17 Der Feudalstaat war besonders im späten Mittelalter die auf der Grundlage des Lehnswesens ausgebildete Staatsform, die Vorstufe des späteren Ständestaats. Im Absolutismus wurden die Privilegien und Zuständigkeiten der Feudalherren durch die monarchische Souveränität und die aufkommende Bürokratie verdrängt. Das wirtschaftlich-soziale Feudalsystem dauerte jedoch oft noch lange an. In der Geschichtsphilosophie des Marxismus steht der Feudalismus als Entwicklungsstufe zwischen der antiken Sklavenhaltergesellschaft und dem von der Bourgeoisie getragenen Kapitalismus. 18 Klaus, G.; Buhr, M. (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. Leipzig 1971: S. 366 16 führten. Die gewerbliche Produktionssteigerung weckte zwangsläufig neuen Bedarf. Effektiv produzierte Waren wurden nicht mehr nur zwischen den Produzenten (womöglich nur in einer Stadt) ausgetauscht. Eine bestimmte Entwicklungshöhe in der Arbeitsteilung zwischen der agrarischen und gewerblichen Produktion und der daraus entstandenen Austauschverhältnisse wird zu einem entscheidenden Charaktermerkmal für „Stadt“.19 Markt entwickelt sich zur wichtigsten Funktion der Stadt, er ermöglichte den erforderlichen Warenaustausch zwischen der agrarischen Produktion, dem Handwerk der Stadt und dem Fernhandel. Der Handlungstheoretiker und verstehende Soziologe Max Weber definiert Stadt folgendermaßen: „Wir wollen von Stadt im ökonomischen Sinn erst da sprechen, wo die ortsansässige Bevölkerung einen ökonomisch wesentlichen Teil durch ihres Alltagsbedarfes auf dem örtlichen Markt befriedigt, und zwar zu einem wesentlichen Teil Erzeugnisse, welche die ortsansässige und die Bevölkerung des nächsten Umlandes für den Absatz auf dem Markt erzeugt oder sonst erworben hat.“20 Allmählich entstand eine Disparität zwischen Land und Stadt. Geschäftige Handelsleute vermochten sich durch die erheblichen Gewinne aus dem Fernhandel quasi von den Feudalherren „freizukaufen“. Gewerbliche Produktion mit angeregtem Handel fand die Zustimmung der Feudalherren, weil durch diese Tätigkeit ihre ständig steigenden Haushaltsausgaben gedeckt werden konnten. An die Handelsleute und Handwerker verliehene Privilegien brachten den Machthabern zunächst höhere Einkommen und sicherten die feudalen Macht- und Herrschaftsstrukturen kurz- bis mittelfristig ab. In Etappen verschoben sich die Machtverhältnisse zugunsten der Städte, die zu gesellschaftlichen Zentren der Macht emporstiegen. Schließlich gingen die Städte zur Erhaltung ihrer Machtinteressen auch Bündnisse gegen den territorialen Feudaladel ein, da durch den Handel die Ergebnisse gegenüber der Produktion erheblich gesteigert werden konnten. Die Umwälzung der Produktivkräfte, die Einführung der Geldwirtschaft und die Ablösung der traditionellen, geschlossenen Lebensformen durch rationale Weltbilder brachten ab dem 12. Jahrhundert wesentliche Veränderungsimpulse im Spannungsverhältnis zwischen den in Konkurrenz stehenden Städten und den Feudaladligen.21 Max Weber hat die Vielfalt der mittelalterlichen Städte auf dem Weg zur Entfaltung der kapitalistisch-industriellen Gesellschaft analysiert und zu Idealtypen zusammengefasst. Er beschrieb Produzenten- und Konsumentenstädte (Fürstenstädte, Rentnerstädte, Händler- und Gewerbestädte, Pensionsstädte), Ackerbürgerstädte, Garnisonsstädte, etc. Entsprechend der hervorstechenden Merkmale und Funktionen erhielten die Städte ihre Prägung und ihre Machtstellung im gesellschaftlichen System. Zunächst ergaben sich auch Mischformen, insbesondere im Übergang vom traditionellen grundherrlichen oder fürstlichen Oikos zur Marktansiedlung: „Es ist ursprünglich durchaus das Normale, dass die Stadt, wo sie überhaupt als ein vom Lande unterschiedenes Gebilde auftritt, sowohl Grundherren- oder Fürstensitz wie Marktort ist, ökonomische Mittelpunkte beider Art – Oikos und Markt – nebeneinander besitzt, und es ist häufig, dass neben dem regelmäßigen Lokalmarkt 19 Vgl.: Kofler, L.: Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Darmstadt und Neuwied 1976, S. 24 20 Weber, Max: Die nichtlegitime Herrschaft. Typologie der Städte. In: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1972, S. 727 21 vgl. Schmals, Klaus M. (1983): a.a.O., S .16 17 Fernmärkte zureisender Händler im Ort periodisch stattfinden. Aber die Stadt (im hier gebrauchten Sinn des Worts) ist Marktansiedelung.“22 Der Soziologe und Volkswirtschaftler W. Sombart prägte „parallel“ hierzu den synthetischen Stadtbegriff. Er definiert Stadt aus ökonomischer Sicht als „eine Ansiedlung von Menschen, die für ihren Unterhalt auf die Erzeugnisse fremder landwirtschaftlicher Arbeit angewiesen ist“23 und aus soziologischer Perspektive als „eine Siedlung, in der sich die Einwohner nicht mehr untereinander kennen.“24 Die traditionelle, geschlossene Oikos-Struktur wechselseitiger Abhängigkeiten, die quasi eine „Gesellschaft im Kleinen“ darstellte, verändert sich zu eher anonymen Nachbarschaften der städtischen Besiedlungsformen25. Diese „Herauslösung“ könnte man als ersten Schritt einer Individualisierungstendenz in der Gesellschaft werten. Zwischen städtischen und ländlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsformen entwickelt sich eine Disparität. Der städtische Markt für landwirtschaftliche und nicht landwirtschaftliche Produzenten und Händler bildet das tauschwirtschaftliche Gegenbild zum nach Innen geschlossenen System des Herrenhofes, der im Oikos vereinigten Wirtschaften. Genau in dieser beschriebenen Polarität sucht sich die Stadt des Mittelalters ihre Identität. Ländliche und städtische Lebensformen unterscheiden sich deutlich durch die normativen Einbindungen des Subjekts. K. M. Schmals hat die Wesenszüge und Attribute der feudalen Lebensform und der protobürgerlichen Gesellschaft folgendermaßen charakterisiert: „Bestimmungsmerkmale agrarischer, feudalistischer Lebensverhältnisse waren Blutsverwandtschaft und Bodenzentriertheit, Leibeigenschaft, Frondienst und Sippschaftsloyalität der Familien und Dorfgemeinschaften sowie die Gliederung dieser Gesellschaftsteile in geschlossene Lebenswelten mit abgestuften Souveränitäten und Solidaritätsgefühlen. Sie wiesen den Einzelnen als Glied feudaler Schutzgemeinschaften aus und sorgten so für soziale Kohäsion (inneren Zusammenhalt). Merkmalsdimensionen der vorbürgerlichen Stadt waren der ‚christliche Treueschwur’, die ‚Verbrüderung’ der Mitglieder einzelner Stände, der ‚Verbandscharakter’ und die ‚anstaltsmäßige Vergesellschaftung’ ihrer Mitglieder. Der Stadtbürger wurde zum ‚ständischen Rechtsgenossen’. An die Stelle ‚geschlossener religiöser Weltbilder’ trat der konfessionelle Verband der gläubigen Einzelnen, der Subjektivismus.“26 B. Nelson definiert Subjektivismus als Fähigkeit des Menschen, den eigenen Glauben zu erkennen und zu begründen, die Erscheinungen der Natur durch die Prinzipien der 22 Weber, Max: Die nichtlegitime Herrschaft. Typologie der Städte. In: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1972, S. 727 f 23 Sombart, Werner: Städtische Siedlung. Stadt, in: Vierkandt, A. (Hrsg.): Handwörterbuch der Soziologie. Stuttgart 1931. Bd. 4. S. 527-533. 24 Sombart, Werner (1931) ebenda. 25 Der Gedanke der Bekanntschaft findet sich auch bei Weber. Er definiert aus soziologischer Sicht folgendes: „Es würde, soziologisch angesehen, bedeuten: eine Ortschaft, also eine Siedelung in dicht an ein an der grenzenden Häusern, welche eine so umfangreiche zusammenhängende Ansiedelung darstellen, dass die sonst dem Nachbarverband spezifische, persönliche gegenseitige Bekanntschaft der Einwohner miteinander fehlt.“ Weber, Max: Die nichtlegitime Herrschaft. Typologie der Städte. In: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1972, S. 727 26 Schmals, Klaus M. (2001): a.a.O., S. 10 f. 18 Naturphilosophie zu begreifen und zu erklären und für ihre Handlungen und Meinungen rationale Begründungen bereitzustellen.27 Hierdurch waren nun wichtige Etappen auf dem Weg zum rationalen Zeitalter und der bürgerlichen Verstandeskultur und Bewusstseinsstruktur erreicht, die „auf Berechenbarkeit, Exaktheit, Systematisierung, Formalisierung, Disziplinierung und Universalisierung“28 beruht. Handel, Handwerk und Gewerbe blühten auf, Produktionsmittel entwickelten sich weiter, so dass die Städte politisch und ökonomisch immer einflussreicher wurden und ihnen sukzessive eine Loslösung aus der alten feudalen Herrschaftsordnung gelang.29 Sowohl der Kampf um die Vorherrschaft in der Stadt (und teilweise um das sie umgebende Land) als auch die Lösung aus den abhängigen Lehensverhältnissen waren mit erheblichen Konflikten verbunden. Aber es kündigten sich bald auch neue Abhängigkeiten bzw. neue Unterwerfungsprozesse im Verhältnis zwischen Stadt und Land an. Der agrarisch geprägte ländliche Raum geriet, statt ebenfalls Autonomie zu erhalten, in ein Ausbeutungsverhältnis der frühkapitalistischen vorbürgerlichen Stadt. Er wurde erneut abhängig, weil sich das Kapital in der prosperierenden Stadt akkumulierte, was faktisch zu einer Trennung von Kapital und Grundeigentum führte. Karl Marx und Friedrich Engels sehen hierin den „Anfang einer vom Grundeigentum unabhängigen Existenz und Entwicklung des Kapitals, eines Eigentums, das bloß in der Arbeit und im Austausch seine Basis hat“.30 Am Ende des Mittelalters kann man „das Verhältnis von Stadt und Land, von städtischer und höfischer oder von feudalistischer und proto-bürgerlicher Gesellschaft als ein ungleich entwickeltes, aber voneinander abhängiges Verhältnis sehen, in dem die Prinzipien, die durch die städtische Wirtschafts- und Lebensorganisation entfaltet wurden (rationale Betriebsführung, Spezialisierung der Arbeit, auf Austausch zielende Warenproduktion und Entzauberung der Weltbilder), zunehmend den Gang der gesellschaftlichen Entwicklung prägten. (...) Beeinflusst durch die unterschiedlichen Interessenssphären der Kaufleute, der Handwerker, des Patriziats, des Klerus und der Territorialfürsten einerseits, die Entfaltung und Durchsetzung moderner Weltbilder und ‚rationaler’ Herrschaftsformen (wie des Liberalismus, der Aufklärung, des Absolutismus und eines staatlich geprägten Merkantilismus (vgl. A. SMITH 1973)) andererseits, kündigte sich – wenngleich zeitlich und räumlich sehr unterschiedlich – die funktionale Eingliederung der Stadt in zentralistisch organisierte Staatsstrukturen - und somit das vorläufige Ende ihrer wegweisenden Rolle - an: Die freie Stadt war als wirtschaftspolitische Einheit unbeweglich und ineffizient geworden.“31 Sie ging in der vorbürgerlichen Zeit im merkantilistischen und absolutistischen Staat auf, „verkam“ zum Zentrum der Industrieproduktion und der ökonomischen Macht bei 27 Vgl.: Nelson, B.: Der Ursprung der Moderne. Vergleichende Studien zum Zivilisationsprozess. Frankfurt/M. 1977, S. 38, zit. bei Schmals, Klaus M. (1983): a.a.O., S.18 28 Schmals, Klaus M. (1983): a.a.O., S.18 29 Nach Klaus M. Schmals (1983, S. 18) verweist der Zusammenschluss zu Stuben, Innungen, Gilden, Zünften – bereits ab dem frühen 12. Jahrhundert – auf stadtinterne Fronten und Konflikte. Die Bildung von Ratsverfassungen – ab dem 11. und 12. Jahrhundert (als Schwurverbände oder Eidgenossenschaften (vgl. Köln im Jahre 1114)) – lässt aber auch auf Kompromissformen im städtischen Herrschaftskonflikt und auf gemeinsame Einstellungen gegenüber einer feudalen und/oder klerikalen ‚Umwelt’ schließen. 30 Marx, Karl; Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie (MEW Bd.3), Berlin 1969, zit. bei Schmals, Klaus M. (1983): a.a.O., S. 18 f. 31 Schmals, Klaus M. (1983): a.a.O., S. 19 19 gleichzeitigem politischen Machtverlust. „Die Rolle der Stadt wandelte sich vom Subjekt zum Objekt der Geschichte.“32 In (vor)bürgerlichen Gesellschaftsstrukturen entfaltete sich zusehends eine allgemeine, immer stärker werdende Rationalisierung der Lebensprinzipien, die z.B. in einer zweckrationalen Ökonomie mit doppelter Buchführung, exakter Berechenbarkeit sowie der mit ihr verbundenen asketischen Lebensführung erkennbar wurde. Max Webers33 Untersuchungen an der Stadt des Mittelalters sind aber nicht nur historischer, methodologischer und soziologischer Natur. Er verfolgte auch politische Aufklärungsinteressen, indem er die vergangenen Strukturen zu den brennenden Fragestellungen seiner Zeit in Bezug zu setzen versuchte. So machte er auf strukturzersetzende Problemverursacher seiner Zeit aufmerksam, die bereits vorausgegangenen Epochen und Generationen den Untergang beschert hatten: „So sah er den Beginn des 20. Jahrhunderts durch die rigorose Ausweitung bürokratischer Herrschaft, eines unmenschlich gewordenen Kapitalismus, eines ‚vorauszusehenden Despotismus’, einer ‚politischen Spießbürgerei’, gepaart mit ‚sozial reaktionärer Gesinnung’ und ‚politischer Unreife’ geprägt. Zudem erkannte er eine sich ‚breitmachende Sekuritätsmentalität’, eine ‚erbärmliche Ordnungswilligkeit’ und einen ‚feigen Willen zur Ohnmacht’. Vor den Folgen dieser Entwicklung warnend – dabei seine historisch geprägten Arbeiten vorweisend – galt Weber’s geheime Sympathie den Anfängen mittelalterlicher Gemeindeautonomie und Bürgerfreiheit, sie galt den revolutionären Schwurgemeinschaften, die im Kampf mit den bischöflichen Stadtherren das Recht auf Selbstverwaltung ertrotzten.“34 2.3. Max Webers „protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ Max Webers Analysen sind für eine gesellschaftstheoretisch fundierte Stadtsoziologie von besonderer Bedeutung, er befasste sich intensiv mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen und ihren Auswirkungen. „Gesellschaftliche (soziale) Wirklichkeit begriff er als ein ‚kulturelles Gespinst’, das sich der Mensch aus „seinem Konzept von Welt“ webt. Vor diesem Hintergrund war es sein Anliegen, darzulegen, warum sich nur in okzidentalen Gesellschaften die „Idee der Vernunft“ im Wechselverhältnis von materialer und ideeller Kultur (im Wechselwirkungsverhältnis von Ökonomie, Recht, Technik, Lebensführung, Wissenschaft oder Kunst) verwirklichen konnte, ihre volle Entfaltung im industriellen Kapitalismus fand und darüber hinaus zu dem spezifischen Typus von Herrschaft – der totalen Bürokratie, dem „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit“ – führen konnte. Im Rahmen seiner historischen Strukturvergleiche - hier die vorbürgerliche, feudalistisch-agrarische Gesellschaft, dort die bürgerliche, industriell-kapitalistische 32 Schmals, Klaus M. (2001): a.a.O.: S. 12 33 ebenda, S. 35: Für Max Weber war die Stadt des Hochmittelalters aus verschiedenen Gründen interessant. Sie besaß die „Qualität eines anstaltmäßig vergesellschafteten, mit eigenen Organen ausgestatteten Verbandes von Bürgern, die einem besonderen und gemeinsamen Recht unterstanden und in diesem Sinn Rechtsgenossen waren. Die Ausbildung eines rational gesetzten Stadtrechts, der Anstaltcharakter und das Ortsgemeindeprinzip blieb nach seinen Erkenntnissen okzidentalen Gesellschaften vorbehalten. Nur hier verzeichnete er ein Bürgertum im vollen Sinn des Wortes.“ 34 Ebenda; vgl. dazu G. Abramowski, Das Geschichtsbild Max Webers, Stuttgart 1966, S. 115 ff. 20 GeseIlschaft - untersuchte er auch die Veränderung von Handlungsformen und Verhaltensorientierungen. Im Mittelpunkt dieser Interessen standen die Begriffe „Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung“. In sozialen Beziehungsnetzen der „Vergemeinschaftung“ beruht/e soziales Handeln auf subjektiv gefühlter – affektueller oder traditioneller – Zusammengehörigkeit. In sozialen Beziehungsnetzen der „Vergesellschaftung“ beruht/e soziales Handeln auf (zweck-mittel-)rational motiviertem Interessenausgleich oder auf einer ebenso motivierten lnteressenverbindung. (Soziales Handeln ist dabei für Weber jenes, „welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten ‚anderer’ bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.)“.35 Max Webers zentrale Interessen „kreisen um die „innere Wahlverwandtschaft von normativen und materialen Strukturen der Gesellschaft“, um die „religiöse Entzauberung der Welt“ oder um die „Rationalisierung der Lebensführung“. Vor diesem Hintergrund ist für ihn die einmalige Entwicklung des modernen Kapitalismus und dabei wiederum Aufstieg und Fall der städtischen Lebensformen zu erklären.“36 In Max Webers religionssoziologischer Ausarbeitung „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ stellt die protestantische Ethik eine ethisch-religiöse Grundlage eines rationalen Wertesystems dar, welches entscheidende gesellschaftliche Einflüsse hatte, die bis in die heutige Zeit spürbar sind. Mit dieser in der Zeit von 1904 bis 1906 verfassten und 1920, also kurz vor seinem Tod überarbeiteten Schrift, erklärt er vor dem Hintergrund einer asketisch-calvinistischen Lebensführung die Entstehung, Herausbildung und Entwicklung des Kapitalismus. Er konstruierte ein Modell, das die Entstehung der Rationalität und deren pathogene Auswirkungen auf die Menschen nachvollziehbar macht. Und eben diese von zweckrationalem Städtebau ausgehenden psychogenen Reaktionen stellen einen Untersuchungsschwerpunkt in meiner Arbeit dar. Wie führt die „protestantische Ethik“ zum „Geist des Kapitalismus“? Was kann unter dem Geist des Kapitalismus verstanden werden? Max Weber veranschaulicht die beengende Grundhaltung und Lebenseinstellung der protestantischen Ethik durch das folgende Zitat Benjamin Franklins: "Bedenke, dass die Zeit Geld ist; wer täglich zehn Schillinge durch seine Arbeit erwerben könnte und den halben Tag spazieren geht, oder auf seinem Zimmer faulenzt, der darf, auch wenn er nur sechs Pence für sein Vergnügen ausgibt, nicht dies allein berechnen, er hat neben dem noch fünf Schillinge ausgegeben oder vielmehr weggeworfen. Bedenke, dass Kredit Geld ist. Lässt jemand sein Geld, nachdem es zahlbar ist, bei mir stehen, so schenkt er mir die Interessen oder so viel, als ich während dieser Zeit damit anfangen kann. Dies beläuft sich auf eine beträchtliche Summe, wenn ein Mann guten und großen Kredit hat und guten Gebrauch davon macht. Bedenke, dass Geld von einer zeugungskräftigen und fruchtbaren Natur ist. Geld kann Geld erzeugen, und die Sprösslinge können noch mehr erzeugen und so fort. Fünf Schillinge umgeschlagen sind sechs, wieder umgetrieben sieben Schilling drei Pence und so fort, bis es hundert Pfund Sterling sind. Je mehr davon vorhanden ist, desto mehr erzeugt das Geld beim Umschlag, so dass der Nutzen schneller und immer schneller steigt. Wer ein Mutterschwein tötet, vernichtet dessen ganze Nachkommenschaft bis ins tausendste Glied. Wer ein 35 Schmals, Klaus M. (2001): a.a.O., S. 30 f. 36 ebenda, S. 31 21 Fünfschillingstück umbringt, mordet (!) alles, was damit hätte produziert werden können: ganze Kolonnen von Pfunden Sterling. Bedenke, dass - nach dem Sprichwort - ein guter Zahler der Herr von jedermanns Beutel ist. Wer dafür bekannt ist, pünktlich zur versprochenen Zeit zu zahlen, der kann zu jeder Zeit alles Geld entlehnen, was seine Freunde gerade nicht brauchen. Dies ist bisweilen von großem Nutzen. Neben Fleiß und Mäßigkeit trägt nichts so sehr dazu bei, einen jungen Mann in der Welt vorwärts zu bringen, als Pünktlichkeit und Gerechtigkeit bei allen seinen Geschäften. Deshalb behalte niemals erborgtes Geld eine Stunde länger, als du versprachst, damit nicht der Ärger darüber deines Freundes Börse dir auf immer verschließe. Die unbedeutendsten Handlungen, die den Kredit eines Mannes beeinflussen, müssen von ihm beachtet werden. Der Schlag deines Hammers, den dein Gläubiger um 5 Uhr morgens oder um 8 Uhr abends vernimmt, stellt ihn auf sechs Monate zufrieden; sieht er dich aber am Billardtisch oder hört er deine Stimme im Wirtshause, wenn du bei der Arbeit sein solltest, so lässt er dich am nächsten Morgen um die Zahlung mahnen, und fordert sein Geld, bevor du es zur Verfügung hast. Außerdem zeigt dies, dass du ein Gedächtnis für deine Schulden hast, es läßt dich als einen ebenso sorgfältigen wie ehrlichen Mann erscheinen und das vermehrt deinen Kredit. Hüte dich, dass du alles, was du besitzest, für dein Eigentum hältst und demgemäss lebst. In diese Täuschung geraten viele Leute, die Kredit haben. Um dies zu verhüten, halte eine genaue Rechnung über deine Ausgaben und dein Einkommen. Machst du dir die Mühe, einmal auf die Einzelheiten zu achten, so hat das folgende gute Wirkung: du entdeckst, was für wunderbar kleine Ausgaben zu großen Summen anschwellen, und du wirst bemerken, was hätte gespart werden können und was in Zukunft gespart werden kann (...). Für 6 £ jährlich kannst du den Gebrauch von 100 £ haben, vorausgesetzt, dass du ein Mann von bekannter Klugheit und Ehrlichkeit bist. Wer täglich einen Groschen nutzlos ausgibt, gibt an 6 £ jährlich nutzlos aus, und das ist der Preis für den Gebrauch von 100 £. Wer täglich einen Teil seiner Zeit zum Werte eines Groschens verschwendet (und das mögen nur ein paar Minuten sein), verliert, einen Tag in den andern gerechnet, das Vorrecht, 100 £ jährlich zu gebrauchen. Wer nutzlos Zeit im Wert von 5 Schillingen vergeudet, verliert 5 Schillinge und könnte ebenso gut 5 Schillinge ins Meer werfen. Wer 5 Schillinge verliert, verliert nicht nur die Summe, sondern alles, was damit bei Verwendung im Gewerbe hätte verdient werden können, - was, wenn ein junger Mann ein höheres Alter erreicht, zu einer ganz bedeutenden Summe aufläuft."37 Das höchste Ziel, die Tugend dieser Ethik, ist die Nützlichkeit und Sparsamkeit. Es darf keine Zeit „vergeudet“, kein Geld „verschwendet werden“, jedes Quentchen Materie steht in der bedingungslosen Verpflichtung, genutzt und vermehrt zu werden. Es geht um den „Erwerb von Geld und immer mehr Geld unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens, (...) so rein als Selbstzweck gedacht, dass es als etwas gegenüber dem »Glück« oder dem »Nutzen« des einzelnen Individuums jedenfalls gänzlich Transzendentes und schlechthin Irrationales erscheint. Der Mensch ist auf das Erwerben als Zweck seines Lebens, nicht mehr das Erwerben auf den Menschen als Mittel zum Zweck der Befriedigung seiner materiellen Lebensbedürfnisse bezogen.“38 37 Benjamin Franklin: Der Schlusspassus aus: Necessary hints to those that would be rich. (geschrieben 1736), das Übrige aus: Advice to a young tradesman (1748), Works, ed. Sparks (Chicago 1882), Vol. II p. 80-89.; zit. bei: Weber Max: Die protestantische Ethik. Herausgegeben von Johannes Winckelmann. Eine Aufsatzsammlung. 9. Aufl., Gütersloh 2000, S. 40 38 Weber, Max: Die protestantische Ethik. Herausgegeben von Johannes Winckelmann. Eine Aufsatzsammlung. 9. Aufl., Gütersloh 2000, S. 40 22 Im asketischen Weltbild der protestantischen Ethik erscheint es unvorstellbar, dass das Leben auch der Befriedigung der Bedürfnisse des Menschen dienen kann. Daher wird auch der Städtebaus der Moderne, der dieses gesellschaftliche System widerspiegelt, zwangsläufig asketisch, spartanisch, nüchtern-rational. Welche Möglichkeiten der Anpassung an diese Umwelt hat ein Subjekt, das in diesem rational-kapitalistischen System sozialisiert wird? Weber sagt hierzu: „Die heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung ist ein ungeheurer Kosmos, in den der Einzelne hineingeboren wird und der für ihn, wenigstens als Einzelner, als faktisch unabänderliches Gehäuse gegeben ist, in dem er zu leben hat. Er zwingt dem Einzelnen, soweit er in den Zusammenhang des Marktes verflochten ist, die Normen seines wirtschaftlichen Handelns auf. Der Fabrikant, welcher diesen Normen dauernd entgegenhandelt, wird ökonomisch ebenso unfehlbar eliminiert, wie der Arbeiter, der sich ihnen nicht anpassen kann oder will, als Arbeitsloser auf die Straße gesetzt wird. Der heutige, zur Herrschaft im Wirtschaftsleben gelangte Kapitalismus also erzieht und schafft sich im Wege der ökonomischen Auslese die Wirtschaftssubjekte - Unternehmer und Arbeiter -, deren er bedarf. Allein gerade hier kann man die Schranken des »Auslese«- Begriffes als Mittel der Erklärung historischer Erscheinungen mit Händen greifen. Damit jene der Eigenart des Kapitalismus angepasste Art der Lebensführung und Berufsauffassung »ausgelesen« werden, d. h.: über andere den Sieg davontragen konnte, musste sie offenbar zunächst entstanden sein, und zwar nicht in einzelnen isolierten Individuen, sondern als eine Anschauungsweise, die von Menschengruppen getragen wurde. Diese Entstehung ist also das eigentlich zu Erklärende.“39 Sozialisiert wird eine Auffassung vom Sinn des Lebens, welche den Menschen zu Charaktereigenschaften treibt, wie z.B. der absolut zentralen Haltung, sich „der Arbeit gegenüber verpflichtet“ zu fühlen: Hingabe an den Beruf des Geldvermehrens, strenge Wirtschaftlichkeit, kühle Bescheidenheit, nüchterne Selbstbeherrschung und Mäßigkeit. „Würde man sie selbst nach dem Sinn ihres rastlosen Lebens befragen, welches des eigenen Besitzes niemals froh wird (...), so würden sie, falls sie überhaupt eine Antwort wissen, zuweilen antworten, (...) dass ihnen das Geschäft mit seiner steten Arbeit „zum Leben unentbehrlich“ geworden sei. Das ist in der Tat die einzig zutreffende Motivierung, und sie bringt zugleich das, vom persönlichen Glücksstandpunkt aus gesehen, so Irrationale dieser Lebensführung, bei welcher der Mensch für sein Geschäft da ist, nicht umgekehrt, zum Ausdruck.“40 Benjamin Franklin stellt fest, dass er nichts von seinem Reichtum für seine Person habe, - außer: der irrationalen Empfindung guter Berufserfüllung.41 Bereits bei Luther blieb der Berufsbegriff eher traditionalistisch gebunden: „Der Beruf ist das, was der Mensch als göttliche Fügung hinzunehmen hat, worein er sich „zu schicken“ hat: - diese Färbung übertönt den auch vorhandenen anderen Gedanken, dass die Berufsarbeit eine oder vielmehr die von Gott gestellte Aufgabe sei.“42 39 ebenda, S. 45 40 ebenda, S. 59 41 vgl. ebenda, S. 60 42 Weber, Max (2000): a.a.O., S. 72. In der Fn 76 ergänzt Weber hierzu: „In der Kirchenpostille (ErI. Ausg., 10, S. 233, 235/6) heißt es: „Jeder ist in irgend einen Beruf berufen.“ Dieses Berufes (S. 236 heißt es geradezu 23 Die asketische Form des Protestantismus führt Max Weber zum Calvinismus zurück43 und die ihm inhärente Prädestinationslehre, nach der ein Mensch durch Gottes unerforschlichen Ratschluss zu den Auserwählten gehört oder nicht44. Die „Doppelte Prädestinationslehre“ besagt, dass Menschen durch Gottes Gnadenwahl zum ewigen Leben mit ihm bestimmt werden und demzufolge müssen andere durch dieselbe Wahl auf Ewigkeit von ihm getrennt werden. Ist nämlich die Erlösung vorherbestimmt, so muss im Umkehrschluss dasselbe auch für die Verdammnis gelten. Diese irrationale, das Subjekt über Jahrhunderte prägende und determinierende Lebensauffassung ist zwar von neutestamentarischen Schriften abgeleitet, aber erst die Auslegungen des Theologen Augustinus45 begründen im eigentlichen Sinne diese menschenverachtende Ideologie im 5. Jahrhundert, d.h., zu Beginn des frühen Mittelalters. Das Weltbild dieser Prädestinationslehre ist eine von Gott aus gesehene rationale Ordnung, ein „Weltregiment“, das die Güte Gottes ausschaltet 46. Wie verspürt das Individuum, ob es zu den Auserwählten gehört, die Gnade erhalten hat, oder ob es sein weiteres Leben in der Verdammnis fristen muss? Wie war eine solche Glaubenslehre erträglich, die ausschließlich auf das Jenseits und nicht auf die Belange des Diesseits abgestellt war? » Befehl« ) soll er warten und darin Gott dienen. Nicht an der Leistung, sondern an dem darin liegenden Gehorsam hat Gott Freude.“ 43 Calvin beabsichtigte, in seinem Hauptwerk, der „Institutio“, die er zwischen 1536 und 1559 mehrfach überarbeitete, eine auf der Vernunft basierende, an den Artikeln des Apostolischen Glaubensbekenntnisses orientierte biblische Theologie zu entwerfen. Seine Theologie wurzelt in der paulinisch-augustinischen Tradition. Er betonte Gottes uneingeschränkte Herrschaft, das Wesen der Auserwählung und Prädestination, die negativen Konsequenzen von Stolz und Ungehorsam, die Autorität der Bibel und die Bedeutung des christlichen Lebenswandels. Calvin entwickelte eine politische Ethik, bei der durch leistungsorientiertes Engagement versucht werden sollte, begangene Sünden durch gottgefällige Taten zu sühnen. In England, Schottland und den Vereinigten Staaten entwickelte sich aus den Lehren Calvins der sogenannte Puritanismus, der ganz wesentlich das Leistungsdenken der westlichen Welt mitgeprägt hat. 44 Prädestination bezeichnet die Vorherbestimmung des Menschen zur ewigen Seligkeit oder Verdammnis als Gnadenwahl durch Gott; als systematische Lehre baut sie in der christlichen Theologie auf den paulinischen Schriften des Neuen Testaments auf (Römer 8, ÿ 2830, Epheser 1, ÿ 314) und wird durch Augustinus begründet. Das theologische Problem liegt in der Fragestellung, inwieweit die Prädestination als »Ratschluss Gottes« von Ewigkeit her feststeht und ob beziehungsweise inwieweit der Mensch kraft seines (freien) Willens den Glauben wählen und durch sein Handeln an seinem Heil mitwirken kann. Für Augustinus und in seiner Nachfolge die Reformatoren (am stärksten durch Calvin betont) ist die Menschheit in ihrer Gesamtheit durch die Erbsünde unfähig zum Guten. Allein die durch die Gnadenwahl Gottes zum Glauben Berufenen sind zum Heil, die Übrigen zum Unheil prädestiniert (doppelte Prädestination). So sagt Calvin: „Unter Vorsehung verstehen wir Gottes ewige Anordnung, vermöge deren er bei sich beschloss, was nach seinem Willen aus jedem einzelnen Menschen werden sollte! Denn die Menschen werden nicht alle mit der gleichen Bestimmung erschaffen, sondern den einen wird das ewige Leben, den anderen die ewige Verdammnis vorher zugeordnet.“ (Institutio Christianae Religionis 3. 21. 5). Die Auffassungen der katholischen und orthodoxenTheologie, wurzelnd im Prädestinationsverständnis der frühen Kirche, sehen in dem in Jesus Christus offenbarten ewigen Heil das Angebot, das Gott in seiner Liebe jedem Menschen macht und das dieser in Freiheit annehmen oder ablehnen kann. Eine Prädestination zum Unheil wird verworfen. Die lutherische Theologie betont seit der Konkordienformel (1577) im Gegensatz zur reformatorischenTheologie die grundsätzliche Prädestination des Menschen zum Heil. Die Neuformulierung der einfachen Prädestination wurde im 20. Jahrhundert von Karl Barth unternommen. Barth zufolge hat sich Gottes Wille in Jesus Christus offenbart, und durch ihn hat er alle Menschen auserwählt. In dieser Form der Lehre ist die Prädestination praktisch universell, d. h., allen Menschen ist die Erlösung versprochen. 45 Der Theologe Augustinus (354 – 430) entwickelte in der geistigen Auseinandersetzung mit den philosophischen und religiösen Strömungen seiner Zeit seine Lehren von der Erbsünde, der göttlichen Gnade, der göttlichen Souveränität und der Prädestination, die sowohl die katholische Theologie wie auch die Reformation beeinflusste. 46 vgl. Weber, Max (2000), a.a.O.: S. 332: „Er (Gott, Anm. d. Verf.) wird zu einem harten majestätischen König. Sie (die Prädestinationsgnade, Anm. d. Verf.) selbst teilt mit dem Verhängnisglauben die Konsequenz, [zu] Vornehmheit und Härte zu erziehen, obwohl oder vielmehr gerade weil diesem Gott gegenüber die völlige Entwertung aller eigenen Kraft des Einzelnen die Voraussetzung der Errettung allein aus freier Gnade ist.“ 24 „Für Calvin war das kein Problem. Er fühlte sich als „Rüstzeug“ und war seines Gnadenstandes sicher. Demgemäss hat er auf die Frage, wodurch der Einzelne seiner eigenen Erwählung gewiss werden könne, im Grunde genommen nur die Antwort: dass wir uns an der Kenntnis des Beschlusses Gottes und an dem durch den wahren Glauben bewirkten beharrlichen Zutrauen auf Christus genügen lassen sollen. (...) Die Erwählten unterscheiden sich in diesem Leben äußerlich in nichts von den Verworfenen. (...) Es wird einerseits schlechthin zur Pflicht gemacht, sich für erwählt zu halten und jeden Zweifel als Anfechtung des Teufels abzuweisen, da ja mangelnde Selbstgewissheit Folge unzulänglichen Glaubens, also unzulänglicher Wirkung der Gnade sei.“47 Prädestinationsglaube und protestantische Ethik treiben den Gläubigen in eine verhängnisvolle unentrinnbare Sackgasse, da nur Gott „weiß“, wem er die Gnade und Heilsgewissheit zu Teil werden ließ. Erfolg im (beruflichen) Leben zu haben, ist ein sichtbares Zeichen der Gnadenwahl durch Gott, die dem „erwählten“ Individuum auch gleichzeitig die Anerkennung im Diesseits sichert. Der so geprägte, „ferngesteuerte“ Gläubige strengt sich ehrgeizig an, um Erfolg zu haben, da er ja zu den Auserwählten gehören will. Wer sich einer von Gott gegebenen Chance nicht stellt, weigert sich, Gottes Verwalter, Gottes Werkzeug zu sein. Nur indem man als „Gotteswerkzeug“ durch wohlgefälliges Handeln mitwirkt, erhält man „die“ Gnade. Damit trägt Gott und nicht das agierende Individuum die Verantwortung. Diese „scheinbare“ Ethik wird daher zu einem gefährlichen Instrument: Der Mensch handelt auf „Befehl Gottes“48. Sein berufliches und soziales Handeln muss er nicht innerhalb sozial und verantwortungsvoll hinterfragen, sondern er lebt in dem Bewusstsein, durch seine Handlungen ausschließlich den Willen Gottes zu vollstrecken. Das Individuum bleibt einer kindlich abhängigen, ferngesteuerten Erwartungshaltung stecken. Arbeit aus Berufung wird daher oftmals zum göttlich legitimierten Selbstzweck, der bereits zu diesem Zeitpunkt die radikalen Auswüchse kapitalistischen Handelns erahnen lässt. Das Individuum ist zu einem Besitzverwalter Gottes degradiert, der wie ein Buchhalter über jeden Pfennig Rechenschaft ablegen muss49. Denn der „freudlose“ Besitz ist dem Gläubigen lediglich anvertraut, er wird zur rastlosen „Erwerbsmaschine“50, der ein unbefangenes Genießen verboten ist.51 / 52 47 ebenda, S. 127 48 ebenda. S. 169: „Denn für jeden ohne Unterschied hält Gottes Vorsehung einen Beruf (calling) bereit, den er erkennen und in dem er arbeiten soll, und dieser Beruf ist nicht wie im Luthertum eine Schickung, in die man sich zu fügen und mit der man sich zu bescheiden hat, sondern ein Befehl Gottes an den Einzelnen, zu seiner Ehre zu wirken.“ 49 „Der Mensch ist ja nur Verwalter der durch Gottes Gnade ihm zugewendeten Güter, er hat, wie der Knecht der Bibel, von jedem anvertrauten Pfennig Rechenschaft abzulegen, und es ist zum mindestens bedenklich, davon etwas zu verausgaben zu einem Zweck, der nicht Gottes Ruhm, sondern dem eigenen Genuss giIt.“ (Ebenda, S. 178) 50 „Der Gedanke der Verpflichtung des Menschen gegenüber seinem anvertrauten Besitz, dem er sich als dienender Verwalter oder geradezu als »Erwerbsmaschine« unterordnet, legt sich mit seiner erkältenden Schwere auf das Leben. Je größer der Besitz wird, desto schwerer wird – wenn die asketische Lebensstimmung die Probe besteht – das Gefühl der Verantwortung dafür, ihn zu Gottes Ruhm ungeschmälert zu erhalten und durch rastlose Arbeit zu vermehren. Auch die Genesis dieses Lebensstils reicht in einzelnen Wurzeln, wie so viele Bestandteile des modernen kapitalistischen Geistes, in das Mittelalter zurück, aber erst in der Ethik des asketischen Protestantismus fand er seine konsequente ethische Unterlage. Seine Bedeutung für die Entwicklung des Kapitalismus liegt auf der Hand.“ (Ebenda, S. 178) 51 Auch der Genuss an rein ästhetischen oder sportlichen Kulturgütern findet immer eine charakteristische Schranke: Sie müssen kostenlos sein. 52 Weber, Max (2000), a.a.O.: S. 168: „Das sittlich wirklich VerwerfIiche ist nämlich das Ausruhen auf dem Besitz, der Genuss des Reichtums mit seiner Konsequenz von Müßigkeit und Fleischeslust, vor allem der Ablenkung von dem Streben nach »heiligem« Leben. Und nur weil der Besitz die Gefahr dieses Ausruhens mit sich bringt, ist er bedenklich. Denn die „ewige Ruhe der Heiligen“ liegt im Jenseits, auf Erden aber muss 25 Besitz darf nicht, psychoanalytisch formuliert, zum libidinös besetzten Objekt werden. „Die innerweltliche protestantische Askese – so können wir das bisher Gesagte wohl zusammenfassen – wirkte also mit voller Wucht gegen den unbefangenen Genuss des Besitzes, sie schnürte die Konsumtion, speziell die Luxuskonsumtion, ein. Dagegen entlastete sie im psychologischen Effekt den Gütererwerb von den Hemmungen der traditionalistischen Ethik, sie sprengte die Fesseln des Gewinnstrebens, indem sie es nicht nur legalisierte, sondern (in dem dargestellten Sinn) direkt als gottgewollt ansah. Der Kampf gegen Fleischeslust und das Hängen an äußeren Gütern war, wie neben den Puritanern auch der große Apologet des Quäkertums, Barclay, ausdrücklich bezeugt, kein Kampf gegen rationalen Erwerb, sondern gegen irrationale Verwendung des Besitzes.“53 Durch die zunächst ethisch-religiös geprägte und legitimierte Rechtfertigung kapitalistischer Produktions- und Ausbeutungsmethoden legt nahe, dass jeder nur an seinem individuellen Gewinn und Erfolg interessiert sein kann. Nach Klaus M. Schmals löste „diese Kopplung von Ethik mit den Bestimmungsfaktoren kapitalistischer Produktion eine kapitalistische Akkumulation an Produktionsmitteln – insbesondere in den Städten – im großen Maßstab aus54. Erwerben – innerhalb höchstmöglicher Expansion – wurde vielerorten Selbstzweck des Lebens und so – wie z.B. in Wuppertal – zur kollektiven Wertorientierung kapitalistischer (Stadt-) Gesellschaften. Mithin wurde für den sich langsam entwickelnden Berufs- oder besser Wirtschaftsmenschen „auch Planung, planendes Handeln oder Formen rationalen Gestaltens zum Antrieb, zur methodischen Kontrolle seines Gnadenstandes in der Lebensführung, zum unverzichtbaren, ethischen Lebensinhalt und später zur materiellen Notwendigkeit. (...) Dieser antizipierte Verzicht auf unbefangenes Genießen des Daseins brachte in der Konsequenz auch eine Entsagung an den direkten Schmuck der Person, der intimen, privaten und öffentlichen Umwelt. Max Weber sah hier die Ursache für die Uniformierung unserer Lebensstile, welche dem kapitalistischen Interesse an der Standardisierung der Produktion leichtes Spiel machten.“55 Max Weber zeigt in seinem Werk eine historisch-fußende, normativ–ethische Entwicklungslinie auf dem Weg in die Rationalität der Neuzeit und Moderne auf, die die Entstehung und Entfaltung der protobürgerlichen Stadt und der bürgerlichen Gesellschaft fundiert beschreibt. Diese Wahlverwandtschaft zwischen „dem Geist des Kapitalismus“ und der normativen „protestantischen Ethik“ überwandt sich jedoch irgendwann im fortschreitenden gesellschaftlichen Prozess selbst. Entweder konnten ihre ethischen Grundannahmen nicht mehr eingehalten werden oder ihre irrationalen Voraussetzungen fielen in Form einer Entlarvung dem Prinzip des rationalen, wissenschaftlich analytischen Denkens zum Opfer. auch der Mensch, um seines Gnadenstandes sicher zu werden, „wirken die Werke dessen, der ihn gesandt hat, solange es Tag ist“. Nicht Muße und Genuss, sondern nur Handeln dient nach dem unzweideutig geoffenbarten Willen Gottes zur Mehrung seines Ruhms. Zeitvergeudung ist also die erste und prinzipiell schwerste aller Sünden. Die Zeitspanne des Lebens ist unendlich kurz und kostbar, um die eigene Berufung „festzumachen“. Zeitverlust durch Geselligkeit, „faules Gerede“, Luxus, selbst durch mehr als der Gesundheit nötigen Schlaf – 6 bis höchstens 8 Stunden – ist sittlich absolut verwerfIich.“ 53 Ebenda, S. 179 54 vgl. dazu auch Conrad, W.; Streeck,W.: Elementare Soziologie. Reinbek bei Hamburg 1976, S. 176 ff. 55 Schmals, Klaus M. (2001): a.a.O., S. 33 26 Klaus M. Schmals spricht in diesem Zusammenhang von einer „schrittweisen Sinnentleerung unserer Alltagswelt“: „Je unüberschaubarer der materielle Reichtum einzelner Wirtschaftssubjekte und damit auch ihre Machtfülle wurde (der ethische Zweck des Wirtschaftens geriet in Vergessenheit), desto schwieriger wurde es für diese Menschen, sich an die Regeln der innerweltlichen Askese zu halten. Mit dem Wachstum des Reichtums ging, so Max Weber, ein Verfall der religiösen, moralischen Rechtfertigung dieses Handlungs- und Verhaltenstypus einher. Da der einzelne Mensch vielerorten die persönliche Herrschaft über die Produktionsprozesse verlor, beutete diese Wirtschaftsform, die sich mehr und mehr „von selbst“ steuerte, das Individuum endlich hemmungslos aus. Die Prinzipien der innerweltlichen Askese, der rationalen Lebensführung, der Berufsidee - die im heute typischen bürgerlichen, mittelständischen Berufsethos des privaten Erwerbsinteresses aufging, richteten sich alsbald gegen das Individuum und die Gesellschaft. Der siegreiche Kapitalismus - so Max Weber - bedarf - seit er auf mechanischer Grundlage ruht - dieses Geistes, dieser Ethik nicht mehr, er begründete eine - nach technokratischen Vorgaben strukturierte - neue ’soziale Wirklichkeit’ “.56 „In ihrer pathetischen Unmenschlichkeit musste diese Lehre nun für die Stimmung einer Generation (...) vor allem eine Folge haben: „das Gefühl einer unerhörten inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums.“57 Mit dieser unbarmherzigen „schroffen Lehre von der unbedingten und Wertlosigkeit alles rein Kreatürlichen“ geht eine innere Isolierung des Menschen einher, die mit der „absolut negativen Stellung des Puritanismus zu allen sinnlich-gefühlsmäßigen Elementen in der subjektiven Religiösität“ verbunden ist. Körperlich- sinnlich–gefühlsmäßiges Erleben ist in dieser Weltanschauung unangebracht „weil sie für das Heil unnütz und Förderer sentimentaler Illusionen und des kreaturvergötternden Aberglaubens sind.“58 In dieser Entwicklungslinie wird erkennbar, „dass der „Geist des Kapitalismus“ in seiner Aushöhlung als „Geist der Berechenbarkeit“, der „technischen Sachlichkeit“, der „ökonomischen Buchführung“, der „Fachmenschen ohne Geist“, der „Genussmenschen ohne Herz“, als „Prozess der mechanischen Versteinerung“, die Herrschaft über sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Lebensverhältnisse angetreten hat. Er wurde zum Wegbereiter und Statthalter des „modernen Kapitalismus“59. Klaus M. Schmals beschreibt in seinem Modell der „Dualisierung der Welt“, wie mit Beginn der Neuzeit die Aufspaltung von Körper und Geist in zwei relativ getrennte Welten erfolgte. Die mit der protestantischen Ethik verknüpfte innerweltliche Askese lehnte nicht nur in ihrer rationalen Überbetonung materiellen Genuss, sondern auch Körperlichkeit und Gefühl ab. Die Okzidentale Kultur orientiert sich folglich an naturwissenschaftlich-mathematisch- rationalen Grundprinzipien. Die Dualisierung von Körper und Geist, aus der die „protestantische“ Überwertigkeit des Geistes und die asketische Genussverweigerung, die Minderbedeutung des Körpers hervorgeht, zeigt sich in der Familienmaxime einer mir persönlich bekannten traditionell- protestantischen Familie, die über Generationen viele Pfarrer („Geistliche“) und Akademiker 56 Schmals, Klaus M. (2001): a.a.O., S. 34 57 Weber, Max (2000), a.a.O.: S. 122 f. 58 vgl. ebenda, S. 123 59 Schmals, Klaus M. (2001): a.a.O., S. 34 27 hervorbrachte: „Mit der Bildung über dem Stand, mit der Kleidung mit dem Stand, mit dem Essen unter dem Stand.“ Abb. 2: Die Dualisierung der Welt Quelle: Klaus M. Schmals, unveröffentlicht Der französische Philosoph, Mathematiker und Physiker Rene Descartes (1596 - 1650), der als erster systematischer Denker der Neuzeit gilt, hat die Spaltung von Geist und Körper durch seine Theorie des metaphysischen Dualismus beschrieben. Er unterscheidet zwei Substanzen: „Res extensa“ (Ausdehnung, Körper, Außenwelt) und „Res cogitans“ (Geist, Innenwelt). Retrospektiv kann man zusammenfassen, dass sich die scheinbar perfekt verstandesmäßig gesteuerte Zweck-Rationalitäts-Gesellschaft aus einem Konglomerat von Irrationalitäten entfaltete. Die Methoden der protestantischen Ethik sind aus psychoanalytischer Sicht als Zwanghaftigkeit zu bezeichnen. Der Geist der kapitalistischen Zweck-Mittel-Rationalität zieht sich wie ein roter Faden bis in unsere heutige Zeit hindurch: Als Resultat entstand „eine Gesellschaft, der die Sinnbezüge ihrer Existenz - im Entzauberungsprozess ihrer Lebenswelt - verlorengegangen sind.“60 2.4. Die Entfaltung der Stadt zwischen Neuzeit, Moderne und Postmoderne Mit der historischen Entwicklung der Stadt zwischen Neuzeit, Moderne und Postmoderne und ihren gesellschaftlichen Wandlungsprozessen haben sich verschiedene 60 Schmals, Klaus M. (2001): a.a.O., S. 34 28 wissenschaftliche Theorien und Konzepte auseinandersgesetzt, wie u.a. das „Modell der Langen Wellen“ von Kondratieff, die „Postmoderne Sozialstruktur“ von S. Hradil, J. Habermas’ Überlegungen im „unvollendeten Projekt der Moderne“ und das epochaltypische, philosophische Konzept von Wolfgang Welsch der „postmodernen Moderne“, auf das ich mich im Weiteren beziehen werde. Abb. 3.: Neuzeit - Moderne – Postmoderne. Quelle: Schmals, Klaus M., Vorlesungsmanuskripte (unveröffentlicht); mit Bezug auf: Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne, 1991 In seiner Arbeit „Unsere postmoderne Moderne“ entwickelt Wolfgang Welsch eine neuartige Verklammerung von Neuzeit, Moderne und Postmoderne, die zu dem Entschluss kommt, dass wir uns von den großen epochalen Einheiten „verabschieden“ müssten. So rekonstruiert er die Moderne aus einem Blickwinkel, der sich aus den kritischen Erfahrungen mit dieser Epoche ergeben hat und zugleich einen Teil unseres heutigen Selbstverständnisses widerspiegelt.61 „Es gilt, zwischen neuzeitlicher Moderne und radikaler Moderne zu unterscheiden. Die erstere setzt die Neuzeit fort, an die letztere knüpft die Postmoderne an.“62 Welche epochalen und gesellschaftlichen Zusammenhänge lassen sich nun nach Wolfgang Welsch für die einzelnen Epochen herausarbeiten? 2.4.1. Die Neuzeit Der historische Einschnitt der Neuzeit lässt sich als Zäsur zu allem Vorausgegangenen „weitgehend einhellig“ bei R. Descartes festmachen.63 G.W.F. Hegel beginnt mit R. 61 vgl.: Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne. VCH, Acta Humaniora, Weinheim 1987, S. 65 f. 62 ebenda, S. 66 63 ebenda, S. 68 29 Descartes64 durch das Prinzip der Selbstgewissheit, das Prinzip des von sich ausgehenden Denkens65, eine Entwicklungslinie, die zum Idealismus führt. „Für uns Heutige hingegen beginnt mit Descartes etwas ganz anderes: die exakte Wissenschaft, die Mathesis universalis, die systematische Weltbeherrschung, die wissenschaftlich-technische Zivilisation – also die zu uns führende Linie. (...) Descartes’ Gründungstat betrifft nicht bloß einen spezifischen Wissenstypus, sondern das Ganze der wissenschaftlich-technischen Welt.“66 Mit R. Descartes beginnt das Prinzip der Vernunft, die zur Herrschaft gelangt, die einseitige Überbetonung der Geistesfähigkeiten, welche gem. Klaus M. Schmals zu einer Dualisierung der Welt geführt hat. Die Einseitigkeit des Denkens bei gleichzeitiger Vermeidung anderer Einstellungen und Funktionen kommt auch in dem Hinweis Bacons zum Ausdruck, dass die Arbeit „wie durch Maschinen zu bewerkstelligen sei.“67 Während G.W.F. Hegel bei R. Descartes noch emphatisch oder vielleicht auch euphorisch den Beginn der Selbstexplikation des Geistes begrüßte, so bemerkt Wolfgang Welsch kritisch, „wir konstatieren eher ernüchtert den Anfang vom möglichen Ende.“68 Mit dem Aufbruch in die Neuzeit herrscht eine Aufbruchstimmung, ein Pathos des radikalen Neuanfanges. „Ausschlaggebend ist nicht, dass jetzt Neues entsteht. Ausschlaggebend ist, dass jetzt der Entschluss besteht, radikal neu anzufangen. Dies bildet ein Grundpathos der Neuzeit. Bacon schreibt ein Novum organum, weil das alte, das aristotelische, so wenig taugt, dass man es nicht verbessern, sondern nur ersetzen kann.69 Rene Descartes sagt, dass er alles von Grund auf umstoßen und von den ersten Grundlagen an neu beginnen müsse.70 Es geht nicht um Reform und Erneuerung und schon gar nicht um bloße Wiederbelebung, sondern um einen radikalen Neuanfang.“71 Altes kann nicht restauriert oder optimiert werden, sondern muss in undifferenzierter Sichtweise ersetzt oder abgerissen werden. Die Zeitströmung vollzieht damit einen äußerst extremen und scheinbar unreflektierten Wertewandel. Es erscheint mir zunächst sehr widersprüchlich, dass gerade das Zeitalter des Geistes, der Vernunft, der Ratio auf einer zumeist unreflektierten, undifferenzierten Ausgangsbasis fußen soll, die eher den Anschein von spontanem, emotionalem und triebgesteuertem Verhalten erweckt. Der kategorische Gedanke, dass das überlieferte Wissen „im Ganzen"72 falsch ist, ruft nach einem „radikalen Neuansatz und einer darauf aufbauenden einheitlich-systematischen Neuerrichtung von allem“73, die natürlich weder vor der Gesellschaft noch vor ihrem Spiegelbild, der Stadt, dem hier zu untersuchenden Gegenstand, Halt machen kann. 64 Der Philosoph, Mathematiker und Physiker Rene Descartes (1596 – 1650) wird aufgrund des Gesamtaufbaus eines Systems und seiner Naturauffassung als erster systematischer Denker der Neuzeit beurteilt. Als einzige Gewissheit gilt ihm die durch methodischen Zweifel gewonnene Einsicht des »cogito ergo sum« (»ich denke, also bin ich«), das heißt die Selbstgewissheit und Selbstständigkeit im Denken. 65 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, III, Werke Bd. 20 Frankfurt a. M. 1971, S. 120: „In dieser neuen Periode ist das Prinzip das Denken, das von sich ausgehende Denken.“ 66 Welsch, Wolfgang: a.a.O., S. 70 67 Bacon’s Novum Organum, ed. with introd., notes etc. by Thomas Fowler, Oxford 21889, 186., zit. bei: Welsch, Wolfgang: a.a.O., S. 70 68 ebenda 69 Bacon, a.a.O., S. 186 70 vgl.: Rene Descartes: Meditationes de prima philosophia, Oeuvres, VII, 17. 71 Welsch, Wolfgang: a.a.O., S. 70 f. 72 Welsch, Wolfgang: a.a.O., S. 71 73 ebenda 30 Rene Descartes hat dies in einem bemerkenswerten Vergleich ausgedrückt74, der als ‚pars pro toto’ das Weltbild dieser Aufbruchstimmung symbolisch versinnbildlicht: „In den alten Städten, die ohne Gesamtplan einfach historisch gewachsen sind, passen die Häuser nicht zusammen. Es mag zwar sein, dass einzelne dieser Häuser sehr schön sind, aber insgesamt ist alles unkoordiniertes Winkelwerk. Demgegenüber preist Descartes die Neuschöpfung eines Ingenieurs, der auf freier Fläche nach einheitlichem Entwurf alles völlig neu und regelmäßig errichtet. Man kann das Alte nicht verbessern, man muss es abreißen und neu bauen – so die Moral des Vergleichs. Oder - in Descartes’ taktisch zurückhaltenderen Worten: „Man wird wohl einsehen, dass es schwierig ist, etwas wirklich Vollkommenes zu schaffen, wenn man nur an fremden Werken herumarbeitet. Uns erinnert die Stadt-Metapher heute fatal an die Eintönigkeit reißbrettkonstruierter Trabantenstädte oder an Le Corbusiers Plan eines Abrisses und Neubaus von Paris und damit an etwas, was zu schlechter Letzt aus dem Cartesischen Neuzeit-Projekt geworden ist. Bei Descartes ging es freilich vorerst nur – aber immerhin – um die Neuerrichtung von Wissenschaft. Diese, so will er uns sagen, kann nicht durch Korrekturen hier und da, sondern nur durch radikalen Neubeginn und systematischen Neuaufbau erfolgen.“75 Die neuzeitliche Philosophie wird neben „Radikalität“ auch durch „Universalität“ charakterisierbar. Nichts in diesem System darf unverändert bleiben, alles muss neu aufgebaut werden. Die Mathesis unversalis R. Descartes’ wird zur allumfassenden Methode für alle Wissensgebiete: „Man kann insgesamt sagen, dass die Neuzeit im gleichen Maß, in dem sie radikal neu ansetzt, auch unerbittlich vereinheitlichend, universalisierend, totalisierend ist. Beide Charakteristika – sowohl die Radikalität wie die Universalität – sind offensichtlich „technischen“ Geistes. Sie sind von einem Pathos und Drang zur Strukturierung und Zurichtung getragen und kennen weder innere noch äußere Grenzen. So weisen sie noch einmal auf den grundlegend technischen Zug dieser Neuzeit hin, die wir heute als die Epoche der wissenschaftlich-technischen Welt begreifen.“76 2.4.2. Neuzeit und neuzeitliche Moderne Zur Neuzeit gehört nicht nur die rein technisch-rationale Bewegung, was eine stark vereinfachende Sichtweise wäre, sondern sie beinhaltet, wie jede Epoche, auch Gegenbewegungen. So wird z.B. der italienische Philosoph Giambattista Vico ein heftiger Gegner des Rationalismus Descartes' . Er verfasst seine „Neue Wissenschaft“77 und ist überzeugt, dass sich das Wissen nicht in Form eines permanenten Progresses entwickelt, wie manch Fortschrittsgläubiger nicht nur dieser Epoche meint (auch heutzutage gibt es manch naiven Fortschrittsgläubigen), sondern dass es sich in einem Kreislauf von Werden und Vergehen befindet. 78 74 Descartes, Rene: Discours de la Methode. Oeuvres, VI, S. 11 75 Welsch, Wolfgang: a.a.O., S. 71 76 ebenda, S. 72: Dabei stand für die Gründerväter die Neuheit und Radikalität im Vordergrund. Die Universalität gehörte zu ihren Erwartungen. Der technische Charakter ist erst für uns ausdrücklich geworden. 77 Vico, Giambattista: Principi di una scienza nuova d’intorno alla natura delle nazioni. Neapel 1725 78 Getreu seiner These, dass der Mensch nur erkennen könne, was er selbst gemacht habe, verneinte Vico (1668-1744) die Möglichkeit der Naturerkenntnis, wandte sich der Geschichte zu, da diese vom Menschen gemacht sei. Er wurde der Begründer der Geschichtsphilosophie und der Völkerpsychologie, und er versuchte, einen typischen Kreislauf der Geschichte nachzuweisen mit je einem theokratischen, heroischen und menschlichen Zeitalter in einem Zyklus von Aufstieg, Verfall und ständiger Wiederkehr. 31 Insbesondere das Jahr 1750 wird für Gegenströmungen zu einem Schlüsseljahr. J.J. Rousseaus Abhandlung, die hinterfragt, „ob die Wissenschaften etwas zur Läuterung der Sitten beigetragen haben“79, ist seine Antwort auf eine Preisfrage der Akademie von Dijon. Rene Descartes’ Konstruktionen des „Genius der neuzeitlichen Kultur“ verunglimpft J.J. Rousseau als Scheinwissen und erwähnt sie in seiner Arbeit lediglich in einer einzigen Fußnote. In diesem Jahr erscheint auch die „Aesthetica“ A.G. Baumgartens80, die einem rein berechenbaren, rationalen Weltbild entgegentritt. „Zur Neuzeit im Sinn des Hauptstroms – also der Ausbildung der wissenschaftlich- technischen Zivilisation – gehört auch ein oppositioneller Nebenstrom. Die Neuzeit zeigt eine Doppelfigur von Rationalisierungskur einerseits und Anti-Rationalisierungstherapie andererseits. Zur Neuzeit gehört – formelhaft kurz gesagt – immer eine Gegen–Neuzeit.“81 Die gegen-neuzeittypischen Modelle greifen die formalen Charakteristika der Neuzeit, die Radikalität und Universalität auf und reproduzieren sie unreflektiert, weil sie auf ihren „Gegner“ eingehen und daher auch an ihren Gegner und seine Theorien ungewollt emotional gebunden sind. Die Gegenbewegung ist quasi abhängig von den ursprünglichen Bewegungen und ihren dominierenden Gegnern, da sie auf diese bezogen bleibt. Die Kräfte der Gegen-Neuzeit wirken demnach wie ein Katalysator für die Prozesse, die sie eigentlich bekämpfen wollen. „Die Neuzeit zeugt sich durch dieses Wechselspiel von Herausforderung und Antwort fort. Daher konnte ich sagen, dass diese Oppositionen das Grundmuster der Neuzeit nicht sprengen. Sie dynamisieren, konkretisieren und verstärken es vielmehr. (...) Denn ihrer Form nach sind sie stets ganz und gar neuzeitlich. Sie alle reproduzieren die neuzeit-typischen Charakteristika des Neuanfangs, der Radikalität, der Ausschließlichkeit und Universalität. (...) Nie verstehen diese Erneuerer, was sie propagieren, als nur einen von mehreren möglichen Wegen, es muss vielmehr immer der einzig Richtige sein.“82 Die einzelnen Thesen werden, psychoanalytisch gesprochen, „idealisiert“, zu „überwertigen Ideen“. W. Welsch sagt: „Der Ausschließlichkeits- und Universalitätsanspruch kann von der Realsphäre in die Idealsphäre verlagert sein. Aber dies geschieht schon nur, um ihn unter Resignationsbedingungen aufrechterhalten zu können. Verlagert wird er, aufgegeben oder beschränkt nicht. (...) Es gibt für diese Neuzeit-Denker 79 Rousseau, Jean-Jacques: Discours sur les Sciences et les Arts. / Schriften zur Kulturkritik. Übers. und hrsg. von: Kurt Weigand, Hamburg 1971 Der französisch-schweizerische Philosoph und Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) wurde berühmt, als er 1750 auf eine Preisfrage der Akademie in Dijon nach dem Einfluss der Wissenschaften und Künste auf die Sitten mit einem negativen Beweis antwortete und dafür den Preis erhielt. 1755 hatte er in der »Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen« seine grundsätzliche Zivilisationskritik formuliert. Diese wandelte er im »Gesellschaftsvertrag« (1762) ab: An die Stelle des fiktiven Naturmenschen tritt der mündige Bürger, der sich freiwillig dem idealen Gemeinschaftswillen (volonté générale) unterwirft, ohne seine persönliche Freiheit aufzugeben. Sein Erziehungsroman »Émile, oder Über die Erziehung« (1762), der in seiner Forderung nach freier Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes völlig neue Grundsätze aufstellte, beeinflusste die Erziehungstheorien bis in die Gegenwart (Pestalozzi u. ÿ a.). In allen Werken Rousseaus wird seine Kritik an einem dogmatischen Christentum deutlich. Obwohl Rousseau in wesentlichen Punkten Positionen der Aufklärung vertrat, nahm er mit seiner Hinwendung zu subjektiver Innerlichkeit und dem Zweifel an Fortschritt und Zivilisation das Lebensgefühl der Romantik vorweg. Die Grundsätze des »Gesellschaftsvertrags« beeinflussten demokratische Verfassungen seit der Französischen Revolution. 80 Der Philosoph Alexander Gottlieb Baumgarten ( 1717-1762) wurde durch seine Einteilung der Philosophie und seine philosophische Begriffssprache einflussreich. Er begründete die wissenschaftliche Ästhetik in Deutschland; schrieb: »Metaphysica« (1739); »Aesthetica«, 2 Bände. (175058). 81 Welsch, Wolfgang: a.a.O., S. 74 82 Welsch, Wolfgang: a.a.O., S. 75 f. 32 nicht mehrere Wahrheiten, nicht mehrere Heilsmöglichkeiten, sondern immer nur eine. Es ist in dieser Neuzeit und neuzeitlichen Moderne nicht möglich, dass eine Wahrheit anders als mit Ausschließlichkeitsanspruch auftritt. Singularität und Universalität sind ihr zuinnerst eigen, Pluralität und Partikularität zutiefst fremd83.“84 Die Veränderung der wirtschaftlichen und sozialen Strukturen um die Wende zum 20. ÿ Jahrhundert sowie der Protest gegen Stilnachahmung und Historismus am Ende des 19. ÿ Jahrhunderts waren in Europa und Amerika die auslösenden Faktoren für die experimentelle moderne Architektur; ihre wesentlichen Aufgaben: die Entwicklung neuer Raumkonzeptionen und Formensprachen auf der Grundlage der neuen Bedürfnisse, Materialien und Konstruktionsverfahren85. Durch die neuen gesellschaftlichen Bedingungen für den Wohn- und Siedlungsbau, für Industrie- und Verwaltungsbauten, Kulturzentren und Sporthallen, Verkehrs- und Stadtplanung wurde mit der Verwendung von Stahl und Beton, von großen Glas- und Aluminiumflächen, von Kunststoffen sowie von serienmäßig konstruierten Fertigteilen aus allen Materialbereichen die Auffassung von Architektur und ihrer Formensprache im Sinne des Funktionalismus revolutioniert. Seine städtebauliche und lebensweltliche Ausprägung erfuhr diese Epoche mit der Ideologie der „Charta von Athen“ in der Vorstellung von Le Corbusier. Die bereits beschrieben Tendenzen der idealisierenden Ausschließlichkeit des Neuen, des radikalen Umbruches kommen im folgenden Zitat zum Ausdruck: „Die Geometrie ist das Mittel, das wir selbst uns geschaffen haben, um die Umwelt zu erfassen und um uns auszudrücken. Die Geometrie ist 83 Welsch, Wolfgang: a.a.O., S. 76, Fn. 38: „Daher ist es oberflächlich und grundfalsch, wenn man zwecks Postmoderne-Verständnis dauernd die Schallplatte Wiederkehr auflegt. Es ist keineswegs alles schon dagewesen. Gewiss: Themen und Motive kehren wieder. Aber wer bloß das sieht, sieht eben nur die Oberfläche. Es geht um einen Wandel der Struktur, und das ist radikal und neu gegenüber allen Varianten von Neuzeit und neuzeitlicher Moderne.“ 84 Welsch, Wolfgang: a.a.O., S. 76 85 Die Historie der modernen Architektur kann sehr grob folgendermaßen zusammengefasst werden: „Lässt man die Entwicklungstendenzen in der Ausbildung der Stahlskelettbauweise des 19. Jahrhunderts unberücksichtigt, so kann der Beginn der modernen Architektur auf die Zeit um 1890 festgelegt werden. L. H. Sullivan und die Chicagoer Schule brachten mit ihrer Forderung, dass die Form immer der Funktion zu entsprechen habe, einen neuen Kanon des Bauens ein. Die Tendenz zu klar gegliederten und aus der Funktion entwickelten Baukörpern zeigten auch die europäischen Richtungen des Jugendstils, des Deutschen Werkbundes, des Bauhauses und der De Stijl-Gruppe. Das kubische, horizontale, sachlich nüchterne Prinzip setzte sich Mitte der 1920er-Jahre gegenüber gegenläufigen Tendenzen durch. Des Weiteren kann der Begriff des »organischen Bauens« (organische Architektur), wie er von F. L. Wright in Amerika konzipiert wurde, als Maxime für alle bedeutenden Schulen und Architekten des 20. Jahrhunderts gelten. Neben Wright gehörten L. Mies van der Rohe, Le Corbusier und W. Gropius zu den einflussreichsten Architekten der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der internationale Durchbruch der modernen Architektur erfolgte mit den v. a. in den 1920er-Jahren entwickelten Stileigentümlichkeiten (Internationaler Stil), und zwar in den USA in den 1930er-Jahren, in den lateinamerikanischen Ländern in den 1940er-Jahren (v. a. Brasilien und Mexiko) und in den 1950er-Jahren in Japan. In den 1950er-Jahren wurden innerhalb der modernen Architektur neue Impulse wirksam, die unter dem Namen Brutalismus zusammengefasst werden und eine Erneuerung der experimentellen modernen Architektur und ihres funktionalen und organischen Denkens darstellen. Daneben entwickelten sich weitere, zum Teil gegenläufige oder auch ineinander übergehende Strömungen (Funktionalisten, Strukturalisten, rationale Architektur).Zur Kennzeichnung der Richtung der Architektur der 1970er- und 1980er-Jahre, die auf Elemente früherer Stile zurückgreift (R. Venturi, C. W. Moore, R. Stern, J. Stirling, Isozaki Arata, P. Portoghesi, P. Johnson), übernahm der amerikanische Architekturtheoretiker Charles Jencks (* 1939) 1975 den sonst recht vielschichtigen Begriff Postmoderne.“ (Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG, 1999) 33 die Grundlage. Sie ist zugleich der materielle Träger der Symbole, die die Vollkommenheit, die das Göttliche bezeichnen. Sie schenkt uns die erhabenen Befriedigungen der Mathematik. Die Maschine geht hervor aus der Geometrie. (...) Die modernen Künste und das moderne Denken suchen nach einem Jahrhundert der Analyse ihr Heil jenseits der zufälligen Tatsachen, und die Geometrie führt sie zu einer mathematischen Ordnung, zu einer mehr und mehr verallgemeinerten Haltung. (...) Der moderne Städtebau gebiert eine neue Architektur. Eine ungeheure, blitzeschleudernde, brutale Entwicklung hat die Brücken zu der Vergangenheit abgerissen.“86 2.4.3. Moderne des 20. Jahrhunderts Die Moderne erfährt im 20. Jahrhundert eine grundlegende Einstellungsänderung: Nicht nur in der Philosophie, sondern auch in anderen Wissenschaften und der Kunst, wird offensichtlich, dass Pluralität und Partikularität nicht nur denkbar, sondern dominant und verbindlich werden. Für Wolfgang Welsch beinhaltet die Wissenschaft dieser Zeit, als Fortsetzungsstrang der Neuzeit, das Charakteristikum, „dass Totalitätsintentionen gebrochen werden, dass die Divergenz von Fragestellungen unüberschreitbar, dass Pluralität obligat wird.“87 In diesem Hauptstrang der Neuzeit, den man sich als „Bahn der wissenschaftlichen-technischen Entwicklung“ vorstellen muss, kommt es zu einer „Grundsatzrevision“: „Was zuvor von anderen Feldern – beispielsweise der Kulturtheorie oder der Ästhetik – her als Kritik vorgetragen worden war, bricht jetzt in den Kernlanden der szientifischen Rationalität selbst auf und wird daher schnell verbindlich. Die vorherigen, externen Infragestellungen dieser Rationalität hatten entweder zu ihrer Potenzierung geführt oder nur die kurzfristige und schmückende Bildung von Trabantenkulturen bewirkt. Die jetzt erfolgende interne Infragestellung aber führt zu einer Mutation im Kern der Neuzeit. Das heißt natürlich nicht, dass die gesamte Neuzeit nun für gescheitert erklärt und verabschiedet würde. Aber sie wird doch einer Grundsatzrevision unterzogen. (...) Pluralität, Diskontinuität, Antagonismus, Partikularität dringen jetzt in den Kern des wissenschaftlichen Bewusstseins ein. Monopolismus, Universalität, Totalität, Ausschließlichkeit werden ausgeschieden. (...) Das heutige Bewusstsein der Wissenschaft ist durch die Vielfalt von Modellen, die Konkurrenz der Paradigmen und die Unmöglichkeit einheitlicher und endgültiger Lösungen geprägt.“88 Zusammenfassend kann man sagen, dass der in der neuzeitlichen Moderne dominierende Ausschließlichkeitsanspruch seiner Weltbilder (Singularität und Universalität), der geradezu mit einem Drang nach Erneuerung alles Tradierte negiert und radikal zu erneuern versuchte, dass gerade dieser Anspruch auf Ganzheit in eine unermessliche Vielfalt zerfällt. Positiv formuliert: Die zwanghafte Ausschließlichkeit ist nicht mehr erforderlich, sondern Vielfalt und Stilpluralismus sind angesagt und deuten auf einen Differenzierungsprozess hin. „Es gibt keinen Zugriff aufs Ganze, alle Erkenntnis ist limitativ.“89 Auffällig sind Zeitströmungen/Weltanschauungen, die zwischen den Polen der Ausschließlichkeit und Vielfalt der Denk- und Ausdrucksweisen pendeln. 86 Le Corbusier, 1925. Zitiert nach U. Conrads, Programme und Manifeste, 1984, S. 84-87, zit. bei: Schmals, Klaus M. (2001): a.a.O., S. 82 87 Welsch, Wolfgang: a.a.O., S. 77 88 ebenda, S. 78 89 ebenda, S. 77 34 Der Psychoanalytiker C. G. Jung hat dieses Phänomen eingehend untersucht. In Anlehnung an Heraklit erklärt er es mit dem psychischen Grundgesetz der Enantiodromie, dem Entgegenlaufen90 in die Polarität. 2.4.4. Die geistige, politische und gesellschaftliche Moderne bei S. Hradil Der Soziologe Stefan Hradil91 hat auf dem Weg in die Postmoderne drei wichtige Epochen differenziert, die für ihn zugleich Ebenen der Modernisierung sind: die geistige, politische und gesellschaftliche Moderne. Die geistige Moderne stellt die „Grundposition“, die politische Moderne ihre „Durchsetzung“ und die gesellschaftliche Moderne ihre „alltagsweltliche Materialisierung“ dar. Die geistige Moderne Zur ersten Epoche gehört u.a. ein linearer Zeitbegriff, d.h. Zeit wird als Geschichte mit einer bestimmten Entwicklung aufgefasst. Die Entwicklungsrichtung ist auch gekennzeichnet durch eine Steigerung individueller Freiheitsräume des Menschen, die durch die wachsende Autonomie menschlicher Subjekte sowie durch den Verlust von Bindungen und den Gewinn von Optionen erklärbar werden. „Der Freiheitsbegriff der Moderne bedeutet Freiheit von, nicht zuletzt von der Beeinträchtigung durch die Natur.“92 Man erwartet das Heil der Moderne durch menschliche Aktivität. Die Säkularisierung menschlichen Strebens und Heils dominiert und damit die In-Dienst-Stellung der Natur. Der Mensch sieht sich als Gestalter der Welt und von der Bewerkstelligung dieser Aufgaben verspricht er sich modernes Denken, Zweck-Mittel Rationalität und Objektivität.93 Das Denken dieser geistigen Moderne ist dualistisch und polar: Objektiv – subjektiv, wissenschaftlich – unwissenschaftlich, kognitiv – emotional. Das Handeln gemäß den rationalen Prinzipien der Vernunft schafft Vertrauen in die Zukunft, von der man eine permanente Verbesserung der Lebensverhältnisse erwartet. Die politische Moderne Die politische Moderne erhebt die Vorstellungen der geistigen Moderne insbesondere vor dem Hintergrund der Aufklärung im 18. Jahrhundert zum politischen Programm und allgemeinen Postulat. Das wirtschaftlich erstarkte Bürgertum erklärt modernes Denken zur sozialen und politischen Bewegung. Folgende Forderungen sind charakteristisch: Durchsetzung universalistischer Standards auf rechtlicher und sozialstruktureller Ebene (universalistische statt traditionalistische Statuszuweisungskriterien), individuelles Verhalten als Kriterium der Positionszuweisung, individuelle Wohlfahrt auf Erden als Zielpunkt 90 Jung, C. G.: GW, Bd. 7, a. a. O., § 111: „Der alte Heraklit, der wirklich ein großer Weiser war, hat das wunderbarste aller psychologischen Gesetze entdeckt: nämlich die regulierende Funktion der Gegensätze. Er nannte dies die Enantiodromia, das Entgegenlaufen, worunter er verstand, dass alles einmal in sein Gegenteil hineinlaufe. (...).“ 91 Hradil, Stefan (1990): Postmodeme Sozialstruktur? Zur empirischen Relevanz einer modernen Theorie sozialen Wandels. In: Berger, P.A. / Hradil, S. (Hrsg.): Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile. Sonderheft Nr. 7. Soziale Welt, Göttingen 1990, S. 127 ff. 92 ebenda, S. 128, mit Bezug auf Berger, J. 1986 a, S. 10; 1986 b, S. 90) 93 vgl.: ebenda 35 gesellschaftlichen Fortschritts, diskursiv begründete und mit dem Gemeinwohl legitimierte Herrschaft sowie zweckrationale Gestaltung von Wirtschafts- und Herrschaftsstrukturen.94 Die gesellschaftliche Moderne Das politische Programm der Moderne setzte sich in Deutschland gesellschaftlich durch liberale Formen und eine späte, aber intensive Industrialisierung erst im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts um. Eine weitgehende Realisierung der Modernisierung wurde aber erst nach dem zweiten Weltkrieg durch die Entfaltung der modernen Industriegesellschaft erreicht. Die Subjekte dieser Industriegesellschaft leben in Strukturen, die sich u.a. durch Technisierung, industrielle Naturbeherrschung, Ökonomisierung, Institutionalisierung, Spezialisierung, Zerfall traditioneller Gemeinschaften, Verdrängung traditioneller Kulturen und materialistisch-utilaristische Alltagskultur charakterisieren lassen. Die idealisierten Erwartungen an die rationale Ökonomisierung kommen bei Le Corbusier zum Ausdruck: „Eine große Epoche ist angebrochen. Es herrscht ein neuer Geist. Die Industrie, die uns wie eine Flut, die zu ihrem vorbestimmten Ziel strömt, überschwemmt, hat uns mit neuen Wegen ausgestattet, die zu unserer Epoche gehören, und sie sind von einem neuen Geist bestimmt. Ökonomische Gesetze dirigieren unvermeidbar unsere Handlungen und unsere Gedanken. (...) Wir müssen den Geist der Massenproduktion schaffen. Ein Geist, in solchen Häusern der Massenproduktion zu leben (...).“95 Materialistische Werte, Massenproduktion und Arbeitsteilung schienen Wohlstand, Sicherheit und Partizipation für eine Mehrheit der Bevölkerung zu schaffen, so dass die geistigen Ziele der Moderne vermittelt werden konnten. „Sie machten individuelle Optionen, Vernunft, Fortschritt und Rationalität möglich. Die Industriegesellschaft forderte für diese Bereitstellung von Ressourcen und Handlungsgrundlagen von ihren Mitgliedern allerdings recht rigide Anpassungsleistungen und offerierte aus sich heraus kaum kulturell verankerte Handlungsziele. Der Grenznutzen dieses unbequemen und instrumentalistischen industriegesellschaftlichen Weges zu den Zielen der geistigen Moderne scheint heute in vieler Hinsicht erreicht zu sein: Optionssteigerungen in bestimmten Bereichen (z.B. Verkehr, Konsum) schmälern Optionen in anderen (z.B. Umwelt) (Offe 1986); industriegeseIlschaftliche Modernisierung zehrt ihre vormodernen Bestandsvoraussetzungen auf: Traditionen, Moralbestände, Gemeinschaften, Naturkreisläufe (Lutz 1985, S. 127 ff.); Spezialisierung, objektivierende und analysierende Verwissenschaftlichung, die Vergrößerung von Institutionen und Organisationen zeigen immer häufiger kontraproduktive Wirkungen: Entfremdende Arbeitszerlegung, hochspezialisierte Apparatemedizin, Behindertengettos usw. (J. Berger 1986a, S. 9). Die Versagungen und Disziplinierungen einer funktionalisierten, spezialisierten, synchronisierten, aufs „Objektive“, auf „Normallösungen“ und auf Mittelerwerb gerichteten Existenz werden immer weniger einsichtig.“96 94 vgl.: ebenda 95 Le Corbusier: Toward a New Architecture. In: The Architectural Press, London 1927, S. 12, zit. bei Hradil, S. (1990): a.a.O., S. 129 96 Hradil, S. (1990): a.a.O., S. 130 36 Klaus M. Schmals folgert: „Die industriepolitische (und postindustrielle) Moderne (...) lässt sich präzisieren entlang von Technisierungs- und Ökonomisierungs-, Spezialisierungs- und Standardisierungsvorstellungen, wie sie mit dem epochalen Terminus des „Fordismus“ auf den Begriff zu bringen sind97. (...) Neben Pluralität ist die von Hradil entwickelte Matrix der Modernisierung für die Idee der zivilen Stadt von großer Bedeutung. Mit ihr sensibilisiert uns S. Hradil dafür, dass wir zwar nach wie vor in einer modernen Gesellschaft leben, andererseits die Kultur der Postmoderne aber „universalistische Standards, Objektivitäts- und Rationalitätskalküle“ zugunsten eines sehr „weitgehenden Pluralismus, Partikularismus und Relativismus“ verlässt (ders., a.a.O., S. 135 und 136). Triebfedern dieser Transformation sind ein Wandel der industriegesellschaftlichen Normalfamilie und des Normalarbeitsverhältnisses hin zu einem Kaleidoskop neuer Familien- und Lebensformen bzw. zu einem breiten Spektrum flexibilisierter Arbeitsverhältnisse in der Einheit von Erwerbs-, Bürger- und Familienarbeit (vgl. U. Beck, Schöne neue Arbeitswelt, 1999), ein Verwischen der Grenzen zwischen Erwerbs- und Privatsphäre, die Anerkennung der Rechte des Anderen, ein Zurückdrängen des kontrollierenden lnterventions- und Wohlfahrtsstaates zugunsten einer zivilen Aushandlungskultur, ein Umbau von Großtechnologien hin zu auch kleinen Lösungen und nicht zuletzt ein Wandel der industriegesellschaftlichen Massenkultur hin zu differentiellen und milieuzentrierten Kultur- und Ästhetikvorstellungen (vgl. S. Hradil, a.a.O., S. 130 f.).“98 2.4.5. Postmoderne Das postmoderne Wissen verabschiedet sich insbesondere von den „Meta-Erzählungen“, wie z.B. der Mathesis universalis und all ihren Nachfolgeformen: „Die Grundoption gilt dem Übergang zur Pluralität, zur Anerkennung und Beförderung der heterogenen Sprachspiele in ihrer Autonomie und Irreduzibilität. Die Verteidigung der unterschiedlichen Lebenswelten, Sinnwelten und Anspruchswelten macht die emphatische Inspiration dieses philosophischen Postmodernismus aus. Er tritt allen Totalisierungen philosophischer, ökonomischer, technologischer Art vehement entgegen und hält – über ein grundsätzliches Finitätsbewusstsein – zur Wahrnehmung und Praxis der Pluralität an.“99 Postmoderne muss nicht von Moderne schlechthin unterschieden sein.100 Der Philosoph Joachim Ritter hatte das Theorem der unauflöslichen Doppelstruktur der Moderne entwickelt101, Lyotard102 formulierte das Verhältnis Postmoderne und Moderne 97 vgl.: Hirsch, J.; Roth, R.: Das neue Gesicht des Kapitalismus. 1986; zit. bei: Schmals, Klaus M. (2001). a.a.O., S. 82 98 Schmals, Klaus M. (2001): a.a.O., S. 82 99 Welsch, Wolfgang: a.a.O., S. 79 100 vgl. ebenda, S. 82 101 vgl.: Ritter, Joachim: Hegel und die Französische Revolution. (1956) in: ders.: Metaphysik und Politik. Frankfurt a.M., 1977, S. 183–255. Ritter arbeitete u. ÿ a. über die soziopolitischen Hintergründe der Ideenentwicklung bei Hegel. 102 Jean-François Lyotard (10.8.1924 - 21.4.1998; seit 1966 Professor der Philosophie in Paris) wurde von E. Husserls Phänomenologie und L. Wittgenstein beeinflusst. 1979 konzipierte er in seiner Arbeit „Das postmoderne Wissen“ seinen Begriff der „Postmoderne“. Nach Lyotard hat das Systemdenken der „Moderne“ seine Glaubwürdigkeit verloren („Der Widerstreit“, 1983). 37 folgendermaßen: „Die Postmoderne situiert sich weder nach der Moderne noch gegen sie. Sie war schon in ihr eingeschlossen, nur verborgen.“103 Postmoderne bedeutet also nicht Novismus, Neusein um jeden Preis, wie dies bereits über die Moderne gesagt wurde, sondern sie bedeutet konsequenten Pluralismus, der daher nicht nur sektoriell verbindlich wird, sondern in der ganzen Breite der Kultur und der Lebensanschauungen sich äußern muss: „Und neu ist, (...), dass der postmoderne Pluralismus radikaler ist als jeder vorherige, so radikal nämlich, dass er nicht mehr durch Gegenmotive aufgefangen oder überboten werden kann, sondern jetzt konsequenterweise zur Grundverfassung werden muss. (...). Der einschneidende Pluralismus, den die Postmoderne erkennt und vertritt, war als Möglichkeit schon von der Moderne entdeckt, kam aber nicht zum Tragen. Es ist bezeichnend, dass auf einen Kant, der inmitten der Neuzeit die Differenzierung von Rationalitätstypen schon sehr weit getrieben hatte, die Einheitsprogramme des Idealismus folgten. Die Moderne des 20. Jahrhunderts hat dann Finitismus, Heterogenität und Pluralität zunehmend erkannt, aber nur sporadisch zu realisieren vermocht. Erst die Postmoderne macht sich an die breite Verwirklichung dieses neuen Sinnkonzepts.“104 Auch in Architektur und Städtebau wird klar erkennbar, dass nicht mehr nur ein dominierender Stil, wie z.B. in der Moderne das Zweckfunktionale, eine Bedeutung der Ausschließlichkeit erhält und von daher Exklusion betreibt. Postmoderne gibt als Ausdruck der pluralistischen Lebenshaltung anderen, auch gegenläufigen baulichen Tendenzen Möglichkeiten zur Entfaltung. Charles Jencks105 hält die inkludierende Aufnahmefähigkeit der Postmoderne für „eines der erstaunlichsten, ja bestimmenden Merkmale der Postmoderne“: „Sie schließt die moderne Architektur und das Formale als mögliche Lösungen ein. (...) Während die Moderne so exklusiv ist wie die Architektur Mies van der Rohes, ist die Postmoderne so total inklusiv, dass sie sogar ihrem puristischen Gegensatz einen Platz einräumt.“106 Postmoderne Architektur wendet sich gegen die Folgen der modernen Architektur, wie sie von Le Corbusier, W.ÿ Gropius, L. ÿ Mies van der Rohe, F. ÿ L. Wright u. ÿ a. begründet wurde. Sie wendet sich gegen Purismus und Monofunktionalisierung, gegen die Abwendung von der Geschichte, gegen den Internationalismus (Internationaler Stil) und die Vernachlässigung lokaler und regionaler Identität. Gegenüber dem funktionalistischen Purismus kehrt die Architektur der Postmoderne107 äußerlich zum historischen Eklektizismus zurück und kann insofern als rekursive Postmoderne bezeichnet werden. Als ein Ziel der postmodernen Architekten ist ein „kontextuelles“ Bauen zu verzeichnen, das einen Bezug zur regionalen Umgebung, zum gewachsenen urbanen Gefüge hat und sich mit den divergierenden Geschmackskulturen seiner Bewohner verortet. 103 Lyotard, Jean-Francois: Le Postmoderne explique aux enfants, Paris 1986, Umschlagrücken. 104 Welsch, Wolfgang: a.a.O., S. 83 105 Den zuvor schon in der literarisch-philosophischen Diskussion vorgeprägten Begriff der Postmoderne führte der amerikanische Architekturtheoretiker C. Jencks mit der Schrift „The language of post-modern architecture“ („Die Sprache der postmodernen Architektur“, 1977) in die Architekturtheorie ein. Wie auch schon bei R. Venturi und A. Rossi wendet sich die von Jencks vorgetragene Kritik gegen die Entwicklungen einer kommerzialisierten, modernen Architektur („Spätmoderne“). 106 Jencks, Charles: Die Sprache der postmodernen Architektur. Die Entstehung einer alternativen Tradition. Stuttgart 1980, S. 7 f. 107 Als Hauptvertreter der postmodernen Architektur sind u.a. zu nennen: H. Hollein, Isozaki Arata, C. W. Moore, Rossi, R. Stern, J. Stirling, Venturi und O. M. Ungers 38 2.5. „Le Corbusiers“ Charta von Athen Die Charta von Athen kann als das prägendste städtebauliche Leitbild des letzten Jahrhunderts angesehen werden. Es entstand vor dem Hintergrund des Fordismus108 und brachte „mit Entfremdung, Isolierung oder Unwirtlichkeit in vielfacher Hinsicht auch inhumane städtische Lebenswelten hervor und kann so als ein plausibles Beispiel für das „unvollendete städtebauliche Projekt der Moderne“ benutzt werden.109 Fordismus verweist auf den us- amerikanischen Automobilhersteller Ford, dessen Produktionsmethoden als pars pro toto für Massenproduktion, Massenkonsumtion und die Entfaltung eines keynesianischen Wohlfahrtsstaates stehen. Mit Fordismus wird auch ein sozialer Wandel, ein Transformationsprozess der kapitalistischen Gesellschaft, kapitalistisches Rationalisierungsstreben und Effektivitätssteigerungsbemühen assoziiert. Er fußt auf protestantisch-calvinistischen Lebensgrundsätzen und gelangt in der Meta-Erzählung, der fordistischen Stadt, dem Stadtbild der Moderne und in der Charta von Athen zum Ausdruck. Mit der Gründungserklärung des CIAM (Congres Internationaux d’Architecture Moderne) beabsichtigen die Initiatoren 1928 eine Zusammenfassung der theoretischen Positionen von moderner Architektur und Städtebau, die 1933 zum Ausgangspunkt für einen Kongress in Athen über die funktionelle Stadt wurde. Die Abschlusserklärung dieses Kongresses hat Le Corbusier mit Kommentaren versehen und 1943 als „Charta von Athen“ publiziert, obwohl in beiden Kongressen110 erhebliche theoretische Differenzen unter den Teilnehmern bestanden.111 Bereits in der Erklärung von La Sarraz wird der Einfluss des rationalen Wirtschaftsgedankens auf Architektur, Städtebau und Raumplanung evident: „Die Ausrüstung eines Landes verlangt eine innige Verbindung von Architektur und Wirtschaft. (...) Die echte Wirtschaftlichkeit wird die Frucht einer Rationalisierung und einer Normung sein, die ebenso gut anzuwenden ist auf architektonische Planungen wie auf industrielle Methoden der Ausführung. Es ist dringend notwendig, dass die Architektur, anstatt fast ausschließlich an ein blutarmes Handwerkertum zu appellieren, sich ebenso der ungeheuren Hilfsmittel bedient, die ihr die industrielle Technik bietet, selbst wenn eine solche Entscheidung zu Werken führen sollte, die sich wesentlich von denen unterscheiden, die den Ruhm vergangener Epochen ausgemacht haben.“112 108 „Ein Produktions- und Reproduktionskonzept, das insbesondere auf der Basis tayloristischer Rationalisierungs- und Effektivierungsvorstellungen aufruhte (W. Taylor war Betriebsingenieur von H. Ford) und in der „Charta von Athen“ sein städtebauliches Leitbild fand. Ein Aufbrechen entsprechender Strategien und Weltbilder ist seit den endenden 60er Jahren – wenn zwar ungleichzeitig, aber dennoch – weltweit zu bebachten.“ Schmals, Klaus M. (2001): a.a.O., S. 84 109 vgl. ebenda, S. 102 110 La Sarraz 1928 und Athen 1933 111 Hilpert, Thilo (Hrsg.): Le Corbusiers “Charta von Athen”, Texte und Dokumente, Kritische Neuausgabe, 2. Aufl., Braunschweig 1988, S. 13: „Versteht man die theoretischen Verlautbarungen der Kongresse der CIAM zwischen 1928 und 1933 als Formulierung eines architekturtheoretischen Systems für die Praxis der Moderne - wie es Le Corbusier und auch die späteren Kritiker immer wieder getan haben -, dann müssten darin die Ursachen für den der Moderne immer wieder angelasteten Prozess der Zerstörung städtischer Umwelt, für ihren Anteil am Verfall der Stadt als ästhetischen und sozialen Raum zu finden sein. So einheitlich aber, wie von Le Corbusier in seinem rückblickenden Bericht 1943 über die Gründung der CIAM angegeben, waren die theoretischen Positionen, die in die Erklärung zur Gründung der CIAM, in die „epochemachende“ Erklärung von La Sarraz eingingen, jedoch nicht. Darauf deutet schon seine eigenmächtige Abänderung des Originaltextes hin, die er bei der Publikation 1943 zusammen mit der „Charta von Athen“ vorgenommen hat.“ 112 ebenda, S. 96 39 Dieses Zitat belegt Grundhaltungen der Moderne, wie sie bereits weiter oben in Anlehnung an Welsch dargestellt wurden: Vergangene Epochen werden durch radikale neue Ansätze über Bord geworfen, Neues wird universalisierend eingesetzt: „Heute liefert Stahl und Stahlbeton die Mittel zur Realisierung entsprechend den gegenwärtigen sozialen Erfordernissen.“113 Die Stadt wird somit zu einer Stadt des Maschinenzeitalters, der rationalen Prinzipien von Gradlinigkeit, Geometrie, Zweck und Form. „In seinem Modell hat Le Corbusier die soziale Grundlage für eine neue Stadt des Maschinenzeitalters mit jener Organisationsweise großindustrieller Produktion identifiziert, die im Taylorismus und Fordismus nordamerikanischer Trusts als eine neue Form organisierter und rationaler Überflussproduktion verkörpert schien. In seinem Konzept für die Rückführung der chaotischen Großstadt in den Rahmen einer „finiten“ Stadt wird die wiedergewonnene Einheit der Lebensvollzüge nur zu einer gesamtgesellschaftlichen Rationalisierung. Es ist nicht nur eine rhetorische Geste, dass er für die Realisierung des Konzeptes eine Form staatlicher Organisation aufruft, die der ökonomische Liberalismus zerstört hat; Le Corbusier fordert einen neuen Louis XIV.“114 Ein Hauptanliegen dieses städtebaulichen Manifestes war die streng funktionelle Zoneneinteilung und Untergliederung der Stadt: „Der Städtebau kann nicht mehr ausschließlich den Gesetzen eines willkürlichen Ästhetizismus unterworfen sein. Seinem Wesen nach ist er funktioneller Natur. Die drei grundlegenden Funktionen, über deren Erfüllung der Städtebau zu wachen hat, sind 1. wohnen; 2. arbeiten; 3. sich erholen. Sein Gegenstand sind: a) Aufteilung des Bodens; b) Organisation des Verkehrs; c) Gesetzgebung. Die oben erwähnten drei grundlegenden Funktionen werden vom heutigen Zustand der Ansiedlungen nicht begünstigt.“115 Diese Funktionen, das ist das entscheidende Merkmal, sollen autonom auf gesondertem Gelände dargestellt werden. Grüngürtel sollten die einzelnen Nutzungsbereiche voneinander trennen und so das Stadtbild gliedern. Für das Wohnen präferierte die Charta einen Typ des Geschosswohnungsbaus, eine Bebauung mit hohen, weit auseinander liegenden Appartmenthäusern und Gebieten mit hoher Wohndichte. In der städtebaulichen Diskussion der Nachkriegszeit wurde die Charta von Athen und das darin formulierte Konzept der funktionellen Stadt immer wieder zu einem zentralen Bezugspunkt. Es mehrten sich auch die kritischen Stimmen zu diesem Städtebau wie z.B. der Psychoanalytiker und Sozialpsychologe Alexander Mitscherlich und seine SchülerInnen Heide Berndt, Alfred Lorenzer und Klaus Horn. „Aber nach der Publikation 1962 in deutscher Sprache war es mehr ein Bezugspunkt des Unbehagens (...). Bald war ein Vorwurf zum undifferenzierten Gemeinplatz geworden: Die Leitbilder der Charta waren Schuld an der Zerstörung der städtischen Umwelt. Ein Unbehagen der Moderne suchte sich darin sein Ventil. Mit in den siebziger Jahren wirksam werdenden Arbeiten hatte die Stadtsoziologie eine gründliche Kritik der städtebaulichen 113 ebenda, S. 99 114 ebenda, S. 30 115 ebenda, S. 96 40 Leitbilder der Moderne geleistet. Sie wies auf die Fehler einer Zerlegung der Stadträume in monofunktionale Zonen hin, auf die einschneidenden Folgen einer Zertrümmerung und Preisgabe tradierter städtebaulicher Strukturen.“116 Die Charta verstand Städtebau nicht als Abbild sich kontinuierlich verändernder gesellschaftlicher Strukturen, sondern die neue Architektur sollte das Chaos, das mit dem „Maschinenzeitalter“ über die alten Städte hereingebrochen war, überwinden helfen. Veränderte gesellschaftliche Strukturen, die die Industrialisierung mit sich brachte, sollten mit Hilfe des Funktionalismus in Architektur und Städtebau bearbeitet werden.117 Die Charta präsentiert Städtebau als Konzeption eines nach funktionellen Gesichtspunkten zerlegten Stadtraumes: „Stadtbau ist die Organisation sämtlicher Funktionen des kollektiven Lebens in der Stadt und auf dem Lande. Stadtbau kann niemals durch ästhetische Überlegungen bestimmt werden, sondern ausschließlich durch funktionelle Folgerungen.“ 118 Die neue städtebauliche Planungsmaxime sah vor, sich auf städtebaulicher und architektonischer Ebene technisch - funktionell auszurichten. Das bedeutete für den Planer, dass es in der baulichen Gestaltung weder für „alte“ Symbolik und Ästhetik noch für die Kreation neuer Symbole Verwendung gab. Architektur und Städtebau wurden rational, technisch gestylt, emotionslos und gradlinig erdacht. Das Ziel des Funktionalismus war ursprünglich, „eine menschenwürdige wahre Architektur zu schaffen, dem „Zeitalter der Vernunft“ angemessen; man glaubte das Ornament entbehren zu können, weil es Symbol unerfüllter Hoffnungen war, die nun gestillt sein sollten. Architektur wollte Ingenieurkunst werden, Handwerk; Wirtschaftlichkeit, Rationalisierung und Standardisierung waren die neuen Götter, von deren Inthronisation man sich eine bessere Welt versprach. (...) Der Funktionalismus bekämpft im Ornament die angesichts der neuen Mittel zur Naturbeherrschung substanzlos werdende Symbolik einer alten Gesellschaftsordnung. Insofern war er nie eine nur ästhetische Bewegung.119 Sein gesellschaftskritischer Kern war die Vorstellung, mit jenen Zeichen auch die dazugehörigen Reste feudaler Herrschaftsformen zu beseitigen.“120 Le Corbusier entwickelte eine „architektonische Menschenkunde“, die er in seinen Entwürfen und Bauten umsetzen wollte. Diese Form der Stadtplanung ist m.E. jedoch in zweckorientierten, einseitig rationalen Gesichtspunkten steckengeblieben: 116 Auszug aus dem Vorwort von Hilpert, Thilo (Hrsg.): Le Corbusiers „Charta von Athen“, Bauwelt Fundament; Bd. 56, Braunschweig 1984 117 Gesellschaftliche Zielsetzungen klingen in den Forderungen der Charta von Athen an: „Das Privatinteresse wird in Zukunft dem Interesse der Gemeinschaft unterstellt sein.“ (Punkt 95 der Charta) und: „Die Stadt muss auf geistiger und materieller Ebene die individuelle Freiheit und den Nutzen kollektiven Handelns sicherstellen.“ (Punkt 75 der Charta) 118 CIAM – Erklärung von 1928, in: Conrads, Ulrich: (Hrsg.): Ullstein Bauwelt Fundamente I, Berlin – Frankfurt – Wien 1964, S. 104: Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, zit. bei Horn, Klaus: a.a.O., S. 112 119 Eberhard Schulz schreibt: „Der Architekt der 20er Jahre, der eine lange, flache Wohnzeile errichtete, empfand sich – er behauptete das oder er leugnete es nicht ausdrücklich – als ein Miterbauer der Kollektivität; als der Förderer eines Sozialismus mit Wohnungsgrundrissen, durch den es die Frau leichter, die Kinder freier in Luft und Grün und die Gesellschaft überhaupt es besser haben sollte. Bruno Taut und Walter Gropius haben viel davon im Allgemeinen und im Besonderen erzählt.“ Eberhard Schulz: Die Prediger mit dem Reißbrett. Beispiele und Figuren der neuen Architektur, Stuttgart 1964, S. 108, zit. bei Horn, Klaus: a.a.O., S. 110 120 Horn, Klaus: a.a.O., S.109 41 „Zwar bleibt der Plan für die Cité radieuse, doch das „Maß des Menschen“121, von dem in der Charta mehrfach die Rede ist, verdichtet sich zu einer biologistisch– physiologistischen Anthropologie, dem Modulor, und wird zum Richtmaß von Wohneinheiten. Architektur soll biologisierte Bedürfnisse befriedigen. Doch weder Hunger noch Liebe sind in ihren Befriedigungsformen dem historischen Wandel entzogen; sie werden zwar immer auch als biologische, jedoch gesellschaftlich überformte und genormte in Erfahrung gebracht. In einer Gesellschaft, die streng ritualisiertes, d.h., bewusstseinsarmes Rollenverhalten, also eine archaische Verknüpfung von Person und Gesellschaft deutlich fördert und die Entwicklung eines kritischen Bewusstseins hindert122, wird man solche Biologismen als Versuche betrachten müssen, die Geschichtsfeindlichkeit einer sich gegen ihre Überwindung wehrenden Gesellschaftsordnung zu verstärken. Durch das gesellschaftliche Übergewicht der selbstgenügsamen Zweckrationalität, deren Funktionszusammenhang nur sehr mittelbar eine Funktion primärer Bedürfnisse ist, gerät der gegenüber dieser Tatsache naive oder optimistische Funktionalismus in die Rolle eines sozial funktional wirkenden Erfüllungsgehilfen.“123 Dieser Funktionalismus hat den Wiederaufbau der zerstörten Nachkriegsstädte und Strategien der Stadterneuerung in Deutschland („Kahlschlagsanierungen“) bis in die siebziger Jahre stadtplanerisch und architektonisch-baulich „als große Erzählung der modernen Stadt“124 geprägt. „Das Bild der fordistischen Stadt war/ist gekennzeichnet durch Agglomerationsprozesse, die Standardisierung und lndustrialisierung des Bauens, Prozesse der Kleinfamiliarisierung sowie soziale Desintegrationsprozesse mit der Folge des Abschmelzens traditioneller sozio-kultureller Milieus.“125 2.6. Individualisierungstendenzen in der „Risikogesellschaft“ In den historischen Vergesellschaftungskonzepten von W. Welsch und S. Hradil wurde deutlich, dass sich die Gesellschaft auf dem Weg in die moderne Lebenswelt von alten Traditionsmustern löst, dass sie sie radikal „über Bord“ wirft. Die pluralistische Postmoderne erlaubt dagegen in ihren Kulturen ein dualistisches Wechselspiel und Nebeneinander: Emotionalität und Empathie stehen neben Zweckrationalität und ganzheitlichem Denken. Neben die Analyse von Ursache und Wirkungen und exakte Berechnung tritt gewollte Unbestimmtheit. Postmoderne Gedanken lassen sich als Absatzbewegungen vom modernen 121 Diese Art der Anthropologie kritisierend schreibt Arnold Gehlen: „Wieder eine Art des Primitivismus gehört bisweilen geradezu zum Programm, zur ideologischen Eigenauslegung, nun aber im Sinne der formlosen, unterschiedlosen Menschlichkeit. Ein entschiedener Vertreter der neuen Architektur wie S. Giedion (Architektur und Gemeinschaft, Rahlenbeck bei Hamburg 19, S. 75), sagt z. B.: „Es scheint, als ob eine neue Kulturfarbe sich zu bilden beginnt, in der der Mensch als solcher, der nackte, hüllenlose Mensch, der Mensch, weder begrenzt durch eine bestimmte soziologische Schicht, Religion oder Rasse direkte Ausdrucksmittel in Formen und Symbolen niederlegt, die Widerhall seines inneren Empfindens sind, die ihn seelisch berühren.“ Das ist dann wohl der von der Versiegelung und Unzulänglichkeit der Kultur im Stich gelassene Mensch, der hier als geschichtlich ungeformter beschrieben wird, mit anderen Worten: gemeint sind die Großstadtmassen, die gern von der Architektur als ideologische Partner in Anspruch genommen werden.“ (Die Seele im technischen Zeitalter, Hamburg 1957, S. 34) zit. bei Horn: a.a.O., S. 116, Fn 40. 122 vgl. Alexander Mitscherlich: Das soziale und das persönliche Ich. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 18.Jg., 1966, S. 21 ff. 123 Horn, Klaus: a.a.O., S. 116 124 Schmals, Klaus M. (2001): a.a.O., S. 85 125 ebenda, S. 87 42 Denken charakterisieren: „Diese sind vor allem als Folge von Enttäuschungen über die Resultate des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses zu deuten: Über die Zerstörung der natürlichen Umwelt, die Selbstgefährdung der Menschheit durch Rüstung und Kernkraft, die Funktionalisierung des Menschen, die ethische Unverantwortlichkeit der Gentechnologie, die Sinnentleerung und Orientierungslosigkeit individualisierter, optionsorientierter Menschen, als Folge des Grundgefühls, dass weitere Modernisierung bestenfalls Bestände an Mitteln anhäuft, aber nicht näher an erstrebenswerte Ziele führt, dass eigentlich alles schon einmal probiert worden ist.“126 Die in der Moderne erkennbaren Individualisierungstendenzen der Subjekte, wie sie Stefan Hradil dargestellt hat, scheinen zunächst im Widerspruch zum dominierenden städtebaulichen Leitbild dieser Epoche zu stehen. Der funktionale Städtebau hat das Individuum vielfach in gleichmachende entindividualisierende Formen des Wohnungsbaus „kaserniert“, und er verweist dadurch auch auf gesellschaftliche Widersprüche im Entfaltungsprozess der Individualisierung. Individualisierung, wie ich sie verstehe, eröffnet dem Einzelnen die notwendigen Möglichkeiten, sich selber127 innerhalb seiner Wohn-, Umwelt- und Gesellschaftsformen, verwirklichen zu können.128 Der Individualisierungsprozess, wie ihn Ulrich Beck beschreibt, hat sich historisch kontinuierlich entwickelt und dabei das Subjekt in ein ambivalentes Erleben von Individualität gebracht, das Subjekt wird eher in eine paradoxe Vergesellschaftungsform eingebunden. Seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts beobachtet er den „Anfang eines neuen Modus der Vergesellschaftung“, eine Art „Gestaltwandel“ oder „kategorialen Wandel“ im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft: „»Individualisierung« ist keine Erscheinung, keine Erfindung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Entsprechende »individualisierte« Lebensstile und Lebenslagen finden sich in der Renaissance (Burckhardt), in der höfischen Kultur des Mittelalters (Elias), in der innerweltlichen Askese des Protestantismus (Max Weber), in der Befreiung des Bauern aus ständischer Hörigkeit (Marx) und im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in der Lockerung der intergenerativen Bindungen der Familie (Imhof) sowie in Mobilitätsprozessen – etwa der Landflucht und dem rasanten Städtewachstum (Lederer, Kocka).“129 Im Zuge der Industrialisierung und der Modernisierung, die zu einer Kapitalkonzentration, zu erhöhter Mobilität, zu Massenproduktion und -konsumption führen, lässt sich eine dreifache 126 Hradil, S. (1990): a.a.O., S. 132 f. 127 Selbstverwirklichung könnte man definieren als die erstrebte Entfaltung und Ausschöpfung persönlicher Möglichkeiten des Einzelnen; der Begriff bezeichnet den Menschen in seinem Selbstverständnis und seiner Zielorientierung im Hinblick auf seine Individualität, v.a. hinsichtlich der Erweiterung des individuellen Entfaltungsspielraums. Die damit verbundenen Vorstellungen ordnen sich ein in die neuzeitliche Bewegung der Individualisierung und des mit ihr korrespondierenden Strebens nach Emanzipation von Abhängigkeiten natürlicher, ökonomischer, moralischer sowie metaphysisch-religiöser Art. 128 Unter Individualisierung versteht man aber auch den Prozess der Auflösung von für die Industriegesellschaft typischen Lebensformen und deren Ablösung durch neue; insbesondere der Zerfall der bisherigen, wesentlich durch das Eingebundensein in sozial vorgegebene Gruppen- und Funktionszusammenhänge (z.B.: Bildungsgänge, Partnerschaftsformen, Rollenmuster) geprägten industriegesellschaftlichen »Normalbiographien«, an deren Stelle in der entstehenden postindustriellen Gesellschaft zunehmend individuell ausdifferenzierte, perspektivisch oft auch »ungesicherte« Lebensentwürfe treten. 129 Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt 1986, S. 205 43 Individualisierung im gesellschaftlichen Umbruch feststellen, die bewirkt, dass der Einzelne aus vorhandenen, traditionellen Strukturen „herausfällt“. Ulrich Beck’s Modell gliedert die „Individualisierung“ in drei Komponenten: „Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und –bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge (»Freisetzungs-dimension«), Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen (»Entzauberungsdimension«) und – womit die Bedeutung des Begriffes gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt wird – eine neue Art der sozialen Einbindung (»Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension« ).130 Dabei wird der Mensch zunächst aus den ursprünglichen sozialen, ständisch geprägten Klassen herausgelöst, die sich historisch weit zurückverfolgen lassen. Diese Freisetzungen beziehen sich sowohl auf den Reproduktions- als auch auf den Produktionsbereich. In Individualisierungsprozessen der Moderne werden frühere traditionelle Abhängigkeiten durch Klassenunterschiede und Familienzusammenhänge nicht wirklich außer Kraft gesetzt. Sie treten in den Hintergrund und werden nur durch neue ersetzt, somit ergeben sich „immanente Widersprüche im Individualisierungsprozess. In der fortgeschrittenen Moderne vollzieht sich Individualisierung unter den Rahmenbedingungen eines Vergesellschaftungsprozesses, der individuelle Verselbständigungen gerade in zunehmendem Maße unmöglich macht: Der Einzelne wird zwar aus traditionalen Bindungen und Versorgungsbezügen herausgelöst, tauscht dafür aber die Zwänge des Arbeitsmarktes und der Konsumexistenz und der in ihnen enthaltenen Standardisierungen und Kontrollen ein. An die Stelle traditionaler Bindungen und Sozialformen (soziale Klasse, Kleinfamilie) treten sekundäre Instanzen und Institutionen, die den Lebenslauf des Einzelnen prägen und ihn gegenläufig zu der individuellen Verfügung, die sich als Bewusstseinsform durchsetzt, zum Spielball von Moden, Verhältnissen, Konjunkturen und Märkten machen.“ 131 Die sozusagen individualisierte Privatexistenz wird immer nachdrücklicher und offensichtlicher von Verhältnissen und Bedingungen wirtschaftlich-gesellschaftlicher Rahmenbedingungen abhängig, denen sich der Einzelne nicht entziehen kann. Eine verselbständigte Existenzführung, und das scheint die Ambivalenz der sog. Individualisierungsprozesse zu sein, ist weniger als je zuvor möglich. „Individualisierung bedeutet Marktabhängigkeit in allen Dimensionen der Lebensführung. Die entstehenden Existenzformen sind der vereinzelte, sich seiner selbst nicht bewusste Massenmarkt und Massenkonsum für pauschal entworfene Wohnungen, Wohnungseinrichtungen, tägliche Gebrauchsartikel, über Massenmedien lancierte und adoptierte Meinungen, Gewohnheiten, Einstellungen, Lebensstile. M.a.W., Individualisierungen liefern die Menschen an eine Außensteuerung und -standardisierung aus, die die Nischen ständischer und familialer Subkulturen noch nicht kannten.“132 130 Beck, Ulrich: a.a.O., S. 206 131 ebenda, S. 211 132 ebenda, S. 212 44 Paradoxerweise führt gerade „Individualisierung“ hierdurch zu lnstitutionalisierung, institutioneller Prägung, externer, politischer Gestaltbarkeit von Lebensläufen und Lebenslagen.133 Die sog. Individualisierung löst den Einzelnen nicht nur aus traditionellen Lebenszusammenhängen heraus. Auch Massenmedien wie das Fernsehen vereinzeln den Menschen und unterstützen diese Existenzformen. Es „entsteht das soziale Strukturbild eines individualisierten Massenpublikums oder -schärfer formuliert- das standardisierte Kollektivdasein der vereinzelten Massen-Eremiten (vgl. G. Anders, 1980) (...) Man trifft sich sozusagen am Abend weltweit und schichtenübergreifend am Dorfplatz des Fernsehens“134. Von dort aus kann man Nachrichten und praktisch unendlich viele Ereignisse „live“ erleben, man ist damit gleichzeitig hier und in London, New York oder Moskau. Diese medienvermittelte Art der „räumlich-sozialen Doppelexistenz“ ist überkulturell und übernational und man kann sagen, „die entstehenden Lebenslagen weisen in ihrer „Doppelörtlichkeit“ eine individuell-institutionell schizophrene Struktur auf.“135 In der individualisierten Gesellschaft lernt das Subjekt in Bezug auf das eigene Handeln, die Organisation seiner Fähigkeiten, Orientierungen oder Beziehungen „sein persönliches Planungsbüro“ zu sein. Dies kann aufgrund von Überlebensnotwendigkeiten zu einer Ich- Zentrierung führen: „Dies bedeutet, dass hier hinter der Oberfläche intellektueller Spiegelfechtereien für die Zwecke des eigenen Überlebens ein ich-zentriertes Weltbild entwickelt werden muss, das das Verhältnis von Ich und Gesellschaft sozusagen auf den Kopf stellt und für die Zwecke der individuellen Lebenslaufgestaltung handhabbar denkt und macht. In der Konsequenz werden die Schleusen für die Subjektivierung und Individualisierung gesellschaftlich-institutionell erzeugter Risiken und Widersprüche geöffnet.136 Das Individuum muss folglich bemüht sein, mit dem Risikozuwachs und neuen Risikoformen fertig zu werden, was zu einer schieren Selbstüberforderung werden kann. Trafen den Menschen früher Schicksalsschläge in Form von Kriegen, Naturkatastrophen, Tod eines lieben Menschen, so steht er heute oft Ereignissen gegenüber, die ihm als persönliches Versagen ausgelegt werden. Im Zeitalter der Individualisierung sei hier nur als Beispiel die Arbeitslosigkeit genannt. In traditionellen, mittelalterlichen Lebensformen und Absicherungssystemen spielte diese eine sehr untergeordnete Rolle. Demgegenüber droht das Subjekt in der kapitalistischen Moderne (und natürlich auch heute) aus einem gesellschaftlichen Netz völlig „herauszufallen“. Während die feudalistische Oikos-Struktur durch starke Standes-, Familien- und Sippengebundenheit das Individuum in seiner Entfaltung und Freiheit stark einschränkte oder es in Abhängigkeitsverhältnissen hielt, aus denen es kein Entrinnen gab, gerät das Individuum der fortgeschrittenen Moderne in äußere systembezogene, institutionelle 133 vgl. ebenda, S. 212 134 ebenda, S. 213 135 ebenda 136 ebenda, S. 217 45 Abhängigkeiten. Die Lebensführung des Einzelnen hat die Zielsetzung der „biographischen Auflösung von Systemwidersprüchen“.137 In dieser Gesellschaftsform gerät die Individualisierung, sofern man unter diesem Begriff die Verwirklichung des Selbst versteht, zur Schein-Individualisierung, bzw. zur „Entindividualisierung“. Für das Individuum bringt die aus der historischen Entwicklung entstandene Existenzform ein eher ambivalentes Verhältnis zur Individualität mit sich, sie kann als Paradoxon erlebt werden. Verallgemeinert könnte man sagen, dass das Individuum mit diesen Zwängen überfordert ist. U. Beck folgert: „Aus diesen Zwängen zur Selbstverarbeitung, Selbstplanung und Selbstherstellung von Biographie dürften über kurz oder lang auch neue Anforderungen an Ausbildung, Betreuung, Therapie und Politik entstehen.“138 2.7. Zusammenfassung Individuen partizipieren an einem Vergesellschaftungsprozess auf der Entwicklungslinie Mittelalter, Neuzeit, Moderne und Postmoderne, die sich in der Stadt verortet. Er lässt sich als kontinuierlicher Veränderungs- und Umbauprozess von Wirtschafts- und Herrschaftsstrukturen, Wertsystemen und Weltbildern beschreiben. Der rational-funktionale Städtebau kann als Produkt eines historisch-epochalen Wandlungsprozesses aufgefasst werden, in dem die Ratio durch verschiedenartige Beeinflussungen immer mehr an Wertigkeit erhält. Die mittelalterliche Stadt entwickelte sich zunächst im Spannungsfeld zwischen agrarisch- territorialem Feudalismus und den vorbürgerlichen Herrschafts- und Lebensformen. Die Umwälzung der Produktivkräfte, die Einführung der Geldwirtschaft und zunehmende rationale Weltbilder liefern wesentliche Veränderungsimpulse. In der frühkapitalistischen vorbürgerlichen Gesellschaft gerät das agrarisch strukturierte Land in eine neue Abhängigkeit der in der Stadt kapitalakkumulierenden Gesellschaft, so dass es faktisch zu einer Trennung von Kapital und Grundeigentum kommt. Die Stadt wird bei gleichzeitigem politischem Machtverlust Zentrum industrieller Produktion und entwickelt sich vom Subjekt zum Objekt der Geschichte. Bürgerliche Gesellschaft und Stadt stehen im Einflussbereich einer allgemeinen Verflechtung von Wirtschafts- und Glaubensgesinnung, „der protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus“. Innerweltlich-religiöse Askese auf Basis einer Calvinistischen Prädestination führen zu einer bürgerlichen Grundhaltung, die die gesamte Lebensführung und Arbeitswelt rationalisiert. Arbeit wird Berufung, materieller Erfolg wird als Zeichen göttlichen Auserwähltseins gewertet. Irrationale, asketische Prinzipien ermöglichen die Akkumulation von Produktionsmitteln und machen den „Geist des Kapitalismus“ mit seiner alles bestimmenden Rationalität und Funktionalität erklärbar, die sich in der städtebaulichen Gestaltung fordistischer Lebenswelten widerspiegelt. Mit zunehmender Unüberschaubarkeit von Reichtum und 137 ebenda, S. 218 138 ebenda 46 Machtfülle gerät der ursprüngliche ethische Zweck des Wirtschaftens in Vergessenheit und öffnet dem hemmungslosen Kapitalismus Tür und Tor. Die asketische Unmenschlichkeit der Lehre führt nach Max Weber zu einer inneren Verarmung des Individuums, das die Verantwortung auf den alles entscheidenden und auserwählenden Gott delegiert. Die Lehre der Wertlosigkeit alles rein Kreatürlichen und Körperlichen führt zu einer Spaltung des „minderwertigen“ Körpers vom „überhöht wichtigen“ Geist, die Klaus M. Schmals treffend als Dualisierung der Welt beschreibt. Der Geist der Ratio übernimmt auf dem Weg zum modernen Kapitalismus die Herrschaft über individuelle und gesellschaftliche Lebensverhältnisse. Wolfgang Welsch hat in philosophischer Tradition eine Entwicklungslinie beschrieben, auf der die Entdeckung der Ratio eine historische Zäsur zwischen Mittelalter und Neuzeit darstellt. Mit Rene Descartes beginnt die Vernunft, die exakte Wissenschaft der Neuzeit, die zur Radikalität und Universalität führt und tradierte Strukturen und Muster mit dem Anspruch der Ausschließlichkeit zu erneuern versucht. Architektonische und städtebauliche Ausprägungen rationaler Lebensführung spiegelt die fordistische Stadt der Moderne in Anlehnung an die Charta von Athen wider. Durch dieses prägendste städtebauliche Leitbild des vergangenen Jahrhunderts wird die Stadt zu einer Stadt des Maschinenzeitalters nach rationalen Prinzipien umfunktioniert. Unwirtlichkeit, Entfremdung und Isolation sind vielfach beklagte Folgen. Mit dem europäisch-abendländischen Aufklärungsprozess läuft auch ein Individualisierungsprozess parallel, der bei Stefan Hradil im Modell der geistigen, politischen und (industrie-)gesellschaftlichen Moderne erkennbar wird. Die traditionelle feudalistische Form des Zusammenlebens, die sich durch die Schutz- und Solidaritätsgemeinschaft, soziale Kohäsion und Blutsverwandtschaft charakterisieren ließ, besteht nicht mehr. Statt dessen erhöhen sich individuelle Freiräume und Autonomie, was mit Veränderungen oder dem Verlust von Bindungen, Sicherheit und Gemeinschaft verbunden ist. Die Industriegesellschaft verlangt scheinbar immer mehr Anpassungsleistungen, ohne auf der anderen Seite kulturell verankerte Handlungsziele und Orientierungen zu offerieren. Mit den Arbeitsergebnissen der „dreifachen Individualisierung“ Ulrich Becks lässt sich sagen, dass sich der Individualisierungsprozess historisch entwickelt hat. Es kristallisiert sich heraus, dass das Subjekt diese Individualität offenbar ambivalent erlebt. An Stelle sichernder traditioneller Lebenszusammenhänge tritt eine Außensteuerung und Institutionalisierung an die Individuen heran, die die ständisch familiären Kulturen nicht kannten. Individualisierung entpuppt sich vielfach als Scheinindividualisierung. Das Individuum besitzt die Freiheit, das eigene Handeln steuern zu können. Diese entlarvt sich jedoch eher als eine Notwendigkeit, um nicht aus dem gesamtgesellschaftlichen Netz herauszufallen. Zusammenfassend kann man sagen, dass nicht nur die Stadt sondern auch das Individuum im historischen Kontext vom Subjekt zum Objekt der Geschichte wurde. 47 3. Der symbolische Interaktionismus – ein gesellschafts- theoretisches Interpretationsmodell zur Verbindung von Individuum, städtischer Lebenswelt und Gesellschaft 3.1. Einleitung In der soziologisch-epochaltypisch-historischen Perspektive wurde deutlich, dass Stadt, Gesellschaft und Individuen in einen sich wechselseitig bedingenden kontinuierlichen Veränderungsprozess eingebunden sind. Auf der historischen Entwicklungslinie wurden schrittweise Individualisierungstendenzen erkennbar, die durch den Wandel der politischen, ökonomischen und ideologischen Macht- und Herrschaftsstrukturen in der Gesellschaft erklärbar werden. Das Subjekt befindet sich in einem fortlaufenden Anpassungsprozess an die Rahmenbedingungen der Gesellschaft und seiner Lebenswelt. Individuen sind nur vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen Existenz und ihrer Sozialisation verstehbar, sie sind aber nicht einseitig „Betroffener“ dieses Strukturwandels, sondern sie gestalten es als Teil des Kollektivs mit. Individuum und Gesellschaft können daher als unterschiedliche Betrachtungsstandpunkte menschlichen Zusammenlebens verstanden werden. In diesem zentralen Kapitel möchte ich die Vernetzung von Individuum und Gesellschaft näher analysieren. Dabei bezeichnet Sozialisation die frühe Erfahrung des Menschen mit „Gesellschaft“, welche über Kommunikation und Interaktion anvermittelt wird. Hierzu berufe ich mich auf ein soziologisches Modell, das • die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft differenziert abbildet und beschreibt, • die zwischenmenschliche Interaktion bzw. die Interaktion zwischen Menschen und Objekten als interpretationsbedürftig erkennt, • Symbole als vermittelnde Elemente bewertet, • Beziehungen zwischen Individuen und ihren Lebenswelten erklärbar macht und • durch einen interpretatorisch – hermeneutischen Ansatz eine Verknüpfung zu psychoanalytischen Verfahren ermöglicht. Ich wähle das von George Herbert Mead begründete gesellschaftstheoretische Modell des „Symbolischen Interaktionismus“, da es den o.g. Anforderungen gerecht wird, und das soziologische mit dem psychoanalytischen Paradigma verbindet. 48 3.2. Einführung in die Hermeneutik Hermeneutische1 Methoden zielen im Sinne etymologischen Bedeutung auf Interpretation, Verständnis und Sinnerfassung. Dabei geht es um die Bedeutung dessen, was phänomenologisch in Erscheinung tritt. Das Phänomen ist nicht nur es selbst als das in Erscheinung Tretende, es ist Bedeutungsträger und steht damit in einem übergeordneten Sinnzusammenhang. „Es existiert im Hinblick auf einen Jemand (ein Subjekt), für den es etwas bedeutet. (Auch da, wo es ihm „nichts“ bedeutet, ist die Frage nach der Bedeutung angesprochen.) Die Sinnfrage entfaltet sich somit stets nach zwei Seiten: Einerseits geht es um die Bedeutung eines Phänomens innerhalb eines Kontextes, eines z.B. gesellschaftshistorischen Hintergrundes, von dem sich eine Erscheinung abhebt. - Andererseits geht es um die Bedeutung eines Phänomens für das be-deutende Subjekt. - Über diesen beiden Bedeutungspolen geht es schließlich um den Diskurs über die Bedeutung der Unterschiede, die sich allenfalls zwischen den Deutungen verschiedener Subjekte ergeben, sowie um die Bedeutung der Bedeutung. („Was bedeutet es für mich, dass Dir dieses Kind soviel/sowenig/so etwas ganz anderes ... bedeutet?“) Ter Horst2 geht so weit, dass er „Erziehung“ geradezu als „Einführung in Bedeutungen“ definiert. Daher beruht auch das, was in einem landläufigeren Sinne als “objektiv” gilt, auf einem subjekthaften (d.h. von Subjekten hergestellten) Verständnis. Objektiv ist das von Subjekten als allgemein verbindlich und gültig Erklärte und bezeichnet damit die “Sphäre der Gemeinsamkeiten“ (Danner, H. 2.A. 1989)3. Wir können somit drei Stufen des Verstehens unterscheiden: - auf einer ersten Stufe verstehe ich ein Phänomen so, wie ich es in meinem subjektiven Deutungshorizont einzufügen vermag: als Sein für mich, - auf einer zweiten Stufe verstehe ich es unter seinen Rahmenbedingungen als Sein für sich, - auf einer dritten Stufe ordne es ich in ein gemeinsames Bezugssystem: als Sein für uns. 1 Hermeneutik versteht sich als die Lehre vom Verstehen und der Auslegungskunst. „Gegenstand der Hermeneutik, die um 1500 im Zuge des Humanismus entstand, waren zunächst die Texte antiker Autoren, in erster Linie aber der Inhalt der Bibel, dessen Wahrheitsgehalt als konkret und eindeutig galt. (...) Im 19. Jahrhundert erweiterten Philosophen wie Friedrich Schleiermacher und Wilhelm Dilthey den Horizont der Hermeneutik, indem sie den Leser selbst mit in ihre Betrachtung einbezogen. Hier wurde das Verstehen als ein Vorgang der psychologischen Rekonstruktion begriffen: Im Akt des deutenden Lesens lege, so Schleiermacher, der Rezipient die ursprüngliche Absicht des Autors frei. Interpretation erscheint als Versuch, sich in die Lage des Autors hineinzuversetzen, um den schöpferischen Akt nachzuvollziehen und so den einzig möglichen Sinn des Kunstwerkes aufzudecken. Ziel der Hermeneutik Diltheys war vor allem die Abgrenzung der verstehenden Geisteswissenschaften gegenüber einer rein erklärenden Naturwissenschaft. (...) Im 20. Jahrhundert waren es Edmund Husserl, Martin Heidegger und sein Schüler Hans-Georg Gadamer, die eine Neuorientierung der philosophischen Hermeneutik im Sinn einer eher „offenen“ Auslegekunst unternahmen. (Gadamer wurde 1960 mit seinem bis heute für die Hermeneutik maßgeblichen Standardwerk Wahrheit und Methode schlagartig berühmt.) (...) Ausgehend von Heidegger dehnte die Hermeneutik ihren Gegenstandsbereich auf das ganze Spektrum verstehender Erkenntnis aus, indem sie betonte, dass jegliche Form von Wissen letztlich auf Auslegung beruhen müsse.“ Microsoft Encarta 99 2 Ter Horst, W.: Einführung in die Orthopädagogik, Stuttgart 1984, 3. Aufl., S. 231 3 Danner, H.: Methoden geisteswissenschaftlicher Pädagogik, 2. Aufl., München/Basel 1989 49 Hermeneutisches Vorgehen nimmt seinen Ausgangspunkt in jenem elementaren Verstehen, welchem wir im Alltag auf Schritt und Tritt begegnen. Der Unterschied liegt allerdings darin, dass es sich bei der Hermeneutik um ein bewusstes Verstehen handelt, das aus kritischer Distanz erfolgt, methodisiert ist und damit auf einer „Kultivierung der Verstandesfähigkeit beruht“ (Linke, W. 1966, p. 132). „Zwischen Ausdruck und Aussage einerseits und zwischen Verstehen und Auslegung andererseits befindet sich als vermittelnder Vorgang die denkende Verarbeitung“ (a.a.O. p. 125.4).”5 Verstehen ist niemals nur durch das konkret-gegenwärtige Verhältnis des Subjekts zu dem Gegenstand seiner Betrachtung bestimmt, sondern Teil eines wirkungsgeschichtlichen Geschehens, das die historisch wandelbaren Gegebenheiten, den jeweiligen Horizont des Erkenntnisaktes, berücksichtigen muss.6 Der Interpret und das zu Interpretierende stehen in einem gegenseitigen Bedingungsgefüge. Heidegger und Gadamer beschreiben dieses Dilemma als einen „hermeneutischen Zirkel“: Dabei beziehen sie sich auf die Art und Weise, in der – sowohl im Verständnis als auch in der Interpretation – der Teil und das Ganze kreisförmig aufeinander bezogen sind. Um das Ganze zu verstehen, ist es notwendig, die Teile zu verstehen, und umgekehrt. Nur unter dieser Bedingung sind menschliche Erfahrung und Forschung überhaupt möglich. Das zwischenmenschliche Beziehungsgefüge ist ein Prozess, der auf permanente Deutung im Verstehen angewiesen ist. Im Grunde genommen stellt dieser auch einen Bewertungsvorgang dar. Der Standpunkt, den ein Subjekt in die Interaktion einbringt, ist Ausdruck seines subjektiven Wertesystems. Das Ziel des Verstehens kann es aber nicht sein, eine Allgemeingültigkeit im Verstehen herzustellen, in dem Sinne, dass alle ein bestimmtes Phänomen als bedeutungsgleich aufzufassen haben oder auffassen. Es geht im dialogischen Diskurs darum, „dass ICH DEIN Verständnis (eines Phänomens, einer Situation) verstehe: auch dann, wenn MEIN Verständnis (meine Bedeutung) eine andere ist.“7 Das interpretationsbedürftige Element in der Interaktion ist das Verbindende, das Interessante, das „Dazwischenseiende“, welches also der Interaktion Sinn verleiht. Interaktionen sind symbolvermittelt, d.h., die Teilnehmer einer kommunikativen Situation müssen sich den Sinn durch Interpretation, Definition und Deutung erschließen. „Fremdes Dasein aber ist uns zunächst in Sinnestatsachen, in Gebärden, Lauten und Handlungen von außen gegeben. Erst durch einen Vorgang der Nachbildung dessen, was so in einzelnen Zeichen in die Sinne fällt, ergänzen wir dies Innere. (...) Sonach nennen wir Verstehen den Vorgang, in welchem wir aus sinnlich gegebenen Zeichen ein Psychisches, dessen Äußerungen sie sind, erkennen.“8 4 Linke, W.: Aussage und Deutung in der Pädagogik, Heidelberg 1966, S. 125 5 Kobi, Emil E.: Grundfragen der Heilpädagogik. Eine Einführung in heilpädagogisches Denken. Bern; Stuttgart; Wien; 5. Aufl., 1993, S. 364 6 Dieses Phänomen wird auch als die Horizonttheorie bezeichnet. 7 Kobi, Emil E.: a.a.O., S. 367 8 Dilthey, W.: in Oppolzer, S. (Hrsg.): Denkformen und Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft, München 1969, Seite 25 ff. 50 3.3. Das Modell des Symbolischen Interaktionismus ”Der Begriff ‚symbolischer Interaktionismus‘ ist eine in gewisser Weise barbarische Wortschöpfung, die ich so nebenbei in einem Artikel vornahm, den ich für ‚Man and Society‘ (...) (1937) schrieb. Die Bezeichnung fand irgendwie Anklang und wird jetzt allgemein verwandt.” 9 Der Sozialpsychologe und Philosoph George Herbert Mead (1863–1931) gilt als Begründer des Symbolischen Interaktionismus, wenngleich der Begriff des Symbolischen Interaktionismus erst später von seinem Schüler, Herbert Blumer (1900–1987), ins Leben gerufen wurde. Der symbolische Interaktionismus versteht Interaktion als zwischenmenschlichen Dialog. Menschliches Handeln oder soziales Handeln ist direkt oder indirekt, „seinem Sinn nach“, auf andere Menschen bezogen. Diese Theorie wurde von dem verstehenden Soziologen Max Weber (1864 – 1920) als ”Soziales Handeln”10 bezeichnet: ”Die wechselseitige Ausrichtung des sozialen Handelns von Menschen vollzieht sich durch - verbale und nonverbale - Kommunikation, zu der stets der Austausch von Symbolen gehört. Auf diesen Sachverhalt bezieht sich die Bezeichnung symbolischer Interaktionismus für solche Theorien, die davon ausgehen, dass Wirklichkeit erst dadurch entsteht, dass Menschen sie deuten. Gesellschaft muss dieser Auffassung nach als Ausdruck und Folge der symbolisch vermittelten Kommunikation von Individuen und nicht etwa als ”soziale Tatsache” verstanden werden.”11 Interaktionssituationen, an denen sozial Handelnde teilnehmen, bilden komplexe soziale und kommunikative Phänomene ab. Mitteilungen verschiedenster Art und Weise treffen in der Wahrnehmung der Interaktionspartner auf bestimmte Erfahrungen und Erwartungen, die aber nur „richtig“ verstanden werden, wenn die Agierenden diese richtig zu interpretieren wissen. Interpretation erhält eine doppelte Bedeutung: sie ist einerseits Grundannahme über menschliches Verhalten und zum anderen wissenschaftliche Methode. Die Vertreter des interpretativen Paradigmas gehen davon aus, dass jeder Interagierende permanent interpretiert und dass diese Interaktion andererseits von außen, soziologisch, interpretiert werden kann.12 Somit ist der Prozess der Interaktion auch von soziologischem Interesse. Methodologisch werden zwei Paradigmen der Interaktion differenziert , die sowohl in ihrer Terminologie, als auch in ihren grundlegenden psychologischen und soziologischen Annahmen differieren: 1. das normative und 2. das interpretative Paradigma. Beiden ist zunächst grundlegend das soziologische Interesse am Handeln gemeinsam: Handeln kann definiert werden als das für den Handelnden sinngebende und bedeutungsvolle Verhalten. Handlungen sind „aufeinander bezogen insofern der eine 9 Blumer, Herbert: Der methodologische Standpunkt des Symbolischen Interaktionismus (1969). In: Matthes, Joachim u.a. (Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Bd. 1: Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie. Reinbek 1973, S. 144 10 Weber, Max (1956 / 1922): Wirtschaft und Gesellschaft. 2 Bd., hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen, S. 3: zit. bei : Mogge – Grotjahn, Hildegard: Soziologie. Eine Einführung für soziale Berufe; Freiburg im Breisgau, Lambertus, 1996, S. 46 11 Mogge-Grotjahn, Hildegard: Soziologie. Eine Einführung für soziale Berufe. Freiburg 1996, S.46 12 Treibel, Anette: Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart, Opladen 1994 51 Handelnde auf den anderen „antwortet“ und zugleich die Handlungen des anderen antizipiert, und dies gilt auch, wenn in situativer Einsamkeit gehandelt wird. So ist jede einzelne und besondere Handlung ein Teil des Prozesses der Interaktion, in den verschiedene Handelnde einbezogen sind, die jeweils auf die Handlungen der anderen antworten.“13 Ich werde zunächst die Grundgedanken des normativen Paradigmas aufgreifen und dann anhand der Unterschiede zum interpretativen Paradigma die Grundzüge des symbolischen Interaktionismus darstellen. 3.3.1. Das normative Paradigma In den soziologisch – methodologischen Theoriebildungen zur Zeit Meads wird das agierende Individuum, der sozial Handelnde, einerseits als ausgestattet mit bestimmten erworbenen Dispositionen (Einstellungen, Haltungen, bedingten Reaktionen, strukturierten Bedürfnissen) aufgefasst, andererseits ist er „bestimmten Erwartungen ausgesetzt, die durch Sanktionen gestützt sind. Wir bezeichnen solche Erwartungen gewöhnlich als „Rollenerwartungen“, und wir benutzen den Begriff „Status“, um einen strukturierten Satz von Rollenerwartungen zu bezeichnen, der sich auf einen einzelnen besonderen Handelnden bezieht.“14 Rollen sind mit sozialen Positionen verbunden, die durch einen gewissen Status (und dessen Symbole) zum Ausdruck gebracht werden. Der Interagierende verknüpft mit diesem Status Rollenerwartungen, die er an seine Interaktionspartner heranträgt. Die Teilnehmenden setzen ihren Status in Bezug zu den Statús der anderen, mit denen sie kommunizieren. „Folglich erscheint die Interaktion zwischen Handelnden als bestimmt durch die Rollenerwartungen, die von den jeweiligen Bezugs-Statús ausgehen15, und alle Probleme der Interaktion werden beschrieben und analysiert als Probleme im Verhältnis zwischen den Dispositionen eines Handelnden und den an ihn herangetragenen Rollenerwartungen: in Kategorien also wie Rollenkonflikt, Konformität und Abweichung, Sanktionierung und Verstärkung von Rollenerwartungen und Dispositionen.“16 Eine Prämisse des normativen Paradigmas ist, dass Handelnde ein gemeinsames System von Symbolen und Bedeutungen besitzen, welches die Medien der Sprache und der Gestik einschließt, also ein komplexes System, das der allgemeinen Zugänglichkeit von Kommunikation und Interaktion dient. Lerntheoretische Ansätze, die dieses Modell beeinflussen, gehen davon aus, dass Interaktionshandelnde beabsichtigen, ein Höchstmaß an Gratifikation zu erhalten: Positiv erfahrene Handlungsabläufe werden wiederholt, negativ erfahrene oder sanktionierte Handlungen werden vermieden. 13 Wilson, Thomas P.: Theorien der Interaktion und Modelle soziologischer Erklärung. In: Matthes, Joachim u.a. (Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Bd. 1: Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie. Reinbek 1973, S. 55 14 Wilson, Thomas P.: a.a.O., S. 56 15 vgl.: MERTON 1968: S. 422 bis 424; GROSS u.a. 1958; OESER und HARARY 1962 16 Wilson, Thomas P.: a.a.O., S. 56 52 Im normativen Modell hat die Hypothese eines von allen Teilnehmern gemeinsam geteilten Symbol- und Bedeutungssystems besonders weitreichende Konsequenzen für das Interaktionsverständnis. „Dies wird daran deutlich, dass den Begriffen „Erwartung“ und „Disposition“ gleichermaßen die Vorstellung zugrunde liegt, dass eine feste Verbindung besteht zwischen der Situation eines Handelnden und seinem Handeln in dieser Situation. Geht es um eine Disposition, besteht diese Verbindung in der Neigung des Handelnden, sich in einer bestimmten Situation, in einer ganz bestimmten Situation in einer ganz bestimmten Art und Weise zu verhalten.“17 Disposition läßt den Handelnden nach seinen (durch Sozialisation) erworbenen Neigungen und internalisierten Regeln agieren. Die Verknüpfung von Erwartung und Handeln in einer Situation kann zu einem „Imperativ“ werden, d.h. zu einer Verpflichtung, wie sich der Mensch in einer Situation verhalten sollte. Die Disposition erweist sich als „normative Verpflichtung“ zur Handlung. „Eine Disposition kann dann definiert werden als eine Regel, die vom Handelnden internalisiert oder gelernt worden ist, während eine Erwartung definiert werden kann als eine Regel, die in einem sozialen System institutionalisiert worden ist.“18 Diese Interaktionsregeln wendet der Handelnde auf Ereignisse an, die er als Beispielsfälle erlernter und erfahrener Situationen erfasst. Sein Agieren gleicht er auf Beispielsfälle von Handlungen ab, deren Muster ihm wohlbekannt sind. „Der Handelnde behandelt also spezifische Ereignisse als Beispielsfälle von Situationen und konkrete Verhaltensweisen als Beispielsfälle von Handlungen. Wenn soziale Interaktion dauerhaft und beständig sein soll, müssen die verschiedenen Teilnehmer Situationen und Handlungen in gleicher Weise definieren, denn sonst könnten die Regeln nicht in der Weise wirksam werden, dass sie über Zeitabläufe hinweg zusammenhängende Interaktion hervorbringen können. Dieser kognitive Konsens wird, so unterstellt das normative Paradigma, dadurch erreicht und abgesichert, dass die Handelnden ein System kulturell etablierter Symbole und Bedeutungen gemeinsam haben.“19 Der kognitive Konsens setzt demnach voraus, dass allen Teilnehmern einer Interaktion die getätigten Handlungen, Symbole und ihre Bedeutungen bekannt sind. Dies würde aber implizieren, dass alle Menschen über ein gleiches Symbol- und Verständigungssystem verfügen, was auch vor dem Hintergrund einer großen kulturellen Vielfalt als eine absolute Utopie erscheinen muss. Wenn Interaktionen normiert werden könnten, wären die Teilnehmer und auch die Situationen grundsätzlich austauschbar.20 Teilhabende einer Interaktion können kein übergreifendes identisches, gemeinsam geteiltes Symbol- und Deutungssystem besitzen, da der Mensch nicht nur aus Rollen und 17 Wilson, Thomas P.: a.a.O., S. 56 18 ebenda 19 ebenda, S. 57 20 Wilson (ebenda, S. 57 f.) führt hierzu noch folgendes aus: „Dies bedeutet nun für den Beobachter, dass die Frage, was jeweils eine Situation ist, und die andere Frage, was jeweils eine Handlung ist, die ein Handelnder in Bezug auf ein bestimmtes Ereignis ausführt, in der gleichen Weise zu beantworten sind, dass auf das gemeinsame, geteilte Bedeutungssystem der Gruppe zurückgegriffen wird, innerhalb derer die Interaktion stattfindet. Ohne einen solchen Rückgriff auf die gemeinsame kognitive Kultur gibt es für den Beobachter keine Möglichkeit zu entscheiden, ob zwei Verhaltensweisen, von verschiedenen Handelnden (oder von demselben Handelnden zu verschiedenen Zeitpunkten) ausgeführt, Wiederholungen der gleichen Handlung oder aber völlig verschiedene Handlungen sind. 53 Dispositionen besteht. Jedes Individuum bringt in diese Kommunikation seine persönliche Identität und seine subjektiven (Lebens-)Erfahrungen ein. Das normative Paradigma impliziert ein feststehendes Rollen- und Wertesystem, welches Wandlungen und Entwicklungen von Rollen, Erwartungen, Einstellungen und Standpunkten nicht vorsieht. Interaktionen können aber nicht auf ein festgelegtes schematisches Reagieren von Teilnehmern reduziert werden. Der Sinn von Symbolik, der die Einzigartigkeit der Interaktion und ihrer Partner unterstreicht, wird im normativen Paradigma nicht berücksichtigt. Das normative Paradigma versucht zu verobjektivieren, was m.E. nicht verobjektiviert werden kann. 3.3.2. Das interpretative Programm Das interpretative Programm geht von der Prämisse aus, dass in einer Interaktion befindliche Personen ihre Situation permanent interpretieren und reflektieren müssen. Menschen einer Gesellschaft stimmen ihre Wahrnehmungen, Handlungen und Aktivitäten aufeinander ab. Interaktionsprozesse als Wechselbeziehungen zwischen Menschen sind daher unvermeidbar komplex und einzigartig. Personen bringen sich direkt oder indirekt, bewusst oder unbewusst, über Sprache, Mimik, Gesten, Tonfall, Körpersprache, etc. in die Interaktion ein. Diese Interaktionen werden von den Teilnehmern fortlaufend analysiert, interpretiert.21 Mead hat die Besonderheit menschlicher Interaktion betont. Der Einsatz der Sprache über bestimmte Gesten (Laute und Gebärden) hinaus, zeigt die erweiterte Interaktionsform des Menschen: „Der Mensch nimmt für Mead eine Sonderstellung ein: Er ist das symbolverwendende Tier. Im Gegensatz zum Tier haben die Gesten des Menschen ”einen Sinn”. Menschliche Gesten sind für Mead signifikante Symbole, wobei zwischen non-vokalen und vokalen oder verbalen Gesten unterschieden werden kann. Die vokalen Gesten, so Mead, sind wichtiger als alle anderen Gesten.”22 Interaktion und soziales Handeln drücken eine wechselseitige Beziehung zwischen Partnern aus, die sich durch verbale und nonverbale beidseitige Kommunikation vollzieht, welche wiederum auf Symbolen aufgebaut ist. Die Verhaltensforschung hat festgestellt, dass ca. 80 % der Kommunikation auf nonverbal-symbolischer Ebene verläuft. Daher ist es wissenschaftlich von Bedeutung, dass der Symbolbegriff dieses Modells nicht nur die Sprache, sondern auch körpersprachliche Signale wie Gestik und Mimik umfasst. Auch diese drücken die Qualität des gemeinsamen Beziehungsgeschehens aus wie z.B. ein verneinendes Kopfschütteln, ein zustimmendes Nicken oder das Achselzucken als Ausdruck des Nichtwissens. Der symbolische Interaktionismus impliziert alles, was der Intention der Interaktion oder der Interaktion an sich Aus – druck oder Be – deutung verleiht. Die Interagierenden können diese Botschaften, Signale oder Symbole des Partners verstehen, wenn sie sie zu interpretieren wissen. Handlungen beinhalten einen hohen subjektiven Anteil, so dass Deutung und Verstehen sehr „störanfällig“ sein können. 21 Treibel, Anette: a.a.O., S. 127: ”In Interaktionen schlüpfen wir ständig in die Haut von anderen, unterstellen oder erwarten ein bestimmtes Verhalten oder verhalten uns selbst entsprechend. Der generalisierte Andere (Mead) ist immer anwesend.” 22 Treibel, Anette: a.a.O., S. 112 54 Die Teilnehmer einer Interaktion stellen ihre Interaktionswirklichkeit real her als Individuen und nicht ausschließlich als Träger von sozial definierten Rollen, Erwartungen und Dispositionen. Das Thomas Theorem „Die Akteurinnen und Akteure verhalten sich nicht (...) als Reagierende, sondern als relativ autonome Individuen, die durch ihre Definition und Interpretation einer Situation diese erst herstellen. (...) Diese Auffassung geht auf den amerikanischen Sozialpsychologen William Isaac Thomas (1863 – 1947) zurück, der in den 20er Jahren die These aufgestellt hatte, dass erst dadurch, dass Menschen Situationen für sich als real definieren, diese in ihren Folgen real werden. Menschliches Handeln hat also einen sehr großen subjektiven und situationsgebundenen Anteil. Diese These wurde als Thomas -Theorem bezeichnet. Soziale Wirklichkeit gibt es nicht von sich aus, sondern nur durch das wechselseitig aneinander orientierte und interpretierende Handeln von Individuen.“23 Herbert Blumer beschreibt den symbolischen Interaktionismus folgendermaßen: „Die Prämissen des symbolischen Interaktionismus sind einfach. Ich glaube, man kann sie leicht prüfen und bestätigen, indem man lediglich beobachtet, was direkt vor der eigenen Nase im sozialen Leben vor sich geht. (...): Das menschliche Zusammenleben besteht aus dem gegenseitigen Aufeinanderabstimmen der Handlungslinien der Teilnehmer; solch eine Ausrichtung des Handelns erfolgt vorwiegend dadurch, dass die Teilnehmer einander anzeigen, was der jeweils andere tun soll, und dass sie umgekehrt solche durch andere vorgenommene Anzeigen interpretieren; aus einer solchen Interaktion formen die Menschen die Objekte, die ihre Welten ausmachen; die Menschen sind darauf ausgerichtet, in Bezug auf ihre Objekte auf der Grundlage der Bedeutung zu handeln, die diese Objekte für sie haben; die Menschen treten ihrer Welt als Organismen mit einem Selbst gegenüber, das den Einzelnen in die Lage versetzt, sich selbst etwas anzuzeigen; menschliches Handeln wird vom Handelnden auf der Grundlage dessen aufgebaut, was er wahrnimmt, interpretiert und einschätzt; und die Verkettung solch fortlaufenden Handelns begründet Organisationen, Institutionen und unermessliche Komplexe ineinandergreifender Beziehungen.”24 Die zentralen Grundpfeiler des symbolischen Interaktionismus hat Herbert Blumer folgendermaßen formuliert: • „Menschen sind, individuell und kollektiv, darauf ausgerichtet, auf der Grundlage der Bedeutung der Objekte25 zu handeln, die ihre Welt ausmachen; 23 Treibel, Anette: a.a.O., S. 109 24 Blumer, Herbert: Der methodologische Standpunkt des Symbolischen Interaktionismus (1969). In: Matthes, Joachim u.a. (Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Bd. 1: Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie. Reinbek 1973, S. 132 25 Unter „Objekten“ oder „Dingen“ fasst Blumer alles, was der Mensch in seiner Welt wahrzunehmen vermag – physische Gegenstände, wie Bäume oder Stühle; andere Menschen, wie eine Mutter oder einen Verkäufer; Kategorien von Menschen, wie Freunde oder Feinde; Institutionen, wie eine Schule oder eine Regierung; Leitideale wie individuelle Unabhängigkeit oder Ehrlichkeit; Handlungen anderer Personen, wie ihre Befehle oder Wünsche; und solche Situationen, wie sie dem Individuum in seinem täglichen Leben begegnen. 55 • der Zusammenschluss der Menschen erfolgt notwendigerweise in der Form eines Prozesses, in dessen Verlauf sie sich gegenseitig etwas anzeigen und das Anzeichen der jeweils anderen interpretieren; • soziale Handlungen sind, gleichgültig, ob sie individueller oder kollektiver Art sind, in einem Prozess aufgebaut, in dem die Handelnden die ihnen begegnenden Situationen wahrnehmen, interpretieren und einschätzen; und • die komplexen Verkettungen von Handlungen, die Organisationen, Institutionen, Arbeitsteilung und Netzwerke gegenseitiger Abhängigkeiten ausmachen, sind dynamische und nicht statische Angelegenheiten.”26 Der Symbolische Interaktionismus versucht nicht, die Reaktionen der einen Person auf die Aktionen des Anderen zu normieren. Ein für beide Interaktionspartner gut funktionierendes Rollenverhalten impliziert die Fähigkeit zu einem Perspektivenwechsel. Dies setzt voraus, dass die Interaktionspartner die Absichten des Anderen zu interpretieren verstehen, bevor sie ihren Dialog fortsetzen. Sie versuchen, die Perspektive des Partners im Interaktionsprozess zu erschließen und dementsprechend auf Basis dieser erschlossenen Intentionen auch zu handeln. Soziales Handeln ist eine Reaktion auf die erschlossene symbolische Intention des Interaktionspartners. Diese Art von Interaktion hat Mead als symbolische Interaktion definiert. Die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und damit die Fähigkeit, sich in den Mitmenschen und seine Erwartungshaltungen hineinzuversetzen, nennt G. H. Mead ”taking the role of the other”: ”In einer Serie von Aufsätzen um 1910 findet Mead schrittweise zu den Grundzügen der Theorie symbolvermittelter Interaktion. Er behauptet, dass die Transformation von Handlungsphasen in gestische Zeichen es ermöglicht, auf die eigenen Handlungen zu reagieren, dadurch die Reaktionen anderer zu repräsentieren und bereits antizipatorisch die eigenen Handlungen von virtuellen Reaktionen anderer beeinflussen zu lassen. Menschliches Verhalten wird an den potentiellen Reaktionen anderer orientiert; über Symbole bilden sich Muster wechselseitiger Verhaltenserwartungen heraus, die freilich immer in den Fluß der Interaktion, der Bewährung der Antizipatoren, eingelassen bleiben.”27 Das interpretative Paradigma unterscheidet sich vom normativen Ansatz nicht nur durch die Notwendigkeit von Interpretation und die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel in der Interaktion, sondern auch durch unterschiedliche Definitionen des Rollenbegriffs und der Rollenübernahme. Roy Turner stellt das Konzept der Rollenübernahme den normativen Rollenvorstellungen folgendermaßen entgegen: „Mit der Idee der Rollenübernahme verändert sich die Perspektive: es geht nicht mehr um den einfachen Prozess der Ausführung einer vorgeschriebenen Rolle, sondern darum, auf der Grundlage der Rolle, die einem von anderen zugeschrieben wird, das eigene Handeln zu entwerfen und zu verwirklichen. Der Handelnde nimmt nicht einfach einen Status ein, für den es einen wohlgeordneten Satz von Regeln oder Normen gibt; er ist vielmehr eine Person, die in einer Perspektive handeln muss, welche zum Teil durch seine Beziehungen zu anderen 26 Blumer, Herbert: a.a.O., S. 133 27 Joas, Hans: Symbolischer Interaktionismus. Von der Philosophie des Pragmatismus zu einer soziologischen Forschungstradition. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 40, 1988, S. 425 56 vorgezeichnet wird; das Handeln dieser anderen ihm gegenüber reflektiert Rollen, die er identifizieren muss.“28 3.3.3. Rollentheorien und Rollenübernahme Der Begriff der Rollenübernahme ist nicht nur in Rollentheorien zu finden, die sich mit sozialer Interaktion und Kommunikationsphänomenen auseinandersetzen, wie z.B. bei G. H. Mead und H. Blumer. Auch in den klassischen Rollentheorien ist dieser Begriff üblich, jedoch ergeben sich durch die abweichende theoretische Ausrichtung der Modelle unterschiedliche Sinngehalte. Grundsätzlich unterscheiden wir die positionale Rollenübernahme von der personenorientierten Rollenübernahme. Klassische Rollentheorie Die klassische Rollentheorie bezeichnet „Rollenübernahme“ als Prozess der Übernahme gesellschaftlicher, sozialer Rollen, mit denen eine Verknüpfung an soziale Positionen verbunden ist: „Rolle wird als ein Satz von Verhaltensvorschriften definiert, der einer sozialen Position in einem gesellschaftlichen Gefüge zugeordnet ist29. Ähnlich definiert Ralf Dahrendorf30 soziale Rollen als ein ”Bündel von Erwartungen”, die in einer Gesellschaft mit dem Verhalten der Träger von sozialen Positionen verbunden sind. Rollenübernahme im Rahmen dieser Theorien bezeichnet also den Lernprozess, in dem das Individuum die Rollenvorschriften und -erwartungen seiner augenblicklichen sozialen Rolle erschließt. Linton31 erweitert später den Begriff der Rolle und spricht von Rollenerwartungen, die an den Inhaber einer sozialen Position gerichtet sind. Personenorientierte Rollenübernahme E.A. Weinstein32 und M. Waller33 unterscheiden von diesem Prozess der Rollenübernahme, den sie als positionale Rollenübernahme bezeichnen, die personenorientierte Rollenübernahme.”34 Sie orientiert sich am Rollenbegriff des Symbolischen Interaktionismus G. H. Meads. „Danach sind Rollen nicht Erwartungen, die an Positionen im sozialen System gebunden sind, sondern mehr ein Komplex von Haltungen, Einstellungen und Verhaltensweisen, der sich aus der Beziehung der Handlungspartner zueinander ergibt. Damit ist der Begriff der Rolle wesentlich individueller gefasst. Sinnvolles, d.h. für beide 28 Turner, Roy: Role-Taking: Process versus Conformity. In: Rose, Arnold M.: Human Behaviour and Social Process. An Interactionistic Approach, London: Routledge,1962, S. 22 29 vgl.: Linton, R.: Rolle und Status. In: Hartmann, H. (Hrsg.): Moderne amerikanische Soziologie. Stuttgart, 1967 30 Dahrendorf, R.: Die gegenwärtige Lage der Theorie der sozialen Schichtung. In: Dahrendorf, R. (Hrsg.): Pfade aus Utopia. München, 1967a und Dahrendorf, R.: Homo Sociologicus. Köln, 1967 b 31 Linton, R.: Rolle und Status. In: Hartmann, H. (Hrsg.): Moderne amerikanische Soziologie, Stuttgart, 1967, zit. Bei Riegels, V.: a.a.O., S. 39 32 Weinstein, E. A.: The development of interpersonal competence. In: Goslin, D.A. (Hrsg.): a.a.O., 1969, S. 753-755 33 Waller, M.: Zur Kritik der rollentheoretischen Orientierung der Sozialisationsforschung. In: Walter, H. (Hrsg.): Sozialisationsforschung, Bd. 1: Erwartungen, Probleme, Theorieschwerpunkte. Stuttgart, 1973, S. 213-142 34 vgl.: Riegels, Volker: Auffälligkeiten im sozialen Verhalten von Kindern mit leichter Hirnfunktionsstörung (”Minimal Brain Dysfunction”). Eine Untersuchung zur Fähigkeit der Rollenübernahme. Dissertation am Fachbereich Psychologie der Philipps-Universität Marburg, Marburg 1977 , S. 39 f. 57 Interaktionspartner befriedigendes Rollenhandeln, setzt die Fähigkeit zu einem symbolischen Perspektivenwechsel voraus.”35 Der Handelnde nimmt nicht nur seine eigenen Interaktionsabsichten wahr, sondern auch seinen Gesprächpartner mit dessen individuellen Intentionen und Bedürfnissen. Symbolisches Interagieren impliziert, dass die Handlungen des Interaktionspartners zu entschlüsseln und zu interpretieren sind. Der Akteur muss dabei (sich und) sein Verhalten fortlaufend reflektieren. Die in der Interpretation entschlüsselten Absichten und Bedeutungen vermitteln ihm nur vorläufige Erkenntnisse, eine Art symboldeutende Arbeitshypothese, die im Laufe der Interaktion verifiziert oder falsifiziert wird. Dieser permanente Bedarf an Revision wird auch Reinterpretation genannt. Der Interpretationsprozess ist dynamisch und nicht statisch. Permanent erweitern sich die Erkenntnisse, wechseln Standpunkte, die redefiniert werden müssen.36 Die Interpretation der interaktiven Symbolik kann näherungsweise, d.h., bis die symbolische Mitteilung richtig gedeutet ist, erfolgen. Die Entschlüsselung von Symbolen ist kein ausschließlich intellektueller Vorgang, sondern ein ganzheitliches Erfassen, das alle Ich-Funktionen beansprucht.37 Symbolische Wertesysteme im Wandel Die Entschlüsselung von Symbolik unterliegt keinem starren Deutungssystem, sondern sie wandelt und entwickelt sich genauso wie gesellschaftliche oder kulturelle Wertesysteme. „Nach dem interpretativen Paradigma können daher, im Unterschied zum normativen Paradigma, Situationsdefinitionen und Handlungen nicht als ein für allemal, explizit oder implizit, getroffen und festgelegt angesehen werden, - getroffen und festgelegt in der Form einer buchstäblichen oder sinngemäßen Übertragung eines vorgegebenen, kulturell – etablierten Symbolsystems auf sie. Vielmehr müssen Situationsdefinitionen und Handlungen angesehen werden als Interpretationen, die von den an der Interaktion Beteiligten an den einzelnen „Ereignisstellen“ der Interaktion getroffen werden, und die in der Abfolge von „Ereignisstellen“ der Überarbeitung und Neuformulierung unterworfen sind.“38 G. H. Mead bewertet Sprache als System gemeinsamer Symbole mit zentraler Stellung. Die subjektive Bedeutung von Objekten beeinflusst das menschliche und soziale Handeln. Wenn Dinge für uns eine ganz persönliche „symbolische“ Bedeutung haben, werden sie für uns handlungsleitend. Diese zentrale Aussage hatte ich bereits als das „Thomas – Theorem“ vorgestellt. Auch H. Blumers erste Prämisse des symbolischen Interaktionismus besagt, dass Menschen „Dingen“ gegenüber auf der Grundlage der Bedeutungen handeln, die diese 35 Riegels, V.: a.a.O., S. 40 36 Harold Garfinkel hat die methodologischen Implikationen des interpretativen Paradigmas näher untersucht mit seinem Konzept der „dokumentarischen Interpretation“ und der „Indexikalität“, was ich hier nur der Vollständigkeit halber anmerken möchte. (Garfinkel, Harold: Common Sense Knowledge of Social Structures: The documentary method of Interpretation in Lay and Professional Fact Finding S. 689 – 712 in: Scher, Jordan M. (Hrsg.): Theories of the Mind, New York, Free Press, 1962 und Garfinkel, H.: Studies of the routine Grounds of Everyday Activities. Social Problems 11 (Winter), S. 225 - 250 37 Diese sind gem. der Analytischen Psychologie C. G. Jungs: Denken, Fühlen, Empfinden und Intuieren 38 Wilson, Thomas P. (1973): a.a.O., S. 61 58 Dinge für sie besitzen. Die Bedeutungen solcher Dinge entstehen auch aus der sozialen Interaktion.39 Objekte können für uns auf unterschiedlichen Ebenen einen Wert besitzen. „Da die Handlung des Handelnden aus seinen Wahrnehmungen, seinen Deutungen und seinen Urteilbildungen heraus entsteht, muss die sich aufbauende Handlungssituation durch die Augen des Handelnden gesehen werden, - müssen die Objekte dieser Situation wahrgenommen werden, wie der Handelnde sie wahrnimmt, - müssen die Bedeutungen dieser Objekte so ermittelt werden, wie sie sich für den Handelnden darstellen, - müssen die Leitlinien des Handelns nachvollzogen werden, wie sie der Handelnde entwickelt. Kurz: man muss die Rolle des Handelnden übernehmen und die Welt von seinem Standpunkt aus sehen.“40 Der symbolische Interaktionismus vertritt die These, dass die Welten, die für Menschen und ihre Gruppen existieren, aus Objekten zusammengesetzt sind. Diese Objekte wiederum sind Produkte von symbolischen Interaktionen. Entsprechend der Definition H. Blumers zu Objekten oder Dingen bezieht sich der Begriff Objekt zunächst auf alles, was man anfassen kann, auf das man hinweisen oder auf das man sich beziehen kann41. „Die Beschaffenheit eines Objektes – und zwar eines jeden beliebigen Objektes – besteht aus der Bedeutung, die es für die Person hat, für die es ein Objekt darstellt. Diese Bedeutung bestimmt die Art, in der sie das Objekt sieht; die Art, in der sie bereit ist, in Bezug auf dieses Objekt zu handeln; und die Art, in der sie bereit ist, über das Objekt zu sprechen. Ein Objekt kann eine unterschiedliche Bedeutung für verschiedene Individuen haben. (...) Die Bedeutung von Objekten für eine Person entsteht im wesentlichen aus der Art und Weise, in der diese ihr gegenüber von anderen Personen, mit denen sie interagiert, definiert worden sind.“42 Diese Grundaussage erweitert Interaktionen auch auf symbolvermittelte Kommunikation zwischen Menschen und Objekten. Das, was meine städtische Lebenswelt ausmacht, ist meine ganz persönliche Beziehung zu ihr, die in die Interaktion aufgrund meiner biographischen Erfahrung einfließt. Das Individuum fühlt sich durch Dinge oder Objekte in seinen Lebenswelten angesprochen, sie beeinflussen seine Aufenthaltsbereitschaft in diesen „Räumen“. Sie laden den Menschen zum Verweilen ein oder stoßen ihn ab. Das, was das Individuum an einen Ort durch bestimmte Objekte „bindet“, beinhaltet nicht nur physikalisch- materielle, sondern auch sinnliche Werte. Objekte werden damit zu Symbolen, die im Kontext des Betrachters zu interpretieren sind. Der symbolische Interaktionismus stellt somit eine Verbindung zwischen dem Individuum und „seinen“ städtischen oder ländlichen Lebenswelten her. Ein Baum wird als Objekt für Biologen etwas anderes darstellen als für Holzfäller, Schreiner, Stadtbewohner, spielende Kinder, etc. Durch das gegenseitige Anzeigen von Symbolen können in einer Gruppe auch 39 vgl.: Blumer, Herbert (1973): a.a.O., S. 81. Dort hat er auch den Begriff des „Dinges“ sehr weit gefasst: „Unter „Dingen“ wird hier alles gefasst, was der Mensch in seiner Welt wahrzunehmen vermag – physische Gegenstände, wie Bäume oder Stühle; andere Menschen, wie eine Mutter oder ein Verkäufer; Kategorien von Menschen, wie Freunde oder Feinde; Institutionen, wie eine Schule oder eine Regierung; Leitideale wie individuelle Unabhängigkeit oder Ehrlichkeit; Handlungen anderer Personen, wie ihre Befehle oder Wünsche; und solche Situationen, wie sie dem Individuum in seinem täglichen Leben begegnen.“ 40 Wilson, Thomas P.: a.a.O., S. 61 41 Man kann auch differenzieren in physikalische, soziale und abstrakte Objekte. 42 Blumer, Herbert (1973): a.a.O., S. 90 59 gemeinsame Objekte, die für die Gruppenmitglieder verknüpfende Bedeutung haben, entstehen. Gruppen definieren sich oft über die Gemeinsamkeit von Symbolen. Gemeinschaft und Symbolik Diese Gemeinsamkeit von Symbolen führt zu einer neuen Sichtweise von Lebenswelt und menschlichem Zusammenleben. „Von deren Standpunkt aus gesehen besteht die Umwelt nur aus den Objekten, die die jeweiligen Menschen wahrnehmen und die sie kennen. Der Charakter dieser Umwelt wird durch die Bedeutung bestimmt, die die Objekte, die diese Umwelt ausmachen, für jene Menschen haben. Individuen wie auch Gruppen, die denselben räumlichen Standort einnehmen oder in ihm leben, können dementsprechend sehr unterschiedliche Umwelten „besitzen“; wie man zu sagen pflegt, können Menschen Seite an Seite und doch in unterschiedlichen Welten leben. Tatsächlich trifft der Begriff „Welt“ eher zu als der der „Umwelt“, um die Einbettung, die Umgebung und die Verflechtung der Dinge zu bezeichnen, die den Menschen entgegentreten. Es ist die Welt ihrer Objekte, mit der die Menschen sich auseinandersetzen müssen und auf die hin sie ihre Handlungen entwickeln. Es folgt daraus, dass, will man das Handeln von Menschen verstehen, man notwendigerweise ihre Welt von Objekten verstehen muss.“43 Menschen gestalten ihre (städtische) Lebenswelt und ihre Objekte entsprechend der für sie inhärenten Bedeutungen. Hier wird deutlich, dass der Symbolische Interaktionismus als gesellschaftstheoretisches Modell auch Gesellschaft und städtische Lebenswelten miteinander zu verbinden weiß. Die Objekte und ihre Bedeutungen unterliegen einem permanenten Wandel: „Vom Standpunkt des symbolischen Interaktionismus aus ist, kurz gesagt, das menschliche Zusammenleben ein Prozess, in dem Objekte geschaffen, bestätigt, umgeformt und verworfen werden. Das Leben und das Handeln von Menschen wandeln sich notwendigerweise in Übereinstimmung mit den Wandlungen, die in ihrer Objektwelt vor sich gehen.“44 Damit der Mensch soziales Handeln sicher bewerkstelligen kann, gehen bestimmte, sich wiederholende Interaktionsabläufe, Erwartungen und Symbolwelten in sein „routiniertes“ Alltagswissen über. Dieses muss er in Interaktionen nicht ständig neu definieren, es vermittelt ihm Kontinuität und Sicherheit und hält ihm damit Kapazitäten für komplexere Themenstellungen frei. In gruppendynamischen Prozessen bedienen wir uns der Symbole zur Demonstration unseres Wissens und zur Akzeptanz von Zugehörigkeit. Symbole sind mit dem früheren Erkennungswort bei Wachen vergleichbar; sie sind der „Ausweis“, der zum Eintritt in eine Gemeinschaft berechtigt, in der man “in” und nicht “out” ist. Ist man kein Insider, so hat man sich durch andersartige Symbole schnell „geoutet“. Symbole demonstrieren dem Interaktionspartner individuelle und kollektive Einstellungen, Zugehörigkeiten zu verschiedensten Lebensphilosophien, Gruppen, etc. in Form von Gegenständen, Sprüchen, Parolen, Aufklebern, Markenkleidungsstücken, etc.45 43 Blumer, Herbert (1973): a.a.O., S. 91 44 ebenda, S. 91 45 Abels, Heinz; Stenger, Horst: a.a.O.: S. 31: „Parolen und viele andere Symbole demonstrieren Wissen, indem sie ausschnitthaft eine bestimmte Sicht der Welt anzeigen und soziale Ortsbestimmungen in gröbster Vereinfachung nach Polaritäten wie “in – out”, oben – unten, gut – schlecht, klug – dumm usw. vornehmen. Alle Formen demonstrativen Bescheid-Wissens verweisen auf ein durchgehendes Grundmuster der 60 Symbole und Zeichen werden zum Ausdruck demonstrierenden Bescheidwissens über die Spielregeln einer bestimmten Gruppe, mit der man sich identifiziert, deren Mitglied man sein möchte. „Name dropping“ schafft oft einen Zugang zu diesen Welten. Prestigeträchtige Objekte weisen auf einen wünschenswerten, aber nicht realen sozialen Status hin oder entlarven subjektiv empfundene Defizite eines mangelnden Selbstwertgefühls, das nach Aufwertung begehrt: „(...) Als ich das Problem gestern noch mit dem Abgeordneten Schmitz diskutierte, nachdem ich in der Financial Times über den Sachverhalt gelesen hatte (...).“ 3.3.4. Methodologische Aspekte der Analyse symbolischer Interaktionen Da sich in der Betrachtungsweise von Objekten subjektive Bedeutungszusammenhänge eröffnen, stellt sich natürlich die Frage, ob sich diese Perspektiven und Bedeutungen von „Welt- und Umwelterfahrung“ allgemeingültig abbilden lassen. Gibt es ein wissenschaftliches Verfahren, das die Dokumentation und Verarbeitung von Erkenntnissen aus der symbolischen Interaktion ermöglicht? T. P. Wilson hat in diesem Zusammenhang die Methodik der dokumentarischen Interpretation diskutiert. Eine Prämisse dieser Konzeption ist es, dass der Forscher, wenn er Interaktion, Symbolik und Objektbedeutung verstehen will, sich auf die Ebene der Interpretation einlassen muss. Die Analyse der Interaktion muss bei der Position des Handelnden ansetzen46, und sie darf sich zur Entschlüsselung der Handlungen, ihrer Bedeutungen und Symbole natürlich aller zusätzlichen Informationen bedienen. Darstellungen und Interpretationen von symbolischen Interaktionen müssen als interpretative Beschreibungen vor einem Kontext formuliert werden. Eine Methodik deskriptiver Interpretation ist vom Wesen her unvereinbar mit der Logik und der Struktur deduktiver Erklärungsverfahren. Dies würde nämlich bedeuten, dass Interaktionen einschließlich ihrer Symbolbedeutungen von allgemeingültigen Tatsachen her abgeleitet werden könnten.47 Das Problem der Abbildungsfähigkeit wird im normativen Paradigma durch die Annahme eines gemeinsam geteilten Symbol- und Bedeutungssystems gelöst, auf das sich alle Interaktionen beziehen. Diese Annahme ist aufgrund der beschriebenen Merkmale der Einzigartigkeit der Interaktion unrealistisch. Die Frage ist, ob und wie Symbolik unabhängig vom Kontext intersubjektiv verifizierbar ist. Die deduktive Ableitung setzt voraus, dass ein grundsätzlicher Bedeutungskonsens einer Handlung oder eines Symboles gefunden werden kann. Die hohe Divergenz von Objektbedeutungen lässt Anpassung an wichtige Gruppen oder Personen, das sich im menschlichen Verhalten zeigt. Auch einer demonstrativ zur Schau getragenen Andersartigkeit liegt oft genug eine starke Konformität gegenüber einer ganz anderen Gruppe zugrunde.” 46 Wilson, Thomas P.: a.a.O., S. 61: „(...) müssen die Bedeutungen dieser Objekte so ermittelt werden, wie sie sich für den Handelnden darstellen, - müssen die Leitlinien des Handelns nachvollzogen werden, wie sie der Handelnde entwickelt. Kurz: man muss die Rolle des Handelnden übernehmen und die Welt von seinem Standpunkt aus sehen. Um den Verlauf der Interaktion verstehen und ihm folgen zu können, muss der Forscher sich selbst auf dokumentarische Interpretation einlassen (...)“ 47 Wilson, Thomas P.: a.a.O., S. 63: „Insbesondere aber gilt, dass eine jede Beschreibung, die in eine deduktive Erklärung eingeht, behandelt werden muss, als habe sie eine unveränderliche Bedeutung, die vor allem unabhängig ist von den Umständen, unter denen sie produziert wurde. Eine Beschreibung, die dieser Bedingung ebenso genügt wie dem üblichen Kriterium intersubjektiver Verifizierbarkeit, kann eine abbildende Beschreibung (literal description) genannt werden: in dem Sinne, dass die Beschreibung als ein getreues Abbild der untersuchten Tatsache genommen werden kann. Eine ernst zu nehmende und strikt durchgehaltene deduktive Erklärung kann also nur dann vorliegen, wenn die in sie eingehenden Beschreibungen von Tatsachen als getreu abbildende angesehen werden können.“ 61 nach H. Blumer Subjektivität nicht objektivierbar werden. „Beschreibungen von Interaktionen sind nicht in irgendeinem strengen Sinne intersubjektiv verifizierbar – weil die Interpretationen unterschiedlicher Individuen nur dann übereinstimmen können, wenn diese fähig und in der Lage sind, eine gemeinsame soziale Wirklichkeit miteinander auszumachen.“48 Beziehungen der Individuen untereinander und zu „ihren“ Objekten und Lebenswelten ermöglichen keine Kausalität im traditionell – wissenschaftlichen Sinne. Ein Ausweg aus diesem Ableitungs- oder Deutungsdilemma könnte der Versuch sein, Objekte, Symbole und Interaktionsmuster in bestimmte Muster zu kategorisieren. Symboldeutungen würden hierdurch „klassifiziert“ und vorstrukturiert. Da Gemeinschaft über Symbolik hergestellt werden kann, lässt die gemeinsame soziale Wirklichkeit in einer Gruppe möglicherweise einen Grundkonsens symbolischer Bedeutung im Sinne eines „kleinsten gemeinsamen Nenners“ entstehen. Diese Gemeinsamkeit verbleibt dann meist oberflächlich und kann nur einzelne gemeinsame Deutungsaspekte, nicht aber die gesamte Tiefe der Bedeutsamkeit für den Einzelnen berücksichtigen und beschreiben. So kann das Kreuz ein Symbol für das Christentum darstellen, das die Kirchengemeinde in diesem Moment vereint. Innerhalb und außerhalb der Religionsgemeinschaft sind hiermit aber unendlich viele weitere Konnotationen verknüpft. T. P. Wilson kommt abschließend zu dem Ergebnis, „dass, (...), wenn soziale Interaktion als ein interpretativer Prozess angesehen wird, dann können Beschreibungen von Interaktionen nicht als abbildend betrachtet werden, und soziologische Erklärungen von Handlungsmustern können nicht als deduktiv in irgendeinem strengen Sinne behandelt werden. (...) Wird nun soziale Interaktion als ein interpretativer Prozess angesehen, dann können solche Erklärungen sinnvoll nicht in deduktiver Weise konstruiert werden, sondern sie müssen aufgefasst werden als Akte, mit denen den Handelnden Absichten und Umstände zugeschrieben werden. (...) Schließlich stellt sich auch das Problem der Objektivität in einer interpretativen Soziologie wesentlich anders als in den Naturwissenschaften. In letzteren ist Objektivität äquivalent mit abbildender Beschreibung, während diese in der interpretativen Soziologie nicht möglich ist (...). Soziologische Erklärungen von Interaktionsmustern sind in sich interpretativ und nicht deduktiv und sie unterliegen dem Anspruch auf Objektivität und Kompetenz zwar in sehr unterschiedlicher Weise, jedoch nicht weniger nachdrücklich, als dies für jene Wissenschaften gilt, die auf dem Prinzip der abbildenden Beschreibung beruhen. Das Instrumentarium soziologischer Theoriebildung wird nicht auf das Ziel hin entwickelt, deduktive Erklärungen zu erbringen, sondern es wird als ein konzeptueller Bezugsrahmen verwendet, der den Forscher dazu anleiten soll, ein interpretatives Schema zu formulieren, das für die Analyse seines Forschungsproblems nützlich ist. Schließlich wird die Annahme fallengelassen, dass es einen kulturell – etablierten kognitiven Konsens gebe, der sich in einem geteilten Symbolsystem darstellt und vom Forscher als vorausgesetzt und gesichert angesehen werden kann. Damit wird es einer interpretativen Soziologie möglich, den Prozess der dokumentarischen Interpretation selbst zu erforschen.“49 Eine Methode dieser dokumentarischen Interpretation stellt das narrative Interview dar (siehe Kap. 8). 48 Wilson, Thomas P.: a.a.O., S. 67 49 ebenda, S. 68 ff. 62 3.3.5. Rollenübernahme und Perspektivenwechsel bei Jean Piaget Rollenübernahme und Perspektivenwechsel hat auch der Psychologe Jean Piaget analysiert, der durch seine Forschung über die Intelligenzentwicklung bei Kindern bekannt wurde. Er verknüpft soziale Wahrnehmung eng mit der Entwicklung der kindlichen Intelligenz, deren Entstehung er in einem Modell in vier Phasen einteilte.50 Jedes dieser Stadien beschreibt eine Art der Verarbeitung von Umwelterfahrungen. Innerhalb seiner Forschung ist das Konzept des kognitiven Egozentrismus von zentraler Bedeutung: „Mit Egozentrismus oder Ichbezogenheit ist eine geistige Haltung gemeint, bei der die Umwelt ausschließlich im Bezug zur eigenen Person interpretiert wird. Ein Beispiel für diese typisch kindliche Denkweise ist die Überzeugung eines Kleinkindes, dass es dunkel wird, damit die Menschen schlafen können (Oerter,1968). J. Piaget hat das Phänomen des Egozentrismus auf verschiedenen Ebenen dargestellt, z.B. auf der Ebene des Handelns mit der Objektwelt, auf der Ebene der Wahrnehmung und Vorstellung und auf der Ebene des Denkens und der Kommunikation. (...) Der kognitive Egozentrismus (Zentrierung des Denkens) und seine Überwindung (Dezentrierung des Denkens) zieht sich als allgemeine Entwicklungsdimension durch alle Stadien.“51 Assimilation und Akkomodation Jean Piaget versteht Intelligenzentwicklung als kognitiven Anpassungsprozess an die Umwelt über die adaptiven Grundeinrichtungen der Assimilation und der Akkomodation. Mit Assimilation bezeichnet er die Funktion, mit deren Hilfe Umweltgegebenheiten durch Denken oder Handeln eine Bedeutung erhalten, die mit der bisherigen Erfahrung in Einklang steht. Bestehende Umwelterfahrungen werden in kognitive Schemata eingeordnet. Das Kind macht nun in der Außenwelt permanent neue Erfahrungen und versucht diese in die vorhandenen Muster zu integrieren. Wenn ein Erlebnis jedoch in dieses Schema nicht mehr eingebaut werden kann, wird es erforderlich, die Schemata umzustrukturieren und an die neuen Umwelteindrücke anzupassen. Diese Strukturveränderung bezeichnet Piaget als den Vorgang der Akkomodation, eine Veränderung der Organisationsstruktur des Handelns und Denkens in Richtung auf eine Angleichung an die Anforderungen der Umwelt. Als Auslöser gelten u.a. Störungen des inneren Gleichgewichtes, die Unvereinbarkeit bereits etablierter Ordnungsgesichtspunkte oder die Einsicht, dass Umweltanforderungen mit dem vorhandenen Bestand an Handlungsmöglichkeiten nicht mehr erfüllt werden können. 50 Jean Piaget unterteilte die geistige Entwicklung des Kindes in vier Phasen. In der sensuomotorischen Phase, die von der Geburt bis zum Alter von zwei Jahren andauert, ist das Kind damit beschäftigt, Kontrolle über seine motorischen Bewegungen zu erlangen und Erfahrungen mit physischen Objekten zu sammeln. In der präoperativen Phase zwischen zwei und sieben Jahren konzentriert das Kind seine Aufmerksamkeit auf den Erwerb sprachlicher Fähigkeiten. Zu diesem Zeitpunkt kann das Kind bereits Dinge benennen und intuitive Schlussfolgerungen ziehen. In der konkreten operativen Phase zwischen sieben und zwölf Jahren beginnt das Kind, sich mit abstrakten Größen wie Zahlen und Beziehungen auseinander zu setzen. In der formalen operativen Phase zwischen zwölf und 15 Jahren fängt das Kind schließlich an, logisch und systematisch zu denken. 51 Riegels, V.: a.a.O., S. 42 63 Aquilibration Für Jean Piaget ist die Entwicklung des Menschen eine Folge von weitgehend selbstregulatorischen Anpassungsprozessen des Organismus an seine Umwelt aufgrund interner Gleichgewichtsregulation, die er als Aquilibration bezeichnet. Eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Aquilibration (d.h. die Stabilisation des Gleichgewichtes) ist die Reversibilität des Denkens. Veränderungen der Umwelt können im Denken durch komplementäre Abänderungen der Strukturen kompensiert werden. Je öfter und erfolgreicher das Gleichgewicht hergestellt werden konnte, desto stabiler und störungsresistenter werden die den Funktionen entsprechenden kognitiven Strukturen. Adaption und kognitive Organisation sind demnach die zentralen Kennzeichen jeder Entwicklung, die in den oben beschriebenen Phasen verläuft. Die fortlaufende Überprüfung, Reflexion und Integration von Erkenntnisprozessen wird im interpretativen Paradigma Reintegration genannt (siehe weiter oben). Sie ist erforderlich, um neu gewonnene Informationen von Veränderungen dynamisch aktualisieren bzw. redefinieren zu können. Auch bezüglich dieses permanenten Aktualisierungsbedarfes bestehen Kongruenzen in den Theorien. Egozentrismus Egozentrismus steht in J. Piagets Modell für die Unfähigkeit des Individuums zu akkomodieren, Veränderungen durch Umstrukturierungen von Schemata zu integrieren. Reversible Denkprozesse finden nicht statt und es gibt damit wenig Chancen zur Weiterentwicklung, der Akteur ist in seinem bestehenden Denkschema verhaftet. Aus der Sicht von Interaktionstheorien „klebt“ er an seiner Rolle, die Differenzierungs- und Abstraktionsfähigkeit wird eingeschränkt. Dagegen führt der ständige Abgleichungsprozess zwischen Assimilation und Akkomodation zu differenzierenden Denkstrukturen mit reversiblem, den neuen Verhältnissen angepasstem Denken. Dieses führt letztendlich zur Überwindung des Egozentrismus und damit zur Bewusstseinserweiterung. Diese Fähigkeit bezeichnet G.H. Mead als Rollenübernahmefähigkeit bzw. als Befähigung zum Perspektivenwechsel. J. Piagets Ansatz der Rollenübernahme zielt als reversibler Denkprozess auf die Entwicklung der Intelligenz und der durch autonome Denkvollzüge getragenen Urteilsfähigkeit. Die Bedeutung unterschiedlicher Interaktionssituationen für die Überwindung des Egozentrismus bei Kindern hat J. Piaget differenziert. Für ihn hat die Interaktion der Kinder mit Gleichaltrigen, im Gegensatz zur Interaktion mit Erwachsenen, eine besondere Bedeutung. In der Interaktion mit Gleichaltrigen entsteht der zur Überwindung des Egozentrismus erforderliche kognitive Konflikt. Kinder stehen nach Ansicht dieses Modells dem andersartigen Denken eines gleichaltrigen Interaktionspartners gegenüber und werden zum Perspektivenwechsel gezwungen, um die Interaktion mit Erfolg weiterführen zu können. Der Anstoß zum Perspektivenwechsel erfolgt über die unterschiedlichen Entwicklungsfortschritte einer gleichaltrigen Gruppe, die jedoch nicht zu sehr voneinander abweichen dürfen, da dies den Perspektivenwechsel erschweren würde. M. E. könnte es sogar zur Verweigerung von Rollenübernahme und Anpassung kommen, wenn der interaktive Konflikt als zu groß erlebt wird und damit Entwicklung nicht vollzogen wird. 64 J. Piaget vertritt die These, dass das Kind bei überwiegender Interaktion mit Erwachsenen eine geringere Rollenübernahmefähigkeit entwickelt, da es von ihnen die Erfüllung seiner kindlichen Bedürfnisse erwartet. Aufgrund dieses Autoritätsgefälles wird in einer solchen Interaktionskonstellation Perspektivenwechsel weniger gefordert. Mit der Entstehung der Rollenübernahmefähigkeit in der familialen Sozialisation haben sich verschiedene Ausarbeitungen befasst52. Sie kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass die emotionale Beziehung zwischen Eltern und Kind für die Fähigkeit zur Rollenübernahme und Perspektivenwechsel von entscheidender Bedeutung ist. Der Psychoanalytiker Volker Riegels hat diese grundsätzlichen Überlegungen zusammengefasst: „Das Ausmaß der Zuwendung und Empathie, die das Kind in der sozialen Interaktion mit den Eltern erfährt, bestimmt im Wesentlichen das Vertrauen des Kindes in die Umgebung und die Bereitschaft, sich mit der personalen Umwelt und Objektumwelt explorativ auseinanderzusetzen. Das Kind lernt im Laufe der Sozialisation, dass soziale Interaktion nach dem Prinzip der Mutualität funktioniert, d.h. den Erwartungen z.B. der Eltern an das Kind stehen Erwartungen des Kindes an die Eltern gegenüber. Das Kind lernt erkennen, dass die Befriedigung der Erwartungen der Eltern eine Bedingung für die Befriedigung eigener Bedürfnisse durch die Eltern darstellt. Das Ausmaß der erfahrenen Bedürfnisbefriedigung führt zu einer generalisierten Haltung des Vertrauens zu anderen Interaktionspartnern und fördert die Bereitschaft des Kindes, die Ansprüche anderer wahrnehmen und beantworten zu wollen. Auf dem Hintergrund positiver Erfahrungen in den Interaktionen mit den Eltern entsteht somit ein Motiv, die Erwartungen der Interaktionspartner zu antizipieren, um sich maximale Bedürfnisbefriedigung zu sichern. Damit ist ein Motiv zum Perspektivenwechsel, d.h. zur Rollenübernahme geschaffen. Aus diesen Überlegungen lässt sich die Hypothese ableiten, dass Kinder, die eine vermehrte Zuwendung durch die Eltern erfahren haben, größere Fähigkeiten zur Rollenübernahme ausgebildet haben als die Kinder, deren Zuwendungsbedürfnisse weniger ausgeprägt befriedigt worden sind.“53 3.4. Sozialisation, der Grundstein zur symbolischen Interaktion Will man die Handlungen seines Gesprächspartners in einer kommunikativen Situation verstehen, so erfordert dies die Bereitschaft, sich in das Anliegen des Partners, in seine Erwartungshaltungen und Einstellungen hineinzuversetzen. Erfolgreiche Kommunikation setzt daher Interpretationsvorgänge voraus, die G.H. Mead als Rollenübernahmefähigkeit, „taking the role of the other“, bezeichnet. Symbolische Interaktionsfähigkeit ist die Befähigung zu sozialem Handeln.54 Sozialisation ist die verbindende gemeinsame Basis für die Gesellschaft und ihre Individuen., für Soziologie und Psychoanalyse. Die amerikanischen Soziologen Peter und Birgitte Berger konstatieren im Untertitel ihres Buches „Individuum und Co.“, dass Soziologie beim Nachbarn beginne. Damit meinen sie, 52 Kerkhoff, A.C.,1969; Waller, M.,1971 u. 1973; Hamlyn, D.W., 1974 ; zit. bei Riegels, V.: a.a.O., S. 51 53 Riegels, Volker: a.a.O., S. 51 f. 54 Max Weber (a.a.O.) definiert soziales Handeln als das Handeln, “welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“ 65 dass die Untersuchung wesentlicher sozialer Prozesse nicht an eine gesamtgesellschaftliche Perspektive gebunden ist, sondern auch die Beobachtung und Analyse der zwischenmenschlichen Verhältnisse im mikrosoziologischen Bereich von Familie, Schule, Wohnort, etc. notwendig und sinnvoll macht. Heinz Abels und Horst Stenger gehen noch einen Schritt weiter, indem sie Soziologie als das analytisch geschulte Reflexionsvermögen hinsichtlich gesellschaftlicher Prozesse definieren, das bei jedem Einzelnen selbst beginnt.55 Ihrer These folgend bildet das Individuum in seiner Umwelt den Ausgangspunkt für das soziologische Denken, also für die Untersuchung gesellschaftlicher Prozesse. In der Alltagswelt scheinen Gesellschaft und Individuum eher etwas Gegensätzliches zu sein. Die gegenwärtigen Individualisierungstendenzen in unserer Gesellschaft vermögen diesen Eindruck zu verstärken. Verantwortung für Gemeinschaft scheint in den Hintergrund, individuelle Bedürfnisse und deren Befriedigung in den Vordergrund geraten zu sein. Die Werbung bringt es mit der Parole „Ich und mein Magnum“ auf den Punkt. Individuen sind nur vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen Existenz verstehbar, und im Umkehrschluss gibt es keine Gesellschaft, die aus sich heraus als unabhängige Abstraktion existiert. „Individuum“ und „Gesellschaft“ stehen eher für unterschiedliche Betrachtungsweisen menschlichen Zusammenlebens: „Gesellschaftliche Vorgänge können als analytische Verdichtungen oder Abstraktionen in der Betrachtung menschlichen Zusammenlebens verstanden werden, während wir bei der Beobachtung des Individuums in seiner sozialen Umwelt sozusagen „ins Detail“ gehen.“56 Sozialisation bezeichnet einen Aneignungs- und Erfahrungsprozess von und in der Gesellschaft, der das Subjekt auf seinem Individuationsweg formt. Sozialisation erfährt das Individuum in der Interaktion mit anderen Menschen. Seine subjektiven Einstellungen und Haltungen sind geknüpft an prägende Erlebnisse und Ereignisse, die seine Lebenswelt nachhaltig beeinflussen. Durch diese Eindrücke reift das Individuum zur Persönlichkeit. Für das Individuum beginnt die Erfahrung „der wechselseitigen Beeinflussung“ zunächst scheinbar etwas „einseitig“. Der Mensch wird in dieses Kollektiv hineingeboren und alles Gesellschaftliche um ihn herum existiert bereits: Regeln, Institutionen, Organisation des Zusammenlebens in der Familie, die Erwartungen und Beschränkungen, die mit der Teilnahme am Zusammenleben einhergehen, etc. Das wichtigste psychologische und physiologische Merkmal des Menschen nach seiner Geburt ist die vollständige Abhängigkeit von seiner sozialen Umwelt, eigentlich ist er eine physiologische Frühgeburt mit langer Kindheit, Jugendzeit und entsprechenden Milieueinflüssen.57 Die Mutter ist für das Kleinkind auch heute noch mehrheitlich die erste 55 vgl. Abels, Heinz; Stenger, Horst: Gesellschaft lernen. Einführung in die Soziologie. Leske und Budrich, Opladen 1989, S. 18 56 ebenda, S. 35 f. 57 Hoffmann, Sven O.; Hochapfel, Gerd: Neurosenlehre, psychotherapeutische und psychosomatische Medizin. Stuttgart, New York, 5. Auflage, Schattauer, 1995, S. 33: „Dies hängt damit zusammen, dass der Mensch eine „physiologische Frühgeburt“ ist, bereits zu einem Zeitpunkt sozialen Einflüssen ausgesetzt, zu dem ihm eigentlich von seiner biologischen Entwicklung her noch der Schutz des intrauterinen Milieus zustände. Portmann hat den „eigentlichen“ Geburtstermin des Menschen von seiner Reife her mit 18 Monaten angegeben. Gegenüber anderen Säugern ist auch seine ungewöhnlich lange Kindheit und Jugend auffällig, was ebenfalls einen verstärkten Einfluss der Milieueinflüsse bedingt.“ 66 „Botschafterin“ der Gesellschaft. Die primäre Form sozialen Verhaltens und interaktiver Beziehung erwirbt das Individuum als Säugling durch sie: Stillen, Körperkontakt, d.h., die beglückende Erfahrung der symbiotischen Verschmelzung mit der Mutter, lässt das Kind spüren, dass es „das wunderbarste Kind“ der Welt ist. Es erfährt, um seiner selbst Willen wertvoll zu sein und geliebt zu werden. In der ersten „Aneignungsphase“ von Gesellschaft, der primären Sozialisation, lernt aber das Kind bzw. der Säugling auch durch die erste Interaktionsperson Mutter auf einer „einfachen“, vorsprachlichen Ebene einen wichtigen Aspekt der symbolischen Interaktion: Die Wahrnehmung von Erwartungshaltungen eines Anderen. Das kleine Individuum nimmt die unterschiedlichen Reaktionen der Mutter auf das eigene Verhalten wahr. Dieses Verhalten ist zunächst von körperlichen und emotionalen Grundbedürfnissen gesteuert, wobei das Kind ab einem bestimmten Punkt merkt, dass die Mutter auf die Bedürfnisäußerungen und Verhaltensweisen situationsangemessen, d.h. nicht gleichförmig - automatisch reagiert. Das Kind erfährt z.B. durch Tonfall, Stimme oder Gestik, dass das Herunterwerfen eines Balles etwas anderes auslöst, als das Herunterwerfen einer wertvollen chinesischen Vase. Es lernt, den gleichen motorischen Impuls mit differenzierten Bedeutungen zu verbinden. Die Reaktionen der Mutter wirken dem Handlungsimpuls des Kindes u. U. entgegen und vermitteln ihm so die Erfahrung der Unterschiedlichkeit von Objekten und ihrer Eignung zur Bedürfnisbefriedigung. In diesen Lernprozessen macht das Kind nicht nur differenzierte Erfahrungen mit Objekten, sondern es macht gleichzeitig die Erfahrung regelhaft wiederholter Erwartungen an das eigene Verhalten. Hierbei lernt das Kind nicht nur die unterschiedlichen Bedeutungen von Objekten oder Dingen zu differenzieren, sondern auch, sich situationsangemessen zu verhalten. Mit zunehmender körperlicher Entwicklung verstärken sich die motorischen Fähigkeiten und der räumliche Expansionsdrang. Da das Kind nicht „weiß“, dass in seinem Umfeld gesellschaftliche Regeln existieren, die den Umgang mit Menschen oder Gegenständen eingrenzen, übernimmt die Mutter quasi die Funktion der Repräsentantin gesellschaftlicher Regeln des Zusammenlebens. Sie ist berufen, eine erste Ordnung in die expandierende Welt des wachsenden Individuums zu bringen, sie vermittelt dem Kind, was es darf oder nicht.58 Das Kind erfährt auf dem Wege der Identifikation mit der Mutter, Erwartungen der Mutter zu erkennen, Situationen zu differenzieren und über die zu erwartenden Reaktionen der Mutter sich in die Mutter hineinzuversetzen. Das Kind lernt, die Dinge durch die „Augen der Mutter“ zu betrachten. Durch ein zuverlässiges, liebevolles Mutter - Kind Verhältnis entsteht im Kind ein "Urvertrauen". In diesem frühen Entwicklungsprozess wird im positiven Fall ein Grundstein gelegt, der die Grundhaltung des Menschen zu seiner Umwelt prägt. Ob das Individuum seine Umwelt als vertrauenswürdig und zuverlässig oder als bedrohlich versagend erlebt, ist 58 Bei dem, was die Mutter vermittelt, sollten der Symbol- und Sinngehalt von Sprache, Mimik und Gestik mit der Intention ihrer Interaktionsaussage übereinstimmen. Das Kind benötigt eindeutige Signale, was die Mutter möchte und was nicht. Häufige, dauerhaft widersprüchliche Signale im Interaktionsverhalten der Mutter (Widersprüche in Körper- und gesprochener Sprache) können das Kind in eine Beziehungsfalle bringen, die als „double bind“ beschrieben wird. 67 eine direkte Folge davon, ob seine Lebenswelt (sprich: zunächst die Mutter) mit seinen infantilen Abhängigkeitsverhältnissen versorgend oder versagend umging. Urvertrauen oder Urmisstrauen stellen die Weichen für sein Selbstbild und die weiteren Beziehungen zur sozialen und dinglichen Umwelt. Hier entscheidet sich, ob ein Vertrauen zu „sich selbst“ und zu anderen Menschen entstehen konnte. Eine desinteressierte oder gar ablehnende primäre Sozialisation vermittelt dem Kind unzureichende Entwicklungsmöglichkeiten eines stabilen „Selbst“ und „Ichs“. Mit der wachsenden Fähigkeit des Kindes, zwischen sich und dem sozialen Partner, bzw. der Umwelt zu differenzieren59, entstehen auch Fähigkeiten, zwischen Innen und Außen, zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Denken und Handeln zu unterscheiden. Diese Möglichkeiten laufen parallel mit dem Übergang von Triebfunktionen zu Denkfunktionen, vom Primärvorgang in den Sekundärvorgang. „Psychologisch bedeutet das unter dem Aspekt des Selbstbildes vor allem einen Übergang von infantilen unrealistischen Omnipotenzerlebnissen hin zu einer realitätsbezogeneren Gestaltung des Selbstbildes.“60 Die Primäre Sozialisation ist aber keine „Interaktionseinbahnstraße“ wie man annehmen könnte. Hinter den Ausführungen könnte man vermuten, dass lediglich die Mutter in dem Unternehmen „Primärsozialisation“ den aktiven Part besitzt und der Prägevorgang einseitig von der Mutter zum Kind hin verläuft. Das Kind entwickelt eigene Bedürfnisse, die die Mutter im positiven Fall als soziale Erwartungen des Kindes hinsichtlich ihrer Mutterrolle versteht. Indem sich die Mutter mit ihrer Rolle identifiziert, wird Sozialisation zu einem gelungenen wechselseitigen Interaktionsgeschehen. 61 Der Psychologe P. Kohut bezeichnet die „grundlegenden Qualitäten des zwischenmenschlichen Erlebens spiegelnde Selbstobjekterfahrungen“.62 Wenn die primären Objekte liebevoll, zuverlässig, wertschätzend und befriedigend erfahren und internalisiert werden konnten, konstituieren sich stabile Selbstobjektrepräsentanzen, das heißt eine 59 In dieser frühen Zeit des ersten Lebensjahres entsteht im Kind durch positiven Hautkontakt, schmusen, drücken, schaukeln etc. nicht nur ein Gefühl, dass es wertgeschätzt wird, sondern auch ein Körperbild. Bei einer ablehnenden Umwelt wird dieses Körperschema als mangelhaft erfahren. Menschen mit dieser Problematik können ihre Abgrenzung zur Umwelt, ihre Haut, nicht lustvoll erfahren, d.h., sie haben oft nicht gut „gelernt“, zwischen sich und der Umwelt eine Grenze zu ziehen. 60 Hoffmann, Sven O.; Hochapfel, Gerd: Neurosenlehre, psychotherapeutische und psychosomatische Medizin. Stuttgart, New York, 5. Auflage, Schattauer, 1995, S. 42.: „Die sozialen Beziehungen der „Frühgestörten“ sind eine ständige Auseinandersetzung mit den anderen, um die Ängste vor dem Verlassensein zu vermeiden. (...) Bestimmte Formen des emotionalen Rückzugs auf sich selbst bezeichnen wir als narzisstische Persönlichkeitsstörungen oder, wenn die Unterdrückung der Affekte im Vordergrund steht, sprechen wir von schizoiden Persönlichkeiten. Diese narzisstischen Einbrüche basieren auf Erlebnissen der Trennung von vertrauten Bezugspersonen oder auf Dauerzuständen emotionaler Versagung oder exzessiver Verwöhnung. An die Stelle von Gefühlen der Sicherheit und des Wohlbefindens treten Gefühle von Unsicherheit, Misstrauen, Leere, Selbstwertverlust und Minderwertigkeit.“ 61 Abels, Heinz; Stenger, Horst: Gesellschaft lernen. Einführung in die Soziologie, Leske und Budrich, Opladen 1989, S. 104: „Die Mutter erkennt die auf sie bezogenen Bedürfnisse des Kindes als soziale Erwartungen hinsichtlich ihres eigenen Verhaltens gegenüber dem Kind. Indem sie sich an diesen Erwartungen im eigenen Handeln orientiert (die Rolle als Mutter, Anm. d. Verf.), wird Sozialisation zu einem doppelseitigen Geschehen.“ 62 Boessmann, Udo: Psychoanalytisch und tiefenpsychologisch fundierte Berichte an den Gutachter schnell und sicher schreiben: Mit Berücksichtigung der ICD-10 und OPD sowie Anträgen zur Kurzzeittherapie und Anträgen bei Kindern und Jugendlichen, Bonn 2000, S. 12 68 liebevolle, wertschätzende und stabile Beziehung des Individuums zu sich selbst 63 mit einer stabilen Innenverankerung sozialer Beziehungen. Werden bestimmte frühkindlich notwendige Bedürfnisse in den sozialen oder familialen Umweltbedingungen nicht vorgefunden, so kann die phasengerechte psychische und soziale Entwicklung nachhaltig gestört werden.64 Auf insuffiziente Bedingungen der Frühgenese65 reagiert das noch kindliche Ich „als kreative Antwort“ mit Schutz-, Kompensations- und Abwehrmechanismen. Diese Mechanismen, mit denen das Kind auf die persönlichen Erfahrungen der meist chronisch wirkenden Bedingungen der Frühgenese reagiert, verdichten sich zu charakteristischen Erlebens- oder Verhaltenmustern, die man auch als die Persönlichkeit oder die Persönlichkeitsstruktur bezeichnen kann. Wenn diese Persönlichkeitsstruktur für neurotische Störungen besonders anfällig zu sein scheint, so kann man von einer Neurosenstruktur sprechen.66 Nach und nach erweitert sich der Sozialisationshorizont des Kindes auf die gesamte Familie. Bestimmte Verhaltensabläufe, wie das sofortige Reagieren der Mutter, scheinen sich mit einem bestimmten Alter des Kindes zu verändern. Das Kind lernt in der Interaktion, dass es seine Bedürfnisse mit den Bedürfnissen anderer Familienmitglieder abstimmen muss. Zwangsläufig macht es die Erfahrung, nicht als Einzelwesen existent zu sein, nicht die alleinige Aufmerksamkeit bekommen zu können. Eigene Bedürfnisse kundzutun, sowie 63 Hierzu sagt Boessmann: a.a.O., S. 20: „Das Selbst ist als Kern der Persönlichkeit definiert: Es ist eine sich selbst reflektierende psychische Instanz, das wertende Bewusstsein für die Gesamtheit der innerseelischen Vorgänge. Ein gesundes Selbst integriert alle psychischen Funktionen und Dispositionen zu einem Ganzen, das als konsistierendes und konstantes Selbstbild erlebt wird. Nach Kohut ist es ein unabhängiges und vitales Zentrum der Initiative und Empfänger von Eindrücken. Das gesunde Selbst ist ausreichend libidinös besetzt, da heißt es ist mit ausreichender Selbstliebe und Selbstwertgefühl ausgestattet. (...) Während des gesamten Lebens ist das Selbst auf respondierende, anregende und stärkende Selbstobjekterfahrungen angewiesen. Das gilt insbesondere für das sich gerade entwickelnde Selbst des Säuglings oder Kleinkindes. (...) Psychoanalytisch gesprochen: Die Objekte werden libidinös besetzt. Selbstobjekterfahrungen setzen beim kleinen Kind die unmittelbare physische Präsenz voraus. Beim reifen Erwachsenen können Selbstobjekterfahrungen auch in symbolischer Weise, z.B. in Form von Büchern, Briefen, Kunstwerken, Musik, Arbeit, Philosophie und Religion gemacht werden. Die Funktion der primären Selbstobjekte nehmen in der Regel die Mutter, der Vater oder auch andere Menschen, die die Elternfunktionen übernehmen, ein. Die wichtigste Funktion der Mutter für das werdende Selbst ist das Spiegeln. Spiegelnde Selbstobjekterfahrungen stützen das Selbst, indem sie dem Selbst die Erfahrung ermöglichen, in seiner Größe, seinem Wert und seiner Ganzheit angenommen und bestätigt zu werden. Nach Lichtenberg sind folgende menschlichen Bedürfnisse von grundlegender Bedeutung: Befriedigung physiologischer Bedürfnisse, Bindung, Selbstbehauptung und Exploration, Widerspruch oder Rückzug und sinnliche Lust." 64 Pathogen wirkende Belastungen der Frühgenese können u.a. sein: „Mangelerfahrungen durch überforderte, unzuverlässige, unempathische, feindselige oder gar nicht vorhandene primäre Objekte, Verwöhnung, Überprotektion und damit Behinderung der Autonomieentwicklung, engagiertes, aber widersprüchliches Zuwendungsverhalten der primären Beziehungspersonen (Doublebind) (...).“ Boessmann, Udo: a.a.O., S. 10 65 Mit der Frühgenese sind die Umweltbedingungen vor allem in der Kindheit gemeint, die eine erhöhte Vulnerabilität für bestimmte Belastungsmomente und Konflikte bewirken und Dispositionen für spätere neurotische Störungen legen. Der Begriff schließt bei U. Boessmann (ebenda) auch die angeborenen Schwachstellen mit ein. 66 Boessmann, Udo: a.a.O.: S. 14: „Die Neurosenstruktur ist gewissermaßen das Resultat der subjektiv erlebten und verinnerlichten Realität, einschließlich der – teilweise unbewusst gewordenen – Defizite und Konflikte dieser Zeit sowie der dazu gehörenden kompromisshaften Anpassungs- und Lösungsversuche. Der Zusammenhang von Abwehr und Struktur wurde auch mit einem Kind verglichen, das sich eine Schutzrüstung zulegt, die so schwer ist, dass es in eine groteske Form wachsen muss. Nach Jahren ist der Körper so verkrüppelt, dass das Kind diese Rüstung nicht mehr ablegen kann, obwohl die ursprüngliche Bedrohung nicht mehr existiert. Das Tragen der schweren Rüstung raubt dem Menschen jegliche Energie und hält auch gute Erfahrungen fern.“ 69 Mitteilungen über die Bedürfnisse anderer zu erhalten, sind zentrale Elemente sozialer Grunderfahrungen. Die Familie ist der Ort primärer Gesellschaftserfahrung, der soziales Basiswissen vermittelt und Regeln setzt. Er ist Produzent und Produkt gesellschaftlichen Wissens zugleich. „In der familiären Interaktion liegt gewissermaßen der Mikrokosmos gesellschaftlichen Lebens. Hier werden die sozialen Elemente vermittelt, die unabdingbar sind, um außerhalb der Familie Kontakt zu anderen Menschen herzustellen und aufrechtzuerhalten. Hier lernt das Kind „soziales Handeln“, nämlich sich in seinem Verhalten sinnhaft auf andere zu beziehen. Die Beherrschung der elementaren Grundmuster gesellschaftlicher Existenz werden vorausgesetzt, wenn das Kind in die Schule kommt, also in weitere und größere Gesellschaftsbereiche eintritt, die außerhalb der Familie liegen.“67 3.5. Sprache, Interaktion und Symbolbildung Die Fähigkeit zur symbolischen Interaktion steht in engem Bezug zu frühen Interaktionserfahrungen der primären Sozialisation. Es stellt sich nun die Frage, ob zwischen der Objektkonstanz, der Autonomieentwicklung und der Sprach- und Symbolbildung Zusammenhänge bestehen, die für die Fähigkeit zur symbolischen Interaktion entscheidend sind. Kindliche Autonomie bildet sich, wenn in den ersten Entwicklungsphasen die Basis dafür geschaffen wurde, indem die symbiotischen Bedürfnisse des Kindes in der dyadischen Zeit mit der Mutter gestillt wurden. Es bedarf eines internalisierten Bildes von Sicherheit und Geborgensein, um diesen Ort der Sicherheit spendenden Mutter verlassen und die weitere Umwelt entdecken zu können.68 / 69 Das Kind benötigt in der von M. S. Mahler70 bezeichneten Seperations-Individuations-Phase (etwa vom 6. bis zum 36. Monat) die Erfahrung einer selbstsicheren, gefestigten und liebevollen Mutter, d.h., dass es sich selbständig fortbewegen und entfernen darf, ohne Angst haben zu müssen, die Liebe, Schutz und Geborgenheit der Mutter zu verlieren. Diese Erfahrungen befähigen es für das weitere Leben, Eigenständigkeit zu entwickeln und zu bewahren und damit, was die gesellschaftlichen Erwartungshaltungen betrifft, weniger manipulierbar zu sein.71 67 Abels, Heinz; Stenger, Horst: a.a.O., S. 36 68 Zur erfolgreichen weiteren Autonomie gehört auch, dass intrapsychisch ein Bild einer Objektkonstanz durch positive Erfahrungen mit den primären Beziehungspersonen entstanden ist. Stabile Objektrepräsentanzen gründen die Basis für Selbstrepräsentanzen, d.h. ein wertschätzendes Bild des Individuums von sich selbst. 69 Boessmann, Udo: a.a.O., S. 23: „Das gute und sichere Bild des primären Objekts ist innerseelisch so stabil repräsentiert und libidinös besetzt, dass die vorübergehende Trennung von dem Objekt ohne wesentliche Trennungsangst und ohne Bedrohung für die Kohärenz des Selbst ertragen werden kann.“ 70 Mahler, M. S.; Pine, F.; Bergmann, A.: Die psychische Geburt des Menschen. Symbiose und Individuation. Frankfurt/M. : Fischer, 1993 71 Dieser Loslösungsprozess ist sowohl für das Kind als auch für die Mutter nicht einfach. Der allmählichen Loslösung „Separation“ folgen charakteristische Wiederannäherungen an die Mutter („Rapprochement“). Diesen Prozess hat das Kinderlied „Hänschen klein“ beschrieben. 70 Die einfache frühkindliche Interaktion, die Wahrnehmung von Erwartungen über Gestik, Mimik, etc., ist auf Dauer für beide Interaktionspartner keine sehr wirkungsvolle und befriedigende Kommunikationsform, da die Mitteilungsfähigkeit sehr schnell erschöpft ist. Mit zunehmendem Alter lernt das Kind von anderen Interaktionsformen Gebrauch zu machen: Es lernt, Sprache als Kommunikationsform mit seiner Umgebung einzusetzen. Mit der Sprachentwicklung entfaltet sich die Fähigkeit, für Objekte abstrakte Begriffe zu finden und Symbole zu bilden. Das sprachliche Symbol befreit das Kind von der physischen Objektpräsenz der Mutter und anderen engen Bezugspersonen, und es führt das Individuum zur Entwicklung von Autonomie, Mitteilungs- und Abstraktionsfähigkeit. Das Kind lernt zu symbolisieren, ein physisch begriffenes Objekt zu einem Bild zu internalisieren und es mit einem abstrakten Symbolsystem zu bezeichnen, also eine Brücke zu bilden zwischen Materie und Intellekt. Sprache wird zum Kommunikationsmittel in der Interaktion: „Sprache ist eine Voraussetzung für den Aufbau komplexer Sozialstrukturen. Man kann das Lernen von Sprache auch als Lernen von Bedeutungen kennzeichnen. Die Sprache eröffnet der durch die primäre Mutter – Kind – Interaktion (Lernen von Objektdifferenzierungen) und die Erweiterung des Bewegungsraumes (Körperkontrolle) eingeleiteten Entwicklungen eine neue Qualität. Einen Begriff von einem (psychischen oder sozialen) Objekt zu haben ermöglicht, sich auch in Gedanken mit diesem Objekt auseinandersetzen zu können. Damit befreit das sprachliche Symbol von der Bindung an die physische Präsenz eines Objektes. Das Kind lernt, mit einem Objekt umzugehen, sein Handeln darauf zu beziehen, auch wenn das Objekt sich nicht im Bereich seiner unmittelbaren sinnlichen Erfahrungsmöglichkeiten befindet.”72 Sprache ist Voraussetzung für das Verständnis komplexer Bedeutungen, Abstraktion und die Fähigkeit, auch symbolhafte Ebenen der Realität differenzierter darstellen zu können. „Das, was ‚real’ ist, hat nunmehr eine andere ‚Konsistenz’ als zuvor, denn die Symbolik bringt die zuvor rein äußerliche ‚Welt’ ins ‚Innere’ des Kindes. ‚Realität’ erhält eine andere Erfahrungsqualität: ‚Wirklich’ sind nicht mehr nur die Dinge, die man sehen, hören, fühlen, schmecken oder riechen kann, ‚wirklich’ werden mit der Sprache auch die Dinge, die im Geist, Verstand, genauer: im Denken verankert sind.”73 Fortschritte der Sprache und des Denkens im Sinne der kognitiven Entwicklung sind sehr eng miteinander verbunden: „Die Entwicklung des Denkvermögens ermöglicht dem Individuum, Erfahrungen ‚im Kopf’ zu machen, in dem die äußerlichen Dinge der Umwelt durch ihre ‚innere’ Repräsentation in Form sprachlicher Symbole ‚im Kopf’ bewegt werden können. Die jederzeitige Verfügbarkeit von Welt durch Sprachsymbole ermöglicht es erst, Objekte zueinander in Beziehung zu setzen und ‚zusammenzubringen’, die physisch vielleicht gar nicht zusammengebracht werden können und auf der Ebene direkter und sinnlicher Erfahrung nur getrennt und einzeln erlebbar sind.”74 Ein Kind lernt primär, mit seinen Sinnesorganen Objekte zu „begreifen”, sich „einen Begriff” von etwas oder jemandem zu machen, bevor es Dinge in denkender Weise „begreifen” kann. 72 Abels, H. ; Stenger, H.: a.a.O., S. 105 73 ebenda, S. 106 74 ebenda 71 In beiden Fällen jedoch geht es um das Prinzip, einen Zugriff zu Erfahrungsmöglichkeiten zu haben. Erfahrungen oder Vorstellungen von Objekten müssen ihm bereits zur Verfügung stehen, damit ihm eine differenzierte Beurteilung (eines Objektes, einer Situation, eines Handlungsablaufes, einer Interaktion, o.ä.) möglich wird. Alles, wovon das Individuum einen „Begriff”, also eine Vorstellung hat, ist gedanklich handhabbar. Die Fertigkeit, Objekte miteinander in Beziehung setzen zu können, ist eine Voraussetzung für die Erkenntnis von Zusammenhängen, Strukturen und Funktionsprinzipien von „Welt“. „Symbolisiert werden Begriffe durch Worte, die bisweilen nicht nur eine einfache Abstraktion darstellen, sondern für ganze Gedankenketten stehen. So steht z.B. das Wort ‚Essen’ nicht nur für den Vorgang der Nahrungsaufnahme, sondern vielleicht für die Erfahrung, dass alle Familienmitglieder gemeinsam um den Tisch sitzen und auch über das sprechen, was sie am Tag erlebt haben.”75 „Symballein“ bedeutet, etwas zusammenbringen, das Symbol ist ein Sinn - bild. „Alles, wovon wir einen ‚Begriff haben’, ist sprachlich symbolisiert oder kann sprachlich symbolisiert werden. Alles, was symbolisiert werden kann, ist in Interaktionen auch mitteilbar (vorausgesetzt, die Partner sprechen ‚die gleiche Sprache’, d.h. sie verfügen über das gleiche sprachliche Symbolsystem). Nur was mitteilbar ist, kann auch Realitätscharakter gewinnen. Realität ist keine ‚freischwebende’ Eigenschaft , sondern sie wird immer wieder neu in den Aktionen zwischen Menschen ‚hergestellt’.“76 Dies führt dazu, dass wir über Interaktionen permanent neue Situationen mit „alten“ Realitäten abgleichen, sich Wissen vom Standpunkt des Bekannten um neue Komponenten erweitert. Indem wir die Realität in der Begegnung mit Personen teilen, d.h. wenn unser Gesprächspartner uns seine Realität zu vermitteln versucht, wird es eine gemeinsame, intersubjektive Realität. Sprache als verbindende Symbolwelt erweitert die „objektgebundene Interaktion“ zur symbolisch-diskursiven Interaktion. Sie entlastet von der Erfordernis einer physischen Präsenz von Objekten, sie entlastet uns aber nicht von der Notwendigkeit der Interpretation. So bedeutet Sprache nicht nur Entlastung, sondern auch einen potentiellen Zuwachs an Belastung durch die Gefahr von Fehldeutung der Sinngehalte. Dadurch, dass Dinge nicht mehr nur physisch begreifbar sind, sondern auch abstrakt über sie diskutiert wird, steigt das Risiko der Missverständnisse und Fehlerquellen. Mit stärkerer Differenzierungsmöglichkeit diversifizieren Bedeutungen, Wahrnehmung und die „Subjektivität der Realität“. Mehrdeutungen führen schnell zu fehlerhaften Interpretationen.77 In der symbolischen Interaktion bestehen auch Störungsmöglichkeiten durch „symbolische Diskrepanzen“. Dies ist z.B. der Fall, wenn der Ausdruck der verbalen Symbolik nicht mit der körperlichen Symbolik (Stimme, Gestik, Mimik, etc.) kongruent ist und der Interaktionspartner plötzlich nicht mehr zu interpretieren weiß, welcher Information er jetzt Glauben schenken 75 ebenda 76 Abels, H. ; Stenger, H.: a.a.O., S. 107 77 Dieses Risiko der Mehrdeutung und Fehldeutung von sprachlicher Interaktion hat zur Entwicklung der nonverbalen Methode des Therapeutischen Sandspieles geführt. Die englische Psychotherapeutin Margaret Lowenfeld war in einem international orientierten Hause mehrsprachig aufgewachsen. Während der Kriegszeit arbeitete sie deshalb u.a. als Dolmetscherin. Dabei machte sie die Erfahrung, dass sie immer wieder in Konflikte geriet, weil Mehrdeutigkeiten in den Übersetzungen zu Missverständnissen führten. Sie gelangte zu der Überzeugung, dass Sprache ein unzureichendes Vehikel sei, welches die ganze Spannbreite einer Bedeutung nicht auszudrücken vermag. In Folge dessen arbeitete sie an den unterschiedlichen Dimensionen der nonverbalen Kommunikation und kreierte die therapeutische Methode der „World Technique“. Dora M. Kalff entwickelte hieraus das Therapeutische Sandspiel. 72 soll. Eine dauerhafte Zweideutigkeit von Interaktionsaussagen kann zu psychischen Problemen und Persönlichkeitsstörungen führen, die in der Psychopathologie als „Double- bind-Syndrom“ bekannt sind.78 „Interaktion kann deshalb auch als Interpretationsprozess beschrieben werden, weil Verständigung letztlich eine fortdauernde Interpretationsleistung beider Interaktionspartner voraussetzt. Sie dient dazu, deutlich zu machen, was wir wollen, und herauszukriegen, was der andere will. Immer geht es um die Anmeldung von Ansprüchen und die Vermeidung von Missverständnissen. Der „Schritt in die Welt der Sprache“ ist ein Schritt in die Welt der symbolischen Interaktion. Unter dieser Perspektive ist Sozialisation ein Prozess der wechselseitigen Verständigung über das, was man will und was gelten soll.“79 3.6. G.H. Meads Theoriekonzept des Generalisierten Anderen „Und weil jede Interaktion nach bestimmten Spielregeln verläuft und jeder Teilnehmer des „Spiels“ eine durch soziale Erwartungen umrissene „Rolle spielt“, wird der Vorgang des Sich - Hineinversetzens im Rahmen einer Interaktion als „Rollenübernahme“ bezeichnet. Diese Fähigkeit zu erlernen, ist ein entscheidender Schritt in der Sozialisation des Kindes.“ 80 Das Kind hat die Befähigung zur Rollenübernahme in der Interaktion und Identifikation mit dem ersten Interaktionspartner erlernt. Es ist nicht mehr nur in den eigenen Erwartungen verhaftet, sondern nimmt auch die Vorstellungen anderer (primär: die Bewertung und Deutung des von der Mutter Gemeinten) wahr. Es beginnt, sich und sein Verhalten „mit den Augen des Anderen“ zu sehen und erfährt hierdurch den Standpunkt des anderen Menschen. „Unabhängig von der Anwesenheit der Mutter kann es nun deren Verhaltenswünsche „sich selbst mitteilen“ und eigenes Handeln auf diese Erwartungen beziehen. Rollenübernahme im Rahmen der Primärsozialisation bedeutet also nicht nur, sich in einer andauernden Interaktion in den anderen hineinzuversetzen, sondern die Perspektive der wichtigen anderen Menschen „nach innen zu nehmen“, zu internalisieren.“81 Da das Kind im Verlauf der frühen Sozialisation mehrere „Andere“ kennenlernt, könnte man vermuten, dass es zahlreiche Standpunkte in die Innenwelt übernimmt und keine eigenständigen Positionen entwickelt. Das Individuum internalisiert in der primären Sozialisation aber nicht „wahllos“ symbolische Handlungen und Erwartungen, sondern nur signifikante Symbole von anderen Menschen, die für es wichtig erscheinen. Diese Bezugspersonen hat G.H. Mead in seinem Theorie als „signifikante Andere“ bezeichnet. Es 78 Die Störung wird auf längerfristig widersprüchliche Signale im Kommunikationsverhalten der Mutter zurückgeführt. Dies ist z.B. der Fall, wenn die Mutter auf der verbalen Ebene dem Kind positive Gefühle vermittelt („Du bist mein liebes Kind“), die nonverbale Ebene aber Ablehnung durch peinlich genauen Abstand signalisiert. Dieses Interaktionsmuster lässt das Kind in eine Beziehungsfalle laufen und hält es dort gefangen, weil es nicht mehr weiß, was die Mutter nun „wirklich“ meint. Körpersprachliche und verbale Symbole sollten zu einer eindeutigen Interaktionsaussage führen, damit der Partner die Signale unzweifelhaft versteht. 79 Abels, H. ; Stenger, H.: a.a.O., S. 108 80 ebenda, S. 109 81 ebenda 73 sind Menschen, zu denen das Individuum eine so bedeutungsvolle oder enge Beziehung hat, dass sie auf sein Verhalten oder Handeln einen Einfluss haben. Die Internalisierung der Perspektiven signifikanter Anderer, die sich das Kind aus der Rollenübernahme erschlossen hat, bedeutet für das Kind einen beachtlichen Reifungsprozess. Das Kind kann sich als Folge der Verinnerlichung des Standpunktes Sanktionen der Mutter für nicht korrektes Verhalten vorstellen. „Schimpfen“ ist nicht mehr unbedingt erforderlich, stattdessen können sich beim Kind selber Schuldgefühle entwickeln. Dieser Prozess wird aus Sicht der Psychoanalyse als erster Schritt zur Bildung des Über- Ichs bezeichnet. Er ist gekennzeichnet durch die Integration der elterlichen Autorität in das Denken des Kindes. Wertmaßstäbe, Normen und Verhaltensmuster werden durch die Internalisierung der erziehenden Außenwelt in die Innenwelt übernommen und werden so zum Bestandteil der Persönlichkeit. Diese Internalisierungen verbleiben weitgehend oder lange Zeit unbewusst und werden für das Individuum zu einer Art Selbstverständlichkeit. Das Kind erfasst von innen heraus automatisch, d.h. gemessen an den verinnerlichten Maßstäben, was „richtig“ und was „falsch“ ist, ob sein Verhalten sozial akzeptiert sein wird oder nicht. Direkte objektbezogene Bestrafung wird durch ein schlechtes Gewissen, Schuldgefühle oder Selbstbestrafung ersetzt. Dieser erste Schritt zur Entwicklung eines Gewissens ist gekoppelt an die Erfahrungen mit den vertrauten Beziehungspersonen, den signifikanten Anderen. Sie stellen die erste (Um-) Welt eines Kindes dar, fremde Menschen spielen zunächst eher Nebenrollen. Da sich die interaktionelle Rollenübernahme primär auf die meist familiale Situation konzentriert, wird das Kind dieses internalisierte Muster auch in den ersten Interaktionen gegenüber Fremden anwenden, es vertritt folglich die Standpunkte seiner familiären Sozialisation. Mit zunehmender Entwicklung erfährt das Kind, dass ihm zunächst fremde andere Menschen ähnliche Anforderungen an den Umgang miteinander stellen. Viele der ihm bereits bekannten Verhaltenserwartungen der vertrauten signifikanten Anderen findet es als Grundlage des Miteinanders mit den nicht – signifikanten Anderen vor. Verschiedene Instanzen in der Persönlichkeitsstruktur nach G. H. Mead Das Individuum verändert sukzessive die Einstellung zu den „nicht-signifikanten“ Menschen. Der Bezugspunkt für eigenes Handeln verlagert sich in einem langwierigen Loslösungsprozess aus der vertrauten Familie in die Gesellschaft. Die internalisierten Werte und Maßstäbe der Eltern werden durch ein generalisierendes „man“ abgelöst. Dieses „man“ hat G.H. Mead als den generalisierten Anderen bezeichnet, es repräsentiert die Gesellschaft. „Das Gewissen erhält so gewissermaßen seine gesellschaftliche Dimension. Der generalisierte Andere ist der nach innen genommene Standpunkt der Gesellschaft. (...) Die Hereinnahme eines allgemeinen Standpunktes in das Denken sichert dem Kind den Anschluss an die Regeln, die in Interaktionsprozessen gelten. Der Erwerb der Generalisierungsfähigkeit ist denn auch nach Interaktions- und Sprachfähigkeit eine weitere grundlegende Voraussetzung gelungener Sozialisation und Gesellschaft.“82 Menschen können die Perspektive wechseln, bzw. die Standpunkte und das Verhalten anderer antizipieren. Sie orientieren sich dabei nicht nur an der Selbstwahrnehmung, 82 ebenda, S. 111 74 sondern auch an konkreten Anderen, wie auch an organisierten Anderen, wie z.B. an einer Gruppe. Die Rollenübernahme bezeichnet H. Joas auch als die „Antizipation des situationsspezifischen Verhaltens des Anderen. Die Möglichkeit einer über die innerliche Repräsentation des Verhaltens des Anderen laufenden Kommunikation führt nun dazu, dass sich in der Persönlichkeitsstruktur des Einzelnen verschiedene Instanzen herausbilden.“83 Im gesellschaftstheoretischen Modell G.H. Meads hat das menschliche Individuum drei Facetten: „ - Das I, das ist das Ich als Subjekt, das spontan und kreativ ist bzw. sein kann (in der deutschen Ausgabe wird dies als „Ich“ bezeichnet). - das Me, das ist das ‚soziale Selbst‘, in dem sich eine Bezugsperson oder –gruppe in mir niederschlägt (vgl. Joan, 1989: 117; in der deutschen Ausgabe von ‚Ich‘ graphisch als „ICH“ abgegrenzt) und - das Self als das, was in der deutschen Ausgabe als Identität bezeichnet wird.“84 Das ‚I’ repräsentiert das ‚Ich’ als Subjekt, das mit Spontaneität, Impulsivität und Trieben ausgestattet ist. Von daher erinnert es sehr an das „Es“ der Freudschen Theorie der Psychoanalyse. Diesem ‚Es’ ist das ‚Ich’ als Realitätskomponente zur Seite gestellt, welches wiederum mit weiterer kindlicher Entwicklung über die Internalisierung familialer Wertmaßstäbe eine Kontrolle durch das ‚Über-Ich’ als moralischer Komponente erfährt.85 Das ‚I’ beschreibt die spontanen Impulse eines Individuums, während das ‚Me’ als das Ergebnis von Reflexion betrachtet werden kann: „Meads Ausdruck ‚me’ (...) ist im Grunde nicht übersetzbar; er meint das sich selbst als Objekt erfahrende Ich.“86 „‘Me‘ bezeichnet meine Vorstellung von dem Bild, das der andere von mir hat, bzw. auf primitiver Stufe meine Verinnerlichung seiner Erwartungen an mich. Das ‚me‘ als Niederschlag einer Bezugsperson in mir ist sowohl Bewertungsinstanz für die Strukturierung der spontanen Impulse wie Element eines entstehenden Selbstbildes. Trete ich mehreren für mich bedeutsamen Bezugspersonen gegenüber, so gewinne ich mehrere ‚me’s.“ 87 Der symbolisch - interpretative Prozess der Rollenübernahme ist ein reflexiver Vorgang, der beinhaltet, dass das Individuum erst, wenn es sich mit den Augen anderer sehen kann, etwas über sich selbst erfährt. Selbstwahrnehmung und Verhaltensantizipation sind Grundprinzipien der symbolischen Interaktion, sie bedürfen der Interpretation. So kann man das ‚Me’ als das „Selbst – Bewusstsein“ bezeichnen, das sich in einem Rollenübernahmeprozess gebildet hat, indem das Individuum sein Handeln vom Standpunkt des Anderen aus sah und bewertete. ‚Me’s repräsentieren soziale Spiegelungen des Selbst. Es stellt sich die Frage, wie das Individuum trotz der scheinbaren Steuerung durch diverse 83 Joas, H.: Rollen- und Interaktionstheorien in der Sozialisationsforschung; in: Hurrelmann, K. und Ulich, D. (Hrsg.): Handbuch der Sozialisationsforschung, Weinheim 1980, S. 148 84 Treibel, Anette: Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart. Opladen 1994, S. 112 85 Mead, George Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. (amerikan. Originaltitel: Mind, Self and Society, 1934) Frankfurt a.M., 1973, S. 217: „Das ‚I’ tritt nicht in das Rampenlicht; wir sprechen zu uns selbst, aber wir sehen uns nicht selbst. Das ‚Me’“ reagiert auf die Identität, die sich durch die Übernahme der Haltungen anderer entwickelt.“ 86 So beschreibt es der Übersetzer von „Geist, Identität und Gesellschaft“. In: Mead, G. H.: a.a.O., S. 216 87 Joas, H.: Rollen- und Interaktionstheorien in der Sozialisationsforschung; in: Hurrelmann, K. und Ulich, D. (Hrsg.): Handbuch der Sozialisationsforschung, Weinheim 1980, S. 149 75 ‚Me’s eine eigene Ich - Identität herausbildet. Dass Identität im Sinne des Mit-Sich-Identisch- Seins, im Sinne einer individuellen Kontinuität trotz der vielen Spiegelungen des Selbst möglich ist, beschreibt G. H. Mead in der Position des generalisierten Anderen. Er bezeichnet „die organisierte Gemeinschaft oder gesellschaftliche Gruppe, die dem Einzelnen seine einheitliche Identität gibt“,88 als den verallgemeinerten oder generalisierten Anderen. Erst dadurch, dass die Instanz des generalisierten Anderen zum Fixpunkt wird, an dem sich die verschiedenen, aus Interaktionen entstandenen Me’s orientieren müssen, entsteht Identität.89 „Dies erfolgt in zwei Schritten: zunächst betrachtet sich Ego aus der Perspektive Alters und macht sich selbst also zum Objekt und erlangt dadurch ein Bild von sich selbst. (...) Der zweite Schritt ist (...) entscheidend. Ego verinnerlicht die Haltungen einzelner Alter, aber außerdem verbindet es die Haltungen vieler einzelner zu einem einheitlichen Ganzen, zum „generalisierten Anderen“.“90 Der „generalisierte Andere“ ist die Instanz, die die durch reflexiven Akt hergestellten, aber noch nicht verbundenen Selbstbilder zu einem Ganzen verbindet. 91 Er liefert eine Bewertung eigenen Verhaltens und hat eine ordnende und strukturierende Funktion im Hinblick auf sämtliche Erfahrungen mit der (Um - ) Welt. Durch die Integration der verschiedenen ‚Me’s’ kann der Mensch einen „roten Faden“ in sein Selbst – Bild einarbeiten. Diese Integrationsleistung ermöglicht dem Individuum Identitätsfindung und ein Bewusstsein von Kontinuität. Der Begriff der Identität lässt sich differenzieren in: Soziale, persönliche und Ich – Identität. Soziale Identität: Rollenübernahmefähigkeit versetzt uns in die Lage, die an uns gerichteten sozialen Verhaltenserwartungen zu erkennen. Hierdurch erhalten wir Hinweise über die an uns 88 Mead, G. H.: a.a.O., S. 196 89 „Im Prozess der Kommunikation ist das Individuum ein anderer, bevor er es selbst ist. Indem es sich selbst in der Rolle eines anderen anspricht, entsteht eine Ich – Identität in der Erfahrung. Die Entwicklung von organisierten Gruppenaktivitäten in der menschlichen Gesellschaft – und die Entwicklung des organisierten Spiels aus den einfachen Spielen in der Erfahrung des Kindes – teilte dem Individuum eine Vielzahl verschiedener Rollen zu – sofern diese Teile der sozialen Handlung waren -, und gerade aus der Organisation dieser Rollen zu einer Gesamt – Handlung ergab sich die ihnen gemeinsame Eigenschaft: sie zeigten dem Individuum an, was es zu tun hatte. Das Individuum kann jetzt als generalisierter Anderer in der Einstellung der Gruppe oder Gemeinschaft zu sich selbst Stellung nehmen.“ Mead, George Herbert: Die objektive Realität der Perspektiven (1927). In: ders.: Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, Hrsg. von Joas, Hans: Frankfurt a. M. 1983, S. 217 90 Abels, Heinz; Stenger, Horst: a.a.O., S. 114 91 „Damit ein menschliches Wesen eine Identität in vollem Sinne des Wortes entwickelt, genügt es nicht, dass es einfach die Haltungen anderer Menschen gegenüber sich selbst und untereinander innerhalb des menschlichen gesellschaftlichen Prozesses einnimmt und diesen Prozess als Ganzen nur in dieser Hinsicht in seine individuelle Erfahrung hineinbringt; es muss ebenso, wie es die Haltungen anderer Individuen zu sich selbst und untereinander einnimmt, auch die Haltungen gegenüber den verschiedenen Phasen oder Aspekten der gemeinsamen gesellschaftlichen Tätigkeit oder der gesellschaftlichen Aufgaben übernehmen, in die sie, als Mitglieder einer organisierten Gesellschaft oder gesellschaftlichen Gruppe, alle einbezogen sind; und es muss dann, indem es diese individuellen Haltungen der organisierten Gesellschaft oder gesellschaftlichen Gruppe als Ganzes verallgemeinert, im Hinblick auf verschiedene gesellschaftliche Projekte, die es zum jeweiligen Zeitpunkt verwirklicht, oder auf die verschiedenen längeren Phasen des allgemeinen gesellschaftlichen Prozesses handeln, die sein Leben ausmachen und dessen spezifische Manifestationen diese Projekte sind: Das Hereinholen der weitgespannten Tätigkeit des jeweiligen gesellschaftlichen Ganzen oder der organisierten Gesellschaft in den Erfahrungsbereich eines jeden in 76 adressierte situative Rollenzuschreibung, die soziale Identität. Diese bildet nicht ab, wie ein Mensch „wirklich“ ist, sondern sie stellt dar, wie er von Anderen situationsbezogen aufgefasst wird: „Sie ist die sozial konstruierte Persönlichkeit eines Menschen in einer bestimmten Situation“.92 In diesem Prozess ist der Mensch natürlich nicht nur Objekt, sondern immer gleichzeitig auch Subjekt, was ihm ermöglicht, in den Prozess bzw. in die Handlung einzugreifen. „Mit dem generalisierten Anderen „schafft“ sich das Individuum eine „Kontrollinstanz“, die dazu verhilft, auf Situationen und Verhaltenserwartungen eingehen zu können, aber nicht darin aufgehen zu müssen. Bezogen auf die soziale Identität bedeutet dies, (...) durch diese Einsicht sich als gestaltendes Subjekt am Vorgang der Definition der eigenen Identität beteiligen zu können. (...) Das gestalterische Element in der Festlegung sozialer Identität ist zum Teil auch antizipativ, indem das Individuum durch Benutzung geeigneter Symbole seine Identifizierung durch die soziale Umwelt in eine gewünschte Richtung lenkt.“93 Die soziale Identität ist interaktionsbezogen und reflektiert, wie eine Person von ihrer Umwelt erlebt wird. Persönliche Identität: Sie resultiert aus biographischen Erfahrungen und drückt aus, was die persönliche Einzigartigkeit des Individuums ausmacht. Beide Formen der Identität beeinflussen sich wechselseitig. Persönliche Identität ist sozialen Ursprungs und wird durch den Sozialisationsprozess über Interaktionen geprägt. Der generalisierte Andere verknüpft soziale Erfahrungen, strukturiert und verbindet persönliche und soziale Identität in jeder Interaktion: „Über den generalisierten Anderen wird biographische Erfahrung als relativierender Bezugspunkt des Bewusstseins eingebracht und das „Aufgehen“ in aktuellen Rollenanforderungen verhindert. Gleichzeitig wird die neue Erfahrung der aktuellen Interaktion im generalisierten Anderen „verarbeitet“, d.h. als Fortführung der persönlichen Geschichte in den relevanten Teilen verallgemeinert, sei es als Bestätigung, Erweiterung oder Modifikation des bisherigen „Bestandes“.“94 Die Funktion des generalisierten Anderen ermöglicht Bewusstseinserweitung und Individuation. Ich – Identität: Die Ich – Identität und ihre Aufrechterhaltung hat J. Habermas als gelungene Balance zwischen beiden Aspekten der Identität (persönliche und soziale Identität) beschrieben. Einerseits muss das Individuum soziale Identität annehmen, um sozial integriert zu sein, andererseits muss sich das Individuum gegen die Vereinnahmung durch die soziale Umwelt und ihre Ansprüche zur Wehr setzen. Man könnte die Wahrung der Ich–Identität auch „als Balance zwischen Anpassung und Verweigerung“95 beschreiben. dieses Ganze eingeschalteten oder eingeschlossenen Individuums ist die entscheidende Basis oder Voraussetzung für die volle Entwicklung der Identität des Einzelnen.“ Mead, G. H. (1973): a.a.O., S. 197 92 Abels, Heinz; Stenger, Horst: a.a.O., S. 145 f.: „Soziale Identität ist also immer ein variabler, situationabhängiger Ausschnitt aus dem Rollenrepertoire eines Menschen. Die Struktur dieses Ausschnitts enthält die spezifische Kombination von Verhaltenserwartungen, mit denen ein Akteur in einer konkreten Situation umgehen muss.“ 93 Abels, Heinz; Stenger, Horst: a.a.O., S. 146 94 Abels, Heinz; Stenger, Horst: a.a.O., S. 150 95 vgl. Abels, Heinz; Stenger, Horst: a.a.O., S. 151 77 Die Identität der Persönlichkeit entwickelt sich individuell, aber immer in der Auseinandersetzung, in der Interaktion mit Gesellschaft und Lebenswelt. Anette Treibel bezeichnet das Konzept G. H. Meads mit Bezug auf H. Joas als praktische Intersubjektivität. „Interaktionen zwischen Menschen sind durch Symbole (Gesten, sprachliche Ausdrücke, Mimik, Spiel-Regeln) vermittelt. In der These vom generalisierten Anderen kommt die Schnittstelle zwischen individueller und gruppenbezogener Perspektive zum Ausdruck. Erst durch den generalisierten Anderen entsteht Identität (‚self‘): Intersubjektivität, d.h. kommunikative Beziehungen zwischen den Subjekten (...) sind Voraussetzung für Identität.“96 In der Interaktion erhält das Symbol und die Fähigkeit, es durch Rollenübernahme deuten zu können, die zentrale Funktion: „Das Erschließen intersubjektiven Sinns im Wege der Rollenübernahme ist nur dann möglich durch die Fähigkeit, die in jeder Beziehung enthaltenen Hinweise (Symbole) zu entschlüsseln. Um den Sinn von Symbolen zu entschlüsseln, muss die Bedeutung bekannt sein. Das Erlernen der Verknüpfung von Symbol und Bedeutung ist eine wesentliche Leistung der Primärsozialisation. Symbolcharakter haben nicht nur Worte, sondern alle wahrnehmbaren Elemente des Habitus, einschließlich Geschlecht und Alter. Jedes Element „steht für etwas“, mithin ist „Verständnis“ nur möglich, wenn Symbole in einem hinreichenden Umfang entschlüsselt werden können.“97 Berührungspunkte des gesellschaftstheoretischen Modell Meads mit dem psychoanalytischen Paradigma Soziologie und Psychologie haben in den theoretischen Grundkonzeptionen von Sozialisation und Entwicklungspsychologie enge Berührungspunkte. Die psychoanalytische Theorie der Internalisierung elterlicher Wertmaßstäbe und der beständigen Verknüpfung von Normen und Werten im Über-Ich hat in der Sozialisationsforschung Berücksichtigung gefunden. Das gesellschaftstheoretische Modell G.H. Meads ist dem Gedankenkonzept der Psychoanalyse sinnverwandt. Seine Strukturelemente ‚I’, ‚Me’ und ‚Self’ finden sinnverwandte Analogien in dem Freudschen Strukturmodell und seinen Komponenten ‚Es’, ‚Ich’, ‚Über-Ich’. Den Prozess der Gewissensbildung bezeichnete Sigmund Freud im psychoanalytischen Paradigma mit dem Begriff des Über-Ichs. 98 96 Treibel, Anette: a.a.O., S. 113 97 Abels, H.; Stenger, H.: a.a.O., S. 125 f. 98 S. Freuds psychoanalytisches Strukturmodell der Persönlichkeit beinhaltet drei Instanzen.: Das Es, das Ich und das Über – Ich. Das Es repräsentiert die biologisch angelegten Triebe und „gehorcht“, wie S. Freud sagte, „dem unerbittlichen Lustprinzip“ (Freud, S., 1953, S. 11). Das Ich enthält die realitäts- und vernunftbezogenen Aspekte des psychischen Apparates. Es hat die Aufgabe, „die günstigste und gefahrloseste Art der Befriedigung mit Rücksicht auf die Außenwelt herauszufinden“ (Freud, S., 1953, S.54). Das Ich ist eine Instanz der Seele, welche mit ihren bewussten Ich - Funktionen wie Wahrnehmung, Erinnerung, Denken, Planen und Lernen sowie den unbewussten Ich - Funktionen, den Abwehrmechanismen, dazu verhilft, zwischen den verschiedenartigen Erfordernissen der Außenwelt, den Triebwünschen des Es und den moralischen Anforderungen des Über-Ich zu vermitteln, bzw. sie in Gleichklang zu bekommen. Die Ich - Funktionen sind teilweise angeboren, z.T. bilden sie sich in der Entwicklung heraus. Das Über-Ich stellt die Instanz dar, die die moralischen Werte, Normen und Maßstäbe vertritt, die durch Internalisierung elterlicher Gebote und Verbote entstanden sind. Es bildet sich etwa ab dem dritten Lebensjahr und beinhaltet Normen des Verhaltens, die sich aus dem Ich und seiner Auseinandersetzung mit 78 „Die Einzelheiten der Beziehung zwischen Ich und Über – Ich werden durchweg aus der Zurückführung auf das Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern verständlich. Im Elterneinfluss wirkt natürlich nicht nur das persönliche Wesen der Eltern, sondern auch der durch sie fortgepflanzte Einfluss von Familien-, Rassen- und Volkstradition sowie die von ihnen vertretenen Anforderungen des jeweiligen sozialen Milieus. Ebenso nimmt das Über – Ich im Laufe der individuellen Entwicklung Beiträge von Seiten späterer Fortsetzer und Ersatzpersonen der Eltern auf, wie Erzieher, öffentlicher Vorbilder, in der Gesellschaft verehrter Ideale. Man sieht, dass Es und Über-Ich bei all ihrer fundamentalen Verschiedenheit die Übereinstimmung zeigen, dass sie die Einflüsse der Vergangenheit repräsentieren, das Es den der ererbten, das Über-Ich im wesentlichen den der von anderen übernommenen, während das Ich hauptsächlich durch das selbst Erlebte, also Akzidentelle und Aktuelle bestimmt wird.“99 Das Über-Ich entlastet „als Zensor“ das Ich hinsichtlich der Triebkontrolle (Es) und ist damit auch beteiligt an der Sublimierung von Trieben: Triebenergien und spontane Aggressionen werden unterdrückt und in gesellschaftlich anerkannte oder akzeptierte Aktivitäten umgewandelt. Die Sublimierungsfunktion bewirkt, dass der Mensch mit anderen Menschen zusammenleben kann. Dieser Aspekt ist insbesondere für den Zusammenhang von Sozialisation und Interaktion interessant. Der Mensch arrangiert sich mit der Gesellschaft, um andererseits auch eine gewisse Sicherheit durch das Gefühl der Zugehörigkeit zu gewinnen. Ein starres Über-Ich, meist aus einer rigiden Erziehung und Internalisierung strenger Wertmaßstäbe resultierend, kann sich zu einem destruktiven Über – Ich entwickeln. Dann verursachen bereits geringste Abweichungen von der internalisierten Norm und „vorgegebenen“ Ethik Schuldgefühle, das Individuum wird starr und unflexibel, das Realitätsbild ist „verzerrt“. Die Protestantische Ethik demonstriert eindrücklich eine derartig einschränkende Lebensform. S. Freud nennt an anderer Stelle „die Einsetzung von Gewissen und Moral als einen Sieg der Generation über das Individuum“100 und führt aus, dass die Umbildung des Ödipuskomplexes „die Schaffung des Über-Ichs herbeiführt und so all die Vorgänge einleitet, die auf die Einreihung des Einzelwesens in die Kulturgemeinschaft abzielen.“101 Das Über-Ich wird „zum Träger der Tradition, all der zeitbeständigen Wertungen, die sich auf diesem Wege über Generationen fortgepflanzt haben.“102 Der Entwicklung des generalisierten Anderen gemäß Mead entspricht somit im Freudschen Konzept die Auflösung des ödipalen Konflikts durch Identifikation mit den Werten und Normen des gleichgeschlechtlichen Elternteils. Gemäß D. Geulen lieferte die Psychoanalyse die psychogenetische Theorie, welche im Wesentlichen die empirische Sozialforschung begründete: den Es-Ansprüchen entwickeln. Man könnte die Instanz des Über-Ich als „Verantwortung“ oder auch „Gewissen“ bezeichnen. Wie eine Zensur wehrt es alle Triebregungen des Ichs ab, die mit seinem Anspruch unvereinbar sind. „Verstöße“ gegen die unbewusste Kontrollfunktion des Über-Ich machen sich in Schuld- und Angstgefühlen bemerkbar, die auftreten, wenn das Ich als Kontrollinstanz einen triebhaften, den Normen widersprechenden Impuls im Denken oder Handeln „durchgehen lässt“. Zitate nach: Freud, S.: Abriss der Psychoanalyse (1938), Frankfurt am Main, 1953 99 Freud, S.: Abriss der Psychoanalyse (1938), Frankfurt am Main, 1953, S. 10 f. 100 Freud, S.: Studienausgabe, Bd. V., Frankfurt a.M., 1982, S. 265 101 Freud, S.: Studienausgabe, Bd. V., Frankfurt a.M., 1982, S. 278 102 Freud, S.: Studienausgabe, Bd. I., Frankfurt a.M., 1982, S. 505 79 „Wir verdanken der Psychoanalyse vor allem die Einsichten, (1) dass die innerpsychische Verarbeitung von Erfahrungen sehr komplex und unbewusst sein kann, (2) dass die dabei entstehenden Persönlichkeitsformen die Art der Handlungsfähigkeit des Individuums bestimmen, insbesondere die Chancen zu autonomem Handeln, (3) dass die affektiven Beziehungen zu anderen Personen eine wichtige Bedingung sind und (4) dass die entscheidenden Formationen schon in der frühen Kindheit entstehen. Aus den beiden letztgenannten Annahmen folgt u.a., dass die Familie als Sozialisationsinstanz von hervorragender Bedeutung ist.“103 3.7. Schichtenspezifische Sozialisation Der „generalisierte Andere“ als Produkt sozialer Erfahrungen und wichtige Instanz der Identitätsbildung zeigt die zentrale Bedeutung der symbolischen Interaktion und der Rollenübernahmefähigkeit im Sozialisationsprozess. Maßstäbe für die Bewertung der eigenen Person und der sozialen Umwelt werden über symbolische Interaktionen erarbeitet. Die Gesellschaft und ihre „Botschafter“ strukturieren bewusst und unbewusst Erfahrungsmöglichkeiten vor, so dass aus der unübersehbaren Vielfalt der Möglichkeiten eine Ordnung und Systematisierung sozialer Erfahrungen für das Individuum entsteht. Soziale Gruppen bauen einen Sinnhorizont auf, der sich von denen anderer Gruppen unterscheidet und über den sie sich definieren. Symbole sind oft die Träger des verbindenden Elements. Die Thematik unterschiedlicher Vergesellschaftungsformen hat mich zu der Fragestellung schichtenspezifischer Sozialisation geführt: Schichten sind Beispiele für große soziale Gruppen, die auf die Erfahrungswelt ihrer Mitglieder einwirken und damit auf Sozialisations- und Identitätsbildungsprozesse erheblichen Einfluss nehmen. Maßgebliche Fähigkeiten zur Umweltaneignung104 werden im frühen sozialen Umfeld erworben. 103 Geulen, D.: Die historische Entwicklung sozialisationstheoretischer Paradigmen, in: Hurrelmann, K. und Ulrich, D. (Hrsg.) Handbuch der Sozialisationsforschung, Weinheim 1980, S. 36 104 Abels, H; Stenger, H.: a.a.O., S. 162 f.: “Wesentliche Voraussetzung und Bestandteil jeder Umweltaneignung sind Sprache, Denken, Wissen und Erfahrung. In der interdependenten Entwicklung von Sprache und Denken werden die Grundlagen für das “Begreifen” “von Welt” gelegt. Dinge, über die in Sprache nicht verfügt wird, sind dem Individuum nicht “zu eigen”, es hat sie sich nicht angeeignet. Mit Sprache und Denken eng verbunden ist die Erfahrung bzw. sind die Erfahrungsmöglichkeiten. Konkrete Erfahrung ist auch ein wichtiger Weg, Dinge zu “begreifen”, sich “einen Begriff davon zu machen”, um sie sprachlich und gedanklich weiterverarbeiten zu können. Sprache und Denken sind also wichtige Hilfsmittel für die Abstraktion und Verallgemeinerung von Erfahrung. Die Abstraktion wiederum ermöglicht erst die Verknüpfung und Strukturierung von Erfahrung. Als ein Beispiel für ein solches Produkt aus Sprache, Denken und Erfahrung haben wir die Sozialisationsinstanz des generalisierten Anderen kennen gelernt. Strukturierte Erfahrung schließlich ist Voraussetzung für Reflexivität gegenüber Erfahrungen. Solche Reflexivität bestimmt wesentlich die Qualität des Rollenspiels bzw. die Chancen eines Akteurs, potentielle Spielräume von Positionen und Rollen zu nutzen und so das Aneignungspotential einer Position tatsächlich zu realisieren. (...) Sprache, Denken und Erfahrung “schaffen” also das “Wissen”, mit dessen Hilfe Umwelt mittelbar oder unmittelbar angeeignet werden kann.” 80 Die Startbedingungen für dieses „Unternehmen“ Gesellschaft, d.h. die Möglichkeiten, sich erforderliches Wissen aneignen und differenzierte Erfahrungen machen zu können, sind sehr ungleich verteilt und vom Individuum in der frühen Sozialisation unbeeinflussbar. Durch Sozialisation vermittelte soziale Handlungskompetenz, gesellschaftliche und moralische Wertvorstellungen, Identität, sprachliches Ausdrucksniveau, Formen des Umgangs, etc. prägen nachhaltig die Alltagswelt des Kindes, seine Denk- und Handlungsmuster, die für es zur Selbstverständlichkeit werden. Die ungleichen Chancen zur Kompetenz- und Umweltaneignung haben im weiteren Lebenslauf auch Konsequenzen für den Erwerb formaler Berechtigungen zur Partizipation an den Systemen, Strukturen und Institutionen der Gesellschaft. Sozialisationsdefizite ziehen sich oft durch die Biographie wie ein roter Faden. Ein Beispiel für dieses Phänomen ist der Zusammenhang zwischen Sozialisationsbedingungen und schulischem bzw. beruflichem Qualifikationsniveau. Eltern schaffen ihrem Kind Sozialisationsbedingungen mit nachhaltig effizienten Prägungen: Jede soziale Schicht ist bemüht, die in ihrem Umfeld erwünschten sozialen Eigenschaften, Handlungsweisen und Fähigkeiten an die folgenden Generationen zu tradieren. Die soziale Gruppe und ihre Mitglieder können aber nur so viel Horizont vermitteln, wie sie selbst entwickelt haben. Unterschiedliche Schichtenzugehörigkeit impliziert ungleiche Formen der Lebenswelten und Horizonte. Kinder verschiedener Schichtenzugehörigkeiten erfahren unterschiedliche Vergesellschaftungsformen. Sozialisationsvorprägung beeinflusst den Erwerb gesellschaftlich relevanten Wissens, das über den berühmten „Tellerrand“ hinausgeht. Viele Menschen sind im Habitus der Schicht „verhaftet“, und es fällt ihnen von daher schwer, sich in die Denkart anderer Individuen und Gruppen hineinzuversetzen. Sprachstile indizieren Interaktionsfähigkeit, Möglichkeiten der Aneignung von sozialer Umwelt, schichtenspezifische Handlungskompetenz und Ausdrucksformen der Symbolisierung105. Die Mittelschicht präferiert die Symbolisierung von Dingen und Sachverhalten eher in verbaler, abstrakter und differenzierter Ausdrucksweise. In einfacheren Schichten tritt das Medium der Sprache eher in den Hintergrund, es überwiegt „eine Sprach- und Kommunikationsweise, die die ‚persönliche Qualifikation’ mit Hilfe des ‚expressiven Symbolismus’ ausdrückt, das heißt nach B. Bernstein: in nicht-sprachlicher Form oder mit Hilfe einer begrenzenden Satzstruktur’.“106 Er betont für diese 105 Kennzeichnend für die Unterschicht ist nach Bernstein der „restringierte Code“ mit einfachen grammatischen und syntaktischen Strukturen, kurzen Sätzen, begrenzter Variation von Konjugationen und Adverbien, die häufige Verwechslung von Begründungen und Folgerungen sowie eine fehlende sprachliche Vermittlung eigener Absichten in Interaktionen. Der „elaborierte Code“ der Mittelschicht zeichnet sich durch komplexere grammatische Strukturen, einen differenzierten Gebrauch von Nebensätzen, Präpositionen, Adjektiven und Adverbien, den häufigen und im Zusammenhang mit Generalisierungen wichtigen Gebrauch der unpersönlichen Fürwörter, sowie durch vielfältige Möglichkeiten in der Darstellung subjektiver Absichten und Bedeutungen aus. Vgl.: Bernstein, B.: Sozio-kulturelle Determinanten des Lernens. Mit besonderer Berücksichtigung der Sprache (1959), in: Heinz, P. (Hrsg.): Soziologie der Schule, Sonderheft 4 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Köln 1970, zit. bei: Abels, H.; Stenger, H.: a.a.O., S. 171 106 Rolff, H. G.: Sozialisation und Auslese durch die Schule, Heidelberg 1973, 6. Auflage, S. 100 f.: „Die Beziehung von Mutter und Kind wird selten durch das Medium der Sprache vermittelt; sie ist unmittelbar. Das Kind lernt im Sozialisationsprozess, auf andere als auf satzstrukturelle und durch Adjektive nuancierte Äußerungen zu reagieren. Die Intentionen, Gefühle und Einstellungen werden durch eine Form des Ausdrucks modifiziert, die solidarisches Verständnis betont und einen konkreten, visuellen, tangiblen und deskriptiven Symbolgehalt aufweist. Die individuelle Qualifikation tritt weniger in der Sprache zutage, sondern drückt sich durch Gestik, Mimik, Körperhaltung und Intonation und Schwankungen des Stimmvolumens aus, so dass oft das, was nicht gesagt wird, wichtiger ist als das, was gesagt wird. Die subjektive Absicht wird selten durch Worte erläutert. Die Mutter aus der Arbeiterschaft ist nur selten bemüht, ihrem Kinde zu 81 Kommunikationsform, dass die unmittelbare Erfahrung der affektiven Zusammengehörigkeit maximal hervorgehoben wird, wogegen die sprachlich bedingte emotionale und kognitive Differenzierung in den Hintergrund tritt.107 H. G. Rolff hat festgestellt, dass in der Mittelschicht früh eine sprachlich geprägte Interaktion erlernt wird, die dazu führt, dass das Individuum lernt, wie Beziehungen herzustellen sind, wie symbolisch interagiert wird. „Das Insistieren auf dem ‚Begreifen’ der Bedeutungen von Objekten und die verbalisierte mittelbare Form der Eltern-Kind-Interaktion bewirkt, dass das Kind sich frühzeitig an einer kognitiv und emotional differenzierten Handhabung der Wörter zu orientieren lernt.“108 Unter Bezug auf die früheren Erläuterungen zur Autonomie- und Sprachentwicklung, Erfahrungswelt und Interaktion kann zusammenfassend festgestellt werden, dass Personen, die im elaborierten Code sozialisiert werden, bessere Chancen der Umweltaneignung haben als diejenigen, in deren Sozialisation die Komponenten des restringierten Codes109 überwiegen. Eine differenzierte und komplexe Sprachentwicklung verhilft der Persönlichkeit zu einer präziseren und subtileren Präsentation eigener Intentionen und Bedürfnisse. Empathische Fähigkeiten, das Vermögen zu angemessener, situationsangepasster Rollenübernahme, sowie das Verständnis für Interaktionspartner in verschiedenen Situationen sind wesentlich für erfolgreiches Handeln. „Wenn Begriffe fehlen, Abstraktionen nicht geleistet werden und Zusammenhänge nicht hergestellt werden können, wird der generalisierte „Andere“ als gesellschaftlicher „Repräsentant“ im Denken des Individuums notwendig anders strukturiert sein und ein anderes „Bild“ der Welt entwerfen, das die Orientierungen gegenüber der Umwelt bestimmt und das Handeln prägt. Ein Individuum, das ausschließlich über den restringierten Code verfügt, wird daher in seiner Generalisierungsfähigkeit und der explizieren, warum es etwas tun oder unterlassen, sagen oder verschweigen soll, welche Konsequenzen, Vor- und Nachteile aus den Verhaltensweisen folgen. Deshalb bleibt dem Arbeiterkind der Bezugsrahmen für die erlernten Verhaltensweisen oft verschlossen. Die Orientierung an unmittelbaren Signalen erschwert es ferner, eine Bedeutung oder ein Erfahrungsmuster aus der konkreten Situation herauszulösen und sie als Element der Begriffsbildung zu verwenden.“ 107 vgl.: Bernstein, B.: Sozio-kulturelle Determinanten des Lernens. Mit besonderer Berücksichtigung der Sprache (1959), in: Heinz, P. (Hrsg.): Soziologie der Schule, Sonderheft 4 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Köln 1970, S. 66 108 Rolff, H. G.: Sozialisation und Auslese durch die Schule, Heidelberg 1973, 6. Auflage, S. 98 f. Er führt zur Interaktions- und Sprachentwicklung der Mittelschicht weiter aus: „Die Interaktion zwischen Mutter und Kind werden in der Mittelschicht von früh an durch mehr mittelbare Äußerungen bestimmt, die sich des Mediums der Sprache bedienen, wobei relativ subtile Wechsel in der Wortstellung bedeutsame Änderungen der Einstellung, der Intention und des Gefühlszustandes der Mutter anzeigen. Das Kind, das auf die Interaktion mit der Mutter angewiesen ist, lernt bereits auf sprachliche Signale zu reagieren, bevor es fähig ist, selbst sprachliche Signale von sich zu geben. Es muss sich fortwährend nach dem Sprachgebrauch der Mutter ausrichten. (...) Bernstein konstatiert, dass dank der großen Bedeutung, die dieser Art von mittelbarer Beziehung zwischen Mutter und Kind zukommt, eine Spannung zwischen dem Kind und seiner Umwelt entsteht, die auch in ihm selbst den Wunsch weckt, seine Beziehungen in individualisierter Form zu verbalisieren: Dabei ist die Mutter bestrebt, schon die ersten tastenden Versuche von persönlichen, qualifizierenden Aussagen des Kindes zu erweitern und auszuformen. So entsteht eine Art kumulativer Prozess, durch den das Kind das Erlebnis des Verschiedenseins erfährt. (...)“ 109 B. Bernstein sieht einen Zusammenhang zwischen Sprachcode und Interaktionsform. Demnach entspricht der restringierte Code einem statusorientierten Kommunikationsstil, der Rollenerwartungen am Status einer jeweiligen Rolle oder Person festmacht und individuelle, situationsbezogene Interaktionskomponenten kaum einbezieht. Der elaborierte Code findet Ausdruck in einer personenorientierten Kommunikationsform. Sie berücksichtigt gerade die individuellen Besonderheiten und situativen Merkmale der jeweiligen Interaktion und kann durch die Fähigkeit zur symbolischen Interpretation auf die modifizierenden Definitionen und Signale des Interaktionspartners zugehen. 82 Entwicklung von Handlungskompetenzen zwangsläufig beschränkt sowie in seinem Verhalten stark von den jeweiligen Bedingungen einer Situation abhängig sein.“110 Die in der primären Sozialisation wurzelnde Benachteiligung setzt sich in den weiteren Sozialisationsstufen fort. Es entsteht eine Negativspirale, durch die individuelle Entwicklungsrückstände in anderen gesellschaftlichen Bereichen wie z.B. Schule, Beschäftigungssystem, etc. verfestigt bzw. verstärkt werden können, sodass man von einem Prozess “kumulativer” Benachteiligung sprechen kann.111 „Kinder und Jugendliche, die aus Familien kommen, die aufgrund sozialstatistischer und kultureller Faktoren der Unterschicht zuzuordnen sind, haben nun besondere Schwierigkeiten in der Entwicklung von Handlungskompetenz (und damit in der Entwicklung von Fähigkeiten, die notwendig sind für die Aneignung von Umwelt). (...) Die Entwicklung wird für sie jedoch dadurch weiter erschwert, dass wesentliche Teile der Handlungsmuster und -strategien, die in der familialen Sozialisation gelernt und internalisiert werden, der Aneignung von Umwelt relativ enge Grenzen setzen.”112 Soziale Benachteiligung drückt sich auch in mangelhafter Handlungskompetenz aus. Hierzu werde ich im Kapitel 8 noch ein Beispiel geben. Der Begriff der Handlungskompetenz wurde von R. Bohnsack entwickelt und meint „die Fähigkeit, auf der Grundlage der Beherrschung der Basisregeln, d.h. der Grundstruktur von Interaktion (...) situative soziale Erfahrungen zu abstrahieren und zu generalisieren. (...) Es geht um die Fähigkeit, strukturelle Ähnlichkeiten unterschiedlichster sozialer Situationen zu erkennen und aufgrund dieser Erkenntnis Definitionen und Verhaltensweisen in einer „angemessenen“, „richtigen“ Weise miteinander zu verknüpfen und gewissermaßen zu „transferieren“. (...) Der generalisierte Andere ließe sich durchaus als sozialisatorische Instanz für die Entwicklung von Handlungskompetenz bezeichnen.“113 In Interaktionen wird mangelhafte Handlungskompetenz durch Schwierigkeiten bei der Rollenübernahme offenbar: Intentionen, Erwartungen und die Symbolik des Gesprächspartners werden nicht genügend erkannt und somit auch nicht in das eigene Interaktionsverhalten eingebaut. Der vermeintlich Interagierende „klebt“ an seiner subjektiven Perspektive, weil er seine Vorstellung der Situation mangels Generalisierungsfähigkeit als die ganze, einzig wahre Realität einschätzt, Erfahrungen werden zu schnell verallgemeinert, Einzelmerkmale überbewertet (Halo-Effekt). Für die Ebenen anderer subjektiver Lebenswelten besteht zudem meist wenig Empathie. Die kumulative Benachteiligung wird auch in der äußeren Lebenswelt, wie z.B. in den Wohnverhältnissen, evident. Aufgrund der oben genannten Möglichkeiten beschränkt sich das Wohnungspotential einfacherer sozialer Schichten auf Wohngebiete und Standorte geringerer Standortqualität. Standorte also, die der Sozialpsychologe Alexander Mitscherlich in seinen Ausführungen als „krank machend und neurotisierend“ beschrieben hat. Dort wohnt „man“ meist „unter sich“, im vertrauten Milieu. Die physische Gestaltqualität des Wohnumfeldes wird im Individuum innerpsychisch als Objekt der Lebenswelt abgebildet. Die 110 Abels, H. ; Stenger, H.: a.a.O., S. 175 111 vgl.: Kloas, P.W. und Stenger, H.: Berufsschüler ohne Berufschance? Eine Analyse zu den Berufsstartproblemen, der sozialen Herkunft und den Maßnahmen der beruflichen Integration lernbehinderter und lerngestörter Jugendlicher, Hannover 1980 112 Abels, H. ; Stenger, H.: a.a.O., S. 166 113 Bohnsack, R.: Handlungskompetenz und Jugendkriminalität, Neuwied 1973, zit. bei: Abels, H.; Stenger, H.: a.a.O., S. 164 83 einzelnen Objekte, Figuren oder Gestalten verschmelzen zu einem Gesamtbild von „zu Hause“, Heimat, Zugehörigkeit und machen die Erfahrungswelt des Individuums aus. Die erfahrene Realität der Umwelt wird, ob sie sich in Bild oder Wort ausdrückt, für den Menschen zur psychisch prägenden Realität, die der Sozialpsychologe Alexander Mitscherlich als Prägestock bezeichnete. 3.8. Zusammenfassung „Kein Leben, keine erlebbare Umwelt ist einer anderen identisch, eben weil jedes Individuum in der Auseinandersetzung mit mehr oder weniger von ihm beeinflussbaren Umweltbedingungen zu persönlichen Entscheidungen gezwungen ist, die auf die Umwelt und den Verlauf seines Lebens im „kleinen“ und „großen“ zurückwirken.“114 Der Symbolische Interaktionismus verbindet Individuum und Gesellschaft. Seine Theorien lassen sich folgendermaßen zusammenfassen. • Das menschliche Zusammenleben besteht aus dem gegenseitigen Aufeinanderabstimmen der Handlungslinien der Teilnehmer; • Soziale Handlungen sind, gleichgültig, ob sie individueller oder kollektiver Art sind, in einem Prozess aufgebaut. In dessen Verlauf erfolgt eine Ausrichtung des Handelns vorwiegend dadurch, dass die Teilnehmer einander anzeigen, was der jeweils Andere tun soll und dass sie umgekehrt solche durch Andere vorgenommene Anzeigen interpretieren. • Menschen internalisieren aus der Interaktion Objekte, die ihre Welten ausmachen. Menschen sind, individuell oder kollektiv, darauf ausgerichtet, auf der Grundlage der Bedeutung der Objekte zu handeln, die für sie wichtig sind. Die Bedeutung von Dingen und Objekten ist abgeleitet bzw. entsteht aus der sozialen Interaktion, die man mit seinen Mitmenschen eingeht. • Unter „Objekten“ oder „Dingen“ wird hier a l l e s gefasst, was der Mensch in seiner Welt wahrzunehmen vermag. • Bei der Auseinandersetzung mit Objekten befindet sich das Individuum in einem interpretativen Prozess, in dem die Bedeutungen hergestellt und nach Bedarf modifiziert werden. • Die Menschen treten ihrer Welt als Organismen mit einem Selbst gegenüber, das den Einzelnen in die Lage versetzt, sich selbst und anderen etwas anzuzeigen. Will man das Handeln von Menschen verstehen, so ist es unumgänglich, ihre Objekte so zu sehen, wie sie sie selbst sehen. • Die Verkettung solch fortlaufenden Handelns begründet Organisationen, Institutionen und unermessliche Komplexe ineinandergreifender Beziehungen. • Diese komplexen Verkettungen von Handlungen sind dynamische Prozesse und nicht statische Angelegenheiten. 115 / 116 / 117 114 Abels, Heinz; Stenger, Horst: a.a.O., S. 41 115 Blumer, Herbert (1973): a.a.O., S. 81 116 ebenda, S. 132 117 ebenda, S. 133 84 Der symbolische Interaktionismus verdeutlicht, dass jedes Interaktionsgeschehen zwischen Individuen, der Gesellschaft und der sich in den Lebensräumen verortenden Objekte symbolvermittelt und einzigartig ist, und dass die Interpretation dieser Vorgänge eine Deutung vor biographischem Kontext erfahren sollte. Objekte sprechen uns aufgrund intrapsychisch erworbener Strukturen an und wir handeln ihnen gegenüber aufgrund der Bedeutung, die wir ihnen beimessen. Dieses symbolische „Wertesystem“ erfahren wir in der (primären) Sozialisation, die uns durch frühe Erfahrungen für das weitere Leben vorstrukturiert. Sozialisation bedeutet Aneignung und Erfahrung von Umwelt. Die symbolischen Interaktionserfahrungen internalisiert das Individuum in Selbstobjektrepräsentanzen, die die weitere Beziehungsgestaltung zu anderen Menschen und zur Lebenswelt vorstrukturieren. Sozialisation schließt auch ein, Basisregeln menschlichen Miteinanders, des sozialen Handelns für das künftige „Unternehmen“ Gesellschaft, über die symbolvermittelte Interaktion zu erlernen. Das Symbolsystem Sprache verleiht dem Individuum die Freiheit der Abstraktions-, der Differenzierungs- und Generalisierungsfähigkeit . Rollenübernahmefähigkeit und Perspektivenwechsel sind wichtige Entwicklungsschritte für die Persönlichkeit. Der generalisierte Andere findet eine Parallele im psychoanalytischen Begriff der Über-Ich-Struktur, einer wichtigen Gewissensinstanz, die dem Individuum hilft, sich in die Gesellschaft integrieren zu können. Jeder Mensch entwickelt seine individuelle Auffassung und Sicht von „Welt“. Zunächst „übernimmt“ er in der primären Sozialisation eine Welt, in der Andere schon leben. Das „Übernehmen“ ist bei jedem Menschen ein an sich genuiner Prozess, die übernommene Welt kann schöpferisch umgewandelt oder in seltenen Fällen neu geformt werden. „Immer jedoch „verstehe“ ich bei den komplexeren Formen der Internalisierung nicht nur die augenblicklichen subjektiven Vorgänge im Anderen, sondern ich „verstehe“ die Welt in der er lebt, und diese Welt wird meine eigene. (...) Das Wichtigste ist, dass nun eine ständige wechselseitige Identifikation zwischen uns vor sich geht. Wir leben nicht nur in derselben Welt, wir haben beide teil an unser beider Sein. Nur wer diesen Grad der Internalisierung von Welt erreicht hat, ist Mitglied der Gesellschaft. Der ontogenetische Prozess, der das zustande bringt, ist die Sozialisation, die damit als die grundlegende und allseitige Einführung des Individuums in die objektive Welt einer Gesellschaft oder eines Teiles einer Gesellschaft bezeichnet werden kann. Die primäre Sozialisation ist die erste Phase, durch die der Mensch in seiner Kindheit zum Mitglied der Gesellschaft wird.“118 118 Berger, Peter L.; Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt 1980, Fischer Verl., 17. Aufl., 2000, S. 140 85 4. Das Symbol und seine Bedeutung in städtischen Interaktionsprozessen 4.1. Einleitung „Der Umgang mit dem Symbol ist die älteste geistige Tätigkeit des Menschen überhaupt. Das Symbol enthält das Formprinzip für die psychischen Energien des Unbewußten (...).“1 Interaktionen werden durch Symbole vermittelt und gestaltet. Durch ihre subjektiven Inhalte ergibt sich für jeden Menschen eine persönliche Sichtweise von Lebenswelt und Realität: Räume sind Orte unserer Interpretation In diesem Kapitel werde ich den Symbolbegriff definieren und das Symbol in einen räumlichen Kontext stellen. Das führt zunächst zu der Frage: Was ist Raum? Zur Beantwortung dieser Frage werde ich mich auf die Ausarbeitungen von Klaus M. Schmals und Dieter Läpple beziehen. Eine grundlegende Untersuchung über den symbolischen Umgang mit Raum ist die des französischen Religionshistorikers Mircea Eliade. Von seiner Arbeit über „Das Heilige und das Profane“ lässt sich die Notwendigkeit einer Zentrierung des menschlichen Lebensraumes ableiten. Peter Jüngst und Oskar Meder prägen die Begriffe der „Präsentativen Symbolik“ und „symbolischen Raumbezogenheit“ und erklären damit Beziehungsgeschehen zwischen Individuen und Räumen. Die psychische Struktur individueller (und kollektiver) internalisierter Objektbeziehungen wird im Raum abgebildet. Andererseits interpretiert die psychische Struktur des Individuums Räume und Objekte nach subjektiv internalisierten Beziehungsmustern. Peter Jüngst und Oskar Meder visualisieren diese Zusammenhänge in dem von ihnen entwickelten „themenzentrierten Assoziationsdrama“. 4.2. Etymologie und Definitionen Symbol: (griech.: Symbolon: Wahrzeichen, Merkmal), allgemein ein sinnlich wahrnehmbarer Verweisungsgegenstand oder -vorgang, der für etwas anderes, mit den Sinnen nicht Wahrnehmbares (Gedachtes bzw. Geglaubtes) steht (siehe Semiotik). Als solcher ist der Begriff in Psychologie, Philosophie, Soziologie, Kunst- und Literaturwissenschaft, Linguistik, Mathematik, Technik, Kartographie, Theologie und Religionswissenschaft gebräuchlich. (...)“2 1 Eschenbach,Ursula: Der Umgang mit dem Symbol. Allgemeine Grundlagen der Methodik, in: Eschenbach, Ursula (Hrsg.): Das Symbol im therapeutischen Prozess bei Kindern und Jugendlichen; Therapeutische Konzepte der Analytischen Psychologie C. G. Jungs; Bd. 1, Stuttgart 1978, S. 27 2 „Symbole sind etwa die Sanduhr (für Tod und Vergänglichkeit), das Haus (für Geborgenheit), der Fuchs (für Verschlagenheit, Reineke Fuchs) und der Fisch (Erkennungssymbol des frühen Christentums). In der Wirklichkeitsauffassung Goethes stellt prinzipiell alles Vergängliche nur ein Gleichnis dar (Faust II): „Alles ist ja nur symbolisch zu nehmen und überall steckt noch etwas anderes dahinter“. In der Literatur wird generell 86 Etymologie Etymologisch ist das „Symbol“ auf die griechischen Wörter „Symbolon“ und „symballein“ zurückzuführen. „Symbolon“ bedeutet „ein Erkennungszeichen.“3 „Ballo“ hat in Assoziation zum deutschen und englischen „ball“ die Bedeutung von werfen, treffen, treiben und in eine Richtung bewegen. „Sym“ als Vorsilbe eines Wortes zeigt uns eine Zusammengehörigkeit an. „Wenn sich im alten Griechenland zwei Freunde trennten, zerbrachen sie eine Münze, ein Tontäfelchen oder einen Ring. Wenn nun der Freund oder jemand aus seiner Familie zurückkehrte , dann hatte er seine Hälfte vorzuweisen. Paßte diese Hälfte, dann hatte er sich als der Freund oder als ein Freund zu erkennen gegeben und hatte ein Recht auf Gastfreundschaft. (...) Die Etymologie des Begriffs läßt erkennen, dass ein Symbol etwas Zusammengesetztes ist. Erst wenn es zusammengesetzt ist, ist es ein Symbol, und dieses Symbol wird dann ein Symbol von etwas: Hier steht es stellvertretend für die geistige Realität der Freundschaft und, über die persönliche Freundschaft hinaus weisend, auch für die Gastfreundschaft der Familien, samt dem Anspruch auf Gastfreundschaft. Es ist hier – und das trifft auf alle Symbole zu – das Symbol ein sichtbares Zeichen einer auch unsichtbaren ideellen Wirklichkeit. Beim Symbol sind also immer zwei Ebenen zu beachten: In etwas Äußerem kann sich etwas Inneres offenbaren, in etwas Sichtbarem etwas Unsichtbares, in etwas Körperlichem das Geistige, in einem Besonderen das Allgemeine. Wenn wir deuten, suchen wir jeweils die unsichtbare Wirklichkeit hinter diesem Sichtbaren und ihrer Verknüpfung. Dabei kennzeichnet das Symbol immer einen Bedeutungsüberschuss, wir werden seine Bedeutungen nie ganz erschöpfen können.“4 Die deutsche „Übersetzung“ für Symbol ist das „Sinn – Bild“. Diese Beschreibung greift das Bild eines geteilten, zerbrochenen Gegenstandes, der zusammengefügt werden muss, um eine höhere Bedeutung zu finden, wieder auf. Der Inhalt eines Symbols entstammt scheinbar aus unterschiedlichen Sphären: Der Teilbereich „Sinn“ gehört vornehmlich zum bewussten, rationalen Bereich, das Element „Bild“ wird mehr dem unbewussten, irrationalen Bereich zugeordnet. Das Symbol vermag sowohl komplexe psychische Tatbestände auszudrücken und bedeutet zugleich Trennung und Verbindung des Zertrennten. Das Symbol umfasst also etwas, das mit unserer Sprache, einem Werkzeug der Ratio, nicht vollständig oder erschöpfend ausgedrückt werden kann. Es spricht die Psyche in ihrer Ganzheit an, d.h.: Es verknüpft Sichtbares mit Unsichtbarem, Bewusstes mit Unbewusstem, Bekanntes mit Unbekanntem. Hinter der kognitiv real wahrnehmbaren Ebene existiert offenbar eine tiefere verschlüsselte Sinnesebene, die es zu ergründen gilt, wenn wir uns einen tieferen Bedeutungsgehalt von Lebenswelten und den sich in ihnen verortenden Interaktionen, Handlungen, Motivationen, Beziehungen, etc. erschließen wollen. „Ob etwas ein Symbol sei oder nicht hängt zunächst jegliche bildkräftige, „sinnbildliche“ Aussage, die auf ein Abstraktum verweist, ohne (wie die Allegorie) willkürlich gesetzt zu sein, als Symbol begriffen.“ Tworuschka, Udo: Symbol; Microsoft® Encarta® 99 Enzyklopädie. © 1993-1998 Microsoft Corporation 3 vgl. Kast, Verena: Die Dynamik der Symbole. Grundlagen der Jungschen Psychotherapie. München 1997, S.19, zitiert nach: Lurker, M.: Wörterbuch der Symbolik. Kröner, Stuttgart 1979 4 Kast, Verena (1997): a.a.O., S. 20 87 von der Einstellung des betrachtenden Bewusstseins ab, eines Verstandes zum Beispiel, der den gegebenen Tatbestand nicht bloß als solchen, sondern auch als Ausdruck von Unbekanntem ansieht,“5 sagt C. G. Jung. Ein Baum existiert nicht bloß in seiner konkreten physischen Erscheinung, sondern z.B. auch als Symbol eines Ganzheitssymbols, eines Menschenlebens, d.h. „auch als Sinnbild von etwas mehr oder minder Unbekanntem.“6 E. Cassirers Symbolbegriff: „Philosophie der symbolischen Formen“ Geistesgeschichtlich einflussreich war der philosophische Symbolbegriff von Ernst Cassirer, den dieser in seinem Hauptwerk „Philosophie der symbolischen Formen“ (1923-1929) entwickelte: Der Mensch erfasst die Wirklichkeit nicht an sich, sondern durch die Vermittlung der symbolischen Formen (Sprache, Mythos, Kunst). Ernst Cassirers Symbolbegriff ist in Anlehnung an die Physik zunächst naturwissenschaftlich geprägt7. Demnach bilden Symbole naturwissenschaftliche Phänomene und ihre kausalen Beziehungen zu- und untereinander ab, sie sind rationale Verknüpfungen naturwissenschaftlicher Erkenntniszusammenhänge und postulieren Objektivität.8 / 9 Ernst Cassirer grenzte die „Philosophie symbolischer Formen“ von der „Philosophie der Technik“ insofern ab, als die Philosophie der symbolischen Formen über die technische Naturerkenntnis hinaus die Frage der Gesamtheit der geistigen Ausdrucksfunktionen zu beantworten sucht. Daher ist für Cassirer in logischer Fortsetzung der naturwissenschaftlich- mathematisch-physikalischen Ausgangslage das Symbol ein Ausdruck des Geistes. „Und da es in der Tat eine reine Aktivität des Geistes ist, die sich in der Schaffung der verschiedenen Systeme sinnlicher Symbole bekundet, das drückt sich auch darin aus, dass alle diese 5 Jung, C. G.: G W, a.a.O., Bd. 6, § 823, S. 509 6 Jacobi, Jolande: Die Psychologie von C. G. Jung. Eine Einführung in das Gesamtwerk. Frankfurt 1996, S. 99 7 Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1: Die Sprache (erschienen 1923), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 5. unveränderte Aufl., 1972, S. 17 : „Wir greifen (...) wieder auf den Begriff des „Symbols“ zurück, wie ihn Heinrich Hertz vom Standpunkt der physikalischen Erkenntnis fordert und kennzeichnet. Was der Physiker in den Erscheinungen sucht, ist die Darstellung ihrer notwendigen Verknüpfung. (...) Die Begriffe, mit denen er operiert, die Begriffe des Raumes und der Zeit, der Masse und der Kraft, des materiellen Punktes und der Energie, des Atoms oder des Äthers, sind freie „Scheinbilder“, die die Erkenntnis entwirft, um die Welt der sinnlichen Erfahrung zu beherrschen und als gegensätzlich–geordnete Welt zu übersehen, denen aber in den sinnlichen Daten selbst unmittelbar nichts entspricht.“ 8 Cassirer, Ernst, Bd. 1, a.a.O., S. 5: „Die Grundbegriffe jeder Wissenschaft, die Mittel, mit denen sie ihre Fragen stellt und ihre Lösungen formuliert, erscheinen nicht mehr als passive Abbilder eines gegebenen Seins, sondern als selbstgeschaffene intellektuelle Symbole. (...). Es ist insbesondere die mathematisch- physikalische Erkenntnis gewesen, die sich dieses Symbolcharakters ihrer Grundmittel am frühesten und am schärfsten bewusst geworden ist. Heinrich Hertz (...) bezeichnet es als die nächste und wichtigste Aufgabe unserer Naturerkenntnis, dass sie uns befähige, zukünftige Erfahrungen vorauszusehen: - das Verfahren aber, dessen sie sich zur Ableitung des Zukünftigen aus dem Vergangenen bediene, besteht darin, dass wir uns „innere Scheinbilder oder Symbole“ der äußeren Gegenstände machen, die von solcher Art sind, dass die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände 9 Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 3: Phänomenologie der Erkenntnis (Erschienen: 1929), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 4. Aufl., 1964, S. 25: Hertz ist nach E. Cassirers Auffassung derjenige Forscher, „der in seinen „Prinzipien der Mechanik“ (1894) die Wendung von der „Abbildtheorie“ der physikalischen Erkenntnis zu einer reinen „Symboltheorie“ am frühesten und am entschiedensten vollzogen hat. Die Grundbegriffe der Naturwissenschaft erscheinen jetzt nicht mehr als Kopien und Nachbilder eines unmittelbar dinglich Gegebenen; sondern sie werden als konstruktive Entwürfe des physikalischen Denkens eingeführt – als Entwürfe, deren theoretische Geltung und Bedeutsamkeit an keine andere Bedingung geknüpft ist als daran, dass ihre denknotwendigen Folgen stets wieder mit dem in der Erfahrung Beobachtbaren übereinstimmen. In diesem Sinne lässt sich jetzt die gesamte Welt der physikalischen Begriffe, wie es Helmholtz in seiner Erkenntnistheorie tat, als eine Welt reiner Zeichen definieren.“ 88 Symbole von Anfang an mit einem bestimmten Objektivitäts- und Wertanspruch auftreten. Sie alle greifen über den Kreis der bloß individuellen Bewusstseinserscheinungen hinaus; - sie beanspruchen ihnen gegenüber ein Allgemeingültiges hinzustellen.“10 Die von Ernst Cassirer entwickelten Bewertungs- und Verobjektivierbarkeitsansätze weichen von dem Symbolbegriff ab, wie ich ihn in meiner Arbeit verwenden werde: 4.3. Das Symbol in der Analytischen Psychologie C. G. Jungs Symboldeutung erfordert im psychoanalytischen Paradigma den Kontext zur Biographie oder Lebenssituation. Das Symbol beinhaltet keine Bewertung. „Solange ein Symbol lebendig ist, ist es der Ausdruck einer sonstwie nicht besser zu kennzeichnenden Sache. Das Symbol ist nur lebendig, solange es bedeutungsschwanger ist.“11 Das Symbol verbindet etwas Getrenntes zu einer Ganzheit: Unbewusstes mit Bewusstem, die (subjektive) innerpsychische Welt mit der Außenwelt, Rationales und Irrationales zu einer Ganzheit. „In der Analytischen Psychologie ist der Umgang mit dem Symbol – und das ist immer grundsätzlich der Umgang mit der Sinnfrage – keine Glaubensfrage, keine Notbremse für Unsicherheit oder magische Bewirkung, vielmehr dient er der ganzheitlichen Betrachtung des Menschen.“12 Symbole sind im Gegensatz zu Zeichen keine eindeutigen, sondern immer mehrdeutige, komplizierte Größen. „Symbole sind jedoch zum Unterschied von bloßen Allegorien prinzipiell mehrdeutig, man wird ihnen daher durch eine schematische Übersetzung niemals völlig gerecht; daran scheitert der Versuch eines Symbol-Lexikons der Traumsprache.“13 Transzendente Funktion Die „Brücke“ zwischen dem Unbewussten und dem Bewusstsein bezeichnet C. G. Jung die transzendente Funktion.14/15 Diese Verbindungsfunktion ist überall dort wichtig, wo zwischen 10 Cassirer, Ernst: Bd. 1, a.a.O., S. 21 11 Jung, C. G.: G.W., Bd. 6, a.a.O., § 821 12 Eschenbach, Ursula: Symbol und Symptom; in: Eschenbach, U. (Hrsg.): Die Behandlung in der Analytischen Psychologie; Therapeutische Konzepte der Analytischen Psychologie C. G. Jungs; Band 2, Halbband 1, Stuttgart, 1979, S. 277 13 Symbole (...) finden sich bereits in der ältesten, heute noch ernst zu nehmenden Anweisung zur Traumdeutung den Oneirokritika des Artemidoros von Daldis aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert (übersetzt von F. S. Krauß, Wien 1881; dazu auch W. Kurth, in „Psyche“ 4,1951); sie kommen auch in Mythen und Märchen, ferner in der Vulgärsprache und schließlich sogar in der für den Alltagsgebrauch zugelassenen Sprache vor.“ Quelle: Hofstätter, Peter: Psychologie, Fischer, Frankfurt, 1972, S. 325. 14 „Unter dem Namen transzendente Funktion ist nichts Geheimnisvolles, sozusagen Übersinnliches oder Metaphysisches, zu verstehen, sondern eine psychologische Funktion, die sich ihrer Art nach mit einer mathematischen Funktion gleichen Namens vergleichen läßt und eine Funktion imaginärer und realer Zahlen ist. Die psychologische „transzendente Funktion“ geht aus der Vereinigung bewusster und unbewusster Inhalte hervor. (...) Sie heißt transzendent, weil sie den Übergang von einer Einstellung in eine anderere organisch ermöglicht, das heißt ohne Verlust des Unbewussten.“ Jung, C.G.: a.a.O., Bd. 8, § 132, S. 85; § 145, S. 90. 15 „Die vermittelnde Funktion zwischen dem Unbewussten und dem Ich-Bewusstsein hat C. G. Jung die transzendente Funktion genannt. Diese symbolbildende und den „Transport“ aus dem archetypischen Wirkfeld ins Bewusstsein übernehmende Funktion ist von ausschlaggebender Bedeutung beim Individuationsprozess, bzw. der Selbstfindung der Persönlichkeit. Die transzendente Funktion weist den Weg zu den potentiellen Möglichkeiten eines jeden Menschen und verbindet persönlich Konflikthaftes mit 89 dem Unbewussten und dem Bewusstsein eine Verbindung angezeigt ist, wie z.B. in Träumen, Bildern aber auch in Interaktionen und sozialem Handeln. Die „transzendente Funktion“16 ermöglicht, neue verbindende Elemente in scheinbar unüberbrückbaren Gegensätzen von Bewusstsein und Unbewusstem zu finden. Verbindung zu psychischen Grundfunktionen Das Symbol kommuniziert mit den vier psychischen Grundfunktionen (Denken, Fühlen, Empfinden und Intuieren) des Menschen (siehe Kap. 7) und vermeidet von daher eine einseitige Repräsentanz: „Das Symbol ist immer ein Gebilde höchst komplexer Natur, denn es setzt sich zusammen aus den Daten aller psychischen Funktionen. Es ist infolgedessen weder rationaler, noch irrationaler Natur. Es hat zwar eine Seite, die der Vernunft entgegenkommt, aber auch eine Seite, die der Vernunft unzugänglich ist, indem es nicht nur aus Daten rationaler Natur, sondern auch aus den irrationalen Daten der reinen inneren und äußeren Wahrnehmung zusammengesetzt ist. Das Ahnungsreiche und Bedeutungsschwangere des Symbols spricht ebenso wohl das Denken wie das Fühlen an, und seine eigenartige Bildhaftigkeit, wenn zu sinnlicher Form gestaltet, erregt die Empfindung sowohl wie die Intuition.“17 Vorkommen der Symbole Symbole finden wir ubiquitär in Traum- und Lebenswelten (Mythen, Märchen, Phantasien, Bildern, Kunst, Sandbildern, Werbung, Architektur, Städtebau und Raumplanung). Die Deutung von Symbolen ist zwar in psychotherapeutischen Prozessen besonders wichtig, aber auch im alltäglichen Geschehen eine erforderliche Verständigungshilfe der Interaktion. Die Analytische Psychologie differenziert symbolhafte, zeichenhafte oder allegorische Darstellungen. Als wichtigstes Unterscheidungskriterium gilt, dass ein Symbol einen tieferen, verborgenen Sinn erfasst oder beschreibt. Abgrenzung des Symbolbegriffes C. G. Jung charakterisiert das Symbol in Abgrenzung zu art- und sinnverwandten Termini, wie z.B. der Allegorie18, der Semiotik19 und des Zeichens. unpersönlich geistig Gültigem, das der ursprünglichen Ganzheit entspricht. Am Symbol vorbeizugehen, es in seiner Bedeutung nicht zu erfassen, kann daher bedeuten, an den Kostbarkeiten des Lebensbazars mit leerem Beutel zu stehen und den Besitz immer nur beim anderen zu beneiden.“ Eschenbach, Ursula: „Allgemeine Grundlagen der Methodik“. In: Eschenbach, Ursula (Hrsg.): Das Symbol im therapeutischen Prozess bei Kindern und Jugendlichen; Therapeutische Konzepte der analytischen Psychologie C. G. Jungs; Bd. 1, Stuttgart 1978, S. 32 f. 16 C.G. Jung: Die transzendente Funktion. GW, VIII, § 131 ff. 17 Jung, C. G., GW, Bd. 6, a.a.O., § 828 18 „Allegorie: Literarische oder künstlerische bildhafte Veranschaulichung eines Abstraktums (Begriff oder Vorgang), oft durch Personifizierung. Im Gegensatz zum Symbol verweist die Allegorie nicht auf das Gemeinte, sondern verkörpert dieses. Die Bezüge sind deshalb oftmals klar zu erkennen. So wird etwa in der Malerei die Liebe in Gestalt Amors, das Alter als Greis oder die Eitelkeit als junge Frau mit Spiegel dargestellt. Der Begriff geht auf das griechische Wort allegorein für anders, uneigentlich reden zurück.“ Microsoft® Encarta® 99 Enzyklopädie. © 1993-1998 Microsoft Corporation 19 „Semiotik (griechisch sema: Zeichen), die Wissenschaft von den Zeichen. Gegenstand der Semiotik sind Strukturen und Abläufe von Zeichen- und Verstehensprozessen (Semiosen). Dabei wird der Begriff des Zeichens auch auf außersprachliche Bereiche der Kommunikation ausgedehnt. Eine der Grundlagen der 90 „Ob etwas ein Symbol sei oder nicht, hängt zunächst von der Einstellung des betrachtenden Bewusstseins ab, eines Verstandes z.B., der den gegebenen Tatbestand nicht bloß als solchen, sondern auch als Ausdruck von Unbekanntem ansieht.“20/ 21 „Unter Symbol verstehe ich keineswegs eine Allegorie oder ein bloßes Zeichen, sondern ein Bild, das die nur dunkel geahnte Natur des Geistes bestmöglich bezeichnen soll. Ein Symbol umfasst nicht und erklärt nicht, sondern weist über sich selbst hinaus auf einen noch jenseitigen, unerfasslichen, dunkel geahnten Sinn, der in keinem Worte unserer derzeitigen Sprache sich genügend ausdrücken könnte.“22 „Jede Auffassung, welche den Symbolischen Ausdruck als Analogie oder abgekürzte Bezeichnung einer bekannten Sache erklärt, ist semiotisch. Eine Auffassung, welche den symbolischen Ausdruck als bestmögliche und daher zunächst gar nicht klarer oder charakteristischer darzustellende Formulierung einer relativ unbekannten Sache erklärt, ist symbolisch. Eine Auffassung, welche den symbolischen Ausdruck als absichtliche Umschreibung oder Umgestaltung einer bekannten Sache erklärt, ist allegorisch.“23 Eine Allegorie ist im Sinne C. G. Jungs ein Zeichen für etwas, ein synonymer Ausdruck für einen bekannten Inhalt; das Symbol hingegen schafft immer auch etwas durch die Sprache nicht Ausdrückbares. Ein Zeichen ist Anteil eines bewusstseinsnahen Geschehens, es steht für etwas. Das Symbol umfasst im Gegensatz oder besser gesagt in Ergänzung hierzu mehrere Schichten der Psyche. Ein Zeichen kann primär einen geistig - kommunikativen Aspekt beinhalten. Es kann willkürlich gewählt und durch eine andere Darstellung ersetzt werden, es ist dem Geschmack der Zeit anpassbar. Beispiel: Eine rote Ampel bedeutet ‚Stop‘, ein mit einer Gabel gekreuztes Messer weist auf ein Restaurant hin. Das Symbol dagegen repräsentiert einen tiefergehenden verbindenden Zusammenhang mit Aspekten des „Dritten“. „Das Symbol und das in ihm Repräsentierte haben also einen inneren Zusammenhang, sie sind nicht zu trennen voneinander, und darin ist der Unterschied zum Zeichen zu sehen. Zeichen sind Abmachungen, sie sind durch Erklärungen festgesetzt, sie haben keinen Bedeutungsüberschuss, sind aber auch stellvertretend. Betrachten wir als Beispiel das Zeichen „Messer kreuzt Gabel“ für Restaurant: Man könnte Messer und Gabel wahrscheinlich durch eine neue Abmachung ersetzen. Einen Teller mit einem Löffel könnten wir wahrscheinlich auch als Zeichen für Restaurant akzeptieren. Mit einem Zeichen wird nichts Hintergründiges abgebildet, es handelt sich da um eine einfache Semiotik ist die von Ferdinand de Saussure im Rahmen seiner Linguistik entworfene Idee einer Semeologie bzw. Semiologie, worunter er eine Wissenschaft verstand, „welche das Leben der Zeichen im Rahmen des sozialen Lebens untersucht“. Ausgangspunkt hierbei war de Saussures zweigliedriges, ausschließlich an der menschlichen Sprache ausgerichtetes Zeichenmodell, das einem bezeichnenden Laut- oder Schriftbild (Signifikant) einen „Vorstellungsinhalt“, das Bezeichnete (Signifikat), zuordnete. Die Verbindung beider ist willkürlich (arbiträr), aber durch gesellschaftliche Konventionen für jeden Sprachträger verbindlich. Individuelle Interpretationen von Signifikanten werden somit ausgeschlossen.“ Köster, Thomas: "Semiotik", Microsoft® Encarta® 99 Enzyklopädie. © 1993-1998 Microsoft Corporation 20 Jung, C. G.: GW, Bd. 6, a.a.O., § 898 21 So stellt zum Beispiel „ein Wasserfall Wesen und Abbildung der Energie schlechthin dar. (...) Denn ohne Energie (...) gäbe es keinen Wasserfall, dessen Wesen sie ausmacht; dieses Wasser aber stellt in seinem äußeren Sosein gleichzeitig auch eine Abbildung dieser Energie dar, die sich ohne den Wasserfall einer Beobachtung und Feststellung ja gar nicht darbieten würde.“ (vgl.: Jacobi, Jolande: Die Psychologie von C. G. Jung. Eine Einführung in das Gesamtwerk. Frankfurt, 1996, S. 97) 22 Jung, C. G.: Geist und Leben, in: GW, Bd. 8, S. 383 , zit. bei: Eschenbach, Ursula (1978): Das Symbol im therapeutischen Prozess, a.a.O., S. 30 23 Jung, C. G.: GW, Bd. 6, a.a.O., § 820. 91 Stellvertreterfunktion, es wird auf etwas hingewiesen. Zeichen können ersetzt werden, sie werden auch ersetzt und dem Geschmack der Zeit angepasst (z.B. das Zeichen für Eisenbahn).“24 Entstehungsort des Symbols und Symboldeutung Das Symbol entsteht im dynamischen Energiefeld des Unbewussten, in tieferen Schichten der Seele. In den bildhaften Ausdrucksformen der Archetypen finden sich darüber hinaus zeit- und kulturübergreifende symbolische Manifestationen der Menschheit. „Der Umgang mit dem Symbol ist die älteste geistige Tätigkeit des Menschen überhaupt. Das Symbol enthält das Formprinzip für die psychischen Energien des Unbewussten. (...) Aus der immanenten Dynamik der unbewussten Psyche ereignet sich - rational oft nicht leicht oder auch gar nicht erfassbar - die schöpferische Wirklichkeit sichtbarer Symbolmanifestationen. Es kann nicht vom Bewusstsein erdacht werden, sondern es setzt sich immer aus den bewussten und unbewussten seelischen Fakten mosaikartig zusammen, so dass quasi ein bewusstseinsnaher Anteil den Weg zum Ich, als dem Bewusstseinszentrum, bahnt. Das Symbol hat darum auch immer eine komplexe Bedeutung, ist in sich voller Gegensätzlichkeit, Vieldeutigkeit, kollektiver Gültigkeit und gleichzeitig - als wichtigster Energiefaktor - von spezifischer individueller Bedeutung. Dadurch wird das symbolische Bild zum wichtigen Vermittler zwischen dem Ich-Bewusstsein und dem Unbewussten. Es transzendiert das unbewusste Prozessgeschehen, indem es im symbolischen Bild die Ich-Standpunkte mit den Bereichen kollektiver Gültigkeiten und individueller Entwicklungspotentiale konfrontiert; es kann den Prozess der Bewusstseinserweiterung im Vorgang der Selbsterkenntnis bewirken.“25 Amplifikation und Assoziation Das Symbol wird über die Symbolanalyse durch Amplifikation und Assoziation 26 deutbar. Ein Symbol kann nach Auffassung der Analytischen Psychologie letztendlich nicht abschließend 24 Kast, Verena: a.a.O., S. 20: C. G. Jung verwendet das Zeichen-Beispiel für Eisenbahn und beschreibt in GW, Bd. 6, a.a.O., § 819: „Der Begriff eines Symbols ist in meiner Auffassung streng unterschieden von dem Begriff eines bloßen Zeichens. (...) Zum Beispiel der alte Gebrauch, beim Verkaufe eines Grundstückes ein Stück Rasen zu überreichen, lässt sich vulgär als „symbolisch“ bezeichnen, ist aber seiner Natur nach durchaus semiotisch. Das Stück Rasen ist ein Zeichen, gesetzt für das ganze Grundstück. Das Flügelrad des Eisenbahnbeamten ist kein Symbol der Eisenbahn, sondern ein Zeichen, das die Zugehörigkeit zum Eisenbahnbetrieb kennzeichnet. Das Symbol dagegen setzt immer voraus, dass der gewählte Ausdruck die bestmögliche Bezeichnung oder Formel für einen relativ unbekannten, jedoch als vorhanden erkannten oder geforderten Tatbestand sei. Wenn also das Flügelrad des Eisenbahnbeamten als Symbol erklärt wird, so wäre damit gesagt, dass dieser Mann mit einem unbekannten Wesen zu tun habe, das sich nicht anders und besser ausdrücken ließe, als durch ein geflügeltes Rad." 25 Eschenbach, Ursula: „Allgemeine Grundlagen der Methodik“. In: Eschenbach, Ursula (Hrsg.): Das Symbol im therapeutischen Prozess bei Kindern und Jugendlichen; Therapeutische Konzepte der Analytischen Psychologie C. G. Jungs; Bd. 1, Stuttgart 1978, S. 27 f. 26 Eschenbach, Ursula: Symbol und Symptom, in: Eschenbach, Ursula (Hrsg.): Die Behandlung in der Analytischen Psychologie, 1. Halbband (Therapeutische Konzepte in der analytischen Psychologie C. G. Jungs; 2, Stuttgart 1979, S. 284 ff.: „Das Symbol entsteht also immer im unbewussten Raum, in den tiefen Schichten der Seele, und wird über die Symbolanalyse (Amplifikation und Assoziation) entschlüsselt. (...) Eine Symbolbildung findet jeweils im Grade der Zumutbarkeit für das Ich-Bewusstsein statt (...). Der Sinn und das Ziel des Prozesses sind die Verwirklichung der ursprünglich embryonal angelegten Persönlichkeit mit all ihren Aspekten, ... ist die Herstellung und Erhaltung der ursprünglichen Ganzheit“ (C. G. Jung: G.W., Bd. 7, a.a.O., S.12). (...) Das Symbol bietet sich an zur Bewusstwerdung, aber es zwingt nicht. Das Ich-Bewusstsein 92 gedeutet werden, sonst wäre es kein Symbol, sondern ein Zeichen o.ä. Es vereinigt viele, differenzierte und auch gegensätzliche Standpunkte: Seine Beschreibung ist mit einem sprachlich-sekundären System nur unzureichend erfassbar. Jeder rein rationale Deutungsversuch könnte das primäre Geschehen außer Acht lassen. Um also zu einer annähernd authentischen „Übersetzung zu gelangen“, sind auch unbewusste Faktoren mit einzubeziehen. In der Regel gelingt die Entschlüsselung des Symbols mit Hilfe der Assoziation oder der Amplifikation: „Das besondere und spezifische Kennzeichen eines Symbols ist seine Vielseitigkeit. Es bietet für seine Deutung und Bedeutung sowohl kollektive wie individuelle Assoziationen und weitreichende Amplifikationen (Mythen, Märchen usw.), aber auch bedeutungsvolle aktuelle Sachfakten an. Gerade hierin liegt seine dynamische, in einem Prozessgeschehen eingebettete Bedeutung und Gültigkeit. Das psychische Symbol verweigert sich jeder Einseitigkeit bzw. Eindeutigkeit, aber es enthält immer den Sinn und die finale Bedeutung für den Symbolträger. Ein Bild (Traumbild, aktive Imagination ), ein Wort, eine Geste kann immer dann symbolisch verstanden werden, wenn es mehr enthält als spontan erfassbar. Symbolische Phänomene signalisieren immer inneres Prozessgeschehen. Sie können mit bemerkenswerter Intensität im Bewusstsein hängen bleiben – z.B. „man kommt von etwas nicht los“. Ein solches Bild kann auch mehrere Tage „sozusagen“ mitlaufen im alltäglichen Erinnerungsraum, und erst allmählich (...) enträtselt werden.“27 Soziales und individuelles Symbol In der Auffassung vom Umgang mit dem Symbol und seiner Deutung als dynamisch progressive Arbeitsweise des Unbewussten bzw. der Psyche unterscheidet sich die Analytische Psychologie von anderen Symbolauffassungen. Bei der Betrachtung des Symbols als „ein Bild für etwas“ darf das symbolische Bild nicht zu einem vokabelartig erlernbaren Begriff werden. „Die Bemühung, ein zuverlässiges Schema zu schaffen, das die Deutung und Bedeutung sichert, hält bis heute an. (...) Die dynamische Arbeit der Psyche zum symbolischen Weg hin lässt den Interpreten vor oft überraschenden und nicht vorhersehbaren Phänomenen stehen. Der Kulturraum der ganzen Welt und der Menschheitsgeschichte steht hier Pate und überlässt der individuellen Psyche die freie Wahl, den symbolischen Schlüssel zu finden für seine eigene Aktualität. Hierin liegt bereits bewusstseinserweiternde Tätigkeit: Ein zeitloses Symbol einzuordnen in die eigenen psychischen Seins-Bezüge und zeitlos Gültiges zu erfahren im zeitlich Begrenzten.“28 C. G. Jung differenziert soziale und individuelle Symbole. Damit es für die Gesellschaftsform einer Zeit als repräsentativ angesehen werden kann, muss ein soziales Symbol den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ einer Gemeinschaft oder sozialen Gruppe zum Ausdruck bringen. kann sich schützen durch Nichtverstehen, durch Vergessen (Traumlosigkeit) oder Verdrängen (z.B. Schlaflosigkeit. Hier besteht die Möglichkeit, dass die abgewiesenen Energien in den somatischen Bereich übertreten.“ 27 Eschenbach, Ursula (Hrsg.): Der Ich-Komplex und sein Arbeitsteam: Topographie der Selbstentfaltung. Therapeutische Konzepte der Analytischen Psychologie C. G. Jungs; Bd. 4, Leinfelden-Echterdingen 1996, S. 223 f. 28 Eschenbach, Ursula: Das Symbol im therapeutischen Prozess: a.a.O., S. 28 f. 93 Auch Statussymbole versuchen „erstrebenswerte“ und meist materielle Ziele einer sozialen Gruppe abzubilden. Mit Hilfe dieser Symbole grenzen sich spezielle Gruppen untereinander ab, nach außen soll Besonderheit, Einzigartigkeit, Macht, Wohlstand o.ä. repräsentiert werden. Eine persönliche Aufwertung durch Statussymbole ist oberflächlich, da diese Art sozialer Symbole nur am „Außen-Bild“ und nicht an inneren Werten orientiert sind: Markenorientiertes Einkaufsbewusstsein, Kleidung, Autos und Wohnverhalten drücken Repräsentations- und Machtbedürfnis aus. „Das lebendige Symbol formuliert ein wesentliches unbewusstes Stück, und je allgemeiner verbreitet dieses Stück ist, desto allgemeiner ist auch die Wirkung des Symbols, denn es rührt in jedem die verwandte Saite an. Da das Symbol einerseits der bestmögliche und für die gegebene Epoche nicht zu übertreffende Ausdruck für das noch Unbekannte ist, so muss es aus dem Differenziertesten und Kompliziertesten der zeitgenössischen geistigen Atmosphäre hervorgehen. Da das lebendige Symbol anderseits aber das Verwandte einer größeren Menschengruppe in sich schließen muss, um überhaupt auf eine solche wirken zu können, so muss es gerade das erfassen, was einer größeren Menschengruppe gemeinsam sein kann. (...) Nur wenn das Symbol dieses erfasst und auf den höchstmöglichen Ausdruck bringt, hat es allgemeine Wirkung. Darin besteht die gewaltige und zugleich erlösende Wirkung eines lebendigen sozialen Symbols. (...) Es gibt individuelle psychische Produkte, die offenkundig symbolischen Charakter haben, die ohne weiteres zu einer symbolischen Auffassung drängen. Für das Individuum haben sie eine ähnliche funktionelle Bedeutung wie das soziale Symbol für eine größere Menschengruppe. Diese Produkte sind aber nie von einer ausschließlich bewussten oder ausschließlich unbewussten Abstammung, sondern gehen aus einer gleichmäßigen Mitwirkung beider hervor. Die reinen Bewusstseinsprodukte sowohl wie die ausschließlich unbewussten Produkte sind nicht eo ipso überzeugend symbolisch, sondern es bleibt der symbolischen Einstellung des betrachtenden Bewusstseins überlassen, ihnen den Charakter des Symbols zuzuerkennen.“29 4.4. Das Symbol in räumlichen Prozessen Im weiteren Verlauf der Arbeit werden die wechselseitigen Bezüge zwischen Raum, Individuum und Symbol noch differenziert dargestellt. Daher ist es m.E. unabdingbar, den „Raum“ zu definieren. 4.4.1. Was ist Raum? Die umfassendste Darstellung finde ich bei dem Architekten und Stadtsoziologen Klaus M. Schmals, der Raum folgendermaßen differenziert: „1. Raum ist relativ, subjektiv und veränderbar. Raum ist eine menschliche Syntheseleistung. 29 Jung, C. G.: GW, Bd. 6: a.a.O., § 825 + 826 94 2. Raum entsteht in und aus konkreten Handlungen in der gesellschaftlichen Praxis. Diese Handlungen sind immer schon eingebunden in gesellschaftliche Praxen. D.h., die Institutionalisierung unserer Handlungsformen zu Struktur- und Prozessformen, zu Normen und Werten spielt hier eine große Rolle. Struktur, Prozess und Handeln stehen im Raumbildungsprozess in einem permanenten Austauschverhältnis. 3. In diesem Institutionalisierungsprozess haben sich – vermittelt über Geschlecht, Macht, Gewalt, Kultur der Ethnie – Strukturierungen gebildet, die im Raumbildungsprozess Platzierungsfunktionen übernehmen. 4. Raum ist tiefengeschichtet. Die Schichten bestehen u.a. aus Symbolen, Strukturierungen/lnstitutionalisierungen, Handlungen und Praktiken sowie dem Raumbild. Diese Ebenen oder Qualitäten besitzen unterschiedliche zeitliche Stabilitäten. 5. Das Raumbild geht subjektiv aus unserer Anschauung hervor. Im Kommunikationsprozess zwischen Subjekt und Objekt schauen uns Bilder aufgrund unserer Subjektivität an. Im Vordergrund unserer Wahrnehmung steht das Auge. Wir nehmen aber auch mit dem Ohr, der Nase, der Haut oder dem Leib wahr.“30 In „Essay über den Raum“ hat Dieter Läpple ein bedeutendes Raumkonzept entwickelt, das sich, angeregt durch die Überlegungen von F. Perroux, von der „banalen Raumauffassung“ löst. Die banale Raumauffassung „erzeugt Perroux zufolge die illusionäre Vorstellung von einem Zusammenfallen der politischen Räume mit den ökonomischen und menschlichen bzw. sozialen Räumen. (...) Die banale Raumauffassung reduziert also den gesellschaftlich strukturierten Raum auf erdräumliche Standortkonfigurationen, gleichsam als „factum brutum“ eines entsozialisierten Raumes.“31 Raum ist nicht nur „eine Lagerungswelt der Körperwelt oder ein Behälter aller körperlichen Objekte“.32 Dieter Läpples Konzept eines „Matrix-Raumes“ bildet den Ausgangspunkt für ein gesellschaftliches Raumkonzept, das den Raum in verschiedene Ebenen strukturiert. Er unterschiedet folgende Komponenten: 1. Das materiell-physische Substrat: Es bildet die materielle Erscheinungsform des gesellschaftlichen Raumes. Es besteht aus menschlich, vielfach ortsgebundenen Artefakten. 2. Die gesellschaftlichen Interaktions- und Handlungsstrukturen bzw. die gesellschaftliche Praxis. Sie umfasst die mit der Produktion, Nutzung und Aneignung von Raumsubstrat befassten Menschen, die hier u.a. als soziale Akteure verstanden werden. 3. Das institutionalisierte und normative Regulationssystem. Es stellt u.a. Eigentumsformen, rechtlich-planerische Regelwerke, Macht- und Kontrollbeziehungen, soziale und ethische Normen dar. 30 Schmals, Klaus M.: Die Stadt zwischen Moderne und Postmoderne. Skript zur Veranstaltung am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin, Sommersemester 2002, S. 9 31 Läpple, Dieter: Essay über den Raum. Für ein gesellschaftliches Raumkonzept. In: Häußermann, Hartmut et al.: Stadt und Raum. Soziologische Analysen, FernUniversität–GH Hagen, Hagen 2002, S. 189 ff. 32 vgl. ebenda, S. 189 95 4. Der Zeichen-, Symbol- und Repräsentationsraum. „Die raumstrukturierenden Artefakte sind durch ihre funktionale oder ästhetische Gestaltung auch Symbol- und Zeichenträger, wodurch u.a. eine kognitive Erkennbarkeit ihrer sozialen Funktionen und eine affektive Identifikationsmöglichkeit vermittelt werden kann.“33 Weiterhin gehören in diese Ebene auch Raumbilder , wie sie Detlef Ipsen 1986 eingeführt hat und das kollektive Gedächtnis, das wie ein „Charakter kristallisierter Geschichte“ arbeitet.34 Raumbilder nach D. Ipsen35 erfüllen Funktionen der System- und Sozialintegration und vermitteln uns einen Bezug zu den sich verändernden Gesellschaftssystemen und ihren Modernisierungsprozessen. „Bestimmungsfaktoren „moderner Raumbilder“ sind a) die Gesetze der industriellen Produktion“ b) die „Zonierung räumlicher Nutzungen“ und ihre Besetzung durch „Symbole der Industriekultur“ sowie c) die „Geometrisierung der Agrarlandschaft“. „Postmoderne Raumbilder“ werden geprägt a) durch „hedonistische Lebenskonzepte“ und „neue Formen der Professionalität“, b) durch Konzepte der „Neo- Industrialisierung“ sowie c) durch Ideologien der Verzauberung und Hyperrealität“.“36 4.4.2. Raumplanung als symbolisches Handlungsfeld der Kosmogonie Symbolische Handlungen, die auf Riten traditioneller Gesellschaftsstrukturen zurückzuführen sind, stehen nach Ansicht des französischen Religionshistorikers Mircea Eliade auch heute noch in der aufgeklärten, technologischen Welt (post)moderner Lebenswelten hinter der Planung und Aneignung von Räumen. Kerngedanke der Raumaneignung aus religionspsychologischer Sicht ist, dass der Mensch seinen Lebensraum, seinen eigenen Mikrokosmos erschafft. Dies geschieht durch die Abgrenzung einer Fläche, die der Mensch besiedeln möchte: Mit der Stadtgründung, dem Hausbau oder, allgemein ausgedrückt, der Gestaltung der Lebenswelt imitiert der Mensch „Kosmogonie“, Weltschöpfung. Für den religiösen Menschen traditioneller Gesellschaften ist die Welt ein Kosmos, d.h. ein ganzes geordnetes Dasein; der Mensch und die Gesellschaft, in der er lebt, sind Teil und Abbild der kosmischen Ordnung. Die Gestaltung des menschlichen Lebensraumes hat eine fundamental sakrale und symbolische Bedeutung. Für M. Eliade existiert eine grundsätzliche Bipolarität: „Das Heilige und das Profane, zwei Arten des In-der-Welt-Seins, zwei existentielle Situationen, die der Mensch im Lauf seiner Geschichte ausgebildet hat. (...) die sakrale und die profane Seinsweise hängen von den verschiedenen Positionen ab, die der Mensch im Kosmos erobert.“37 Das „Heilige“ manifestiert sich als etwas vom Profanen völlig Verschiedenes, als etwas Herausragendes.38 Die Frage, ob ein Individuum als areligiös oder religiös zu 33 ebenda, S. 197 34 vgl. ebenda 35 Ipsen, D.: Raumbilder. Zum Verhältnis des ökonomischen und kulturellen Raumes, in: Informationen zur Raumentwicklung – Aktuelle Daten und Prognosen zur räumlichen Entwicklung, Heft Nr. 11/12, Bonn 1986 36 Schmals, Klaus M. (2002):a.a.O., S. 10, zit. nach Ipsen, D.: a.a.O. 37 Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane. Frankfurt: Insel 1998, S. 17 38 ebenda, S. 14: „Diese Manifestation des Heiligen wollen wir mit dem Wort Hierophanie bezeichnen. Dieser Ausdruck ist brauchbar, weil er nichts anderes ausdrückt als das, was seine etymologische Zusammensetzung enthält, nämlich dass etwas Heiliges sich in uns zeigt.“ 96 bezeichnen ist, beantwortet sich nicht über den kulturgeschichtlichen Standpunkt, sondern durch dessen Bezug zum Kosmos.39 Der „originäre Raum“ ist in diesem Modell zunächst eine homogene amorphe Sphäre, ein „Chaos“. Erst durch seine Weltgründung grenzt der religiöse Mensch einen „heiligen“ und „starken, bedeutungsvollen“ Raum mit Orientierung, Struktur und Festigkeit aus dieser Chaos-Struktur heraus: „Für den religiösen Menschen ist der Raum nicht homogen; er weist Brüche und Risse auf: er enthält Teile, die von den übrigen qualitativ verschieden sind. (...) Es gibt also einen heiligen, d.h. „starken“, bedeutungsvollen Raum, und es gibt andere Räume, die nicht heilig und folglich ohne Struktur und Festigkeit, in einem Wort amorph sind. Mehr noch: diese Inhomogenität des Raumes erlebt der religiöse Mensch als einen Gegensatz zwischen dem heiligen, d.h. dem allein wirklichen, wirklich existierenden Raum und allem übrigen, was ihn als formlose Weite umgibt. Weisen wir sofort darauf hin, dass die religiöse Erfahrung der Inhomogenität des Raumes eine Urerfahrung darstellt, die wir einer „Weltgründung“ gleichsetzen dürfen. (...) Erst dieser im Raum entstandene Bruch ermöglicht die Konstituierung der Welt, denn erst er schafft den „festen Punkt“, die Mittelachse, von der jede künftige Orientierung ausgeht. (...) Durch die Manifestierung des Heiligen wird ontologisch die Welt gegründet. In dem grenzenlosen homogenen Raum ohne Merkzeichen, in dem keine Orientierung möglich ist, enthüllt die Hierophanie einen absoluten „festen Punkt“, ein „Zentrum“.“40 Weltengründung ist ein menschliches „Urbedürfnis“. Aus der ungestalteten, ungeformten, homogenen Fläche grenzt der religiöse Mensch eine räumliche Identität heraus, schafft einen Orientierungspunkt, richtet ein Zentrum der Welt ein, das Sicherheit vermittelt41/ 42. 39 ebenda, S. 19: „Und doch besteht zwischen dem Verhalten der nomadisierenden Jäger und dem Verhalten der sesshaften Ackerbauern eine Ähnlichkeit, die uns unendlich wichtiger erscheint, als ihre Verschiedenheiten: die einen wie die anderen leben in einem geheiligten Kosmos, die einen wie die anderen haben teil an einer kosmischen Sakralität, die sich ebenso in der Tierwelt, wie in der Pflanzenwelt manifestiert. Man braucht nur ihre existentielle Situation mit der eines Menschen der modernen Gesellschaften zu vergleichen, der in einem entsakralisierten Kosmos lebt, um sofort zu erkennen, was diesen letzteren von den anderen scheidet. Zugleich erkennt man auch die Berechtigung von Vergleichen zwischen religiösen Fakten aus verschiedenen Kulturen: alle diese Fakten gründen in ein und demselben Verhalten – dem des homo religiosus.“ 40 ebenda, S. 23 41 Zur Standortfindung wurden Rituale ausgeübt, die eine Orientierung im homogenen Raum bezwecken sollten: „Man verlangt ein Zeichen, das die Spannung und die aus der Richtungslosigkeit geborene Angst beenden, d.h. einen absoluten Stützpunkt schaffen soll.“ ebenda, S.28 42 ebenda, S. 24.: „Um in der Welt leben zu können, muss man sie gründen – und keine Welt entsteht im „Chaos“ der Homogenität und der Relativität des profanen Raumes. Die Entdeckung oder Projektion eines festen Punktes, des „Zentrums“, kommt einer Weltschöpfung gleich, und wir werden später an überzeugenden Beispielen zeigen, dass die rituelle Orientierung und die Konstruktion eines heiligen Raumes weltschöpferische Bedeutung hat. (...) Für den profanen Menschen dagegen ist der Raum homogen und neutral: es gibt in ihm keinen Bruch zwischen seinen qualitativ verschiedenen Teilen. Der geometrische Raum lässt sich nach jeder Richtung teilen und abgrenzen, aber aus seiner Struktur ergibt sich keine qualitative Differenzierung, keine Orientierung. (...) Uns interessiert, wie der Raum von einem nicht religiösen Menschen erfahren wird, von einem Menschen, der die Sakralität der Welt ablehnt und nur eine „profane“, von jeder religiösen Voraussetzung gereinigte Existenz akzeptiert. Ich muss jedoch gleich hinzufügen, dass es eine solche profane Existenz im Reinzustand nicht gibt. Bis zu welchem Grade ein Mensch, der sich für ein profanes Leben entschieden hat, die Welt auch entsakralisiert haben mag, es wird ihm nie gelingen, das religiöse Verhalten ganz und gar abzulegen. (...) die Offenbarung eines heiligen Raumes gibt dem Menschen einen „festen Punkt“ und damit die Möglichkeit, sich in der chaotischen Homogenität zu orientieren, „die Welt zu gründen“ und wirklich zu leben.“ 97 Der Begriff der Weltschöpfung ist auch bei Ruth Ammann ein zentrales Thema. Sie differenziert eine grundsätzliche Dreiheit: Haus – Garten – freie Natur.43 Das Haus bildet sozusagen als kulturelle Leistung den Gegenpol zur ungezähmten Natur, zum Freiraum mit Wiesen, Wäldern, Bergen und Seen. Das Haus wird symbolisch umrahmt von einer Art Zwischenraum, der weder allein Kultur noch „nur“ Natur darstellt, dem Garten.44 Die Natur ist für den Menschen immer noch in größten Teilen das ständig in Veränderung befindliche große Unbekannte, das nach eigenen Gesetzen Lebende und letztendlich durch den Menschen nicht Beherrschbare. „Symbolisch und vom Menschen her gesehen steht also die Natur als das große Unbewusste dem Haus als Schöpfung des menschlichen Bewusstseins gegenüber.“45 Die These M. Eliades, dass erst die Manifestierung und Umgrenzung „des Heiligen“ ontologisch zur Weltgründung aus einem grenzenlosen amorphen Etwas führt, findet Parallelen im Entstehungsmodell des Bewusstseins der Analytischen Psychologie. Demnach hat sich das Bewusstsein ontogenetisch aus dem grenzenlosen Unbewussten heraus entwickelt. „Die Geschichte der Menschheit hat uns gelehrt, dass es (das Bewusstsein, Anm. d. Verf.) ein Produkt späterer Differenzierung darstellt. Es schwimmt „wie eine kleine Insel auf dem unabsehbaren, eigentlich die ganze Welt umfassenden, grenzenlosen Meer des Unbewussten.“46 Im Zentrum manifestiert sich eine symbolische Zentrierung, das innere Bedürfnis, eine räumliche Mitte zu finden. Dieser Vorgang ist sowohl individuell als auch kollektiv von Bedeutung. Stadtzentren vermitteln nicht nur Orientierung, sondern sie verkörpern den Mittelpunkt städtischer Lebenswelt. Die Gemeinschaft gibt sich hierdurch eine Mitte, die durch größere öffentliche Räume zu Orten der Begegnung, des interaktionellen Geschehens werden können. Kosmologische Bilder sind miteinander verknüpft zu einem „System“, „das man das „Weltsystem“ der traditionsgebundenen Gesellschaften nennen kann. 1. Die Gestaltung eines neuen Raumes bedeutet Kosmogonie47, die Verwandlung des Chaos durch einen schöpferischen Akt in den Kosmos. Ein heiliger Ort entsteht als Bruch in der Homogenität des Raumes. 2. Dieser Bruch ist durch eine „Öffnung“ symbolisiert, die den Übergang von einer kosmischen Region zur anderen ermöglicht (vom Himmel zur Erde und umgekehrt von 43 vgl.: Ammann, Ruth: Der Zauber des Gartens und was er unserer Seele schenkt, München 1999, S. 52 44 Ammann, Ruth (1999): a.a.O., S. 52: „Das Haus ist ein fest gefügtes, dauerhaftes geschlossenes Gebäude, eine von Menschen für Menschen erschaffene Kulturschöpfung. Wenn Kleider für den Menschen die zweite Haut darstellen, so ist das Haus die dritte Haut – eine starke, feste Haut, die ihn schützt vor Wind und Wetter. Das Haus bildet für den Menschen einen Innenraum, der ihm Geborgenheit und Ruhe gibt, ihn aber auch gegen die Außenwelt abschließen kann.“ 45 ebenda, S. 56 46 Jacobi, Jolande: Die Psychologie von C. G. Jung, Frankfurt am Main, 1992, S. 18. Eine nähere Erläuterung dieses Vergleiches ist zu finden bei: Jung, C. G.: GW, Bd. 11, § 141, S. 101 f. 47 Eliade, Mircea: a.a.O., S. 31: „Ein unbekanntes, fremdes, unbesetztes (häufig zu verstehen als: von den „Unseren“ nicht besetztes) Gebiet hat noch an dem flüssigen, larvenhaften Zustand des „Chaos“ teil. Indem es der Mensch besetzt, vor allem, indem er sich dort niederlässt, verwandelt er es symbolisch – durch die rituelle Wiederholung der Kosmogonie – in Kosmos.“ 98 der Erde in die Unterwelt); Kosmogonie verbindet die Mitte mit den drei kosmischen Ebenen (Unterwelt, Erde und Himmel) durch die kosmische Weltsäule, die „axis mundi“. 48 3. Die Verbindung mit dem Himmel kann durch verschiedene Bilder ausgedrückt werden, die sich alle auf die Axis Mundi beziehen: Säule (die Universalis Columna), Leiter (die Jakobsleiter), Berg, Baum, Liane usw.49; In einigen traditionellen Kulturen wird die Weltschöpfung erst rechtskräftig durch den Bau eines Feueraltars50. 4. Rund um diese Weltachse erstreckt sich die „Welt“ („unsere Welt“), folglich befindet sich die Achse „in der Mitte“, im „Nabel der Erde“, sie ist das Zentrum der Welt. Um den Mittelpunkt wurde oftmals ein Quadrat konstruiert, eine Imago Mundi mit vier Sektoren, die die vier Himmelsrichtungen, Horizonte, repräsentieren können.51 „Der homo religiosus hatte das Bedürfnis, immer im Zentrum zu leben. (...) Kurz, welcher Größenordnung sein vertrauter Raum auch angehört – sein Land, seine Stadt, sein Dorf, sein Haus - , der Mensch der traditionsgebundenen Gesellschaften hat das Bedürfnis, ständig in einer ganzen, geordneten Welt, in einem Kosmos zu leben.“52 5. „Eine große Anzahl von Mythen, Riten und Glaubensvorstellungen gründen in diesem traditionellen „Weltsystem“. (...) Dieser heilige Raum [tritt] nun als heiliger Ort, als Kultgebäude, Stadt oder „Welt“ [auf]).“53 Im Gegensatz zu der religiösen Erfahrung des Raumes verbleibt die profane Erfahrung der Homogenität des Raumes ohne Orientierung, ohne Differenzierung und Abgrenzungen besonderer Punkte und Objekte. Aber gerade diese Objekte werden für uns symbolisch handlungsleitend. „Eine wahre Orientierung ist unmöglich, denn der „feste Punkt“ und damit die Möglichkeit, ist nicht mehr ontologisch bestimmt; er erscheint und verschwindet je nach den Erfordernissen des Tages. Es gibt also eigentlich keine „Welt“ mehr, sondern nur noch Fragmente eines zerbrochenen Universums, eine amorphe Masse unendlich vieler mehr 48 ebenda, S. 33, zit. nach: Spencer, B. und Gilles, F. J.: The Arunta, London 1926, Bd. 1, S. 388 49 Auch Nicht-sesshafte Kulturen benutzten zur Manifestation der zentrierenden Weltachse sichtbare Zeichen für die Verbindung der Erde mit dem Himmel, wie z.B. einen Mittelpfosten, einen heiligen Pfahl, ein Rauchloch. Später finden wir den Zeltpfahl oder den Mittelpfosten eines Hauses. Bei den australischen Achilpa „trägt“ der heilige Pfahl „ihre“ Welt. Diesen Pfahl transportierten sie immer mit sich, was ihnen auch bei ständiger Ortsveränderung ermöglichte, „immer in ihrer Welt“ und zugleich in Verbindung mit dem Himmel zu bleiben. Der um diesen Zentrumspfosten befindliche Raum wurde die Welt, wurde bewohnbar, heimisch. „Das Zerbrechen des Pfahls ist die Katastrophe, gewissermaßen das „Ende der Welt“, der Rückfall ins Chaos. Spencer und Gillen berichteten, dass einem Mythos zufolge der ganze Stamm von tödlicher Angst befallen wurde, als einmal der heilige Pfahl zerbrach; die Stammesangehörigen irrten einige Zeit umher und setzten sich schließlich auf den Boden, um zu sterben.“ Die Kwakiutl aus British Kolumbia, Kanada, benutzen einen kupfernen Pfosten und glaubten, dass das sichtbare Ende dieser Weltsäule am Himmel die Milchstraße sei. Initiationskandidaten verkündeten: „Ich bin im Zentrum der Welt (...), ich bin am Pfosten der Welt“ usw.“ (Eliade, M.: a.a.O., A. 35, zit. Nach Müller, W.: Weltbild und Kult der Kwakiutl-Indianer, Wiesbaden 1955, S. 17-20) 50 Dieser Altar wird heiliger Raum und vereinigt die vier Lebenselemente: Erde, Wasser, Feuer und Luft: Der Kamin unserer heutigen Häuser greift dieses traditionelle Landnahmeritual auf. Er stellt symbolisch eine Öffnung und Durchbrechung der Ebenen dar, symbolisiert die axis mundi. 51 Die Projektion der vier Himmelsrichtungen finden wir auch in der römischen Welt: „Der römische Mundus war ein kreisförmiger Graben, der in vier Teile geteilt war; er war Abbild des Kosmos und zugleich das exemplarische Modell der menschlichen Siedlung. Man hat mit Recht vorgeschlagen, roma quadrata nicht im Sinn von viereckig zu verstehen, sondern als viergeteilt. Der Mundus wurde offensichtlich dem Omphalos, dem Nabel der Erde gleichgesetzt: die Stadt (Urbs) erhob sich in der Mitte des Orbis terrarum. Es konnte nachgewiesen werden, dass sich aus ähnlichen Vorstellungen auch die Struktur der germanischen Dörfer und Städte erklärt. In den verschiedensten Kulturen finden wir das gleiche kosmologische Schema und die gleiche rituelle Darstellung: die Niederlassung in einem Gebiet kommt einer Weltgründung gleich.“ Eliade, Mircea: a.a.O., S.44 52 ebenda, S. 42 53 ebenda, S. 36 f. 99 oder weniger neutraler „Orte“, an denen der Mensch sich bewegt, getrieben von den Verpflichtungen des Lebens in einer industriellen Gesellschaft. Doch auch innerhalb dieser Erfahrung des profanen Raumes tauchen noch Werte auf, die mehr oder weniger an die dem religiösen Raumerlebnis eigene Inhomogenität erinnern. Dies sind z.B. Räume, die durch emotionale Erfahrungen mit besonderen Werten belegt wurden, besondere Bedeutungen bekamen. So gibt es zum Beispiel noch Gegenden, die von den übrigen qualitativ verschieden sind: die Heimat, die Landschaft der ersten Liebe, eine bestimmte Straße oder Ecke in der ersten fremden Stadt, die man in der Jugend besucht hat. Alle diese Orte behalten auch für den völlig unreligiösen Menschen eine außergewöhnliche, „einzigartige“ Bedeutung: sie sind die heiligen Stätten seines privaten Universums (...). Wir haben es hier mit dem „kryptoreligiösen Verhalten“ des profanen Menschen zu tun."54 Dieses Verhalten bezeichnet M. Eliade als Entsakralisierung religiöser Werte. Lebenswelten werden scheinbar bedeutungslos bzw. entzaubert. Kosmogonie durch Hausbau ist offenbar ein menschliches Grundbedürfnis. Der geschilderte symbolische Hintergrund ist aber heute den meisten Menschen nicht mehr gegenwärtig. Er wird in einem nach rationalen Prinzipien ausgerichteten Lebenskonzept abgelehnt, da allgemein der Zugang zur Symbolik abhanden gekommen ist. Das Haus ist für den Menschen kein selbstgeschaffenes Werk mehr. Wohnen „verkommt“ zur Ware, inneren Bezüge sind scheinbar verloren gegangen. „Nach der Formulierung eines berühmten Architekten unserer Zeit, Le Corbusier, ist das Haus eine „Wohnmaschine“. Es gehört also zu den zahllosen serienweise hergestellten Maschinen der industriellen Gesellschaft. Das moderne Idealhaus soll vor allem funktional sein, das heißt, es soll den Menschen die Arbeit und die zur Arbeit nötige Ruhe sichern. Man kann die „Wohnmaschine“ ebenso oft wechseln wie ein Fahrrad, einen Kühlschrank oder einen Wagen. Man kann auch die Geburtsstadt, das Geburtsland gegen einen anderen Wohnsitz vertauschen, ohne dabei andere Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen als die des Klimawechsels.“55 In der Lebenswelt der Moderne zeigt sich offenbar ein Bedeutungswandel in der Einstellung zu den Objekten, der auch vor Architektur, Städtebau und Raumplanung nicht Halt gemacht hat. Nach den Erkenntnissen von M. Eliade hat sich der Typus des areligiösen Menschen erst in der modernen Welt aus Opposition zu seinen Vorfahren entfaltet. Er strebe danach, sich aller Religiosität und aller übermenschlichen Bedeutungen zu entleeren.56 Er lehne die Transzendenz ab, betrachte sich nur als Subjekt und Agens der Geschichte. Der profane Mensch sei ein Produkt einer fortschreitenden Säkularisierung, sei ein Resultat der Entsakralisierung der menschlichen Existenz.57 Diese Thesen finden Parallelen in der bereits weiter oben dargestellten allgemein zu beobachtenden Individualisierungstendenz in heutigen Lebenswelten.58 54 Eliade, Mircea: a.a.O., S. 25 55 ebenda, S. 47 56 vgl. ebenda, S. 176 57 ebenda 58 Eine Antwortung auf die Frage, zu welchem Zeitpunkt sich der Mensch vom religiösen zum profanen Menschen verwandelt hat und worin dieses Phänomen begründet sein könnte, bietet Eliade nicht. Das Wissen um die symbolischen Hintergründe bei der Aneignung und Gestaltung von Wohn- und Lebensräumen könnte dem modernen Menschen der westlichen Welt ebenso abhanden gekommen sein, wie der Zugang zu unbewussten Strukturen im Allgemeinen. 100 Die Moderne hat zu einer Abspaltung und Überbetonung des Rational-Funktionalen beigetragen. Diese innere Spaltung hat auch tiefergehende Bezüge zur Symbolik und Religion abgetrennt und/oder verdrängt. Als Ausdruck des Einstellungswandels zu den Objekten sind m.E. zum Beispiel die Deformationen der Kernstädte durch planerische AkteurInnen zu verstehen, die viele Stadtzentren zu Profitcentern des tertiären Sektors, Konsum- und Bankentempeln umgestalteten und mit Natur und Umwelt einen rigorosen Umgang pflegen. 4.5. Präsentative Symbolik und symbolische Raumbezogenheit Peter Jüngst betrachtet vor dem Hintergrund des psychoanalytischen Paradigmas verbale sowie non-verbale Phänomene als Symbolisierungen von Beziehungsgeschehen.59 Die lebensgeschichtlich erworbenen Interaktionserfahrungen sind „eingebettet in räumliche Strukturen und Muster, d.h. in sein Blickfeld geraten zwangsläufig landschaftliche Bilder, die von ihm gemäß seinen interaktionellen Erfahrungen besetzt werden, wobei die frühkindlichen Erfahrungen disponierend wirken.“60 Der Interaktionsprozess zwischen Menschen und Räumen ist ein wechselseitiges Geschehen: Das Individuum erlebt einerseits Räume als symbolische Bedeutungsträger von Interaktionserfahrungen, andererseits prägt es Räume so, wie sie seinen interaktionellen Erfahrungen entsprechen. Symbolische Raumbezogenheit Zur Beschreibung dieser Bezüge prägte P. Jüngst den Begriff der „symbolischen Raumbezogenheit“, den er folgendermaßen definiert: „(...) Symbolische Raumbezogenheit“ [können wir] als symbolische Belegung geographischen Raums mit vergangenen und gegenwärtigen sowie auch phantasierten interaktionellen Bezügen bzw. mit ihnen verbundenen Gefühlsanteilen begreifen. Dabei geraten die betreffenden symbolisierten interaktionellen Bezüge meist kaum oder nur partiell ins Bewusstsein, ist doch die Erinnerung an sie durch lebensgeschichtliche Ereignisse mehr oder weniger verschüttet bzw. unterliegt Tabuisierungen unterschiedlichen Ausmaßes.“61 Hiermit „wird dem sowohl menschheits- wie individualgeschichtlich verankerten Phänomen Rechnung getragen, dass Subjekte und Gruppen räumliche Umwelt als Bedeutungsträger erleben, die gemäß interaktionellen Erfahrungen (angefangen von der Mutterbrust über den Familienausflug ins „Grüne“ bis hin zu einer geographischen Exkursion nach Nordafrika oder dem Urlaub auf Teneriffa als Jugendlicher oder Erwachsener) gestaltet sind. Entsprechend wurde schon in früheren Untersuchungen der Nachweis zu erbringen versucht, dass bestimmten Elementen bzw. Landschaftskomplexen (P. Jüngst, O. Meder 1984) jeweils kollektive bzw. gruppenspezifische Bedeutungszuweisungen entsprechen, wie 59 vgl. Jüngst, Peter; Meder, Oskar: Psychodynamik und Territorium. Zur gesellschaftlichen Konstitution von Unbewusstheit im Verhältnis zum Raum. Band I : Experimente zur szenisch-räumlichen Dynamik von Gruppenprozessen: Territorialität und präsentative Symbolik von Lebens- und Arbeitswelten. Kasseler Schriften zur Geographie und Planung, Urbs et regio, Bd. 54, Kassel 1990, S. 59 60 Jüngst, Peter; Meder, Oskar (1990): a.a.O., S. 11 61 Jüngst, Peter (1988): a.a.O., S. 35 101 sie in unmittelbarem interaktionellem Erfahrungskontext im Laufe von Lebensgeschichte vermittelt werden, oder auch über indirektere Form von Erfahrungsmöglichkeiten (Erzählungen, Schrifttum, Medien) in inneres Erleben eingegangen sind. Als Singularitäten wie auch aufeinander bezogene Komplexe stellen sie präsentative Symbole für letztlich psychische Strukturen dar.“62 Präsentative Symbolik In seiner Ausarbeitung „über das Verhältnis präsentativer Symbolik zu Subjekten und Kollektiv“ hat P. Jüngst das Verhältnis von Symbolik und Stadtplanung analysiert und „präsentative Symbolik“ entsprechend den Ausführungen des Sozialwissenschaftlers und Psychoanalytikers Alfred Lorenzer als die „Ganzheit der Erlebens- und Gefühlsvielfalt bezeichnet, die ein gegebener Gegenstand abbildet und zugleich beim Betrachter auslöst.“63 Seine These ist, dass jeglichen Phänomenen, so auch solchen aus dem Bereich der Architektur und der Stadtgestaltung sowie der bildenden Kunst, eine weithin unbewusste „präsentative Symbolik“ anhaftet, für die Individuen je eine spezifische Empfänglichkeit aufweisen. Präsentative Symbole „wirken als ’Ganzheiten’, weil sie aus ganzen Situationen, aus Szenen hervorgehen und Entwürfe für szenisch entfaltete Lebenspraxis sind.“64 Sie entstammen „einer Symbolbildung, die lebenspraktische Entwürfe unter und neben dem verbalen Begreifen in sinnlich greifbaren Gestalten artikuliert“.65 Jeder Gegenstand bekommt in der Symbolbildung seine eigene Aufgabe, die grundsätzlich darin besteht, Dinge, die nicht oder nur unzureichend durch diskursive Form der Symbolik ausdrückbar sind, sinnlich erfassbar zu gestalten66. „Die situativ-unmittelbar erlebte Welt wird nicht wie im diskursiven Denken in „Gegenstände“ und sukzessive Prozessschritte zerlegt, sondern in der sinnlich-reichen „Ganzheit“ der Situationserfahrung abgebildet. Jede „präsentative“ Abbildung von 62 Jüngst, Peter (1988): a.a.O., S. 13 63 Jüngst, Peter: Psychodynamik und Stadtgestaltung: Zum Wandel präsentativer Symbolik und Territorialität von der Moderne zur Postmoderne. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1995, S. 11 64 Lorenzer, A. (1984): Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik. Frankfurt 1984, S. 31 65 ebenda 66 Langer, S. K.: Philosophie auf neuem Wege, Frankfurt 1965, S. 103; in: Jüngst, Peter; Meder, Oskar (1990): a.a.O., S. 61: Als diskursiv nennt S. Langer „Sprache im strengen Sinne (...); sie besitzt permanente Bedeutungseinheiten, die zu größeren Einheiten verbunden werden können; sie hat festgelegte Äquivalenzen, die Definition und Übersetzung möglich machen; ihre Konnotationen sind allgemein, so dass nichtverbale Akte, wie Zeigen, Blicken oder betontes Verändern der Stimme nötig sind, um ihren Ausdrücken spezifische Denotationen zuzuweisen. Alle diese hervorstechenden Züge unterscheiden sie vom „wortlosen“ Symbolismus, der nicht diskursiv und unübersetzbar ist, keine Definitionen innerhalb seines eigenen Systems zulässt und das Allgemeine direkt nicht vermitteln kann. Die durch die Sprache übertragenen Bedeutungen werden nacheinander verstanden und dann durch den als Diskurs bezeichneten Vorgang zu einem Ganzen zusammengefasst; die Bedeutung aller anderen symbolischen Elemente, die zusammen ein größeres, artikuliertes Symbol bilden, werden nur durch die Bedeutung des Ganzen verstanden, durch ihre Beziehungen innerhalb der ganzheitlichen Struktur. Dass sie überhaupt als Symbole fungieren, liegt daran, dass sie alle zu einer simultanen, integralen Präsentation gehören. Wir wollen diese Art von Semantik „präsentativen Symbolismus“ nennen, um seine Wesensverschiedenheit vom diskursiven Symbolismus, d.h. von der eigentlichen „Sprache“ zu charakterisieren. Die Anerkennung des präsentativen Symbolismus als eines normalen Bedeutungsvehikels von allgemeiner Gültigkeit erweitert unsere Vorstellung von Rationalität weit über die traditionellen Grenzen hinaus und wird doch der Logik im strengsten Sinne niemals untreu. Wo immer ein Symbol wirkt, gibt es Bedeutung: andererseits entsprechen verschiedene Erfahrungstypen, wie Erfahrung durch Verstand, Intuition, Wertschätzung – verschiedenen Typen symbolischer Vermittlung. Jedem Symbol obliegt die logische Formulierung oder Konzeptualisierung dessen, was es vermittelt.“ 102 Situationen in der sinnlichen Unmittelbarkeit ihrer unzerlegten Ganzheit führt an emotionale „Tiefenschichten“ heran.“67 Diese emotionalen Tiefenschichten liegen im Unbewussten, entziehen sich dem direkten Zugriff des Bewusstseins und benötigen Übersetzungsmöglichkeiten durch Deutung und Interpretation. Anders ausgedrückt: Was wir draußen in der Welt „real“ wahrnehmen ist, bildlich gesprochen, nur die „Spitze eines Eisberges“. Präsentative Symbole bringen über das existenzielle Dasein im Raum Beziehungsgeschehen zum Ausdruck. Eine Mauer wirkt einerseits in ihrer real existierenden Funktion auf uns ein, andererseits konfrontiert sie uns mit „bestimmten Formen von Beziehungsgeschehen im Moment ihrer Entstehung“68. Sie stellt ein Hindernis dar, oder sie signalisiert uns eine Grenze, vor deren Überwindung wir uns scheuen, weil wir die Konsequenzen erahnen oder wir schauen an ihr blickbehindert frustriert entlang. Die Mauer bildet also in ihrer Form „ein soziales Angebot, in dem ein Lebensentwurf verborgen liegt.“69 Sie macht für den Menschen aber erst dann einen Sinn, wenn die Bedeutung von Mauern in sinnlich symbolischen Interaktionsformen erfahren und hergestellt wurde. „In die Kategorie Mauer ist also ein Lebensentwurf eingegangen, der mittels sinnlicher Formen „an lebensgeschichtliche Erfahrungsmuster herangebracht“ worden ist und den wir nur über unsere sinnlich-symbolischen Interaktionsformen begreifen können.“70 Präsentative Symbole treten mit uns in einen kommunikativen Prozess: Sie teilen uns etwas über die innerpsychische Einstellung und das soziale Beziehungsgeschehen anderer Menschen mit. So mag die Mauer Schutz und Sicherheit konnotieren oder aber auch Abgrenzungsbedürfnis, Verschlossenheit, inneren Rückzug, etc. Symboldeutungen sind subjektiv und wir benötigen, wenn wir sinnvoll interpretieren wollen, immer Informationen des lebensgeschichtlichen Kontextes des Individuums oder der Gesellschaft.71 Architektur, Städtebau und Raumplanung sind demnach nicht nur eine rein zeichenmäßige Abstraktion der Realität, sondern ihre PlanerInnen bilden in den Entwürfen lebensgeschichtlich erworbene psychische Interaktionserfahrungen ab. Durch die Art der Lebensweltgestaltung (und unseres Umgangs mit ihr) drücken wir in der primären Sozialisation erfahrene Objektbeziehungen aus. Dies geschieht eben nicht diskursiv, sondern auf einer viel komplexeren symbolischen Ebene. Diejenigen Objekte rühren uns an, in denen unser eigenes „Lebensthema“ steckt. Sie spiegeln biographisch erworbene Muster, internalisierte Selbstobjektrepräsentanzen oder subjektive Bedürfnisse und Phantasien wider. Der Begriff der Szene bei Alfred Lorenzer Alfred Lorenzer führt zur Analyse von Interaktionen den Begriff der „Szene“ ein. Hiermit beschreibt er aktuelle und lebensgeschichtlich-vergangene Interaktionen, die in aktuellen Szenen reaktiviert werden. Dabei leitet er den Begriff aus der primären Interaktion zwischen 67 Lorenzer, A. (1984): Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik. Frankfurt 1984, S. 32 68 Jüngst, Peter (1995): a.a.O., S. 11 69 ebenda, S. 12 70 Jüngst, Peter (1995): a.a.O., S. 12, zit. nach: Lorenzer, A. (1984): a.a.O., S. 162 71 So hat die Mauer in unserer heutigen Zeit andere Konnotationen als die Stadtmauer im Mittelalter. 103 Mutter und Kind ab, die die Basis für die subjektiven Erlebnisstrukturen eines Menschen darstelle.72 „Diese „Erinnerungsspuren“ an bestimmte Interaktionsformen im Individuum gerinnen zu inneren Matrizen, auf denen die komplexen, situativen „Szenarien“ gleichsam eingeschrieben sind für alle Zeiten. Sie wirken als Modell für zukünftige Handlungsentwürfe, für künftige Interaktionen und sind als solche äußerst virulent, solange sie im Unbewussten verbleiben, d.h. solange sie nicht erinnert und damit sprachlich verfügbar werden.73 Die Szene, ein „in Wirklichkeit oder in der Phantasie inszeniertes Geschehen74, in dem sich Interaktionsformen und Beziehungen aktualisieren, hat immer einen Ort.“75 Es besteht ein enger Zusammenhang „zwischen emotionalen Besetzungen und Symbolbelegungen städtischer Räume und den jeweiligen szenischen Geschehen in diesen. (...) Szenische Reflektiertheit bedeutet somit auch eine geringere emotionale Besetzung und symbolische Belegung räumlicher Umwelt. (...) Die jeweils spezifische emotionale Besetzung und symbolische Belegung gespielter „Räume“ deutet darauf hin, dass sich räumliche Umwelt in verschiedene szenisch definierte Räume gliedern läßt.“76 Symbolische Differenzierung Auch für T. Bauriedl sind alle direkt oder indirekt zu beobachtenden Phänomene ein Ausdruck des lebensgeschichtlich und historisch-gesellschaftlich erfahrenen Beziehungsgeschehens. „Alle Phänomene [sind] potentiell Symbole. Ihr gemeinsamer Nenner ist die effektive Bedeutung für das betrachtende Individuum. Sie entstehen im Laufe der Entwicklung durch ständige Substitution eines Bedeutungsträgers durch einen anderen. Alle Beziehungen zur Außenwelt werden in diesem Sinn symbolisch aufgenommen und unterhalten. Die Eindeutigkeit dieser Beziehungen wird durch zunehmende Differenzierung der Bedeutung gewährleistet.“77 Mit dem weiteren lebensgeschichtlichen Verlauf werden Objektbeziehungen durch Abgleichungsvorgänge der Wahrnehmung ausdifferenziert. Das neue Objekt wird mit den alten vertrauten Mustern verglichen, die Abweichung von bestehenden Bildern wird wahrgenommen. Das „verträgliche“ Neue wird hinzugefügt, ein Entwicklungs- und Differenzierungsprozess setzt ein. „Gelingt dieser Prozess der zunehmenden Symboldifferenzierung, so wird jedes neue Objekt „einerseits schon bekannten gleich, wodurch eine „Übertragung“ einer schon vorhandenen Objektbeziehung möglich wird, andererseits ist es ungleich, wodurch die Identität des neuen Objektes festgelegt wird. Die emotionale Valenz des neuen Objektes stammt sowohl aus dem Umgang mit den gleichgesetzten früheren Objekten, als auch aus dem effektiven Erlebnis der Ungleichheit oder Neuartigkeit des neuen Objekts. Auf diese Weise entwickeln sich aus globalen Objektbeziehungen differenziertere und eindeutigere, wobei wir für den gesamten Verlauf 72 vgl. Jüngst, Peter; Meder, Oskar (1990): a.a.O., S. 13 73 vgl. Lorenzer, A. (1983): S. 99 f. 74 ebenda, S. 112 75 vgl. Jüngst, Peter; Meder, Oskar (1990): a.a.O., S. 13 76 Jüngst, Peter; Meder, Oskar (1990): a.a.O., S. 14 .: „Die jeweils spezifische emotionale Besetzung und symbolische Belegung gespielter „Räume“ deutet darauf hin, dass sich räumliche Umwelt in verschiedene szenisch definierte Räume gliedern lässt. Exemplarisch lässt sich dies an den aus den Spielergebnissen entwickelten Begriffen der szenisch ambivalent getönten Räume, der Räume der Qualifikation und Initiation, der szenisch-regressiven Räume, der Räume realer und symbolischer Bedrohung etc. aufzeigen.“ 77 Bauriedl, T. (1980): S. 66 f., in: Jüngst, P.; Meder, O. (1990): Urbs et regio 54 / 1990, a.a.O., S. 59 104 feststellen können, dass durch den Differenzierungsschritt zuvor die strukturierte, stärker festgelegte Form gewonnen wird, aber die primäre globale Form nicht aufgegeben werden muss.“78 Jede neue Interaktions-Erfahrung enthält potentiell auch die Möglichkeit zur Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung psychischer Strukturen „im Sinne auch von eigener Bewusstseinserweiterung bei gleichzeitigem Zurückdrängen von Unbewusstheit., wie freilich auch die Gefahr von Verhärtungen und Traumatisierungen, die Vorhandenes tendenziell deformieren. Inwieweit sich eher die eine oder die andere Variante durchzusetzen vermag, ist sicherlich nicht zuletzt abhängig vom lebensgeschichtlich- situativen Kontext, in dem das Subjekt mit neuen Informationsgehalten in Berührung tritt, vor allem aber von den lebensgeschichtlich erworbenen Möglichkeiten, mit Fremdem und Bedrohlichem umzugehen bzw. es zu verarbeiten.“79 Einflüsse des Sozialisationsprozesses Peter Jüngst und Oskar Meder gehen in ihrer Arbeit von der Hypothese aus, „dass die in der psychoanalytischen Literatur erarbeiteten theoretischen Konzepte der emotionalen und symbolischen Belegung menschlicher Umwelt auch für deren räumliche Dimensionen Gültigkeit haben. Diese Konzepte sagen aus, dass die Konstitution von Symbolen im Rahmen menschlicher Interaktionen, d. h. zunächst vor allem im Rahmen der Mutter – Kind – Dyade und deren Ausweitung auf den Interaktionsradius der Familie und später der Gesellschaft stattfindet.“80 In primären Interaktionen erwerben Individuen Grunderfahrungen, die sie im Laufe ihrer lebenszyklischen Weiterentwicklung bzw. der Erweiterung des Horizontes ausdifferenzieren und auf neue Objekte übertragen. Frühkindlich werden Erlebnisse zunächst nur in den Arealen der Körperorganisation erlebt, erst später kommt es, vermittelt zunächst über die Mutter, zu einer Verknüpfung der vorsprachlichen Interaktionsformen mit Sprachfiguren.81 Im Verlauf der Entwicklung übernimmt das Kind sukzessiv bestimmte Aspekte seiner Umwelt als Bedeutungsträger, die über das interaktionelle Geschehen mit der Mutter und der Familie hinausgehen. „Wird nun das Repertoire der sinnlich unmittelbaren Symbole aus der Spielwelt des Kindes auf die gesamte Erfahrungswelt des Kindes erweitert82, so gehen der Wohnraum der Familie, der Garten, die Straße, das Dorf, die Stadt, Wald, Wiesen, Hügel etc. in das kindliche Erleben ein und erfahren damit zugleich über vorsprachliche Situationsschemata wie auch über zu ihrer Kennzeichnung verwandte symbolbesetzte Sprachfiguren eine Bedeutungszuweisung. (...) Die Erfahrungser-weiterung des Menschen 78 Bauriedl, T. (1980): S. 68 f., in: Jüngst, P.; Meder, O. (1990): Urbs et regio 54 / 1990, a.a.O., S. 60 79 Jüngst, Peter; Meder, Oskar (1990): a.a.O., S. 60 f. 80 Jüngst, Peter; Meder, Oskar: a.a.O., S. 10 81 vgl. Jüngst, P. et al. (1984): a.a.O., S. 11: „Sprache wird (...) über Sprachfiguren, die den einzelnen Situationen anvermittelt werden, mit den sensomotorischen Situationsschemata, die schon vorher bestanden haben, verknüpft. (Lorenzer 1973, S. 67) D.h. aufbauend auf den sensomotorischen Situationsschemata der Mutter – Kind- Dyade als erster Stufe der Symbolbildung erklimmt das Kind die Ebene der sprachlichen Symbolbildung als zweite Stufe, wobei es bestimmte Aspekte seiner Umwelt zu Bedeutungsträgern macht. Diese Bedeutungsträger bilden anfänglich das Spielzeug mit der Besetzung als Mutter oder non-körperlichen Teilen der Mutter (z.B. der Mutterbrust; vgl. hierzu Winnicott, 1969, Volkan, 1978), ist diese abwesend.“ 82 vgl. Lorenzer, A. (1973): S. 71 105 während seiner lebenszyklischen Entwicklung ist eingebettet in räumliche Strukturen und Muster, d.h., in sein Blickfeld geraten zwangsläufig landschaftliche Bilder, die von ihm gemäß seinen interaktionellen Erfahrungen (...) besetzt werden, wobei die frühkindlichen Erfahrungen disponierend prägen.“83 Das Individuum entwickelt in der primären Sozialisation zunächst ein Bild des „frühen Objektes Mutter“. Dieses Interaktionsbild differenziert es als Repräsentanzen von Objekten (Objektrepräsentanzen). Sie werden zu Teilen des individuellen Selbst (Selbstobjektrepräsentanzen), zu einer innerpsychischen Repräsentanz, die man mit einer „Bildersammlung“ oder einer inneren „Bühne“ vergleichen kann. Aus dieser mit unterschiedlichen Charakteren versehenen inneren Bühne werden permanent Symbole in die Lebenswelt projiziert. Sie sind präsentative Symbole, weil sie subjektiv erfahrenes Interaktionsgeschehen und/oder Phantasien repräsentativ für das Individuum in Form von Symbolik übertragen. Andererseits sucht das Individuum immer wieder Räume und ihre einzelnen Objekte auf, auf die es auf seiner inneren Bühne Interaktionen projizieren kann. Raum wird symbolisch belegt mit realen oder Interaktionserfahrungen, Defiziten oder Phantasien: Wir verreisen in die Berge, an das Meer, etc., suchen bestimmte Plätze, Brunnen, Bäume aus inneren Motivationen heraus auf, die in der Symbolik dieser Lebenswelten und Objekte verschlüsselt sind. Der Sozialisationsprozess kann unter bestimmten historisch-gesellschaftlichen Bedingungen auch dahingehend wirken, dass die unmittelbar dem Primärprozess anhaftenden Anteile der Symbolbedeutung verdrängt werden müssen, d.h., dass unbewusste Anteile „eine wie auch immer geartete Virulenz“ entfalten können. „Andererseits zielt Sozialisation in weiten Lebensbereichen darauf ab, die Differenzierung von Symbolisierungsfähigkeit der Subjekte zu verhindern, d.h. gesellschaftliche Realität mittels einer beschränkten Symbolisierungsfähigkeit wahrzunehmen, die noch stark dem Primärprozess verhaftet ist. Inwieweit das Subjekt neue Objekte im Sinne einer Symboldifferenzierung integrieren kann, hängt also von gesellschaftlich geformten lebensgeschichtlichen Voraussetzungen ab. Denn jede weitere Erfahrung und damit auch jeder neue Bedeutungsgehalt bedeutet tendenziell die Konfrontation mit etwas Neuem, anderen, den vorhandenen psychischen Formationen nicht ohne weiteres Integrierbarem (s.: P. Jüngst 1988 b, S. 150).“84 83 Jüngst, P. et al. (1984): a.a.O., S. 11, zit. nach: Lorenzer, A.: Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Frankfurt / M. 1973, S. 71 84 Fröhlich definiert Primärprozess als „psychoanalytische Bezeichnung für die Es - haften Prozesse, d.h. nach Befriedigung drängenden Trieb- und Instinktansprüche bzw. der symbolische Ausdruck solcher Ansprüche in Konflikten.“ Fröhlich, W. D.: a.a.O., S. 322. „Primärvorgang: Psychoanalytische Bezeichnung für die Funktionsweise des unbewussten Seelenlebens. Alle Gedanken, Gefühle und Handlungen, die vom Es ausgehen, erfolgen demnach nach dem Lustprinzip, d.h. dem Streben nach Lust und dem Vermeiden von Unlust. Im Gegensatz dazu steht der Sekundärvorgang, der die Funktionsweise aller vom Ich ausgehenden bewussten oder vorbewussten Gedanken usw. beschreibt. Diese sind an der Realität ausgerichtet, also am Realitätsprinzip orientiert oder vom Über-Ich diktiert. Während der Primärvorgang für das Denken und Handeln in der frühen Kindheit allein wirksam ist, tritt er beim Erwachsenen nur noch bei getrübtem Bewusstsein, z.B. in Träumen und Phantasien auf.“ (Humboldt Psychologie Lexikon, München 1990, S. 279) 106 In spezifischen Lebenssituationen können Gefühlsstimmungen und Phantasien, Formen lebensgeschichtlich erworbenen Beziehungserlebens „wiederbelebt“ werden in der Begegnung mit Werken der Kunst, mit historischer oder zeitgenössischer Architektur oder mit städtischen Ensembles. „Entsprechend können symbolische Raumbezüge (...) als symbolische Belegungen räumlicher Strukturen mit vergangenen und gegenwärtigen Beziehungs- und Erlebensstrukturen bzw. mit ihnen verbundenen Gefühlsanteilen verstanden werden. Insofern aktivieren räumlich-kulturelle Formenangebote entsprechend ihrer symbolischen Generierungsmacht jeweils spezifische lebensgeschichtliche Erfahrungen von Subjekten und greifen damit nicht nur in deren individuelles Dasein ein, sondern auch in das Dasein des Kollektivs.“85 In städtebaulichen Konzeptionen realisieren sich immer auch (ein Stück) eigene Lebensentwürfe der PlanerInnen, sie beeinflussen über präsentative Symbolik kollektive Lebenswelten maßgeblich mit. Diese These vertritt ebenso die Architektin und Jung’sche Analytikerin Ruth Ammann. 86 Menschen- und umweltfeindlich gestaltete Lebenswelten werden von entsprechend geprägten Persönlichkeiten gestaltet, indem sie ihr inneres Bild in die Außenwelt übertragen konnten. Wohnumwelt, szenische Identitätsräume und Standortimage Die Wahl unseres (Wohn-) Standortes treffen wir nicht nur aufgrund persönlicher Bedürfnisse oder individuell-psychischer Merkmale. Gesellschaftliche Faktoren beeinflussen die Entscheidungen von Individuen bewusst oder unbewusst mit, z.B. über soziale Identität, Image, etc. Die Suche nach einem Wohnstandort beinhaltet immer auch „mehr oder weniger die Tendenz, einen Wohnort zu bevorzugen, dessen landschaftliche Ausstattung/ Konfiguration bestimmte psychodynamische Strukturen anspricht, das heißt entsprechende Symbolbesetzung evoziert. An entsprechenden räumlichen Konfigurationen können sowohl naturlandschaftliche Elemente (z. B. Höhen-/ Hanglage, Meer/See, Wald etc.) wie auch kulturlandschaftliche Elemente (z. B. Gestaltung von Platz- und Straßenanlagen) mitwirken. Zu einer symbolische Belegungen evozierenden Konfiguration gehören auch vorhandene bzw. potentielle Wohn- und Infrastrukturausstattungen. (...) Insbesondere kann davon ausgegangen werden, dass die Funktion von Wohngebieten als szenische Identitätsräume bestimmter Gruppen zugleich auch die Gestaltung dieser Wohngebiete prägt, so dass letztere zum Träger präsentativer Symboliken im geographischen Raum werden, d.h. in der szenisch-räumlichen Begegnung im Subjekt mehr oder weniger abrufbereite Belegungen evozieren. Gerade ein wie auch immer geartetes Wissen um eine solche präsentative Symbolik machen sich ja Promotoren zunutze, wenn sie neue Wohnareale zu konfigurieren suchen.“87 85 Jüngst, Peter (1995): a.a.O., S. 13 86 Ammann, Ruth: a.a.O., S. 11 f.: Die Wechselwirkung zwischen der Innen- und der Außenwelt hat auch die Architektin und Jungsche Analytikerin Ruth Ammann aufgegriffen. Sie geht „von dem einfachen, jedoch sehr bedeutungsvollen Satz aus, „Menschen machen Häuser – Häuser machen Menschen“. Architektur hat immer mit einem Eingriff des Menschen in die Natur zu tun, sie ist ein Stück unserer Kultur. Diese Grunderfahrung (...) drückt einen Prozess aus, der von der Innenwelt in die Außenwelt geht und von dort wieder zurückwirkt in die Innenwelt der Menschen.“ 87 Jüngst, Peter (1988): a.a.O., S. 41 f. 107 Das Image der Wohnumwelt wird bei Wohnungssuchenden und Kaufinteressenten zu einem wichtigen Standortfaktor. Die Ausstattung eines Gebietes mit natürlichen und belebenden Landschaftselementen steigert die Attraktivität und Aufenthaltsqualität eines Wohngebietes. Räume werden ausgewählt, weil sie zum einen den inneren individuellen Bildern entsprechen, aber ebenso, weil sie „meine Wunsch-Rolle“ in der Gesellschaft nach außen widerspiegeln sollen. Die (städtische) Lebenswelt teilt als Identitätsraum auch die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen mit. Über ihre symbolische Ausstattung vermittelt sie Dritten (Betrachtern, Besuchern, Außenstehenden) bestimmte Phänomene, die sowohl imagefördernd als auch „disqualifizierend“ empfunden werden können. Das Bedürfnis nach Attraktivitätssteigerung von Wohnsitzen und Villenstandorten mit Hilfe von Symbolen war bereits in der römischen Welt der Antike bekannt. Als Repräsentationszentrum der Macht wurde es ausgestattet mit den Elementen, die „eigenen Wohlstand, Sicherheit und Geborgenheit der Familie für die Zukunft garantierten. Es waren dies Topoi, wie bewässerte und fruchtreiche Fluren, Anpflanzungen, ferner fließende Gewässer, deren Präsenz in der italischen Landwirtschaft ja eine hervorragende Rolle spielte.“88 Im frühen Rom waren die symbolischen Besetzungen der Landschaft stark animistisch getönt und bildeten projektiv die inneren Strukturen der Gruppe ab. Dabei spielten insbesondere Grenzen, heilige Haine, Quellen, aber auch Gebirgsregionen eine wichtige Rolle. Später, mit zunehmender Macht Roms, wurden den Wohnsitzen künstliche Landschaftsmerkmale in Form von Kanälen, Gärten mit Wasserspielen, Fischteichen etc. beigefügt. P. Jüngst interpretiert dies als die Notwendigkeit, Omnipotenzphantasien auszuüben, mit der eigenen sozialen Gruppe symbolisch zu konkurrieren, um sich von anderen demonstrativ abzuheben. Die Wiederbelebung frühester sexueller Phantasien entzündete sich nicht nur an landschaftlichen Formen wie Grotten, Quellen, Wasserfällen, Kanälen, Fontänen. Das Bedürfnis der Römer, möglichst nah am Meer, besser noch ins Meer hinein zu bauen, analysiert er als symbiotische Sehnsucht nach Verschmelzung sowie Ausdruck einer Sehnsucht bzw. latenten Gefährdung, darin zu versinken.89 Aus psychoanalytischer Sicht ist diese Interpretation verständlich, denn das Meer ist ein Symbol für „unerschöpfliche Lebenskraft, aber auch des alles verschlingenden Abgrundes, insofern in der Perspektive der Psychoanalyse dem Doppelgesicht der gebenden und nehmenden, gewährenden und strafenden Großen Mutter verwandt; als Reservoir zahlloser ungehobener Schätze und im Dunkel verborgener Gestalten auch Sinnbild des Unbewussten. Als unermesslich große Fläche Symbol der Unendlichkeit (...).“90 Die Begehrtheit eines Standortes oder Aufenthaltsraumes wird durch die „Qualität der symbolischen Ausstattung“ bestimmt, das heißt durch die Symbole, die die innerpsychischen Repräsentanzen des Menschen am meisten ansprechen und die ihm am meisten sozialen Wert und gesellschaftliche Anerkennung verschaffen. Das Haus am See vereinigt durch die räumliche Nähe zum Gewässer die Symbolik des Sees mit dem Symbol des Hauses. Diese attraktiven Standorte sind rar, teuer und von daher elitär, 88 Jüngst, Peter und Meder, Oskar (1992): a.a.O., S. 251 89 vgl.: Jüngst, Peter (1992): a.a.O., S. 250 f. 90 Herder Lexikon der Symbole: a.a.O., S. 108 108 weil sie mit einem deutlichen Imagezuwachs für den Eigentümer verbunden sind. Mit solcher Symbolik lassen sich Persönlichkeitsstrukturen, Macht, Reichtum, das Besondere, etc., demonstrieren. Peter Jüngst differenziert zwei grundsätzliche Dimensionen der symbolischen Raumbezogenheit. Die erste Dimension ist primär ein Ausdrucksmittel „für unterschiedlich starke Ausprägungen von „Macht“ und verwandter Kategorien wie „Überlegenheit“/„Großartigkeit“ sowie „Abgrenzung nach unten“ und „Selbstdarstellung“ (...). Die Negativierungen solcher Kategorien – gleichsam auf dem anderen Ende der Dimensionsachse – können in Begriffen wie „Ohnmacht“, „Unterlegenheit“ und „Abhängigkeit“ gefaßt werden.“91 Die zweite Symboldimension ist die der sogenannten „szenisch-regressiven Räume, die eine Einordnung von Landschaftsmetaphern nach szenisch-räumlichen Kategorien wie „Rückzug“ und „Geborgen- oder Getragensein“ erlaubt. Hierunter kann der in spezifischen Kulturtraditionen verhaftete und durch besondere Symbolkonnotationen gekennzeichnete „Topos der ländlichen Idylle (...) subsumiert werden, wie er seine Wirksamkeit z.B. in der Gartenhaus- oder frühen Villenbesiedlung um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entfaltet, oder auch der Topos altstädtischer Idylle – allerdings erst nach der hier diskutierten Periode. (...) Die Verknüpfung und Anheftung von Symbolgehalten der beiden Dimensionen an bestimmte landschaftliche Konfigurationen dürfte im einzelnen Ausdruck der Dialektik von differenzierten kollektiven und individuellen psychodynamischen Prozessen sein, die sich u.a. als Abfolgen einer Vielzahl von szenisch-räumlichen Erfahrungen im Kontext spezifischer gesellschaftlicher Bedingungen interpretieren lassen.“92 Präsentative Symbolisierungen eröffnen die Möglichkeit, seine Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Schichten und Gruppierungen darzustellen und damit auch sich selber zu präsentieren bzw. sich abzugrenzen. Bevorzugte Ausstattungselemente und Konfigurationen sind aus finanziellen Gründen bestimmten sozialen Gruppen vorbehalten und sie strukturieren so das Stadtgefüge sozialräumlich mit. „Entsprechend dürfte jenen Sozialisationsformen, denen Angehörige stratigraphisch höherer Sozialgruppen unterliegen, eine stärkere Betonung der Individuierung und der Entwicklung von Ich-Kräften entsprechen. So kann man vermuten, dass Verschlingungs- und damit auch Näheängste im Kontext entsprechender biographischer Aufschichtungen in verstärktem Maße verhaltensrelevant werden, d.h. durch das Wohnen nicht nur die Zugehörigkeit zu den Anderen, sondern zugleich auch verstärkte Bedürfnisse nach szenisch-räumlicher Abgrenzung und Abwehr von Näheängsten zum Ausdruck gebracht werden, wie sie auf lebensgeschichtlichen Erfahrungen aufbauen.“93 Eberhard Schulz hat in einer Studie über die Ausdrucksmöglichkeiten von Angst in architektonischen Formen geforscht und dabei festgestellt, dass der äußeren Gestalt eines Hauses eine nicht unerhebliche psychologische Bedeutung zukommt. 91 Jüngst, Peter (1988): a.a.O., S. 42 92 ebenda, S. 42 f. 93 ebenda 109 In den siebziger Jahren sind z.B. bauliche Gestaltungstrends zu beobachten, fest abgeschlossene Baukörper (wie z.B. Atriumhäuser) zu bilden oder Außenwände abzuschließen. Die Untersuchung von Schulz leitet hieraus ab, dass zwischen der Bauform und dem Bedürfnis des Bauherrn, Angst abzuwehren, durchaus Korrelationen bestehen.94 Der abgeschlossene Baukörper wird zu einer symbolischen Konnotation für Schutzbedürftigkeit. In der Gestaltung und Wahl des Lebensraumes verorten sich symbolisch Distanz, Nähe- und Sicherheitsbedürfnis der Individuen und sozialen Gruppen. Ökonomisch potente Schichten können sich mit distanzwahrenden Grundstücksgrößen, Individualität betonenden Bauformen und das Sicherheitsbedürfnis befriedigenden Mauern verorten. Lebensräume können durch Symbolik viele Persönlichkeitszüge offenbaren. Interpretation symbolischer Prozesse sind jedoch nur mit größter Vorsicht möglich, Kausalitäten sind vor dem Kontext der Subjektivität zu vermeiden. Durch Wachpersonal gesicherte Wohnquartiere in Amerika vermitteln ihren Bewohnern das Gefühl von Sicherheit, Individualität und Freiheit. Ich habe dabei eher Assoziationen von Unfreiheit, Isolation, Kontrolle und Gefängnis. Glasscherben bestückte Mauern schützen die luxuriösen Meer - „Kondominions“ der Reichen vor den unmittelbar angrenzenden Slumwohngebieten der schlechtbezahlten Arbeiterfamilien in Thailand. Hier geht es um Abschirmungsbedürfnis, Angst sowie das Bedürfnis des exklusiven Unter-sich-sein-Wollens einer privilegierten sozialen Schicht. So ist es für die entsprechenden Gruppierungen und Käuferschichten wichtig zu erkennen, dass man in seinem Wohngebiet „die eigene“ soziale Gruppe auch wiederfindet, man will an der „richtigen Adresse“ wohnen. „Positive Symbolbesetzungen, die an Landschafts- und Ausstattungsmerkmale anknüpfen, sind allein keine Garanten für entsprechende Entwicklungen von Wohnarealen. Promotorische Aktionen von Unternehmen wie Terraingesellschaften etc. richten sich gerade auf die Überwindung jener Schwelle, die neuen Wohnarealen erst den „touch“ des „Unter-sich-Seins“ verleiht und damit zugleich die Aussicht auf das Erleben eines spezifischen interaktionellen Zusammenhangs, der Sicherung und Einbettung in einen gruppenspezifischen szenischen Identitätsraum nahelegt.“95 Das themenzentrierte Assoziationsdrama Peter Jüngst und Oskar Meder haben eine Methode zur Visualisierung von Interaktionsgeschehen und sozialpsychischen Strukturen entwickelt. Sie verwenden eine modifizierte Form des von Moreno entwickelten Psychodramas, welche sie als „themenzentriertes Assoziationsdrama“96 bezeichnen. Mit dessen Hilfe wird ein Zugang zu frühen präverbalen Strukturen erreicht werden. Die Teilnehmer spielen unter einer thematischen Vorgabe bestimmte Raumbilder, wie z.B. das 94 Schulz, Eberhard: Vorwort zur Darmstädter Ausstellung Angst, zit. bei Lorenzer, A.: a.a.O., S. 92 95 ebenda, S. 46 96 Jüngst, Peter; Meder, Oskar: Landschaften „in“ uns und Landschaften „um“ uns, symbolische Bedeutungen und emotionale Besetzungen von Landschaftselementen aufgezeigt mit Hilfe themenzentrierter Psychodramaarbeit, in: Jüngst, Peter (Hrsg.) (1984), a.a.O., S. 19 110 Dorf, die Urlaubslandschaft, die Phantasielandschaft, etc. Jeder Teilnehmer wählt ein Teilelement97 des jeweiligen Raumthemas, mit dem er sich identifizieren kann. Diese Form des Psychodramas „benutzt nun nicht die Einrichtung räumlicher Gegebenheiten als Instrument zur Herstellung möglichst wirklichkeitsgerechter Situationen, sondern zielt primär auf die Erfassung emotionaler und symbolbezogener Belegungen landschaftlich – räumlicher Elemente.“98 Die Teilnehmer bekommen den Auftrag, sich im Seminarraum so anzuordnen, wie es ihnen im Rahmen ihrer Rolle als sinnvoll erscheint. Anschließend wird die räumliche Verteilung der Objekte und die damit verbundenen Interaktionsbezüge der Gruppe im „Spielraum“ protokolliert. In den ausgewerteten Beziehungsbildern fiel unter anderem auf, dass einige Teilnehmer Rollen in Form von Objekten wählten, mit denen sie sich wiederholt „nur“ randständig in das Spielgeschehen einbrachten. Diese gewählte Rolle zeigte eine sich „isolierende“ Haltung dieser Akteure, da sie sich aus einer Vielzahl von Elementen offensichtlich mehrfach nur mit diesen Symbolwelten identifizieren konnten. Die räumliche Verortung der Symbolelemente drückte auch das Sozialverhalten des Spielenden bzw. das Distanz- und Nähebedürfnis aus. „Bestimmte Elemente wurden marginal, teilweise in ausgesprochener Isolation, postiert. So entspricht die Ausgliederung des Neubaugebietes (beim Beziehungsbild „Das Dorf“, Anm. d. Verfassers) durchaus funktionalen Gesetzmäßigkeiten. (...) Werden die psycho-sozialen Aspekte des Beziehungsbildes näher betrachtet, so kann festgestellt werden, dass die marginal postierten Elemente durchweg wieder von Teilnehmern dargestellt wurden, die bereits im ersten Spiel „Phantasielandschaft“ randliche Positionen eingenommen haben.“99 Es wäre interessant zu untersuchen, ob Planer, die Neubaugebiete auf der grünen Wiese isoliert planen oder Trabantenstädte entwickeln, im Psychodrama auch randständige Positionen einnehmen würden. Im themenzentrierten Assoziationsdrama zeigte sich, dass „Landschaften einmal als aneinander gereihte Singularitäten landschaftlicher Elemente mit entsprechender Symbolbesetzung wahrgenommen werden, ferner als partialkomplexe landschaftliche Elemente, die als Metapher für aufeinander bezogene psychische Strukturen stehen, schließlich als ganzheitliche Bilder, die in der jeweiligen Verknüpfung von landschaftlichen Einzelelementen und Elementkomplexen als Metapher für entsprechende psychische Strukturen stehen. Insgesamt konnte deutlich gemacht werden, dass bestimmte naturlandschaftliche Elemente und Konfigurationen von Elementen offenbar kollektiv empfundene Symbolik verkörpern (wie Meer, See, Quelle, Bach, Sonne, Wiese, Hügel, Gebirge, Wald, Dschungel, Baum, Sumpf etc.) und bei Ähnlichem, auf die Erzeugung landschaftlicher Elemente gerichteten Stimuli, immer wiederkehren. Bestimmte voneinander verschiedene räumliche Elemente können als Metaphern ähnlicher psychischer Strukturen stehen. Vergleichbares gilt auch für die Grunderfahrung räumlichen Erlebens in kulturlandschaftlichen Bereichen wie Dorf oder Stadt.“100 97 Bei dem Beziehungsbild Dorf wurden u.a. folgende Elemente gespielt: Dorfkern, Kneipe Kirche, Schuppen, Bauern, naturverbundenes Leben, Landwirtschaft (...) und Neubaugebiete. Bei der Phantasielandschaft wurden u.a. folgende Landschaftselemente aus einem Brain-storming ausgewählt und gespielt: Aussichtspunkt, Quelle, Lichtung, Bach, Wald, Wiesental, Meer, Lichtung, Mensch.... 98 Jüngst, P. (1984): a.a.O., S. 16 99 ebenda, S. 28 100 Jüngst, Peter; Meder, Oskar (1990): a.a.O., S. 12 111 Werbepsychologen benutzen in fragwürdig manipulativer Art und Weise die Symbolbelegung von Landschaften und die ihnen inhärenten symbolischen Strukturen und Objektrepräsentanzen. An Beispielen verschiedener „Werbelandschaften“ hat Peter Jüngst z.B. landschaftliche Symbol-Konfigurationen für Zigarettenwerbung untersucht, die bestimmte Käuferschichten mit entsprechenden psycho-dynamischen Strukturen anspricht.101 Solche Werbung suggeriert den KonsumentInnen auf unbewusster Ebene, sie könnten sich, die X-Zigarette rauchend, die Bedeutungsgehalte der landschaftsinhärenten Symbolik (Freiheit, Weite, Unabhängigkeit, etc.) einverleiben. Das Bemühen der Psyche, Defizite zu kompensieren, nutzt die Werbebranche schamlos aus. Dieser Missbrauch von Symbolik zielt auf prädisponierte psychische Matrizes, deren Enthüllung und Bewusstmachung sehr aufschlussreich wäre. Die Szene der „Urlaubsziele“ des themenzentrierten Assoziationsdramas verdeutlicht bei Jüngst beispielsweise, „dass die in die Ferne gerichteten Projektionen einerseits nichts anderes als Ausdruck vor Ort erlebter entfremdeter Erfahrungen darstellen, zum anderen aber auch das Bedürfnis nach regressiven, d.h. jenen positiv besetzten kindlichen Erfahrungen, die in unserer Erinnerung eingeschrieben sind.“102 Positive und negative Wertschätzung von Objekten Wenn unser Handeln auf Objekte ausgerichtet ist, die uns etwas bedeuten, dann zeigt dies ihren Wert für uns an, den wir in frühen Interaktionserfahrungen erworben haben. Wir schätzen beispielweise Natur und Umwelt und fühlen uns durch Symbole wie Erde, Garten, Acker, Wasser, Teich, Meer, Vegetation, Pflanze, Baum, die der Psychoanalytiker Erich Neumann dem Mütterlich-Weiblichen (archetypischen) Symbolbereich zuordnet, besonders angesprochen103. In diesen Symbolen spiegeln sich Objektrepräsentanzen der Mutter – Kind Dyade. Objekte erhalten aber nicht nur positive Wertschätzung, weshalb auch der Umkehrschluss zulässig ist: Menschen missachten und misshandeln Dinge, die ihnen nichts bedeuten. Die allgegenwärtige Umweltverschmutzung und die gnadenlose Ausbeutung von Ressourcen sind nur einige Beispiele hierfür. Auch hier spiegelt sich ein negatives frühes Interaktionsgeschehen auf symbolischer Ebene wider: Der ungestillte Hunger in der primären Objektbeziehung und die negativen Emotionen aus einer nicht geglückten Mutter-Kind-Beziehung werden gerächt durch Zerstörung und Ausbeutung der „Mutter Erde“. 101 Peter Jüngst fand heraus, „dass trotz mancher Gemeinsamkeiten jede Zigarettenmarke eine je spezifische landschaftliche Symbol - Konfiguration aufweist, die jeweils bestimmte Käufergruppen mit offenbar entsprechenden psycho - dynamischen Strukturen anzusprechen sucht.(...) („Camel“: Dschungel – oder Buschlandschaft; „Stuyvesant“: u.a. die Weite des Luftraumes mit Wolken als flüchtigen Markierungen; „Elite“: gepflegte englische Parklandschaft mit der Herrschaftssymbolik des Schlosses diskret gespiegelt auf der Kühlerhaube des Gefährtes). Gegenüber einer verstärkt auf männliche Wunschvorstellungen ausgerichteten Landschaftssymbolik z.B. von „Camel“ oder „Marlboro“ (...) ist die Werbung für leichtere Zigaretten häufig auf Frauen ausgerichtet und in eine stärker kulturlandschaftlich orientierte Symbolik eingebettet, wie z.B. bei der Marke „KIM“: Die Frau bewegt sich mühelos im städtischen Verkehr.“ Jüngst, P. et al. ( 1984): a.a.O., S. 47 102 Jüngst, P. et al. (1984): a.a.O., S. 33 103 vgl. das Schema und die Ausführungen von Neumann, Erich: Die große Mutter. Eine Phänomenologie der weiblichen Gestaltungen des Unbewussten, 11. Aufl., Walter, Zürich und Düsseldorf 1997, S. 64 ff. 112 Die These, dass ein destruktiver Umgang mit der Umwelt auf eine defizitäre Mutter-Kind Dyade, d.h. auf Objektbeziehungsstörungen zurückzuführen ist, finde ich bei M. Balint und G. Raeithel bestätigt. Sie skizzieren ein „typisches“ amerikanisches Verhaltensmuster, das sich offenbar über Generationen tradiert. Die Ausgangslage dafür bildet die familiale Sozialisation der Einwanderer: „Selbst zwischen den Nationen scheinen unterschiedliche emotionale Besetzungen der räumlichen Umwelt zu existieren. So sucht der Amerikaner „in den freundlichen Weiten“ nach Gerd Raeithel (1981) seinen Heroismus: „Go West“. Die verheißungsvolle Ferne wird, rückt sie näher, benutzt, zerstört und wieder verlassen. Befriedigung ist gleichsam unmöglich, das Spiel beginnt von neuem – Landschaft als Wegwerfkultur. Raeithel versucht in einer psycho- historischen Studie über die Amerikaner u.a. nachzuweisen, dass die nur geringe emotionale Besetzung landschaftlicher Umwelt auf die tradierte Objektschwäche ihrer Urväter zurückzuführen ist. Anknüpfend an (...) Balint (1972) (...) sucht er anhand von historischen Quellen zu belegen, dass es sich bei den Einwanderern in der Regel um Individuen handelt, deren familiale Sozialisation durchweg gebrochen und durch geringe Objektbindungen gekennzeichnet war. (...) Es stellt sich auch in diesem Zusammenhang die Frage, wie entsteht „räumliches Bewusstsein“ und „räumliches Unbewusstsein“ und damit auch letztlich räumliches Verhalten. Abgeleitet aus psychoanalytischen Theoriebeständen (vgl. u.a. Volkan) ließe sich die Bedeutungszuweisung räumlicher Objekte ausgehend von der Mutter–Kind–Dyade aus menschlichen Interaktionen interpretieren. Hinweise darauf, wann und unter welchen individuellen lebensgeschichtlichen und gruppenspezifischen Bedingungen die symbolische Belegung landschaftlicher Elemente erfolgt, könnten u.U. Spielsituationen mit regressiven Thematiken erbringen.“104 4.6. Zusammenfassung Das Symbol ist ein „Sinnbild“, das uns auf tiefere Ebenen einer unsichtbaren Wirklichkeit hinweist. Es lässt etwas im Menschen und in menschlichen Interaktionsprozessen Verborgenes ans Tageslicht gelangen. Unter der kognitiv realen Wahrnehmungsebene existiert eine verschlüsselte Ebene, die es sorgfältig zu ergründen gilt, wenn man sich den Bedeutungsgehalt von Lebenswelten und den sich in ihnen verortenden Interaktionsprozessen, sozialen Handlungen oder Beziehungen erschließen möchte. Das Symbol geht im Verständnis des analytischen Paradigmas weit über die diskursive Form von Symbolik hinaus, es repräsentiert eine Ganzheit der Erlebens- und Gefühlsvielfalt, die mit Worten nur unvollständig ausgedrückt werden kanne. Die Analytische Psychologie sieht im Symbol eine wichtige Verbindungsfunktion von Sichtbarem und Unsichtbarem, von bewussten und unbewussten Anteilen. Mircea Eliade hat in „Das Heilige und das Profane“ aus religionshistorischer Sicht gezeigt, dass die Aneignung von Lebenswelten nicht nach dem Zufallsprinzip geschieht, sondern 104 Jüngst, P. et al., 1984, a.a.O., S. 64, zit. nach. Raeithel, G.: „Go West“ Ein psychohistorischer Versuch über die Amerikaner, Frankfurt / M. 1981.; zit. nach: Balint, M.: Angstlust und Regression, Reinbek, 1972 und zit. nach: Volkan, V.D.: Psychoanalyse der frühen Objektbeziehungen, Stuttgart, 1978 113 dass sie vor einem essentiellen symbolischen Kontext geschieht. Kosmogonie, ein symbolischer Akt, verleiht den Lebenswelten (Stadt, Haus, etc.) besondere Bedeutung, Orientierung und Sicherheit. Das Verständnis für Symbolik in der modernen Lebenswelt „aus Opposition zur Historie“ abhanden gekommen, der Mensch wurde zum Produkt der fortschreitenden Säkularisierung und Rationalisierung. Die verschiedenen, in einem Raum unterlegten Bedeutungsebenen beschreibt Dieter Läpple als Matrixräume. Eine dieser Ebenen bezeichnet er als „räumliches Zeichen-, Symbol- und Repräsentationssystem. P. Jüngst und O. Meder beschreiten einen psychoanalytischen Ansatz, um auf die Bedeutung der Symbole im Kontext städtischer Lebenswelten hinzuweisen. Dazu führten sie die Begriffe der „Präsentativen Symbolik“ und der „Symbolischen Raumbezogenheit“ ein. Der Grundsatz des Symbolischen Interaktionismus, dass wir „Objekten“ gegenüber handeln, weil sie für uns eine Bedeutung haben, wird präzisiert: Das Individuum erlebt Räume als symbolische Bedeutungsträger primärer internalisierter Interaktionserfahrungen, sie wirken auf ihn ein, sprechen in ihm ein Beziehungsmuster an. Andererseits projiziert der Mensch auf geographische Räume und ihre Objekte in Form einer symbolischen Verschlüsselung verinnerlichte Erfahrungen realen oder phantasierten Beziehungsgeschehens. Diese Prozesse bleiben jedoch meist im Unbewussten verborgen. Objekte entfalten Bedeutungszuwächse über die physisch-materielle Qualität hinaus. Sie präsentieren ein Stück des eigenen individuellen Lebensentwurfes. Daher werden Menschen durch Symbole unterschiedlich berührt und entwickeln in städtischen Lebenswelten auch unterschiedliche Affinitäten zu Elementen wie Plätzen, Brunnen, Freiräumen, Bankenvierteln, etc. Objekte erhalten aber nicht nur positive Wertschätzungen, sondern im Umkehrschluss auch Missachtungen, wie in der ubiquitären Verschmutzung der Umwelt offenbar wird. Positive Stimmungen, Gefühle und Beziehungserlebnisse, aber auch Konflikte, Defizite, Phantasien, „Virulenzen der Sozialisation“, Bedürfnisse, Charakter- und Persönlichkeitsstrukturen, Macht, Größenphantasien, Symbiose-, Distanz- , Nähe- und Schutzbedürfnisse, Image-Bedarf und Kompensation, etc. visualisieren sich als Projektionen einer inneren Bühne in unseren Lebenswelten. Durch die Interpretationsbedürftigkeit eröffnet sich ein vielschichtiges Arbeitsfeld, das in den planerischen Disziplinen bisher wenig Berücksichtigung gefunden hat. Die Frage, wie diese Symbole und Zeichen in uns gelangen, wie sich „Gestalten“ unserer Lebenswelten in uns manifestieren, soll im folgenden Kapitel untersucht werden. 114 5. Das Bild städtischer Lebenswelt als menschlicher Erfahrungshintergrund 5.1. Einleitung In städtischen Lebenswelten verorten sich über präsentative Symbole individuelle und kollektive Raumbilder, die Zeichen und Symbole enthalten und zu uns in einen Bezug treten. Eine Hypothese dieser Arbeit ist, dass der funktionale Städtebau moderner Lebenswelten psychogene Reaktionen im Menschen verursachen kann. Bilder der Außenwelt prägen sich uns ein, werden zu inneren Bildern, die wir wiederum in einer Wechselwirkung in die Außenwelt projizieren. Zunächst ist aber die Beantwortung der Frage erforderlich, wie der Mensch seine Lebenswelt in sich aufnimmt und über welche Prozesse die kognitive und psychische Verarbeitung seiner Umwelteindrücke abläuft. Dabei reagiert jeder Mensch auf die Erfahrungen mit seiner Lebenswelt individuell, so dass Verallgemeinerungen vorschnelle, nicht übertragbare Resultate produzieren könnten.1 In diesem Kapitel werde ich mich mit verschiedenen Modellen und Theorien auseinandersetzen, die die wechselseitige Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Umweltwahrnehmung analysieren. Von entscheidender Bedeutung ist, wie ein Individuum die Umgebung, die es mit den Sinnesorganen erfasst, recipiert. Bestandteile der Wahrnehmung sind Sinnesreize, die im visuellen Bereich vermittelnde Elemente wie Bilder, Zeichen und Symbole enthalten. Verschiedene wissenschaftliche Disziplinen, wie z.B. die Wahrnehmungspsychologie, die Semiotik, die Phänomenologie, die Gestalttheorie und das analytischen Paradigma haben Übersetzungsvariablen und -theorien für solche Vermittlungsprozesse erarbeitet. 5.2. Die Blickverschränkung: Das chiastische Modell bei Jacques Lacan Die Beantwortung der Frage, wie Raum empfunden und abgebildet wird, hat insbesondere die Wahrnehmungspsychologie untersucht. Dieser möchte ich aber das chiastische Modell von Jacques Lacan voranstellen, das wesentliche Grundlagen für die weitere Bearbeitung des Kapitels liefert. Wahrnehmung wird oft zuerst mit Sehen in Verbindung gebracht, der optischen Aufnahme von Sinneseindrücken. Das Auge, das lichtempfindliche Sehorgan des Menschen, wandelt 1 Heide Berndt entwickelte die These, dass es nur wenige räumliche Faktoren mit unmittelbarem Einfluss auf den seelischen Apparat gibt: „Mitscherlich hat in seinem Buch Die Unwirtlichkeit unserer Städte wiederholt die Enge von Wohnungen als unmittelbaren Hemmfaktor für psychische Entwicklung genannt. Wenn der Bewegungsdrang kleiner Kinder durch mangelhaftes räumliches Arrangement (nicht nur innerhalb der Wohnung, sondern auch außerhalb) dauernd gebremst werde und wenn vor allem das Neugierverhalten der Kinder nicht gesellschaftlich einsichtig befriedigt wird, dann müsse man bei Heranwachsenden „antisoziale Reaktionsweisen“ erwarten. Der pathogene Einfluß zu kleiner und enger Wohnungen im gestörten Verhalten von Kindern wurde empirisch nachgewiesen von Marie J. Chombart de Lauwe: Psychopathologie sociale de l’enfant inadapté, 115 die elektromagnetischen Wellen des Lichts in ein Muster von Nervenimpulsen um, die dann an das Gehirn weitergeleitet werden. Die Hornhaut ist eine sehr widerstandsfähige Membrane, durch die das Licht in das Innere des Auges gelangt, wobei die Netzhaut eine kompliziert gebaute Schicht enthält, die im Wesentlichen aus Nervenzellen besteht. Die Bildwahrnehmung durch das Auge ähnelt einer einfachen Kamera: Die Linse wirft ein kopfstehendes Bild der Außenwelt auf die lichtempfindliche Netzhaut, die dann dem Film in der Kamera entsprechen würde. Das Auge ist aber nur der physische Anfang des visuellen Wahrnehmungsprozesses. Der Vergleich mit der Kamera zeigt, dass Bilder „uns anschauen“. Aufgrund unserer subjektiven psychosozialen Situationen wählen wir Motive aus. Zwischen dem Betrachter und dem Betrachteten findet ein reflexiver Prozess statt. „Jeder der sieht (z.B. den Baum vor dem Fenster) erfährt das Gesehene dort und draußen (in einer gewissen Entfernung) und er erfährt es zugleich in sich selbst präsent, wenn er es anschaulich erlebt hat. Das Auge ist in der Welt, die Welt im Auge.“2 Der Bildentstehung liegt im Grunde genommen eine Kreuzung der Blicke zugrunde. Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan entwickelte das chiastische Modell der Blickverschränkung. Dabei wählte er als Anschauungsmodell die Verschränkung zweier Dreiecke, welche er ursprünglich auch als Sehpyramiden bezeichnete. Deren geometrische Plausibilität verdeutlicht sehr anschaulich das Ineinander und Miteinander von Sicht und Ansicht. „Das Verhältnis des Subjektes zur eigentlichen Erscheinung des Lichtes zeigt sich hier schon in seiner Ambiguität. Man sieht es übrigens schematisch an den beiden Dreiecken, die sich gegeneinander verkehren, sobald man sie übereinander schiebt. (...) ein Beispiel für jene Funktion der Verflechtung, der Kreuzung, des Chiasmus (...).“3 Abb. 4: Linie und Licht Abb.5: Die Blickverschränkung im Chiastischen Modell Jacques Lacans Quellen: Lacan, Jacques 4/5 Es stellt sich die Frage, was unseren Blick anzieht, welche Objekte uns ansprechen. Das Subjekt agiert nicht, „indem es sich den Blick als eigenen Augpunkt einverleibt, der Blick ist vielmehr etwas, das ihm entgegenkommt. Der Mensch sieht sich auf primordiale Weise angeblickt“. Es wäre demnach missverständlich, wollte man Sehen, Wahrnehmung oder Auge mit dem Blick gleichsetzen . Paris 1959, Kap. III., S. 71 ff.“ Berndt, Heide; Lorenzer, Alfred; Horn, Klaus: Architektur als Ideologie, Frankfurt, Suhrkamp, 1968, S. 33, Fn. 47 2 Boehm, Gottfried: Die Wiederkehr der Bilder. In: Boehm, G. (Hrsg.): Was ist ein Bild?, München 1995, S. 19 3 Lacan, Jacques: Linie und Licht, in: Boehm, Gottfried: Was ist ein Bild?, München 1995, S. 64 4 ebenda, S. 60 5 Lacan, Jacques: Was ist ein Bild / Tableau. In: Boehm, G.: Was ist ein Bild?, München 1995, S. 75 116 Auf diesem Wege (siehe Abbildungen 4 und 5) etabliert sich eine Kreuzung der Blicke. Der Schirm bildet den Ort der Vermittlung zwischen dem Betrachter und dem Betrachteten. „Der visuelle Impuls des Sehens (vom Subjekt ausgehend) kreuzt sich mit dem Angeblicktwerden, dessen Ort in der Welt das abgespaltene Objekt a ist, das gleichwohl auf das Begehren, z.B. den Schautrieb zurückgezogen bleibt.“ 6 Abb. 6: Das chiastische Modell der Wahrnehmung nach Klaus M. Schmals. Quelle: Klaus M. Schmals7 Das Begehren ist ein zentraler Begriff in J. Lacans Konstrukt des Blickes und der Bildwahrnehmung. Er beabsichtigt, mit Hilfe dieses Theorieansatzes, „das Subjekt auf seine signifikante Abhängigkeit“ zurückzuführen.8 Mit ihm möchte er verdeutlichen, wie das Subjekt vom Blickfeld gefangen gehalten wird und wie der Blick das Individuum steuert. Ein Objekt „blickt mich an/me regarde“.9 „Auf dem Felde des Sehens ist der Blick draußen, ich werde erblickt, das heißt, ich bin Bild / tableau. (...) Von Grund aus bestimmt mich im Sichtbaren der Blick, der im Außen ist.“10 Dieser Akt des Begehrens ist ein Impuls der vor der Intentionalität liegt, er ist „Teil einer ‚wilden Ontologie’. Sie zeigt sich im, psychisch gedeuteten, Urakt einer ‚Spaltung’, in dem das Begehren gleichsam der Endlichkeit seiner Situation Tribut zollt. Es konstatiert den Mangel seiner Erfüllbarkeit (...). Die Feststellung des Mangels veranlasst das frühkindliche 6 Boehm, Gottfried: a.a.O., S. 23 7 Klaus M. Schmals: Skripte zum Seminar „Raum – Erkundung“, Dortmund 2001 8 Lacan, Jacques: Vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (Seminar XI, 1964) Weinheim/Berlin 1987, S. 73 ff., zit. bei: Boehm, Gottfried: a.a.O., S. 22 9 Lacan, Jacques: Linie und Licht, in: Boehm, Gottfried: Was ist ein Bild?, München 1995, S. 64 10 Lacan, J.: Was ist ein Bild / Tableau. In: Boehm, Gottfried: Was ist ein Bild?, München 1995, S. 76 117 Begehren, einen Teil von sich abzuspalten, etwas, das sehr verschieden besetzt werden kann, deshalb von Lacan ganz formal: Objekt a genannt wird.“11 Dieses Objekt wird der „Blick“ genannt. Klaus M. Schmals hat diese Zusammenhänge in der Abbildung 6 differenziert dargestellt. Das, was das subjektive Begehren ausmacht und den Blick auf einen bestimmten Punkt lenkt, ist die individuelle innerpsychische Struktur, die als Produkt der biographisch erworbenen psychosozialen Erfahrungen zustande gekommen ist. Der Betrachter wird durch Symbole und Zeichen innerer Repräsentanzen angesprochen. 5.3. Wahrnehmungspsychologie Etymologisch ist Wahrnehmung auf das althochdeutsche „wara neman“, einer Sache Aufmerksamkeit schenken, zurückzuführen. Mit Wahrnehmung kann man einen Prozess bezeichnen, in dem Sinnesempfindungen, Gedächtnisinhalte, Interessen und Gefühle sowie auch Erwartungen zu entscheidungs- und handlungsverwertbaren Informationen organisiert werden. Sie ist ein zentraler Gegenstand der Wahrnehmungspsychologie, die insbesondere die Zusammenhänge zwischen den physikalischen Eigenschaften des wahrzunehmenden Objekts, den physiologischen Bedingungen des Wahrnehmens und den beim Wahrnehmen auftretenden Sinneserlebnissen12 untersucht. Bislang gibt es keine einheitliche Wahrnehmungstheorie und demzufolge auch keine einheitliche Definition: W. Fröhlich definiert „wahrnehmen, Wahrnehmung (perception) als allgemeine und umfassende Bezeichnung für den Prozess des Informationsgewinns aus Umwelt- und Körperreizen (äußere und innere Wahrnehmung) einschließlich der damit verbundenen emotionalen Prozesse und der durch Erfahrung und Denken erfolgenden Modifikationen. Der Begriff umfasst alle Prozesse, die in ein Auffassen, eine Reaktion motorischer oder sprachlicher Art oder in ein klares und abgehobenes Erkennen und Diskriminieren einmünden (...) Der physikalisch definierte Reizgegenstand bzw. die Reizkonstellation (Situation, komplexe Gegebenheit) wird durch die in den Sinnesrezeptoren (Auge, Ohr) stattfindenden energetischen Umwandlungsprozesse und die damit einhergehenden nervösen Erregungen zum Wahrnehmungsgegenstand. Wahrnehmen lässt sich von der Funktion her als komplexe, aus Sinnesempfindungen und Erfahrungskomponenten bestehende psychische Erscheinung, deren Inhalt im Raum lokalisiert wird und dadurch zur Auffassung von Gegenständen der Außenwelt führt (...), definieren.“13 11 Böhm, Gottfried: a.a.O., S. 22 12 Eine Gliederung der Sinnessysteme erfolgt meist in: 1. das visuelle System (Sehen), 2. das akustische System (Hören), 3. das chemische System - das olfaktorische System (Riechen), - das gustatorische System (Schmecken), 4. das vestibuläre System (Gleichgewicht), 5. das Sinnessystem der Haut (Tastsinn, Druck, Schmerz). 13 Fröhlich, W.: a.a.O., S. 439 118 In der menschlichen Entwicklung werden die verschiedenen Bereiche der Wahrnehmung, der Bewegung, der Kognition und der sozial-emotionalen Strukturen eng miteinander verknüpft. Sie bedingen, beeinflussen, unterstützen und kontrollieren sich gegenseitig, bzw. sie bauen in ihrer Entwicklung aufeinander auf. Wahrnehmung umfasst nicht nur die Reizaufnahme durch die verschiedenen Sinnesorgane und Rezeptoren, wie Fühlen und Begreifen (Sensorik). Sie beinhaltet auch die wichtige Integrationsaufgabe, d.h., die Verarbeitung der Sinnesreize durch Aussortieren, Vergleichen, Wiedererkennen, Zuordnen. Durch Assoziation mit früheren Erfahrungen ermöglicht sie Interpretation, sowie die Speicherung in die entsprechenden sensorischen Hirnzentren. Die interne Reizsetzung durch Wunsch und Motivation bis hin zum Planen der entsprechenden Handlung, die als Reaktion in Bewegung umgewandelt werden soll, bzw. die Rückmeldung und Kontrolle über den Erfolg vollenden die Integrationsaufgabe. Wahrnehmung ist Grundvoraussetzung für jegliche motorische und kognitive Entwicklung des Menschen. „Im Wahrnehmungsvorgang wird der (...) gegebene Reizgegenstand über die Filterwirkung der Sinnesrezeptoren, der Empfindungen (z.B. Bedürfnisse, Motive, augenblickliche emotionale Gestimmtheit) und der auswählenden bewussten Zuwendung des Wahrnehmenden zum subjektiven Wahrnehmungsgegenstand oder Wahrnehmungsprozess. Zur Wahrnehmung gehört der sensorische Prozess, d. h. die Aufnahme, Umsetzung und Weiterleitung von Reizen, häufig als „Perzeption“ bezeichnet, und der stärker kognitiv- verarbeitende Aspekt, d.h. das Erkennen, Benennen und Einordnen von Objekten in ein Bezugssystem, auch „Apperzeption“ genannt. Es geschieht hier Sinngebung, das Subjekt generiert und verleiht eine Bedeutung. Erkennen heißt, physikalischen Reizen eine Bedeutung, einen – immer tieferen – Sinn geben.“14 Wahrnehmung ist der Prozess, bei dem sich der Mensch durch Informationsaufnahme und - verarbeitung seine Umwelt aneignet. Dabei selektiert das Individuum die Vielzahl der Umweltreize, die auf es einwirken, bzw. auf die es sich einlässt, subjektiv; die Aktivität der wahrnehmenden Person spielt eine große Rolle: „Es ist nicht so, dass Informationen aus der Umwelt dem Wahrnehmenden aufgezwungen werden; wir stellen vielmehr eine aktive Suche nach Informationen fest. Zweifellos gibt es Reize, die bestimmte Eigenschaften (wie besonders hohe Intensität) aufweisen und sich deshalb dem Beobachter ,aufdrängen’, aber in der Regel bestimmen die spezifischen Erfahrungen einer Person, welche Reize aufgenommen werden. Da unser Kontakt zur Umwelt durch die Wahrnehmung hergestellt wird, müssen wir die für uns wichtigen Aspekte der Umwelt aktiv heraussuchen.“15 In unserer Gesellschaft wird der Prozess der Wahrnehmung vornehmlich als ein visuelles Geschehen aufgefasst: „(...) wir leben in einer visuellen Kultur, die auf dem Sehen als vorherrschendem Sinn gründet.“16 Das trifft insbesondere auf die Erfassung architektonischer, städtebaulicher und raumplanerischer Elemente zu.17 Visuelle 14 Bundschuh, Konrad: Einführung in die Sonderpädagogische Diagnostik, UTB, München 1999, S. 235 15 Murch, M.; Woodworth, L.: Wahrnehmung. Stuttgart 1977, S. 21 16 Müller-Doohm, Stefan: Bildinterpretation als struktural-hermeneutische Symbolanalyse, in: Hitzler, R.(Hrsg.): Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Opladen 1997, S. 81 17 Es wäre eine Bereicherung, andere relevante Wahrnehmungskomponenten in die Planung mit einzubeziehen, da sie uns und unsere Bereitschaft, sich in Räumen aufzuhalten, ebenso stark beeinflussen. 119 Wahrnehmung bezeichnet die Fähigkeit, visuelle Reize zu erkennen, zu unterscheiden und sie durch Assoziation zu interpretieren. Die Interpretation der visuellen Reize erfolgt nicht im Auge, sondern ist ein kognitiv-psychischer Vorgang. Abbilder, die auf frühere Erfahrungen zurückzuführen sind, erhöhen die Genauigkeit und Geschwindigkeit der derzeitigen Wahrnehmung. Die grundlegende Fähigkeit des Organismus zur Anpassung, seine Handlungseffektivität, das Gefühl der Sicherheit des Individuums in seiner Umwelt und seine psychische Gesundheit sind maßgeblich von der Intaktheit und störungsfreien Funktion verschiedener Bereiche der visuellen Wahrnehmung beeinflusst. Ungewohnte Wahrnehmungsinhalte rufen wegen ihrer Fremdheit bei vielen Personen zunächst oft Unbehagen hervor. Die Scheu vor dem Unbekannten kann das Individuum nur überwinden, wenn das Fremde der Erfahrung zugänglich gemacht wird. Die Wahrnehmungsleistung kleiner Kinder ist in erheblichem Maße von der Vertrautheit der dargebotenen Objekte18 und der Aufgabenstellung abhängig.19 5.3.1. Figurative und operative Wahrnehmung bei Jean Piaget Für Jean Piaget hat die Wahrnehmung grundsätzlich zwei Komponenten, eine figurative und eine operative. Sie ist aber nur aus dem besonderen Zusammenspiel beider Komponenten überhaupt vorstellbar. Wenn die visuelle Wahrnehmung keine wirkliche Blickbewegung voraussetzt, das heißt die Zentrierung nur auf ein einziges Feld erfolgt, ist sie nur figurativ. „Wenn hingegen Blickbewegungen notwendig sind, der Blick verschoben wird und die Fixierungspunkte wandern, wenn zur Wahrnehmung eine „aktive Erforschung“ (PIAGET) nötig ist, dann ist sie operativ, und der Autor nennt dieses Phänomen Wahrnehmungstätigkeit (activité perceptive). (...) nicht also der figurative, sondern der operative Anteil der Wahrnehmung stellt sich auf den verschiedenen Altersstufen in immer komplexeren und differenzierteren Formen dar. Die operative Komponente entwickelt sich parallel zur Intelligenz, ja die Intelligenz lenkt die Wahrnehmungstätigkeit in bestimmter Weise. (...) Genauer gesagt, entwickelt sich die Wahrnehmungstätigkeit mit dem Alter in der Weise, dass Zentrierungen des Blicks, also die Konzentration der visuellen Aufmerksamkeit auf einen Teilbereich des Wahrnehmungsfeldes, verändert werden können. Zentrierungen, die zur visuellen Entstellung des Objekts führen, werden dann durch andere Zentrierungen ergänzt. So kommt es bei dieser aktiven Erforschung des Wahrnehmungsgegenstandes zu dauernden Korrekturen der Einstellungen des Blicks; von PIAGET wird dieser Vorgang der operativen Veränderung Dezentrierung genannt. Während die Zentrierungen also zu Ein Bahnhof riecht eben anders als eine Blumenwiese oder ein Mischwald. So entstand in London die Idee, die Air-Condition einiger Underground Stationen mit angenehmen Naturdüften anzureichern. 18 Nach der vom Physiologen und Physiker von Helmholtz in der Mitte des 19.Jhd. vertretenen klassischen Wahrnehmungstheorie sind die Wahrnehmungskonstanz wie auch die Tiefenwahrnehmung und die meisten anderen Abbilder auf die Fähigkeit des Menschen, seine vergangenen Erfahrungen kontinuierlich mit den gegenwärtigen Sinnesreizen synthetisch zu verbinden, zurückzuführen. Das Kleinkind erforscht seine Welt und lernt das, was es sieht, nach einem dreidimensionalen Muster zu organisieren, wobei es sich hauptsächlich an der Zentralperspektive orientiert und daran, dass entferntere Objekte durch ein näher gelegenes Objekt verdeckt werden bzw. dass entferntere Objekte weniger scharf wahrgenommen werden. Durch die Integration taktiler und akustischer Informationen erwirbt das heranwachsende Kind in kurzer Zeit eine Fülle von spezifischen Assoziationen, die automatisch vollzogen, den physikalischen Eigenschaften der Objekte entsprechen. 19 vgl. Lockowandt, Oskar: Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung (FEW), Weinheim, 6. Aufl., 1990, S. 7 120 Entstellungen der Wahrnehmung führen, heben die Dezentrierungen diese Entstellungen wieder auf, sie sind im Wahrnehmungsprozess Berichtigungsfaktoren.“20 5.3.2. Zentrierung – und Dezentrierungsvorgänge Zentrierungs- und Dezentrierungsvorgänge finden sowohl im Modell der Figur- Grundwahrnehmung als auch im gestalttheorischen Ansatz Parallelen. Dabei geht es um die Frage der Erforschung von Mustern und Strukturen, die es dem Gehirn ermöglichen, Reizanordnungen zu erkennen, und sie in eine Konstellation zu übertragen, die eine Identifizierung möglich macht. Muster werden dabei in einer ganz bestimmten Art und Weise organisiert „(...) indem nämlich eine Figur-Grund-Unterscheidung hergestellt wird. Voraussetzung dafür ist eine Inhomogenität des Wahrnehmungsfeldes. Welcher Teil davon zur Figur und welcher zum Hintergrund wird, hängt dabei von solchen Merkmalen wie Größe, Form und Position der Teile ab; z.B. wird meist derjenige Teil als Figur wahrgenommen, der regelmäßiger und geschlossener ist. Die Konturen werden als zur Figur gehörig, der Grund als dahinter weiterlaufend wahrgenommen.21 Fehlende Konturen erschweren die Gliederung des Reizfeldes in Figur und Hintergrund.“22 Die Figur-Grund-Differenzierung hat für unsere Wahrnehmung eine besondere Bedeutung, da wir die Gegenstände (Dinge, Zeichen, Symbole) am klarsten erkennen, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richten. Das menschliche Gehirn kann aus der Vielzahl der uns umgebenden Reize nur eine gewisse Anzahl auswählen und auch verarbeiten. Die ausgewählten Reize bilden in unserem Wahrnehmungsfeld die Figur, während die verbleibenden Reize nur ungenau als (Hinter-) Grund wahrgenommen werden. Dinge, Zeichen oder Symbole erhalten ihre Schärfe und Bedeutung durch Selektion (Fokussierung und Konzentration) und durch die In-Beziehung-Setzung zu ihrem weniger genau verbleibenden Hintergrund.23 Für die Erklärung der stets hohen Korrelationen der Wahrnehmungsleistungen24 mit der Intelligenz sind diese theoretischen Erkenntnisse Jean Piagets von besonders hohem Aussagewert.25 20 Lockowandt, Oskar: a.a.O., S. 8 21 Gottschaldt hat die Begriffe der feldabhängigen und der feldunabhängigen Wahrnehmung begründet: „Bei der feldabhängigen Wahrnehmungsweise wird die Wahrnehmung stark von der gesamten Organisation des umgebenden Feldes beherrscht, und die Teile des Feldes werden als diffus erlebt. Bei der feldunabhängigen Wahrnehmungsweise werden die Teile des Feldes als vom gestalteten (organized) Grund unterschieden erlebt.“ Gottschaldt (1926), in: Lockowandt , Oskar: a.a.O., S. 10 22 Flade, A.: Wahrnehmung. In: Asanger, R.; Wenniger, G. (Hrsg.): Handwörterbuch der Psychologie, Weinheim 1994, S. 835 23 Personen mit Defiziten in der Figur-Grund-Wahrnehmung erscheinen oft unkonzentriert und unorganisiert, weil eine Differenzierung der Reize nur eingeschränkt möglich ist. Sie richten ihre Aufmerksamkeit auf viele Dinge gleichzeitig, statt sich zielgerichtet Dingen zuzuwenden. Sie können zuviel erscheinende Reize nur unzureichend abschirmen, so dass sich eine gewisse Reizgebundenheit ergibt. Dies führt insbesondere bei Kindern zu Lernschwierigkeiten, da eine Selektion und Konzentration auf relevante Reize und Details mit Schwierigkeiten verbunden ist. Fehlinterpretationen des Verhaltens (Unwilligkeit und Unordentlichkeit wird oft unterstellt) führen nicht selten zu sekundärer Neurotisierung, Minderwertigkeitsgefühlen und negativem Selbstbild. 24 z.B. im Rahmen der Diagnostik des FEW 25 Untersuchungen haben gezeigt, dass Kinder mit geringeren Intelligenzleistungen nur wenig visuelle Aktivitäten unternehmen. Es kommt regelmäßig zu bestimmten Zentrierungen, die nur selten oder gar nicht korrigiert werden. 121 Im Zusammenhang mit der Figur-Grund-Differenzierung sind auch das Konstanzphänomen26, die Musterwahrnehmung27 und die soziale Wahrnehmung zu berücksichtigen. Letztere bezeichnet zum einen die Wahrnehmung von Personen im Gegensatz zu Dingen, aber auch die soziale Bedingtheit von Wahrnehmung, auf die ich hier kurz eingehen möchte. Wahrnehmung ist sozialen Einflüssen ausgesetzt, die in Einstellungen, Wertsystemen und Bedürfnissen ihren Ausdruck findet und durch die Beeinflussung anderer Personen zustande kommt. Die primäre Sozialisation prägt das Individuum durch unterschiedliche Wertmaßstäbe, (Vor-) Urteile und Verhaltensweisen. Maßgebliche Fähigkeiten zur Umweltaneignung werden also im frühen sozialen Umfeld erworben, welches das Individuum kaum beeinflussen kann. Sozialisation strukturiert die Wahrnehmung vor und erzeugt damit unterschiedliche psychische und gesellschaftliche Startbedingungen. Das Auftreten von Bildern ist entwicklungspsychologisch an den Prozess der Symbolbildung gekoppelt. Dieser steht in Bezug zu den frühen Objekterfahrungen. Über die Natur des Bildes gelangt Jean Piaget zu der These, dass das Bild nicht mehr als eine Verlängerung der Wahrnehmung interpretiert werden soll, sondern eher als Symbol. Diese These stimmt insbesondere mit den Auffassungen von Head über die symbolische Funktion und mit seinen Arbeiten zur Aphasie überein. Head hatte Beziehungen zwischen Sprachstörungen und Störungen der räumlichen Vorstellung aufzeigt, welche einen deutlichen Anteil an bildlicher Vorstellung enthält.28 Untersuchungen in der Kinderpsychologie führten zu zwei Arten von Ergebnissen, die die Psychologie der Bilder betreffen: „(...) indem sie nämlich den späten Charakter der Bilderverwendung und infolgedessen wahrscheinlich auch des Bilderwerbs zeigen, der also mit dem Erwerb der symbolischen Funktion gemäß der gerade erwähnten Hypothese verbunden zu sein scheint; und indem sie andererseits die Bedingungen für die Entstehung der symbolischen Funktion aus der Nachahmung zeigen, die Quelle der Bilder selbst sein könnte. (...) Wenn nun das Auftreten der Bilder in dieser Weise an die Bildung der Symbolfunktion gebunden zu sein scheint, und zwar als Differenzierung der Signifikanten und der Signifikate, die erlaubt, Objekte oder Ereignisse, die gegenwärtig nicht wahrgenommen werden, zu erinnern, dann zweifellos deshalb – wie in demselben Werk dargelegt worden ist -, weil die Nachahmung den Übergang zwischen dem senso- motorischen Bereich und dem repräsentativen Bereich herstellt, und weil das Bild selbst eine interiorisierte Nachahmung darstellt.“29 26 Obwohl sich die Größe des Netzhautbildes eines Objektes bei wechselnden Entfernungen verändert, erscheint dem Individuum der Gegenstand selbst mehr oder weniger gleich groß. Diese Stabilität der Größeneinschätzung wird Konstanzphänomen genannt. In unserer täglichen Umwelt bekommt das Gehirn jedoch zusätzliche Informationen dadurch, dass wir die Objekte in Zusammenhang mit anderen Objekten und einem Hintergrund wahrnehmen. 27 Um den Alltag zu bewältigen, müssen wir aus Bildern, Texten, Zeichen, etc. Informationen lesen. Die Musterwahrnehmung bearbeitet das Problem der Strukturierung, das heißt die Zuordnung von Reizen zu einer Kategorie. 28 vgl.: Piaget, Jean ; Inhelder, Bärbel: Die Entwicklung des inneren Bildes beim Kind. Suhrkamp. 1. Aufl., Frankfurt 1979, S. 14 29 ebenda, S. 14 f.: „Die Entwicklung der Nachahmung würde also sowohl die Differenzierung der Signifikanten und der Signifikate, also die Bildung der Symbolfunktion, als auch das Entstehen des Bildes als verschobene und interiorisierte Nachahmung bewirken.“ 122 5.3.3. Wahrnehmung, Entwicklung und soziale Schichtung Die psychologische Diagnostik mit dem von Marianne Frostig konzipierten Entwicklungstest (FEW)30 zeigt Korrelationen zwischen Wahrnehmung, Entwicklung und sozialer Schichtung. Die Ergebnisse fasse ich mit Bezug auf Oskar Lockowandt zusammen: • Die schichtentypische Ausprägung der visuellen Wahrnehmung wurde von GILL u.a. (1968)31 mit dem FEW nachgewiesen. Zwischen den Teilnehmern aus zwei Schichten wurden hochsignifikante Differenzen in den Wahrnehmungsleistungen festgestellt. • VALTIN (1972) fand heraus, dass die visuelle Wahrnehmung der Unterschicht-Kinder (gegenüber Mittelschicht-Kindern) aufgrund mangelnden regelmäßigen Trainings und fehlender systematischer Anregung retardiert.32 • OTTO (1971) hat nachgewiesen, dass der Zusammenhang zwischen dem FEW-Test und dem Sozialstatus nicht allein durch Intelligenzunterschiede erklärt werden kann. Er untersuchte u.a. die Abhängigkeit des FEW von bestimmten Milieumerkmalen, die mit Hilfe eines Elternfragebogens erhoben wurden. Zugunsten der Kinder mit Testergebnissen im oberen Quartil des FROSTIG -Tests wurden folgende signifikante Unterschiede festgestellt: Höherer Sozialstatus, höhere Schulbildung von Vater und Mutter, geringere Geschwisterzahl, mehr Wohnräume pro Person, höhere Erwartung der Eltern in Bezug auf den Schulabschluss des Kindes, häufigere Nennung von Malen und Zeichnen als Lieblingsbeschäftigung des Kindes im Vorschulalter.33 • Die unterschiedlichen Sozialisationsformen in beiden Schichten sind demnach wichtige Determinanten für die Entwicklung der visuellen Wahrnehmung. Die Schichtenspezifität der visuellen Wahrnehmung ist mit dem FEW auch von O’CONNOR (1969) nachgewiesen worden.34 In seiner Arbeit erwies sich die Leistungsfähigkeit der visuellen Wahrnehmung bei Mittelschicht-Kindern als überlegen. Schließlich ermittelte ROSEN (1965) zwar geringe, aber signifikante Zusammenhänge zwischen dem sozio- ökonomischen Status und der Leistung im FEW. • Es zeigt sich also durchgehend, dass die Wahrnehmungsleistung im FEW stark schichtenabhängig ist. Dieser generelle Befund stimmt mit Ergebnissen aus Untersuchungen überein, die schichtenspezifische Wahrnehmungsdiskrimina- tionsleistungen auch mit anderen Methoden der Wahrnehmungsdiagnose ermittelten (COVINGTON, 1967; KUNZ und MOYER,1969; NICKEL, 1969).35 30 Der Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung (FEW) untersucht in mehreren Subtests fünf Bestandteile der visuellen Wahrnehmung: die Visuo-motorische Koordination, die Figur-Grund Unterscheidung, die Formkonstanz Beachtung, das Erkennen der Lage im Raum und das Erfassen räumlicher Beziehungen. Frostig, Marianne: Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung FEW; Beltz, Göttingen, 1963 31 Gill, N. T., Herdtner, Th. J., and Lough, L.: Perceptual and socio-economic variables, instruction in body- orientation, and predicted academic success in young children. 1968, 26, S. 1175-1184 32 Valtin, R.: Untersuchungen mit dem visuellen Wahrnehmungstest von M. Frostig. Zur Prognose der Leseleistung am Ende des ersten Schuljahres. In: Valtin, R., Empirische Untersuchungen zur Legasthenie. Hannover, 1972: Die Kinder der Unterschicht haben in allen Subtests des Frostigs Entwicklungstests (FEW) niedrigere Ergebnisse erzielt. Ebenso zeigte sich, dass sowohl die Gesamtergebnisse des FEW-Tests als auch die ermittelten Intelligenzquotienten signifikante Unterschiede aufwiesen. 33 Valtin, R.: a.a.O., S. 119, zit. nach Otto (1971) 34 O’ Connor, W. S.: The relationship between the Bender-Gestalt Test and the Marianne Frostig Developmental Test of Visual Perception. In: Spache, G. D.: Reading disability and perception. Newark, Delaware, 1969 35 vgl.: Lockowandt, Oskar: a.a.O., S. 39 ff. 123 Um die Wahrnehmungsphänomene des Menschen eingehender zu ergründen, bedarf es noch erheblicher Forschung. Da diese überwiegend von subjektiven und introspektiven Darlegungen abhängt, ist es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, aus diesen Untersuchungsberichten wissenschaftlich haltbare, d.h., im klassischen Sinne verobjektivierbare Ergebnisse zu erhalten. Die Gestaltung unserer Lebenswelt kann die theoretischen Wahrnehmungsabläufe z.B. dadurch begünstigen, dass sie die Konzentration auf Figuren fördert, die im allgemeinen Raum (Hintergrund) eine sinnvolle Orientierung bieten. Das Extrem der Monotonie, welches Akzentuierungen vernachlässigt und eine große Anzahl an Reizen gleichwertig erscheinen lässt, verhindert die Konzentration auf wesentliche Punkte. Die Gestaltung des Raumes sollte den subjektiven Wahrnehmungstätigkeiten und -fähigkeiten der Individuen gerecht werden. 5.3.4. Bewusste und unbewusste Einflussgrößen Erfahrungen von Wahrnehmungen verschiedenster Sinneseindrücke werden mit den dazugehörigen Bedeutungen abgespeichert. Derartige Prägungen, die unser Handeln und unsere Einstellungen beeinflussen, sind uns kaum bewusst, sondern sie werden im Unbewussten abgespeichert. Daher sind sie uns nicht sofort zugänglich, vermögen aber unser Verhalten richtungsgebend zu steuern und zu beeinflussen36. So berichtet eine Frau, die jahrelang erfolgreich für das Lehramt studiert hatte, von einem entscheidenden Ereignis, das die oben beschriebenen unbewussten Einflüsse veranschaulicht. Als sie nach abgeschlossener Ausbildung den Schuldienst beginnen wollte und zum ersten Mal wieder einen Klassenraum betrat, nahm sie Gerüche von Bohnerwachs, ledernen Schulranzen, alten Möbeln, etc. wahr, die in ihr Erinnerungen an die Klassenräume der eigenen Kindheit wachriefen. Diese Schulerfahrungen waren offenbar so belastend, dass sie ihre Laufbahn als Lehrerin unverzüglich beendete. Sie war überzeugt, diesen Ort und seine Gerüche nicht ertragen zu können. Die in das Unbewusste verdrängten Wahrnehmungen und Erlebnisse hatten den Raum Schule mit negativen Konnotationen belegt. Er bildete auf symbolischer Ebene seelische Konflikte der kindlichen Sozialisation ab. 5.4. Das Phänomenologische Modell „Ob überhaupt wahrgenommen wird und wie es wahrgenommen wird, hängt (...) nicht von der Intensität der Empfindungsreize ab, sondern vielmehr von der lebensgeschichtlich bedingten Wahrnehmung, von der Bedeutung, die das Wahrgenommene für den Wahrnehmenden hat. Ebensowenig, wie das Geschehnis einen bestimmten Sinn zur Entnahme auferlegt, kann von einer „Sinnhineinlegung“ gesprochen werden. „Der Sinn ist 36 In zahlreichen Untersuchungen bestätigte sich die Beeinflussbarkeit der Wahrnehmung durch die unbewusste Verarbeitung des Informationsgehaltes selektiver Reize. Den Ausgangspunkt bildeten Beobachtungen eines Werbeteams, das nach unterschwelliger Einblendung von Begriffen wie z. B. Popcorn in einen neutralen Film einen gewaltigen Anstieg der Nachfrage registrierte, wobei die Filmzuschauer nicht zu wissen schienen, worauf ihr Appetit zurückging. In experimentellen Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass es so etwas wie eine vorbewusste Einschätzung, insbesondere der emotionalen Qualität von Reizen oder Umgebungshinweisen, gibt. 124 aber auch nicht etwas zwischen den beiden Polen, vielmehr bedeutet Sinn immer eine Verstehens- und Auslegungsweise von Welt „von Seiten“ einer Individualität; wobei wiederum zu bemerken ist, dass auch Individualität und Welt durchaus keine „absoluten“, sondern dialektische Gegensätze bedeuten, gemäß dem lapidaren Satz Hegels: Die Individualität ist, was ihre Welt als die Ihre ist.“ (Binzwanger 1955: 157)“.37 Die Phänomenologie38 beschreibt Strukturen von Erfahrungen, wie sie sich dem Bewusststein darstellen. Der Philosoph Edmund Husserl39 wird als Begründer dieser philosophischen Bewegung gesehen, die Theorien zur Wahrnehmung von Objekten oder Bildern entwickelte. Für die Phänomenologie ist nach Aron Gurwitsch40 der Begriff der Wahrnehmungsabschattung von zentraler Bedeutung und bildet den Ausgangspunkt für die Erörterung wahrnehmungsphänomenologischer Fragen: 5.4.1. Wahrnehmungsabschattung und persönliche Standpunkte „Die Lehre von der Wahrnehmungsabschattung gründet sich auf die offensichtliche Tatsache, dass eine jede Wahrnehmung eines Dinges von einem ganz bestimmten Standpunkt aus und unter gewissen Umständen und Bedingungen erfolgt. Das wahrgenommene Ding ist von dieser oder jener Seite her gesehen, es erscheint unter dem Aspekt, der dem vom wahrnehmenden Subjekt gerade eingenommenen Standpunkt entspricht. Ferner bietet das Ding sich dar in einer gewissen Orientierung relativ zum Beobachter und zu seinem Standpunkt als nah oder fern, als im Zentrum des Gesichtsfelds oder mehr an dessen Peripherie und so weiter. Schließlich ist die Erscheinungsweise des wahrgenommenen Dinges eine andere, je nachdem, ob es bei hellem Tageslicht oder in der Abenddämmerung, bei Nebel oder dgl. gesehen wird. Das Gesagte beschränkt sich keineswegs auf visuelle Wahrnehmung allein. Auch der lang angehaltene Ton eines Sängers oder der Ton, der aus dem Radio kommt, klingt anders, je nachdem wir uns im gleichen Raum wie die Tonquelle befinden oder aus dem Nebenzimmer durch eine verschlossene Tür zuhören. Dabei ist die für unseren Zweck wesentliche und prinzipiell wenigstens erlaubte Annahme gemacht, dass während der ganzen Zeit keine objektive Veränderung des Tones stattfindet: Es ist derselbe Ton, der die ganze Zeit erklingt, nur hört er – derselbe – sich je nach den Umständen verschieden an. 37 Rosenthal, Gabriele: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte: Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt / Main; New York: Campus Verlag 1995, S. 48 38 Der Begründer der Phänomenologie (griech. aus Phänomen und Logos; die Lehre von den Erscheinungen), der Philosoph Edmund Husserl, führte den Begriff der Phänomenologie 1913 in seinem Buch „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie“ ein. Husserl definierte die Phänomenologie als die Erforschung derjenigen Strukturen, welche es dem Bewusstsein erlauben, sich auf Objekte außerhalb seiner selbst zu beziehen. Husserl untersuchte verschiedene Aspekte des menschlichen Geistes, darunter die Erinnerung, das Wünschen und die Wahrnehmung. Dabei entdeckte er, dass diesen Tätigkeiten jeweils abstrakte Inhalte entsprechen, die Husserl die sogenannten Bedeutungen nannte. Diese ermöglichen es nach seiner Auffassung, einen Akt unter einem ganz bestimmten Gesichtspunkt auf einen Gegenstand zu beziehen. Für diesen Sachverhalt prägte Husserl den Begriff der Intentionalität, den er als Schlüssel zur Bewusstseinsstruktur annahm. 39 Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Halle (Saale), 1913 40 Aron Gurwitsch definierte die Phänomenologie folgendermaßen: „Die Phänomenologie kann also definiert werden als eine systematische Studie und Theorie der Subjektivität mit dem Ziel einer Aufklärung des Sinnes von Objektivität, und dies in Bezug auf Gegenstände aller möglichen Kategorien. Eine solche Aufklärung wird mit Hilfe einer Deskriptiven Analyse der Erscheinungsweisen von Gegenständen versucht.“ Gurwitsch, Aron: Das Bewusstseinsfeld, Berlin / New York, Walter de Gruyter, 1975, S. 4 125 Mit dem Vorherstehenden ist auf die Einseitigkeit jeder einzelnen Wahrnehmung hingewiesen, die darin besteht, dass in ihr das wahrgenommene Ding sich in einer ganz bestimmten Abschattung, Erscheinungs- und Darstellungsweise präsentiert – in einer unter vielen möglichen.“41 Die phänomenologische Sicht verdeutlicht ebenso wie die bereits besprochenen Modelle der Wahrnehmungspsychologie, dass Wahrnehmung etwas Subjektives, Individuelles darstellt. „Einseitigkeit“ gehört wesentlich und notwendigerweise zu jeder einzelnen Wahrnehmung eines Raumdinges oder eines stattfinden Ereignisses dazu.42 „Die Vorstellung, dass eine Wahrnehmung auf keinen Standpunkt bezogen wäre, dass in ihr das wahrgenommene Ding sich in keiner perspektivischen Abschattung darstellte oder in allen möglichen Abschattungen zugleich, sogar auch nur in einer Mehrheit möglicher Abschattungen mit einem Male – die Vorstellung einer solchen Einzelwahrnehmung ist unvollziehbar und stellt sich damit als absurd heraus. (...) Die Einseitigkeit der Einzelwahrnehmung ist also nicht von außen her an ihr festgestellt, sondern gehört zu ihrem phänomenalen Bestande.43 Wenn die Wahrnehmung in sich selbst als einseitig erlebt wird, so drückt sich das darin aus und kann sich nur darin ausdrücken, dass das wahrgenommene Ding unter einem bestimmten Aspekt erscheint, sich dabei aber als ein solches darstellt, das auch unter anderen Aspekten wahrgenommen werden kann. Dies wiederum besagt, dass in der in Betracht gezogenen Wahrnehmung und als zu ihrem phänomenalen Bestand gehörig Verweisungen auf weitere Wahrnehmungen beschlossen sind, in denen das wahrgenommene Ding unter den verschiedenen für es möglichen Aspekten erscheint.“44 Jede Wahrnehmung (eines Raumes, Bildes, Objektes oder anderer Phänomene) ist auf einen Standpunkt bezogen, welcher in Folge dessen damit immer einzigartig ist und von keinem anderen Individuum eingenommen werden kann. Wir nehmen das Objekt wahr aus der Perspektive, wie sie sich uns gerade in diesem Augenblick darbietet, und wir besitzen gleichzeitig auch die Fähigkeit, von einer Detail- oder Teilansicht eines Objektes auf das Ganze zu schließen. Der Grundsatz der Einzigartigkeit beeinträchtigt nicht die Möglichkeit, über die Bedeutung eines Objektes einen Konsens mit Anderen herstellen zu können. Er drückt lediglich aus, dass wir ein- und dasselbe Objekt unter verschiedenen Gesichtspunkten wahrnehmen und bewerten. Die Subjektivität der Objektwahrnehmung ergibt sich aus der Selektionsnotwendigkeit: Wir können nicht alle Aspekte gleichzeitig wahrnehmen und verarbeiten, sondern wir müssen uns auf bestimmte Aspekte konzentrieren. „Ist die Einseitigkeit jeder Einzelwahrnehmung eine eidetische Notwendigkeit, so gilt dies auch von dem Phänomen der Verweisung, in dem jene Einseitigkeit ihre phänomenale Bekundung findet. Von der soeben skizzierten Einseitigkeit einer jeden Einzelwahrnehmung her bestimmt sich der Sinn ihrer Inadäquatheit. Die Inadäquatheit betrifft die Wahrnehmung 41 Gurwitsch, Aron: Beitrag zur phänomenologischen Theorie der Wahrnehmung in: Zeitschrift für philosophische Forschung Nr. 13, 1959, S. 419 42 vgl.: Husserl, E..(1913): a.a.O., S. 10 und 315 43 Gurwitsch, Aron (1959): a.a.O., S. 420. mit Bezug auf: Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie Ι § 77f. 44 ebenda, S. 420 f. 126 in ihrer präsentativen Funktion, das heißt als Erfassung ihres Gegenstandes. (...) Wenn jede Wahrnehmung Verweisungen auf weitere Wahrnehmungen enthält, in denen das wahrgenommene Ding sich unter immer anderen Aspekten darstellt, so ist das nicht im Sinne einer vollen Bestimmtheit dieser Aspekte zu verstehen. Selbst wenn es sich um ein völlig vertrautes Ding handelt, wird es kaum gelingen, in allen Hinsichten voll bestimmte Bilder anderer Aspekte wachzurufen unter denen das Ding erscheinen kann.“45 Das Individuum sieht ein Objekt durch die visuelle Aufnahme eines Teilaspektes. Aufgrund seiner Wahrnehmungsfähigkeiten, die neue Erscheinungen mit bestehenden Erfahrungen und Erinnerungen verknüpfen, vermag es sich andere Teile dieses Objektes vorzustellen. Der sichtbare Teilaspekt verweist auf weitere Bestandteile, auf das Objekt als Ganzes, und veranschaulicht uns, dass wir von bestimmten Dingen oft nur eine einseitige Sichtweise in uns tragen. Vertraute Objekte vermögen wir einfacher zu identifizieren als Objekte, denen wir neu begegnen. Genauso wie wir von unserem aktuellen subjektiven Standpunkt aus immer nur einen Teilaspekt eines Gesamten betrachten können, so haben wir auch nur eine subjektive Vorstellung vom Ganzen des Objektes. Wir assoziieren seine Bestandteile aufgrund unserer individuellen Vorerfahrungen. Objekte erhalten für uns Bedeutungen, die über die physische und sinnliche Wahrnehmung hinausgehen. Auch im Phänomenologischen Modell umfasst Wahrnehmung mehr als die direkte Sinneswahrnehmung des Sehens, Hörens, Tastens, etc. Dies bildet lediglich den „Innenhorizont“: „Das in der Wahrnehmung „Vermeinte“ ist „in jedem Moment mehr (...), als was im jeweiligen Moment als explizit Gemeintes vorliegt“, ein „Über- sich-hinaus-meinen“.“46 5.4.2. Die phänomenologische Sicht am Beispiel des Hauses „Betrachtet man ein Ding, z. B. ein Haus, so nimmt man es wahr, wie es sich von dem Beobachtungspunkt darbietet, an dem man sich gerade befindet. Es erscheint als nahe oder entfernt, wobei Nähe und Ferne in Bezug auf den Standort des wahrnehmenden Subjekts zu verstehen sind. Der Beobachter kann es direkt vor sich haben oder es von oben, von der Seite usw. wahrnehmen. Das Haus kann im hellen Sonnenschein, im Zwielicht der Dämmerung oder im Nebel gesehen werden. In jeder einzelnen Wahrnehmung zeigt sich das wahrgenommene Ding von einer bestimmten Seite oder unter einem bestimmten Aspekt, das heißt in einer einseitigen Darstellung. Sie zeigt ihren Gegenstand durch Abschattung47 hindurch. Um zu einer vollständigeren Erfahrung eines Wahrnehmungsdinges zu gelangen, muss man über die einzelne Wahrnehmung hinausgehen und versuchen, weitere Wahrnehmungen dieses Dinges zu erhalten. Das wahrnehmende Subjekt kann sich ihm nähern oder sich von ihm entfernen, um es herumgehen oder es drehen, sich für das Eine oder Andere seiner Attribute interessieren, es in seinen Einzelheiten betrachten, es unter den verschiedensten Bedingungen beobachten usw. So ergibt sich eine Vielheit von Wahrnehmungen, die kontinuierlich ineinander übergehen. Wie verschieden sie auch sein mögen, so werden sie gleichwohl als Wahrnehmungen desselben Dinges erlebt, welches sich als Identisches bald 45 Gurwitsch, Aron: 1959, a.a.O., S. 421 46 ebenda, S. 423; zit. nach: Husserl, E.: Cartesianische Meditationen; Husserliana I, S. 84 47 vgl. Husserl, E. (1913): a.a.O., §§ 41 – 42, und Cartesianische Meditationen, § 17 127 von der einen, bald von der anderen Seite zeigt, unter den verschiedensten Aspekten erscheint, sich in verschiedenen Orientierungen darbietet, nacheinander seine Eigenschaften und Attribute entfaltet, sein Verhalten unter wechselnden Bedingungen enthüllt usw. Das wahrgenommene Ding selbst erschöpft sich also in keiner seiner Erscheinungen oder einzelnen Wahrnehmungsdarstellungen. Man findet hier den bereits erwähnten Unterschied zwischen dem wahrgenommenen Ding selbst und einem einzelnen auf es bezogenen Wahrnehmungsnoema wieder. Die Behauptung, dass jede Einzelwahrnehmung eine einseitige und deshalb unvollständige Erscheinung des wahrgenommenen Dinges liefert, meint, dass jede Einzelwahrnehmung als eine einseitige Darstellung erlebt wird. Das unter einem bestimmten Aspekt wahrgenommene Ding gibt sich in der Einzelwahrnehmung selbst zusätzlich als unter anderen Aspekten, in anderen Orientierungen, mit anderen Eigenschaften möglicherweise wahrnehmbar. So verweist jede Wahrnehmung auf weitere Wahrnehmungen, oder genauer auf ein ganzes System von Wahrnehmungen desselben Dinges. In diesem kommt der anfänglichen Wahrnehmung ein bestimmter Platz zu. In diesen erlebten Verweisungen bekundet sich phänomenal die für jede Einzelwahrnehmung wesentliche Beschränktheit und Einseitigkeit.“48 Objekte betrachtet das Individuum von seinem subjektiven Standpunkt und vermag dabei immer nur Teilaspekte dessen zu sehen. Solche Einzelwahrnehmungen empfinden wir aber als unzulänglich.49 Ein vollständigeres Bild erhalten wir, indem wir verschiedene Standpunkte einnehmen. Durch Erlebnisse und Erfahrung addieren sich Wahrnehmungen zu differenzierten Vorstellungen und Abbildern, Objekte und ihre Aspekte nehmen wir immer in Zusammenhängen und nicht isoliert wahr. Dieses Phänomen bezeichnet die Wahrnehmungspsychologie als Figur-Grund-Wahrnehmung. Wenn wir ein Haus interessiert anschauen, so betrachten wir es aus verschiedenen Blickrichtungen. Im Laufe dieser Wahrnehmungserfahrung bietet sich eine Vielheit von Erscheinungsweisen dar, die als Darstellungen ein und desselben Objektes Haus bewusst erlebt werden. Wir nehmen aber auch gleichzeitig die Umgebung des Hauses bewusst wahr. Wir stellen fest, dass die Erscheinungsweisen des Hauses anders in Bezug stehen als die Erscheinungsweisen der Umgebung, obwohl alle diese Gegebenheiten simultan erfahren werden. 5.4.3. Das Bewusstseinsfeld Aron Gurwitsch entwickelte zur Beschreibung dieses Sachverhaltes den Begriff des Bewusstseinsfeldes und definierte es als die Gesamtheit der kopräsenten Gegebenheiten. Das Bewusstseinsfeld besteht aus drei Strukturelementen (Operationstypen): Thema, thematisches Feld und Rand.50 48 Gurwitsch, Aron: Das Bewusstseinsfeld, Berlin 1975, S. 167 f. 49 ebenda, S. 168 f.: „Im Gegenteil, das Wahrnehmungsding kann Kraft einer eidetischen Notwendigkeit nur durch eine Vielheit von Abschattungserscheinungen oder Wahrnehmungsnoemen erfasst werden; auch muss es in jeder Einzelwahrnehmung als einseitige Abschattung erscheinen. (...) Das wirklich Wahrgenommene muss als ein bloßes Beispiel eines wahrnehmbaren Dinges genommen werden, und zwar als ein Beispiel unter anderen, welche alle die Möglichkeiten der Wahrnehmung veranschaulichen.“ 50 ebenda, S. 3 f.: „Wir werden die These aufstellen, dass jedes Gesamt-Bewusstseinsfeld aus drei Bereichen besteht, von denen ein jeder einem spezifischen Operationstyp gehorcht. Diese Bereiche sind: 1.) das Thema, d. h. das, worauf wir uns in einem gegebenen Augenblick konzentrieren, womit wir uns beschäftigen, 128 Wenn jede Wahrnehmung auf ein ganzes System von Wahrnehmungen desselben Dinges verweist, so kann dieses Ding auch zu einem Beispiel werden für einen bestimmten Objekttyp oder eine Kategorie. Ein Haus verweist beispielhaft auf die abstrakte Kategorie Haus, das Haus erfährt dann einen abstrakt-symbolischen Charakter. Es verbleiben jedoch die subjektiven Konnotationen des Individuums, welche es persönlich mit dem Haus verbindet. Die Modalitäten der Darbietung der Dingwelt hat auch G. Rosenthal untersucht: „Verwirft man die Annahme von der Konstanz des Wahrzunehmenden und damit die Konzeption von „objektiven“ Stimuli, die bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts anhand einer Fülle empirischer Untersuchungen im Bereich der Wahrnehmung von den Gestalttheoretikern Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka überzeugend in Frage gestellt wurde, bewegt man sich nicht mehr in der Welt der Dinge, sondern in der Welt des Noematischen. Anstatt sich an den „konstanten“ und nicht erfassbaren Dingen zu orientieren, orientiert man sich dann an dem, was erfasst werden kann, dem Erlebten: „Die Gegenstände im normalen Wortsinn entfallen, und übrig bleiben lediglich Noemen; die Welt, wie sie wirklich ist, ist ausgeschaltet, es verbleibt die Welt wie sie jeweils aussieht“ (Gurwitsch 1929: 297).“51 Das von dem Philosophen Edmund Husserl entworfene philosophische Modell der „Einklammerung des Seinsglaubens“ bedeutet, dass wir die Dinge so nehmen müssen, wie sie sich dem Bewusstsein darbieten. Demnach bleibt eine Suche nach den Dingen, wie sie wirklich sind, erfolglos, da jeder Gegenstand nur als ein Gegenstand für das Bewusstsein aufgefasst werden kann. Es gibt keine allgemein gültige generelle Wirklichkeit, sondern diese Wirklichkeit wird subjektiv vom individuellen Bewusstsein erfahren oder hergestellt. Das sich dem Bewusstsein Darbietende – ob nun in der unmittelbaren Wahrnehmung, in der Erinnerung oder der Vorstellung – wird Noema genannt: „Die Wahrnehmung zum Beispiel hat ihr Noema zuunterst ihren Wahrnehmungssinn, d.h. das Wahrgenommene als solches. Ebenso hat die jeweilige Erinnerung ihr Erinnertes als solches eben als das ihre ... Überall ist das noematische Korrelat ... genauso zu nehmen, wie es im Erlebnis der Wahrnehmung des Urteils, des Gefallens usw. >immanent< liegt, d.h. wie es, wenn wir rein dieses Erlebnis selbst befragen, uns von ihm dargeboten wird.«.“52 Das Noema ist ein zentraler Begriff in der Theorie der Intentionalität. „Unter dem Noema versteht Husserl nicht den Gegenstand schlechthin, wie er tatsächlich an sich selber ist, sondern den Gegenstand im Wie seines Vermeintseins, den Gegenstand so – genau so, aber auch nur so – wie er in dem in Rede stehenden Akt des Bewusstseins sich darstellt, wie er in diesem Akt aufgefasst und intendiert ist, den Gegenstand in genau der Perspektive, oder – wie man es oft ausdrückt – was sich im „Brennpunkt der Aufmerksamkeit“ befindet; 2.) das thematische Feld, definiert als die Gesamtheit der mit dem Thema kopräsenten Gegebenheiten, die als sachlich zusammenhängend erfahren werden und den Hintergrund oder Horizont bilden, von dem sich das Thema als Zentrum abhebt; 3.) die Gegebenheiten, die, obwohl kopräsent, keinen sachlichen Bezug auf das Thema haben und in ihrer Gesamtheit dasjenige bilden, was wir den Rand nennen wollen.“ 51 Rosenthal, Gabriele: a.a.O., S. 27 52 ebenda, S. 28, mit Bezug auf: Husserl, Edmund: Ideen. § 182 129 Orientierung, Beleuchtung, und Rolle, in der er sich darbietet.“53 Die Art und Weise wie wir uns diesem Noema zuwenden, den Akt der Zuwendung zum Noema, bezeichnete er als Noesis. Diese hängt nicht vom Gegenstand, wie er sich uns stofflich darbietet ab, sondern vom Noema, das heißt davon, wie er sich dem Wahrnehmenden oder auch dem Erinnernden darbietet. Edmund Husserls Theorie lässt sich am weiter oben ausgeführten Beispiel der Wahrnehmung eines Hauses54 noch einmal verdeutlichen: Wenn wir vor einem Haus stehen, so sehen wir immer nur einen Teil oder eine Seite dieses Objektes in unserer unmittelbaren Wahrnehmung. Wir sehen vielleicht zuerst die Fassade und nehmen sie als Teil des Ganzen „Haus“ wahr. Wenn wir nun um das Haus herumgehen, die hintere Seite des Hauses betrachten, so ist die Betrachtung der Vorderseite bereits Vergangenheit und damit durch das Gedächtnis nur noch in der Erinnerung verfügbar. Dieses Phänomen gilt natürlich für alle übrigen Teile, das heißt, wenn wir uns z. B. im Haus befinden, können wir das Äußere nicht mehr wahrnehmen. Das Ding oder Objekt Haus ist also nie in seiner Gesamtheit wahrnehmbar. Trotzdem sind wir in der Lage von seinen Einzelheiten durch einen Bewusstseinsakt auf die Ganzheit „Haus“ zu schließen: „Die unmittelbare Wahrnehmung des Hauses als Ganzes ist also prinzipiell nie möglich. Dennoch bedarf die Wahrnehmung eines Teils wie der Fassade immer eines Vorentwurfs auf das Ganze, um es überhaupt als Haus wahrzunehmen. Das Haus als Ganzes kann also in der Wahrnehmung nur als konstruktiver Akt des Bewusstseins gegeben sein. Folglich können wir die Dinge nie so sehen wie sie wirklich sind. Das von uns Wahrgenommene erscheint nur als Fassade oder Rückseite eines Hauses, da es im Lichte dessen steht, was wir nicht sehen.“55 Bei jeder Wahrnehmungserfahrung sind also immer Aspekte mit anwesend, die wir nicht sehen, aber aufgrund unserer Erfahrungen ahnen können. Aufgrund unserer Erfahrungen werden z. B. die anderen Seiten des Hauses sinnbestimmend antizipiert. Die Vorderseite verweist auf andere Seiten und Inhalte, so dass wir hypothetisch auf das Ganze schließen. „Jedes Noema verweist damit notwendigerweise immer auf andere Noemen desselben noematischen Systems. Die sich darbietende Fassade ist ein Teil des gesamten noematischen Systems oder – in der Terminologie Gurwitsch’s – des Themas: Haus. Nur in diesem Verhältnis zwischen Teil und Ganzem, zwischen Noema und noematischem System präzisiert sich das Verhältnis von Noema und Gegenstand.“56 5.5. Gestalttheoretische Aspekte der Umweltwahrnehmung In der Phänomenologie bezeichnet der „intentionale Akt“, dass unsere Intention auf etwas Spezielles gerichtet ist, das aus einem diffusen Hintergrund herausgelöst wird. Etwas, das sich aus seiner Umgebung deutlich abhebt, erhält unsere besondere Aufmerksamkeit und 53 Gurwitsch, Aron (1959): a.a.O., S. 426 54 Gurwitsch verdeutlicht die Theorien am Beispiel des Hauses, in: Gurwitsch, Aron (1959): a.a.O., S. 421 und Gurwitsch, Aron (1975): a.a.O., S. 4 und S. 167 55 Rosenthal, Gabriele: a.a.O., S. 28 56 ebenda, S. 28f. 130 wird für uns handlungsleitend. „Das Erfassen ist ein Herausfassen, jedes Wahrgenommene hat einen Erfahrungshintergrund.“57 Phänomenologische Wahrnehmungsbegriffe lassen sich mit gestalttheoretischen Vorstellungen sinnvoll verbinden, dabei ergeben sich analoge Beziehungen. Noema und noematisches System, Gestalt und Hintergrund, Figur und Kontext, Thema und thematisches Feld beschreiben kongruente Phänomene. Diese Termini befassen sich mit dem Zusammenspiel und den wechselseitigen Beziehungen zwischen einem Ganzen und seinen Einzelteilen (einer Wahrnehmung, eines Bildes, einer Stadtsilhouette, etc.). Die Gestalttheorie betrachtet Wahrnehmungen, Dinge und den Organismus unter ganzheitlichen Aspekten und nicht als Analyse einzelner Empfindungen. Die eigentliche Wahrnehmungseinheit ist die Gestalt: eine geistig-seelische Struktur, deren Eigenschaften von der entsprechenden Struktur von kognitiven Verarbeitungsvor-gängen im Gehirn bestimmt werden. Das Zusammenwirken von Gestalt und Kontext, Figur und Grund beeinflusst die Wahrnehmung. Wesen und Funktion der einzelnen Elemente bestimmt wesentlich die Ganzheit, zu der sie in Bezug gesetzt werden, mit. Da das Ganze mehr Bedeutungen hat, als die Summe der einzelnen Elemente, kann durch eine Addition einzelner Teilelemente keine hinreichende Aussage über die Ganzheit getroffen werden.58 Ebenso wie die Ganzheit ist die Gestalt durch die umfassendere Gestaltqualität der »Obersummativität«, das heißt, die über die quantitative Zusammensetzung der in ihr umschlossenen Teile hinausgehende, qualitativ neue Einheit, charakterisiert.59 Die Gestaltpsychologie ist eine von M. Wertheimer begründete psychologische Richtung, die den Begriff der Gestalt in der Psychologie zum allgemeinen Prinzip erhob und im Bereich der Wahrnehmung, später auch in der Persönlichkeits- und Sozialpsychologie anwandte.60 Der Psychoanalytiker Fritz Perls61 (Frederick S. Pearls) entwickelte hieraus eine ganzheitliche Psychotherapie, die auf die Wiederherstellung der gestörten Selbstregulierung physiologischer und psychologischer Vorgänge zielt.62 57 Husserl, Edmund: Ideen. a.a.O., S. 71 58 Gestaltpsychologische Experimente haben gezeigt, dass der Sinneseindruck einer Gestalt z. B. nicht davon abhängt, dass einzelne Elemente wahrgenommen werden. Sowohl aus einer Figur vier roter Linien als auch aus einer Figur vier schwarzer Punkte kann sich eine quadratische Gestalt bilden. 59 Zur Erklärung für das Zustandekommen von Gestalt aus bestimmten Elementen kennen die Gestaltgesetze eine Reihe von Gestaltfaktoren (z. B. Nähe, Ähnlichkeit, Stabilität, gute Form). In der Gestaltpsychologie wird der Begriff Gestalt auch auf Handlungen, Gedächtnisinhalte und Denkvorgänge angewandt. 60 Die um 1912 entwickelten Ansätze waren zunächst als eine Protestbewegung gegen eine zergliedernde Elementenpsychologie und die Assoziationspsychologie gerichtet. Die bedeutendsten Vertreter der Gestaltpsychologie waren W. Köhler, K. Koffka, K. Lewin (Berliner Schule), fortgeführt wurde sie u.a. durch W. Metzger. 61 Perls, F. S.: Gestalt-Therapie in Aktion. Klett, Stuttgart,1974. Perls, F. S.: Grundlagen der Gestalttherapie. Pfeiffer, München, 1976. Perls, F. S., Hefferline, R. F., Goodman, P.: Gestalt-Therapie. Klett.-Kotta, 4. Aufl. Stuttgart, 1987 62 Eine wesentliche Basis war dabei die Gestaltpsychologie: Gestaltpsychotherapie orientiert sich an ähnlichen Richtlinien wie der gestaltpsychologische Ansatz, der sich mit der Wahrnehmung beschäftigt. Menschliche Wesen reagieren holistisch, d. h. ganzheitlich auf Erfahrungen. Nach der Ansicht von Gestalttherapeuten ist jede Trennung von Geist und Körper künstlich hervorgerufen. Die richtige Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse und der Umwelt ist lebenswichtig, damit das Erlebte im Einklang mit dem inneren Gleichgewicht verarbeitet und ein sogenanntes gutes Gestalten erreicht werden kann. Eine Entwicklung, die sich von dieser bewussten Wahrnehmung entfernt, stört die holistische Reaktion oder Gestalt. Gestalttherapeuten versuchen, das natürliche, harmonische Gleichgewicht eines Individuums wieder herzustellen, indem sie die bewusste Wahrnehmung fördern. Der Schwerpunkt liegt dabei nicht wie in der Psychoanalyse auf frühen oder frühesten Kindheitserinnerungen, sondern auf gegenwärtigen Erlebnissen. Dabei wird eine direkte Konfrontation mit den persönlichen Gefühlen 131 „Es ist nicht adäquat, das psychische Geschehen von einer Summe vermeintlicher elementarer Stückinhalte und Stückprozesse aus konstruieren zu wollen, sondern es gilt, die Geschehnisse als Teil ihres lebendigen Geschehens zu erfassen – in ganz anderer Lebensnähe als jene vermeintlich notwendigen, toten Produkte stückhafter Analyse. (...) Es soll nicht genügen, es soll nicht adäquat sein, irgendeinen Tatbestand an sich, als Stück, festzustellen, seine einzelnen gesetzlichen Beziehungen zu anderen solchen Stücken hinzuzusetzen, sondern er soll als Teil eines lebendigen Ganzen betrachtet werden, wie er in seinem Ganzen da ist, fungiert, sich als Teil bestimmt; ganzheitlicher Teilgehalt anstelle stückhaften Inhaltes. Eine Art ganzfunktionellen Denkens wird hier nötig, die nicht aus Stücken zusammensetzt, sondern Teile als Teile ihrer Ganzen, dynamisch begreift.“63 Visuelle Wahrnehmung übermittelt uns z. B. das Bild einer Stadtsilhouette, welche wir als Ganzheit der Skyline erfahren, die sich aus zahlreichen Elementen zusammensetzt. Die Gebäude erhalten an ihrem Standort ihre Bedeutung über das System Stadtsilhouette als Ganzheit. Sie stellen wiederum in sich eine Ganzheit dar, weil sie aus einer Vielzahl von Einzelelementen zusammengesetzt sind (Stockwerke, Türen, Fenster, etc.), die ihre Bedeutung durch das System Haus erfahren: „Im Gegensatz zur traditionellen Auffassung, die auf der Autarkie der Elemente besteht oder, richtiger gesagt, diese Autarkie als selbstverständlich ansetzt, sieht die Gestalttheorie in den Teilen eines Wahrnehmungsgebildes Ganzteile oder, um mit Wertheimer zu sprechen „Teile in Ganzvorgängen“. Ein solcher Teil ist insofern wesentlich auf das Ganze, dem er angehört, bezogen, als er ihm und für es eine ganz bestimmte, ihm spezifische Rolle spielt. Eine Rolle, die ihm von der Struktur des Wahrnehmungsgebildes als Ganzen her zuerteilt ist, und die nur innerhalb dieses Ganzen einen Sinn hat. (...) Die Errungenschaft der Gestalttheorie besteht nicht darin, Eigenschaften, die dem Teil vom Ganzen her zuerteilt werden, entdeckt zu haben und sie als Eigenschaften unter anderen zu behandeln, vielmehr geht die gestalttheoretische These dahin, dass die Teile ihre funktionale Bedeutsamkeit nicht nur haben, sondern durch sie qualifiziert werden, nur in und mit ihr existieren.“64 Eine Stadtsilhouette erfassen wir visuell als Häusermeer mit verschiedenartigen Geschosshöhen, Farben, Formen, etc. Sofern aus diesem Häusermeer jedoch eine besondere Form wie z.B. ein spitzer Turm oder eine Kuppel herausragt, verbinden wir mit ihm automatisch die Assoziation Kirche, Kirchturm.65 Obwohl für uns nur die Turmspitze sichtbar ist, vermag unsere Wahrnehmung sie und ihre Bedeutung in den gesamträumlichen Zusammenhang zu integrieren. Die Gestalttheorie verwendet für diesen Zusammenhang die herbeigeführt. „Die Grundannahme der Gestaltpsychologie ist, dass die menschliche Natur in Strukturen oder Ganzheiten organisiert ist, dass sie vom Individuum auf diese Art erfahren wird und dass sie nur als eine Funktion dieser Strukturen oder Ganzheiten, aus denen sie besteht, verstanden werden kann.“ (Perls,F.S.: 1976, S. 22) Das vorherrschende Bedürfnis eines Organismus stellt „Figur“ im Sinne dieser Theorie dar, die anderen „Hintergrund“. Gedanken und Handlungen sind letztlich identisch und können nur als Ganzes verstanden werden. Der Neurotiker hat die Freiheit der Wahl für positive und negative Besetzung von Objekten in der Organismus/Umwelt-Feld-Relation verloren. 63 Wertheimer, M. 1928: Gestaltpsychologische Forschung, in: E. Saupe (Hrsg.): Einführung in die neuere Psychologie, Osterwieck, S. 47f. 64 Gurwitsch, Aron (1959): a.a.O., S. 432 f. 65 In Florenz erhebt sich die gewaltige und unübersehbare Kuppel des Domes und Giottos Campanile über das Stadtbild. Sie bilden zusammen in der Silhouette eine Figur, einen Orientierungspunkt, der von allen Stadtvierteln aus und viele Kilometer weit sichtbar ist. Diese Kuppel ist das Symbol, das „Wahrzeichen“ der Stadt. 132 Begriffe Kontext oder auch Grund bzw. Hintergrund (Stadt oder Stadtsilhouette) und Figur (Kirche). Der visuell erfassbare Raum wird strukturiert in Figur und Hintergrund: „Mit Figur ist der Brennpunkt des Interesses gemeint – ein Gegenstand, eine Form, usw. – während Grund die Umgebung oder den Kontext bedeutet. Das Wechselspiel zwischen Figur und Grund ist dynamisch, denn der gleiche Grund kann sich bei wandelndem Interesse und sich verschiebender Aufmerksamkeit andere Figuren hervorbringen; oder eine vorhandene Figur, die vielleicht Details enthält, kann, wenn eines der Details als Figur erscheint, selber zum Grund werden. Solche Phänomene sind natürlich „subjektiv“(...).“66 Die Figur - Grund Bildung ist als wichtiges Element der Wahrnehmungsfähigkeit bei neurotischen Störungen beeinträchtigt: „In der Neurose und sehr viel mehr noch in der Psychose ist die Elastizität der Figur/Grund-Bildung gestört. Wir finden oft eine Versteifung (Fixierung) oder einen Mangel an Figur-Bildung (Verdrängung). Beides stört das gewohnheitsmäßige Vervollständigen zu einer hinlänglichen Gestalt. Im gesunden Zustand ist das Verhältnis zwischen Figur und Grund ein Prozess dauernden und doch sinnvollen Vortretens und Zurückweichens. Das Wechselspiel zwischen Figur und Grund wird daher zum Kern der (...) Theorie: Aufmerksamkeit, Konzentration, Interesse, Beteiligtsein, Erregung und Anmut sind repräsentativ für gesunde Figur/Grund-Prozesse, während Verwirrung, Langeweile, Zwänge, Fixierungen, Angst, Amnesien, Stagnation und Befangenheit Anzeichen sind, die für gestörte Figur/Grund- Prozesse sprechen.“67 Die menschliche Psyche benötigt offenbar Wahrnehmungen, von denen ein natürliches Maß an Kontrast ausgeht, einen attraktiven Blickwechsel zwischen dem Ganzen und seinen Einzelteilen, zwischen Figur und Hintergrund. Diese Erfordernis könnte man auch als ein menschliches Kontrastbedürfnis formulieren, das der monoton funktionelle Städtebau nicht zu befriedigen versteht: „Das Vermeiden einer monotonen Umwelt oder die Suche nach Kontrasterfahrungen ist offenbar ein menschliches Grundbedürfnis.“68 Im gestalttheoretischen Modell ist das Ganze das System der aufeinander angewiesenen und aufeinander abgestimmten Bedeutsamkeiten; die einzelnen Teile tragen sich gegenseitig, jedes einzelne Element besitzt „seinen Platz und seine Eigenschaft als Teil des Ganzen“69. Als Schlussfolgerung ergibt sich: „Der Teil konstituiert sich vielmehr allein durch seine Funktion für andere Teile und durch seine Anordnung innerhalb des Gesamten, d. h. durch die Konfiguration der Teile innerhalb eines sich von einem Hintergrund abhebenden Ganzen. (...) Nehmen wir von einer Gestalt etwas weg, dann bleibt sie als solche erkennbar, wenn sich in ihrem Rest bereits die Struktur des Ganzen erkennen lässt. Fügen wir zu einer Figur etwas hinzu, das keine gestalthafte Verbindung mit ihr eingeht, die Teile der Figur also ihre funktionale Bedeutung weiterhin nur in Bezug aufeinander haben, bleibt sie auch erhalten. So bleibt auch das noematische System Haus erhalten, unabhängig davon, ob der es umgebende Himmel sich verdunkelt oder nicht.“70 66 Perls, F. S. (Pearls, F.S.); Hefferline, Ralph F.; Goodman, Paul: Gestalt-Therapie, Stuttgart 1987, S. 39 67 Perls, F. S. et al (1987): a.a.O., S. 13 68 Mitscherlich, Alexander: Wege in die städtische Zukunft; Marburger Hefte Nr. 2; Marburg 1972, S. 12 69 Koffka, K.: „Psychologie: Lehrbuch der Philosophie (hrsg. von Max Dessoir, Band 2, S. 551) 70 Rosenthal, Gabriele: a.a.O.: S. 30 f. 133 Die Synergie aus phänomenologischen und gestalttheoretischen Grundsätzen führt zu dem Ergebnis, dass das Noema mehr enthalten muss als das durch Sinneserfahrung Erfassbare, also das, was wir gerade direkt sehen. Dieses Mehr, das „Über-sich-hinaus-Meinen“ und die „Übersummativität“, bedeutet, dass wir aufgrund der Bedeutsamkeit in Bezug zur architektonischen Gesamtform über den gerade sichtbaren Teil eines Hauses hinaus schließen können. Wenn wir diesen Vorgang rückkoppeln, so heißt das natürlich auch, dass die Gesamtform die Bedeutsamkeit des einzelnen Elementes bestimmt, z. B. als Fassade eines Hauses: „Wir können auch nur deshalb von einer Hausfassade sprechen, weil wir diesen Teil nicht nur als zum Ganzen eines Hauses gehörend wahrnehmen, sondern auch in seiner Anordnung zu anderen Teilen und in seiner Funktion für die Gesamtkonfiguration."71 Eine Hausfassade bekommt ihre noematische Bedeutung als Fassade zunächst in Bezug zum Gesamtsystem Haus. Wenn man nun dieses Haus umkreist und plötzlich feststellt, dass diese wahrgenommene Fassade keine weiteren Seitenwände oder ein Häuserinneres enthält, die Fassade also Teil einer Theaterkulisse ist, so verändert sich sowohl die Vorstellung vom Ganzen als auch die funktionale Bedeutung dieses Einzelelementes Fassade. Das ursprünglich wahrgenommene Objekt, die Fassade eines Hauses, erweist sich nunmehr als etwas Anderes, die Frontseite oder Fassadenseite einer Kulisse. Dieses Einzelelement erhält plötzlich einen veränderten Bedeutungszusammenhang und wäre damit vor einem ganz anderen Hintergrund zu interpretieren. Phänomenologisch und gestalttheoretisch ist dieses wahrgenommene Objekt „Fassade“ nicht mehr Teil des noematischen Systems Haus, sondern jetzt Bestandteil eines neuen noematischen Systems, das vielleicht Theaterkulisse heißen mag. Es erfolgt ein Wechsel von einem noematischen System oder von einem Bedeutungszusammenhang zu einem anderen, es ist eine völlig neue Gestalt entstanden. Ob wir ein Haus sehen oder eine Melodie hören, wir haben es in beiden Fällen mit „Organisiertheiten zu tun, die aus dem Abheben von Einheiten, in Sprache der Gestalttheorie: von Figuren, nach Gurwitsch: von Themen, vor einem Hintergrund resultieren. Die Vorderseite eines Hauses wird nur deshalb als Teil eines Gesamten, eines Hauses, erlebt, weil dieses sich von einem Hintergrund abhebt, der für die sich abhebende Einheit mehr oder weniger irrelevant ist, während die Vorderseite als zur organisierten Einheit Haus wesentlich dazugehörend erlebt wird. Das Gleiche gilt für den Ton. Nur dann, wenn er sich vom Hintergrund anderer Geräusche oder der Stille abhebt und als zu etwas Ganzem gehörend erlebt wird, wird er als Teil einer Melodie oder eines Wortes wahrgenommen. Der Unterschied zwischen räumlichen und zeitlichen Gestalten liegt also nicht in der Struktur ihrer Organisiertheit. In beiden Fällen haben wir es in der Terminologie Gurwitsch’s mit der Darbietung eines Themas zu tun, das sich von dem zu ihm gehörenden thematischen Feld abhebt, welches wiederum von einem für das Thema irrelevanten Rand umgeben ist. Betrachte ich das Ding, das sich mir als Haus darbietet, in einem Villenviertel, so sind die anderen Villen das für die Wahrnehmung meines Dinges relevante Feld. Das thematische Feld „Villenviertel“ verhindert dann auch die Darbietung des Dings als Theaterattrappe. Die Farbe des Himmels oder die vorbeifahrenden Autos sind dagegen Gegebenheiten, die zwar kopräsent sind, jedoch „keinen sachlichen Bezug auf das Thema 71 Rosenthal, Gabriele: a.a.O.: S. 31 134 haben und in ihrer Gesamtheit dasjenige bilden, was wir den Rand nennen wollen. Gurwitsch, Aron (1974): 4).“72 Es wäre unzureffend, aus diesen Aussagen den Schluss zu ziehen, dass aus der Ganzheit Stadt unbeschadet Teile herausgetrennt werden könnten und dass deren Funktionen sodann von anderen Teilen übernommen würden. Rein theoretisch vermag unsere kognitive Wahrnehmungsleistung zwar Gestalten, denen Teilaspekte entfernt wurden, wieder zu einem Ganzen zu vervollständigen. Dies erklärt sich durch kognitive Vorgänge, indem an frühere Erfahrungen der Ganzheit Stadt anknüpfen kann, die bei einer geglückten Sozialisation internalisiert wurden. Mit den Arbeitsergebnissen von G. Rosenthal lässt sich sagen, dass die Gestalt als solche erkennbar bleibt, wenn Teile eines Ganzen entfernt werden und wenn sich in ihrem Rest bereits die Struktur des Ganzen erkennen lässt. Wenn einer Stadt lebenswichtige Teile entfernt werden, lässt die übrig gebliebene Struktur als äußere Form noch auf das System Stadt schließen. In ihrer Wirkung aber ist die Ganzheit verlorengegangen. Eine Stadt ohne Stadtkern oder ein Stadtkern ohne Wohnfunktion vermitteln nicht mehr das Erlebnis einer lebendigen, ganzen Stadt. Ebenso ist ein Auto, aus dem der Motor entfernt wurde, zwar als Auto erkennbar, aber es funktioniert als Ganzheit „Automobil“ nicht mehr. Der Sinn dieser „unvollständigen“ Ganzheit ist entleert. 5.6. „Das Bild der Stadt“ bei Kevin Lynch Mit der Fragestellung, wie Menschen ihre Stadtwelt wahrnehmen, haben sich bisher nur wenige Untersuchungen beschäftigt. Kevin Lynch73 analysierte in seiner Arbeit Vorstellungsbilder, die sich die Einwohner von ihrer Stadt gemacht haben, anhand von umfassenden Interviews, Ortsbeschreibungen und schematischen räumlichen Darstellungen der Städte74. Ausgangspunkt bildete seine These, dass jeder Stadtbewohner sich mit irgendeinem Teil seiner Stadt verbunden fühle und er sich das Bild seiner Stadt mit den Farben von Erinnerungen und Bedeutungen ausmale.75 Dabei wurde für ihn rasch die Individualität des wahrgenommenen Bildes offenkundig. Anhand der protokollierten Interviews kam er gleichzeitig zu dem Ergebnis, dass Städte von ihren Bewohnern nur selten als etwas Schönes erfahren werden. Generell werde Städten, deren Ausmaße über das Dörfliche hinaus gehen, keine gute Qualität attestiert. Bemerkenswert sei, dass die Amerikaner einerseits über die Hässlichkeit der Welt, in der sie leben, genaue Auskunft geben könnten; andererseits seien sie sich kaum der Bedeutung einer harmonischen Umgebung bewusst.76 72 Rosenthal, Gabriele: a.a.O., S. 33 f. 73 Lynch, Kevin: Das Bild der Stadt. Berlin 1965 74 Mit kleinen Samples, die er nicht systematisch aussuchte, testete Lynch die visuellen Qualitäten der Stadtzentren von Boston, New Jersey und Los Angeles. Die Versuchspersonen sollten anhand von Beschreibungen und Skizzen ihre Stadt erklären. Aufgrund übereinstimmender Aussagen arbeitete er Merkmale heraus, welche die Stadt typisieren, woran sich der Betrachter orientiert, die eine Stadt unverwechselbar machen, das Stadtbild prägen und das Image beeinflussen. 75 Lynch, Kevin: a.a.O., S. 10 76 ebenda, S. 11: „Dass eine Stadt eine schöne und erfreuliche Umgebung hat, ist etwas Seltenes – manche werden vielleicht sogar sagen: Etwas Unmögliches. Keine einzige amerikanische Stadt, deren Größe die eines Dorfes überschreitet, ist von durchweg guter »Qualität«, wenn auch so manche einige freundliche Ansichten zu bieten haben. Es ist daher nicht überraschend, dass die meisten Amerikaner keine Ahnung 135 Für K. Lynch konzentriert sich das Vorstellungsbild, das sich die Bürger von ihrer Stadt machen, „in der Hauptsache auf eine besondere visuelle Qualität: auf die Klarheit oder »Ablesbarkeit« der Stadtszene. Damit ist die Leichtigkeit gemeint, mit der ihre einzelnen Teile erkannt und zu einem zusammenhängenden Muster aneinander gefügt werden können.“77 Eine gegliederte und kenntlich gemachte Umgebung vermag Mensch und Tier bei der Orientierung in Räumen Hilfestellungen zu geben. Ein solcher Orientierungsprozess stellt das strategische Hilfsmittel zur Vorstellung von der Umgebung dar und fördert damit die Ausprägung eines allgemeinen Bildes, das das Individuum von der äußeren Welt aufbaut. Dieses innere Bild ist ein Produkt aus unmittelbarer Erfahrung und der Erinnerung an Erfahrungen aus der Vergangenheit. Es wird benutzt, um Wahrgenommenes zu deuten und der Handlung eine Richtung zu geben, indem ein Abgleich am Erfahrungsbestand vorgenommen wird. „Das Bedürfnis, unsere Umwelt zu erkennen und zu »etikettieren«, ist so wesentlich und wurzelt so tief in der Vergangenheit, dass dieses erwähnte Bild für das lndividuum einen ungeheuren praktischen und gefühlsmäßigen Wert hat.“78 Städtebauliche Strukturen vermitteln nach K. Lynch dem Individuum eine Vorstellung vom In- der-Welt-sein, sie können eine stabile Grundlage und Struktur formen, die einen Ausgangspunkt für den Erwerb weiterer Kenntnisse und Ideen darstellen kann.79 Das durch eine „geordnete Umgebung“ entstehende „klare Bild“ hat nach seiner Auffassung weitreichende Einflüsse auf die persönliche Entwicklung eines Menschen und sein soziales Handeln: 1. Ein klares Bild der Umwelt „kann eine breite Basis für Beziehungen bilden, es kann Aktivität oder Anschauungen oder Erkenntnisse fördern.“80 2. Ein lebendiges und vollständiges Milieu, das ein scharfumrissenes Bild liefert, ist eine wichtige Voraussetzung für ein intaktes Sozialleben. 3. Ein „klares“ Bild kann das Rohmaterial für die Symbole und Kollektiverinnerungen der Gruppenkommunikation bilden. (Eine eindrucksvolle Landschaft ist das Gerüst, auf dem viele primitive Völker ihre für das Gesellschaftsleben wichtigen Mythen aufbauen.) 4. Eine gute Vorstellung von der Umgebung verleiht dem, der darüber verfügt, ein ausgeprägtes Bewusstsein gefühlsmäßiger Sicherheit. Er ist in der Lage, eine harmonische Verbindung zwischen sich selbst und der Außenwelt herzustellen. haben, was es bedeuten kann, in einer solchen Umgebung zu wohnen. Sie wissen ziemlich genau Bescheid über die Hässlichkeit der Welt, in der sie leben, und sie äußern sich ziemlich vernehmlich über den Schmutz, den Raum, die Hitze, die Überfüllung, das Chaos und die Eintönigkeit, die in ihr herrschen. Aber sie sind sich kaum im klaren über die Wichtigkeit einer harmonischen Umgebung - einer Welt, in die sie vielleicht einmal als Touristen oder Urlauber einen kurzen Blick werfen durften. Sie können sich keinen Begriff davon machen, was der Rahmen bedeuten kann: tägliche Freude, einen Ankerplatz für ihr Leben – eine ausdrucksvollere und reichere Welt.“ 77 ebenda, S. 12: „Dieses Buch behauptet, dass Ablesbarkeit für das Bild der Stadt ausschlaggebend ist; es will diesen Begriff detaillieren und darzulegen versuchen, auf welche Weise er beim Neuaufbau unserer Städte Verwendung finden kann.“ 78 ebenda, S. 13 79 ebenda, S. 14: „So kann man sich zum Beispiel, wenn man die bauliche Struktur Manhattans begreift, anhand dieser Einsicht eine bedeutende Anzahl von Tatsachen und Ideen im Hinblick auf diese Welt, in der wir leben, zusammenreimen. Eine solche Struktur gibt - wie jede stabile Grundlage – dem Einzelwesen die Möglichkeit der Entscheidung und dient als Ausgangspunkt für die Erwerbung weiterer Erkenntnisse.“ 80 ebenda 136 5. Ein wohliges »Heimat«-Gefühl ist dann am stärksten, wenn »Heimat« nicht nur etwas Vertrautes, sondern auch etwas Markantes ist. 6. Ein charakteristisches und leicht ablesbares Milieu bietet nicht nur Sicherheit – es vertieft und intensiviert darüber hinaus das menschliche Erleben. 7. Potentiell ist die Stadt an sich das gewaltige Symbol einer komplizierten Gesellschaft. Wenn dieses Symbol eindeutig dargestellt wird, kommt sein Sinn auch klar zum Ausdruck.81 Diese Hypothesen über die Notwendigkeit geordneter Strukturen haben K. Lynch zu der Annahme geführt, dass mit zunehmender Ordnung und Gradlinigkeit, also dem Verzicht auf Vielfalt von Formen und Reizen, Wohlbefinden und Entwicklungsmöglichkeiten steigen. Eine Umgebung, die eine starre Ordnung vorgibt, lässt aber dem Betrachter wenig Handlungsspielraum und ermöglicht kaum die Befriedigung des Neugierverhaltens. Neugierde ist der Grundtrieb des Lernens, der die grundlegende Abneigung, die Abwehr gegen alles Neue und Fremde, überwiegen kann82. Ein völlig unstrukturiertes Chaos in der Umwelt vorzufinden, scheint daher ebenso negative Auswirkungen mit sich zu führen, wie ein starr-monotones Umfeld. Das Individuum benötigt offenbar ein ausgewogenes Maß an Kontrasterfahrung, damit ihm die Umwelt in ansprechender Art und Weise als reizvoll erscheint. Sie muss ihm eine lebendige Struktur anbieten, die ihm durch Zentrierungs- und Dezentrierungsmöglichkeiten Attraktivität und Vielfalt vermittelt. Ausgewogenheit in diesem Zusammenhang bedeutet, einen Mittelweg zwischen den Extremen Reizüberflutung und Monotonie zu beschreiten. Kevin Lynch vertritt die These, dass der Beobachter bei der Betrachtung seiner Welt aktiv werden und schöpferisch an der Entwicklung des Bildes mitwirken muss: „Er muss in der Lage sein, dieses Bild auszuwechseln, um wechselnden Bedürfnissen Rechnung zu tragen. Eine Umgebung, die bis ins letzte präzise und endgültig eingeteilt ist, kann für neue Tätigkeitsvorbilder ein Hindernis darstellen. Eine Landschaft, in der jeder Stein eine Geschichte erzählt, macht die Erfindung neuer Geschichten schwierig. Wenn dies auch in unserem städtischen Chaos nicht wesentlich zu sein scheint, so wird dadurch doch klar, dass, was wir suchen, nicht eine endgültige, sondern eine wandlungsfähige Ordnung ist, die eine ständige Weiterentwicklung ermöglicht.“83 Die Entstehung des inneren Umweltbildes ist das Ergebnis eines tiefgreifenden, wechselseitigen Prozesses zwischen Individuum und Umwelt: „Der Aufbau des inneren Bildes der Umwelt ist ein gegenläufig gerichteter Vorgang zwischen dem Betrachter und dem Betrachteten. Er sieht die äußere Form. Aber wie er diese interpretiert, zu einem Bild ordnet und auf was er besonders achtet, das beeinflusst wiederum das Gesehene. Der menschliche 81 vgl. Lynch, Kevin: a.a.O., S. 14 f. 82 „Neugierde, Wissbegierde, Lernbegierde sind Triebe, die einem Betätigungsdrang unserer Nervenzellen entsprechen: ÄhnIich dem Bewegungsdrang unseres Körpers (der ja ebenfalls durch Nerven erfolgt). Ungestillte Neugierde ist unerträglich, ihre Erfüllung dagegen befriedigt. Der Wunsch nach etwas „Interessantem“ (neugierig gemacht zu werden) entspringt wahrscheinlich dem Wunsch nach einer Spannung, deren Befriedigung Lust erzeugt. Der Betätigungsdrang der Nervenzellen könnte fast als Ersatz dafür verstanden werden, dass sich Nervenzellen im Gegensatz zu den anderen Körperzellen nie mehr teilen können (auf Grund ihrer extremen Spezialisierung).“ Frederic Vester: Denken, Lernen, Vergessen. München, 1978, S.183, Fn. 65 83 Lynch, Kevin: a.a.O., S. 16 137 Organismus ist in hohem Maße anpassungsfähig und flexibel. Verschiedene Gruppen können gänzlich verschiedene Eindrücke von der gleichen äußeren Wirklichkeit haben.“84 Die bebaute und unbebaute Umgebung bietet dem Betrachter ein Blickfeld, das eine Vielzahl von Unterscheidungsmöglichkeiten und räumlichen Beziehungen aufweist, und „der Beobachter wählt und fügt mit großer Anpassungsfähigkeit zusammen und gibt dem, was er sieht, eine Bedeutung. Das so entwickelte Bild begrenzt und betont nun das Gesehene und wird selbst in einem ständigen, wechselweise wirkenden Prozess hinsichtlich der Vorstellungs-Aufnahmefähigkeit auf die Probe gestellt. So kann das Bild einer gegebenen Wirklichkeit für verschiedene Wahrnehmer je ein ganz Verschiedenes sein. Die Übereinstimmung des Vorstellungsbildes mit der Wirklichkeit kann auf mannigfache Weise möglich werden. Es mag z. B. im realen Gegenstand wenig Geordnetes oder Bemerkenswertes geben und doch erhält sein Bild in der Vorstellung Individualität und Gliederung auf Grund langer Bekanntschaft; (...) Ferner ist es möglich, dass ein zum erstenmal wahrgenommener Gegenstand identifiziert und in Zusammenhang gebracht wird, nicht, weil er selbst vertraut ist, sondern weil er einem vom Beobachter bereits eingeordneten Typ entspricht.“85 5.6.1. Komponenten des Vorstellungsbildes Nach den Erkenntnissen K. Lynchs enthält das Vorstellungsbild der Umwelt drei Komponenten: 1. Identität: „Ein brauchbares Bild erfordert zunächst die Identifizierung eines Gegenstandes, die es möglich macht, ihn von anderen Gegenständen zu unterscheiden und als Separat – „Wesen“ zu erkennen. Wir nennen dies Identität – nicht im Sinn der Übereinstimmung mit irgend etwas anderem, sondern im Sinn von »Individualität« oder »Ganzheit«.86 2. Struktur: Das Bild muss „eine räumliche oder strukturelle Beziehung des Gegenstandes zum Beobachter und zu anderen Gegenständen enthalten.“87 / 88 3. Bedeutung: „Und schließlich muss der Gegenstand für den Beobachter irgend einen Sinn haben – entweder praktisch oder gefühlsmäßig. »Sinn« ist ebenfalls eine Beziehung, die sich aber ganz und gar von räumlichen oder strukturellen Beziehungen unterscheidet.“89 Die „Bedeutung“ eines Gegenstandes ist jedoch mehr als nur „Sinn“, sie veranschaulicht den persönlichen Bezug eines Individuums zu einem Objekt, sie drückt die individuellen affektiven Assoziationen seiner psychosozialen Struktur aus, die aus unzähligen 84 Lynch, Kevin: a.a.O., S. 151 (vgl. a. S.16, S. 21 und S. 140) 85 ebenda, S. 16 86 ebenda, S. 18 87 ebenda, S. 18 88 Diese Fähigkeiten der visuellen Wahrnehmung hat Frostig als „Erkennen der Lage im Raum“ und „Erfassen räumlicher Beziehungen“ beschrieben. Vgl.: Lockowandt, Oskar: a.a.O. 138 lebensgeschichtlichen Erfahrungen und verschiedenartigsten Sinneswahrnehmungen aufsummiert worden sind. Bedeutung ist nicht vordergründig zweckorientiert, sie wird nicht einfach sichtbar, indem ihre Funktion erkennbar wird. Das visuelle Erfassen eines Objektes Tür beinhaltet nicht automatisch das Erkennen ihrer Bedeutungsaussage.90 Bedeutung bedarf der Interpretation und umfasst die Erforschung des persönlichen Bedeutungskontextes: So mag die Tür Zugang, Ausgang, Grenze, etc. symbolisieren. Sie mag uns offen stehen, so dass wir einen Zugang bekommen, sie mag uns im verschlossenen Zustand auch den Eintritt zu Räumen verwehren oder uns das Gefühl des Eingesperrtseins vermitteln. K. Lynchs Untersuchungen konzentrieren sich auf die physische Realität und das in der physiologischen Natur Erscheinende. Daher folgen auch keine Ausführungen über tiefere symbolische Sinnwelten in sozialpsychologischer Sicht. Die Bedeutung von Elementen innerhalb einer Stadt sei kompliziert, Gruppenvorstellungen in Bezug auf Bedeutungen seien wenig wahrscheinlich. „Wenn wir beabsichtigen Städte zu bauen, an denen sich eine große Anzahl von Menschen der verschiedensten Verhältnisse erfreuen soll (Städte zudem, die auch auf künftig lebende Menschen zugeschnitten sein sollen), so werden wir sogar gut daran tun, uns auf die physische Klarheit des Bildes zu konzentrieren und die Entwicklung der Bedeutung abzuwarten, ohne direkt auf sie hinzuwirken.“91 Eine nach diesen Erkenntnissen erstellte Planung verpasst die Chance, Individuum und Gruppe über gemeinschaftliche Symbole im positiven Sinne anzusprechen, und damit das Wohlbefinden in einer Stadt positiv beeinflussen zu können. Die o.g. Ausarbeitung konzentriert sich auf die Identität und Struktur der Stadtbilder; die tieferliegenden psychischen Symbolgehalte von prägenden und Orientierung gebenden Objekten werden nicht erforscht. Objekte tragen m.E. a priori symbolische Bedeutungen in sich, während sich bei K. Lynch erst nach der Etablierung der physischen Präsenz die Bedeutung hinzuaddieren soll. „Das Bild der Silhouette von Manhattan kann als symbolisch angesehen werden für Vitalität, Kraft, Dekadenz, Rätselhaftigkeit, Überfüllung, Größe – oder was immer man sonst noch will; aber in jedem Fall wird die Bedeutung durch die scharfumrissene Linie dieses Bildes kristallisiert und intensiviert. Die persönlichen Meinungen über eine Stadt – selbst wenn ihre Form leicht zugänglich ist - sind so verschieden, dass es möglich erscheint, die Bedeutung von der Form zu trennen – wenigstens im frühen Stadium der Analyse. Unsere Untersuchung wird sich daher auf die Identität und die Struktur der Stadtbilder konzentrieren.“92 Forschungen hinsichtlich der Qualität eines Bildes können nicht nur unter dem Aspekt gesehen werden, wie sehr es dem Menschen Orientierung in seinem Lebensraum vermitteln kann. Die Beschränkung auf visuelle Wahrnehmungskomponenten wie „Identität und 89 Lynch, Kevin: a.a.O., S. 18 90 „So muss also bei einem Bild, das den Zweck des Hinausgehens veranschaulichen soll, notwendig eine Tür als deutlich von anderen unterschiedene Wesenheit erkannt werden, und ihre räumliche Beziehung zum Beschauer sowie ihre Bedeutung als Öffnung, durch die man hinausgeht, müssen klar ersichtlich sein. Diese Eigenschaften sind im wesentlichen nicht voneinander zu trennen. Das visuelle Erkennen einer Tür hängt eng mit ihrer Bedeutung als Tür zusammen.“ Lynch, Kevin: a.a.O., S. 18 f. 91 ebenda, S. 19 92 ebenda 139 Struktur“, „Einprägsamkeit“ und „Bildprägekraft“93 steigernde Elemente94 klammert wesentliche Wechselbeziehungen zwischen Außen- und Innenwelt aus, die über den Parameter „Bedeutung“ erschließbar wären. Ein inneres Bild der Umgebung formen zu können, ist eben nicht nur Folge eines inneren Lernvorganges95, sondern auch das Ergebnis eines analytisch–hermeneutischen Prozesses. In der „Einprägsamkeit“ der drei von ihm untersuchten Städte eröffneten sich Unterschiede, „obgleich die Personen alle so etwas wie einen Prozess der Anpassung an ihre Umgebung durchgemacht hatten. Bestimmte Eigenschaften – z.B. freie Plätze, Vegetation, Bewegung auf den Straßen, visuelle Kontraste – schienen im Stadtbild von besonderer Bedeutung zu sein.“96 5.6.2. Kernaussagen K. Lynchs Untersuchung und symbolische Aspekte Einige relevante Kernaussagen möchte ich zusammenfassen und durch analytisch– symbolische Aspekte ergänzen: 1. Bevorzugte Standorte Die beliebtesten Ansichten der Städte waren gewöhnlich Fernsichten mit einem Hauch von Wasser und freiem Raum.97 Die Bevorzugung bestimmter Standorte bzw. deren Ausstattung zeigt nach meiner Auffassung eine bestimmte Symbolbelegung der 93 Lynch, Kevin: a.a.O., S. 20. „Da bei dieser Untersuchung der Nachdruck auf der physischen Umgebung als der unabhängigen Variablen liegt, beschäftigen wir uns mit den physischen Qualitäten, die mit den Eigenschaften der Individualität und der Struktur des geistig geschauten Bildes in Zusammenhang stehen. Wir kommen dabei zur Definition einer Eigenschaft, die als »Einprägsamkeit« ( oder »Bildprägekraft«) bezeichnet werden könnte: (...) Man könnte auch »Ablesbarkeit« oder – in einem höheren Sinn - »Greifbarkeit« sagen; (...).“ 94 Lynch kristallisierte in seiner Untersuchung folgende Elemente heraus: Wege, Grenzlinien, Bereiche, Brennpunkte, Merkzeichen. Darüber bearbeitete er die Beziehung zwischen den Elementen, die Gestaltung der Wege, die Gestaltung der Elemente, die Gestaltung von Grenzlinien, Eigenschaften der Formen und die Ganzheit der Struktur. Wege können Straßen, Spazierwege, Verbindungswege, Wasserwege oder Eisenbahnen sein, auf denen sich der Beobachter durch die Stadt bewegt. Sie verbinden die Elemente des Stadtbildes miteinander. Für die meisten Beobachter bilden Wege das vorherrschende Element der Stadt, vor allem für Fremde. Die Straßen werden beeinflusst durch den Verkehr, können als Verbindungselemente wahrgenommen werden oder durch ihre Charakteristik (Enge, Weite, Fassadengestaltung, Beschaffenheit, Anpflanzung, Lage, Übersichtlichkeit, ... ), Kontinuität (Länge und Verlauf) und Richtung wirken. Grenzlinien/Ränder sind die visuellen Grenzen zwischen zwei Gebieten wie z.B. Baugebietsrändern oder Topographien. Sie können durch Verkehrswege, Mauern, Höhensprünge etc. markiert sein und sind mehr oder weniger überwindbare Schranken. Grenzlinien haben einen abtrennenden Charakter und sind typisch für die Umgebung, die sie abtrennen. Sie müssen nicht unüberschreitbar sein, viele ähneln verbindenden Nähten, welche den belebten Austausch zwischen zwei Bereichen ermöglichen. Brennpunkte können Knotenpunkte sein, in denen eine Struktur in eine andere übergeht oder zwei Strukturen aufeinandertreffen (z.B.: Kreuzungen), oder sie können Konzentrationspunkte sein, in denen bestimmte Benutzungszwecke verdichtet sind (z.B. Straßenecke). Oft bilden sie das Zentrum eines Bereiches. Brennpunkte sind begrifflich nur Punkte im Stadtbild. In Wirklichkeit kann es sich aber um große Plätze, im internationalen Maßstab sogar um ganze Städte handeln. An einem Knotenpunkt muss eine Entscheidung getroffen werden (z.B. welche Richtung wird eingeschlagen), man ist besonders aufmerksam und die Elemente in der Umgebung werden einprägsam wahrgenommen. Dadurch bleiben diese Punkte besonders gut in Erinnerung. 95 Lynch, Kevin: a.a.O., S. 24: „Wir haben die Behauptung aufgestellt, dass wir jetzt in der Lage seien, uns das Bild der Umgebung sowohl durch Einwirkung auf die äußere physische Gestalt als auch durch einen inneren Lernprozess zu formen.“ 96 Lynch, Kevin: a.a.O., S. 27 97 vgl.: Lynch, Kevin: a.a.O., S. 30 140 Landschaft aufgrund psychodynamischer Prozesse. Bestimmte Landschaftselemente spiegeln emotionale Wertigkeiten wider. Auf die symbolische Besetzung von Landschaften hatte ich hingewiesen. Demnach bereiteten bereits im alten Rom bestimmte Topoi wie z.B. fließende Gewässer besonderes Wohlbehagen bei den Bewohnern. Der Blickwinkel des erhöhten Standortes garantierte zugleich den jederzeitigen – und sei es imaginären – Zugriff auf die Symbolwelten der Landschaft und unterwarf diese gleichsam der Verfügung des herrschenden Selbst98. 2. „Weiße Flecke“ in der räumlichen Erinnerung In den oben zitierten Interviews wurden bestimmte Stadtgebiete für die befragten Personen zu einem „weißen Fleck“. Sie zeigten sich als Räume ohne Erinnerungsbilder, obwohl die Gebiete beträchtliche Ausdehnungen besaßen, mit bekannten Elementen ausgestattet waren und über charakteristische Wahrzeichen, wie z.B. Kirchtürme, verfügten. Dies stellt die These in Frage, dass die Einprägsamkeit eines Ortes und seines inneren Bildes erlernbar ist und dass Klarheit und signifikante Merkmale „automatisch“ zur Internalisierung eines eindeutigen Vorstellungsbildes führen können. M.a.W.: Alle von K. Lynch geforderten Parameter für die Einprägsamkeit und Orientierungsfähigkeit einer Umgebung waren präsent, dennoch konnte sich bei den Bewohnern kein inneres Bild aufbauen. Die Erinnerung war offensichtlich blockiert. In einem Fall wurde eine Fläche für alle Befragten zum weißen Fleck der Stadt99, „sogar für eine Person, die dort geboren und aufgewachsen war.“ Vielleicht hatte diese Person gerade deshalb ein Erinnerungsloch? Möglicherweise konnte sich hier ein bewusstes Bild nicht manifestieren, weil die Erinnerungen, die affektiven Beziehungen an den Ort, so negativ aufgeladen waren, dass sie ins Unbewusste verdrängt werden mussten. 3. Fehlende Zentrenbildung Bewohner vermögen kein charakteristisches Merkmal ihrer Stadt zu evozieren, sofern sie den Eindruck haben, dass ihre Stadt kein Zentrum besitzt100. Die Stadt wird in Folge dessen nicht mehr als Ganzheit empfunden und wahrgenommen, sondern nur noch als Agglomerat vieler Dörfer. Auf die symbolische Bedeutung eines Zentrums für den Lebensraum hatte ich bereits hingewiesen. Der Verlust an Zentrierung führt offenbar zur 98 vgl.: Jüngst, Peter; Meder, Oskar (1992): a.a.O., S. 250 f. 99 vgl.: Lynch, Kevin : a.a.O., S. 32 100 ebenda, S. 40: Betreffend Jersey City: „Auf die Frage, was ganz allgemein für die Stadt als charakteristisch gelten könne, war die häufigste Antwort, dass sie kein Ganzes sei, dass sie kein Zentrum habe, dass sie vielmehr eine Ansammlung vieler „Dörfer“ darstelle. Die Frage: „Was kommt einem bei dem Wort „Jersey City“ zuerst in den Sinn?“ (eine Frage, die für Bostoner so leicht zu beantworten war) bereitete Schwierigkeiten. Immer und immer wurde wiederholt, dass einem „nichts Besonderes“ in den Sinn käme, dass die Stadt schwer zu charakterisieren sei, dass sie über nichts Auffallendes verfüge. Eine Frau sagte das so: „Das ist es, was ich in Jersey City so bedaure – es gibt nichts, wovon ich zu jemandem, der aus irgendeinem fernen Ort hierherkäme, sagen könnte: „Ich möchte so gern, dass Sie das sehen - es ist so wunderschön!“.“ Aber auch Bewohner von Los Angeles beschrieben ihre Stadt, wenn sie sie als Ganzes charakterisieren sollten, mit Standardausdrücken wie »ausgedehnt«, »geräumig«, »formlos«, »ohne Zentrum«. Als ein Ganzes schien Los Angeles kaum überblickbar oder begrifflich darstellbar. 141 Beeinträchtigung der Identifikation mit der Stadt, die dann nichts „Besonderes“ besitzt. Der Befragte vermag keine bildhafte Vorstellung von etwas „Auffallendem“ zu äußern, welches er als Ausdruck eines Identifikationsprozesses einem Besucher gerne zeigen würde. In Los Angeles war die geringe affektive Besetzung des Down-town Zentrums an der Intensität der Bildbeschreibungen ablesbar. Wenn die Interviewten ihre Fahrt von der Wohnung zum Zentrum schilderten, nahm die Lebendigkeit der geschilderten Umgebungseindrücke mit zunehmender Nähe zum Stadtzentrum ab. Hieraus schließe ich, dass der Down-town-District nicht als Zentrum im symbolischen Sinne empfunden wird und seine entsprechende Wirkung auch nicht entfalten kann.101 Der rational - „erdachte“ Städtebau lässt kaum affektive Bezüge zum Raum entstehen. Wohlgefühl von Heimat oder Identifikation kommt so schnell nicht auf. 4. Monotonie und Gleichförmigkeit des Stadtbildes führte in den Interviews zu einem „Mangel an Information über die Umgebung und die eher begriffsmäßige als wahrnehmungsmäßig konkrete Qualität des Stadtbildes. Am meisten fiel auf, dass die Befragten dazu neigten, als Mittel zur Beschreibung nicht visuelle Bilder, sondern Straßennamen und Verwendungszwecke zu wählen.“102 Dieses Phänomen ist mittels der Figur-Grund-Beziehung nachvollziehbar. Die Reize sind eintönig und es existieren keine herausragenden Figuren, so dass Konzentration und Orientierung kaum möglich sind. Die Einwohner strukturieren die Stadt über Straßennamen, über rein kognitive Gedächtnisarbeit. „Die offensichtlich schwache Einprägsamkeit dieser Umgebung kam zum Ausdruck in dem Bild, das sich selbst langjährige Einwohner machten, und manifestierte sich in Missfallen, mangelnder Orientierung und der Unfähigkeit, die einzelnen Teile zu beschreiben oder auseinanderzuhalten.“103 5. Ein kleiner, städtebaulich unspektakulärer Platz in Los Angeles wurde von den Befragten besonders liebevoll und detailliert beschrieben. Diese Plaza zeichnet sich im Gegensatz zu den oben beschriebenen gleichförmigen Baustrukturen durch eine hohe Vielfalt an Elementen und Gestaltungsmerkmalen aus, die nicht nur der visuellen Sinneswahrnehmung, sondern mehreren Sinnen gerecht werden. Der Mensch verlässt sich oft einseitig auf die visuelle Wahrnehmung und vergisst, dass noch andere Sinneseindrücke seine affektiven Bezüge zu einer Örtlichkeit mitbestimmen oder mitprägen. Diese Synergie der Sinne ruft offenbar ein besonders intensives und lebendiges Vorstellungsbild hervor: „Hier wurde alles ganz genau beschrieben: Form, Bäume, Bänke, Leute; die Ziegel, das Kopfstein- (jetzt Backstein- ) Pflaster der Straße, 101 ebenda, S. 54: „In der näheren Umgebung der Wohnung wurden viele Einzelheiten genannt: Steigungen und Kurven, Vegetation und Menschen; das tägliche Interesse und die Freude an der Szene waren offensichtlich. In der Nähe des Zentrums wurde das Bild allmählich grau, abstrakt, rein begriffsmäßig. Der Downtown-Bezirk war - wie in Jersey-City - nichts weiter als eine Sammlung von Namen frequentierter Plätze und Geschäfte.“ 102 ebenda, S. 43. Jersey wird von den interviewten Personen als „schmutzig“ und „eintönig“ bezeichnet. 103 ebenda, S. 44 142 der enge Platz, die ausgestellten Waren – und ganz unfehlbar der Geruch von Kerzen und Zuckerwerk. Dieser kleine Platz ist nicht nur visuell sehr auffallend, er ist auch der einzige historische Punkt der Stadt und scheint sich sehr großer Zuneigung zu erfreuen.“104 Der großkronige schattenspendende Baum der Plaza strahlt Ruhe aus und vermag auch Schutz und Geborgenheit in einer Stadt zu symbolisieren, die ansonsten mehr als formlos und desorientierend charakterisiert wird.105 Der Platz wird zum Treffpunkt und erfüllt damit soziale, kommunikative Funktionen. 6. Historische Punkte scheinen die affektiven Bedürfnisse der Bürger in besonderem Maße zu befriedigen. Im Gegensatz zur funktionellen Städtebauweise, die Gebäude und Stadtgestalt in eine auf den zweckreduzierte Form bringt, vermitteln historische Orte den Bürgern emotionale Bezüge durch die Vielfalt von Gestaltmerkmalen, Sinneswahrnehmungen und Symbolik. K. Lynch stellte z.B. in LA „ganz allgemein eine fast pathologische Anhänglichkeit an alles, was die Umwälzung überdauert hat, fest. (...) Man erhielt aus diesen wenigen Interviews den Eindruck, dass hier die gefühlsmäßige Bindung an das Alte noch stärker ist als in dem konservativen Boston.“106 Der Städtebau hat die Umgebung stark erneuert, sodass vielen Bürgern eine ausreichende Anpassung nicht möglich war. Eine Weiterentwicklung des Umweltbildes durch Anknüpfen an Bestehendes gelang offenbar kaum, weil affektive Bezüge nicht hergestellt werden konnten oder die emotionale Besetzung noch in vergangenen Bildern verhaftet war107. Die Reduktion alter Stadtstrukturen und die Umwandlung nach modernen funktionellen Städtebauprinzipien können dazu beigetragen haben, dass die wenigen noch so kleinen Überbleibsel kompensatorisch eine überwertige Bedeutung erhielten. Hier drängt sich ein Vergleich mit der städtebaulichen Flächensanierungseuphorie der siebziger Jahre in Deutschland auf, der kompensatorisch eine starke Denkmalschutzwelle für die noch verbliebenen Objekte und Ensembles folgte. 7. Freiräume Allgemein kam zum Ausdruck, dass landschaftliche Züge in den Städten, Freiräume und ihre Bestandteile, Vegetation und Wasser besonders intensive affektive Besetzungen erfuhren. Die Einwohner kannten die wenigen Oasen ihrer Stadt ganz genau, sie verweilten in den Interviews lange bei der Beschreibung dieser Plätze, und sie schilderten sehr genau die Vielfalt ihrer Pflanzenwelt. „Einige berichteten über tägliche 104 Lynch, Kevin: a.a.O., S. 52 105 ebenda, S. 53 f.: »Es ist so, als ginge man lange, um irgendwohin zu kommen, und wenn man dann schließlich dort angekommen ist, muss man feststellen, dass da letzten Endes gar nichts ist.« 106 ebenda, S. 56 107 In Los Angeles gewinnt man den Eindruck, dass das »Zerfließen« der Umgebung und das Fehlen gegenständlicher Elemente, die in der Vergangenheit verankert sind, beunruhigend und störend wirken. In den Beschreibungen vieler Einwohner – junger und alter – spukte der Geist dessen, »was einmal war«. Veränderungen, wie sie zum Beispiel das Freeway-System im Gefolge hatte, hinterließen sozusagen Narben auf dem Vorstellungsbild.“ ebenda, S. 58 143 Umwege, die zwar den Weg zur Arbeit verlängern, auf denen man aber an irgend einer besonderen Anlage, einem Park oder einem Wasser vorbeikommt.“108 Derartige Bereiche sind offenbar nicht nur räumliche Orientierungshilfen auf einer Wegstrecke von A nach B, sondern sie sprechen die Menschen auf einer tieferen Ebene an. Sie sind Symbole einer emotionalen Bezogenheit und bringen innerpsychische Bedürfnisse zum Ausdruck, ein inneres Erleben der Betrachter. Sie vermitteln ein positives Raumgefühl auf symbolischer Ebene und tragen offensichtlich zum psychischen Wohlbefinden der Bürger in der Stadt bei. Die Entwicklung eines klaren und umfassenden Image für ganze Stadtregionen ist für K. Lynch die Hauptaufgabe der Zukunft, damit Stadt und Stadtregion auf einer neuen Ebene visuell erlebbar seien.109 Sein Terminus „Image“ bleibt jedoch weitgehend undefiniert110; Images haben offizielle, individuelle und gruppenbezogene Charaktere111, vermögen persönliche Identität und soziale Identität zu stiften. Es unterliegt Anpassungsprozessen und ist das Resultat einer zweifach gerichteten Beziehung zwischen dem Betrachter und dem Betrachteten. Nach seiner Auffassung spielt die äußere physische Form, die der Planer beeinflussen kann, die Hauptrolle. Damit übersieht er die Bedeutung tieferer Symbolebenen. Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass die Umwelt mit Poesie und Symbolgehalten angereichert werden sollte. Der Symbolbegriff wird aber nicht mit dem Leben tieferliegender Bedeutungsschichten erfüllt, sondern es wird empfohlen, Symbole aus den bereits vorgestellten Prinzipien der Klarheit der Struktur, der Ablesbarkeit und der Vitalität des Charakters zu entwickeln: „Wir brauchen ohne Zweifel eine Umwelt, die nicht nur gut geordnet, sondern auch mit Poesie und Symbolgehalten erfüllt ist. Sie sollte etwas aussagen über die Menschen und ihre vielschichtige Gesellschaft, über ihre Ziele, ihre Tradition, über die natürlichen Grundlagen des Ortes sowie über die komplizierten Funktionen und Bewegungen in dieser städtischen Welt. Klarheit der Struktur und Vitalität des Charakters sind die ersten Schritte zur Entwicklung starker Symbole. Sobald die Stadt zu einem wirklich unverwechselbaren und wohlverwobenen Ort wird, kann sie auch zum Nährboden für die Kristallisation von Bedeutungen und Assoziationen werden. Diese Atmosphäre eines Ortes genügt bereits, um einen günstigen Einfluss auf alle örtlichen Aktivitäten auszuüben und die Bildung von ortsgebundenen Erinnerungen zu fördern. Durch die Intensität des Lebens und das nahe Beieinander verschiedener Menschen ist die Großstadt ein abenteuerlicher, mit symbolischen Details beladener Ort. Sie ist glänzend und furchteinflößend, diese »Landschaft unserer Verwirrungen«, wie Flanagan sie nennt. Wäre 108 Lynch, Kevin: a.a.O., S. 58 109 vgl.: ebenda, S. 140 110 „Es scheint von jeder beliebigen Stadt ein offizielles Image zu geben, das aus vielen individuellen Images oder Vorstellungsbildern geformt ist. Oder vielleicht gibt es auch eine Reihe offizieller Images, deren jedes von einer Anzahl von Einwohnern gehegt wird. Solche Gruppenbilder sind notwendig, damit ein Einzelwesen erfolgreich in seiner Umwelt wirken und mit seinen Gefährten zusammenarbeiten kann. Jedes individuelle Vorstellungsbild ist einmalig und enthält etwas, was selten oder niemals anderen mitteilbar ist – und doch gleicht es sich der offiziellen Vorstellung an, die -dje nach der Umgebung– mehr oder weniger zwingend, mehr oder weniger umfassend ist. Unsere Analyse beschränkt sich auf die Wirkung physischer, wahrnehmbarer Gegenstände.“ ebenda, S. 60 111 Der Brockhaus definiert Image als gefühlsbetontes Vorstellungsbild, z.B. über Menschen, Unternehmen oder Markenartikel; Imagebildung erleichtert die soziale Orientierung, erschwert andererseits die kritische Wahrnehmung und Bewertung. 144 sie ablesbar und deutlich erfassbar, dann könnte an Stelle von Furcht und Verwirrung die Freude an Reichtum und Pracht dieser Welt stehen.“112 5.7. Semiotik, Symbolik und Bildinterpretation Semiotik, die Wissenschaft von den Zeichensystemen, beschreibt nicht nur Strukturen und Abläufe von Zeichen- und Verstehensprozessen (Semiosen), sondern sie „interessiert sich für die Zeichen als gesellschaftliche Kräfte.“113 Sie ist die „Wissenschaft, welche alle Kulturphänomene so untersucht, als ob sie Zeichensysteme wären – wobei sie von der Hypothese ausgeht, dass in Wirklichkeit alle Kulturphänomene Zeichensysteme sind, d.h., dass Kultur im wesentlichen Kommunikation ist -, so ist die Architektur einer der Bereiche, in dem die Semiotik in besonderem Maße auf die Herausforderung durch die Realität trifft, welche sie in den Griff bekommen will.“114 Damit wird die Semiotik natürlich auch für Architektur, Städtebau und Raumplanung zu einer Herausforderung. Funktionelle Sichtweisen der genannten Disziplinen betonen Form und Funktion, die Objekte (das Gebäude, die Stadt, etc.) haben zu funktionieren und scheinen aus dieser Perspektive scheinbar nichts mitteilen zu wollen. Wenn man jedoch (Ab-)Bilder als wechselseitige Beziehungen zwischen Betrachter und dem Betrachteten versteht, so kommt man zu der Hypothese, dass sich Funktionen auch unter dem Blickwinkel der Kommunikation darstellen lassen, und dass dieser Blickwinkel dazu verhilft, andere Arten der Funktionalität zu entdecken, „die ebenso wichtig sind, für die aber die nur funktionalistische Betrachtung blind macht.“115 Ein Dach ist damit nicht länger nur ein Element, das zum Bedecken dient, sondern es erhält zu dieser Funktionalität weitere Aspekte. Objekte von Architektur, Städtebau und Raumplanung werden in der semiotischen Perspektive im Raum zusätzlich als Ausdruck der Kommunikation betrachtet, ohne von ihrer Funktionalität absehen zu müssen. 5.7.1. Architektonische und Ikonische Codes Für eine semiotische Untersuchung kann man die Arbeitshypothese vorausstellen, dass „alle Kommunikationsformen als Sendung von Botschaften auf der Grundlage von Codes funktionieren, d.h., dass jeder Akt von kommunikativer „performance“ sich auf eine schon bestehende „competence“ stützt. (...) Nach Miller (1951) definieren wir als Code „jedes System von Symbolen, welches durch vorherige Übereinkunft dazu bestimmt ist, die Information zu repräsentieren und sie zwischen Quelle und Bestimmungspunkt zu übertragen.“116 In jedem Kommunikationsprozess existieren diese Regeln oder Codes, die auf irgendeiner kulturellen Übereinkunft getroffen wurden. „Der Code wählt daher diskontinuierliche, diskrete, aus dem Kontinuum der möglichen Tatsachen 112 Lynch, Kevin: a.a.O., S. 141 ; tlw. zit. nach: Flanagan, Thomas: „Amid the wild Lights and Shadows, Columbia University Form, Winter 1957 113 Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik. UTB, 8. Aufl., München 1994, S. 73 114 ebenda, S. 295 115 ebenda, S. 296 116 ebenda, S. 19 145 herausgeschnittene Situationen aus und bestimmt diese zu Einheiten, die für die Zwecke der interessierenden Kommunikation relevant sind.“117 Daher sind auch unsere Lebenswelten, unter dem kommunikativen, semiotischen Aspekt betrachtet, durch unsere historischen, lebensgeschichtlichen Erfahrungen codifiziert. U. Eco hat diese Sachverhalte am Beispiel der „frühesten architekturgeschichtlichen Behausung“, nämlich der Höhle, verdeutlicht.118 Der Mensch in der Steinzeit flüchtet aufgrund eines Unwetters instinktiv nach dem Beispiel eines Tieres oder eines sonstigen Impulses, der vielleicht aus einer Verknüpfung von Instinkt und Überlegung zustande gekommen ist, in eine Höhle. Geschützt vor den Witterungseinflüssen betrachtet er die Wölbung der Höhle, begreift sie als Prinzip eines inneren Raumes, der deutlich vom unwetterhaften Außenraum abgegrenzt ist. Dieses Urerlebnis, das er noch nicht eindeutig zuordnen kann, löst bei ihm vielleicht Gefühle von Schutz und Geborgensein aus, vielleicht werden auch Uterus- Sehnsüchte oder Empfindungen wach. Nach dem Unwetter wird er dieses Objekt, das ihn beschützt hat, von außen aus einer anderen Perspektive betrachten. Er wird das Loch des Einganges, durch das er hineinging, betrachten, und dabei wird in ihm das Bild des Inneren wieder wachgerufen. Seine Erlebnisse des Innenraumes sind für ihn bildhaft vorstellbar, es hat sich eine Idee von dem gebildet, was eine „Höhle“ ausmacht. Diese kognitive Leistung kann bewirken, dass er sich bei künftigen Unwettern an diesen Zufluchtsort erinnert und dass er in anderen Höhlen eine vergleichbare Schutzmöglichkeit erkennt. Seine Erfahrungen und Vorstellungen werden nun automatisch durch eine Idee von Höhle überhaupt ersetzt: „Ein Modell, eine Struktur, etwas real nicht Existierendes, aufgrund dessen er aber einen bestimmten Kontext von Phänomenen als „Höhle“ erkennt. (...) Der Mensch hat also gelernt, dass die Höhle verschiedene Erscheinungsformen haben kann, es wird aber immer um die singuläre Realisierung eines abstrakten Modells gehen, das als solches erkannt wurde, das schon codifiziert ist, vielleicht nicht auf gesellschaftlicher Ebene, aber doch auf der Ebene des Einzelnen, der sich dieses Modell setzt und es sich selbst durch sich selbst mitteilt. Es wird aber auch nicht schwierig sein, das Höhlenmodell mittels graphischer Zeichen seinesgleichen mitzuteilen. Der architektonische Code erzeugt einen ikonischen119 Code, und das „Prinzip Höhle“ wird Gegenstand kommunikativer Beziehungen. An diesem Punkt wird die Zeichnung oder die entfernte Vorstellung von einer Höhle schon zur Mitteilung einer möglichen Funktion und bleibt es, auch wenn die Funktion nicht erfüllt wird oder kein Bedürfnis besteht, sie zu erfüllen.“120 Die Beziehung zwischen architektonischen und ikonischen Codes bedeutet für uns einerseits, dass wir in der Lage sind, von einem beliebigen (städte-) baulichen Objekt (Haus, Brücke, Treppe etc.) ein Zeichen zu entwickeln, mit dem wir diesen Sachverhalt anderen Menschen mitteilen können. Planzeichenverordnungen veranschaulichen dieses Phänomen. 117 Eco, Umberto: a.a.O., S. 58 118 vgl.: ebenda, S. 297 119 Das Ikon ist die stilisierte Abbildung eines Gegenstandes (Emblem); ein Zeichen, das mit dem Gegenstand, den es darstellt, Ähnlichkeit aufweist. Die Ikonologie untersucht als kunstwissenschaftliche Methode, die Zusammenhänge von Bildinhalten von Kunstwerken (auf der Grundlage der Ikonographie) und deren Funktion innerhalb eines Bildprogramms oder eines bestimmten räumlichen Zusammenhangs vor dem Hintergrund eines bestimmten geistigen Gesamtkonzeptes. Die Ikonographie befasst sich mit der Erforschung und Deutung der Bildgegenstände in der Kunst. 120 Eco, Umberto: a.a.O., S. 297 146 Peirce definierte ein Zeichen als „etwas, das für jemanden in gewisser Hinsicht für etwas steht.“ Das Objekt behält seine Funktion, es teilt sie mit, auch wenn es diese Funktion gerade nicht ausübt. Der Gebrauch eines Löffels ist zunächst einmal die Erfüllung einer bestimmten Funktion, die Speise zum Mund führen zu können. Doch hinter dieser Funktion wird eine kommunikative Funktion in Gang gesetzt. Der Löffel teilt eine zu erfüllende Funktion mit, setzt eine bestimmte Art des Essens in Gang, die sich von anderen unterscheidet, auch wenn er gerade nicht gebraucht wird. Ein Fahrrad macht eine bestimmte Form der Fortbewegung sichtbar, die sich von anderen Fortbewegungsarten unterscheidet. Es verbleibt immer ein Fortbewegungsmittel; es behält diese Funktion und teilt sie mit, auch wenn es gerade steht und nicht benutzt wird. Die über die Funktion hinausgehende Ebene der Kommunikation macht für uns die Dinge interessant, bedeutsam. Umberto Eco stellte sich zuerst die Frage, ob das, was mit Kommunikation gemeint ist, nicht einfach eine Reizung darstellt. Er definierte den Reiz „als Komplex von sensorischen Ereignissen, die eine bestimmte Reaktion hervorrufen. Die Reaktion kann direkt (ein Licht blendet mich, ich schließe die Augen) oder indirekt sein: ich sehe ein Auto, das sich mit großer Geschwindigkeit nähert, und trete beiseite. In Wirklichkeit bin ich aber in dem Moment, wo ich wahrgenommen habe, (...) schon von einem einfachen Zusammenhang zwischen Reiz und Reaktion zu einem intellektuellen Verfahren übergegangen, in das Zeichenprozesse eingegriffen haben: das Auto wurde nämlich nur deshalb als Gefahr erkannt, weil es als Zeichen verstanden wurde, das die Situation „Auto, das sich mit großer Geschwindigkeit nähert“, mitteilt.121 Wahrnehmung beinhaltet einerseits den sensorische Prozess der Aufnahme, Umsetzung und Weiterleitung von Reizen (Perzeption) und andererseits den verarbeitenden Aspekt der Apperzeption, das heißt das Erkennen und Einordnen in ein Bezugssystem. Letzteres ist ein kognitiv - intellektueller Vorgang, in dem Sinngebung und Bedeutungszuweisung geschieht. Dinge, und dazu gehören auch Zeichen, werden auf der Basis vorhandener Erfahrungen und Erfahrungscodes gedeutet. Um die Umwelt richtig erfassen und einschätzen zu können, muss folglich die tiefere Bedeutung erschlossen werden: Architektonische, sowie stadt- und raumplanerische Objekte „reizen“ mich durch Bedeutungen, die sie mir mitteilen. Um z.B. eine Treppe hinaufzusteigen, muss ich durch Erfahrung gelernt haben, was eine Treppe ist, sonst ist die Treppe nur eine Masse Beton, Stahl, Holz, etc.122 „Das heißt: das, was mir den Gebrauch der Architektur erlaubt (...), sind nicht nur die möglichen Funktionen, sondern vor allem die damit verbundenen Bedeutungen, die mich für den funktionalen Gebrauch disponieren. (...) Bei einigen architektonischen Funktionen, die ich nicht als Reize wahrnehme, bemerke ich möglicherweise nicht ihre Funktionalität, während ich die kommunikative Wirksamkeit erfasse: Schutzgefühl, Raumgefühl etc.“123 121 vgl.: ebenda, S. 298 f. 122 „Erstens: um eine Treppe hinaufzusteigen, muss ich gelernt haben, was eine Treppe ist. Man lernt hinaufzusteigen, lernt also auch, auf den Reiz zu reagieren: der Reiz allein könnte nicht funktionieren; zweitens: wenn ich einmal gelernt habe, dass die Treppe mich zum Hinaufsteigen reizt (und mir gestattet, von einer horizontalen Ebene auf eine andere zu gelangen), erkenne ich in der Treppe den angebotenen Reiz und die Möglichkeit, eine Funktion zu erfüllen.“ (ebenda, S. 299) 123 Eco, Umberto: a.a.O. , S. 300 147 5.7.2. Denotation und Konnotation Form und Zeichen sollten der Funktion auf Basis bestehender Codifizierungen folgen.124 Die Form bezeichnet die Funktion nur auf Basis eines Systems von erworbenen Erwartungen und Gewohnheiten, also auf der Basis eines Codes. Ebenso wie die Form der Funktion folgen sollte, folgt die Konnotation der Denotation. Das, was einen sinnvollen Gebrauch von Architektur und Städtebau ermöglicht, sind seine Funktion (die Denotation) und die mit ihr verbundenen Bedeutungen (Konnotationen). Das Zeichen Triumphbogen denotiert beispielsweise die Möglichkeit des Hindurchgehens, aber gleichzeitig konnotiert es Assoziationen oder Gefühle wie Triumph, Macht, Feierlichkeit, etc. Die Beziehung von Denotation und Konnotation125 ermöglicht es, die Weiterentwicklung von Begrifflichkeiten zu erklären, wie z.B. die Entwicklung von Wohnen oder „Hausen“. Die in dem Beispiel gewählte Höhle bildet die Ursprungssituation des „Behaustseins“, sie denotiert die erste Funktion Schutz. Im Laufe der Geschichte entwickelt sich aufgrund von Erfahrungen eine Folge von Objekten, die diese beschützende Funktion verkörpern (Hütte, Haus, Stadtvilla, Geschosswohnungsbau). Zur ersten Funktion wird die zweite Funktion, z.B. Sicherheit, konnotiert, dann die dritte Funktion, wie z.B. Heimat oder Zuhause, etc. Der mehrgeschossige Plattenbau erhält die n – te Funktion, die vielleicht Monotonie oder soziale Ungerechtigkeit konnotiert. Es entsteht hierdurch eine unendliche Reihe von Funktionen und Anreicherungen dieser mit Bedeutungen und Assoziationen, also eine unendliche Semiose. Jede Denotation zieht weitere Konnotationen nach sich, die als Denotation wiederum Ausgangsbasis für weitere Konnotationen werden. Die Konnotationen bezeichnet Umberto Eco auch als symbolische Funktion. „Wir hatten gesagt, dass der architektonische Gegenstand die Funktion denotieren oder eine bestimmte Ideologie der Funktion konnotieren kann. Aber zweifellos kann er auch andere Dinge konnotieren. Die Höhle, von der wir in unserem hypothetischen Modell sprachen, denotierte schließlich eine Schutzfunktion, aber zweifellos hat sie im Laufe der Zeit auch „Familie, Gemeinschaftskern, Sicherheit“ usw. konnotiert. Es ist schwer zu sagen, ob diese ihre konnotative Natur, ihre symbolische „Funktion“ weniger „funktionell“ ist als die erste. (...) So dehnt sich unter dieser Perspektive die Bezeichnung „Funktion“ auf alle kommunikativen Bestimmungen des Gegenstandes aus, vorausgesetzt, dass im Gemeinschaftsleben die „symbolischen“ Konnotationen des Gebrauchsgegenstandes nicht weniger „nützlich“ sind als seine „funktionellen“ Denotationen. Es muss klar sein, dass sich die symbolischen Konnotationen als funktionelle verstehen, nicht nur im metaphorischen Sinne, sondern 124 Es macht beispielsweise wenig Sinn, wenn ein Designer neue Zeichen für das Auf- und Abwärts von Fahrstühlen oder für die Bezeichnung von Stockwerken konzipiert, die niemand versteht. 125 Denotation bezeichnet in der Semiotik und Semantik das durch soziale Konvention festgelegte direkte Verhältnis eines Bezeichnenden (Signifikant) zu dem von ihm Bezeichneten (Signifikat). Die Konnotation stellt nicht das durch Denotation erschließbare Erstgemeinte, sondern das Mitgemeinte oder –bedeutete als dasjenige dar, das im Gegensatz zur konkreten Bedeutung eines Zeichens mit diesem intellektuell oder emotional verknüpft werden kann. Konnotation entsteht, wenn das Bezeichnende bzw. der Signifikant und das durch Denotation Bezeichnete bzw. das Signifikat gemeinsam zu einem neuen Signifikanten werden, der erst mit einem Vorstellungsinhalt gefüllt werden muss. (Dargestellt haben dies u. a. Roland Barthes in Mythen des Alltags und Umberto Eco in Das offene Kunstwerk.) So konnotiert das Zeichen „Mond“ unter bestimmten Voraussetzungen, z. B. im Umfeld der Literatur, ein romantisches Gefühl: oder aber auch die Vorstellung von Kälte. (vgl. Vierecke, A.: Microsoft® Encarta® 99 Enzyklopädie. © 1993-1998) 148 insofern sie einen sozialen Gebrauchswert des Gegenstandes mitteilen, der nicht unmittelbar identisch ist mit der „Funktion“ im strengen Sinne.“126 5.7.3. Signifikant und Signifikat Das semiotische Modell verdeutlicht in architektonischen und städtebaulichen Zeichen die Präsenz von Signifikant und Signifikat, vom Bezeichnenden und Bezeichneten, deren Verbindung das Zeichen bildet.127 Der Signifikant stellt die materielle, stoffliche Seite dar, durch die sich ein Zeichen manifestiert, die „Ausdrucksebene“, wie z.B. die Brücke aus Holz, die Treppe aus Beton, das Haus aus Stein. Das Signifikat bezeichnet mitschwingende begriffliche Seiten, die Bedeutung eines Zeichens. Signifikant ist die Höhle, in der sich die Funktion Schutz über das Zeichen als Signifikat manifestiert. Signifikate eines Hauses können Status, Wohlstand, Heimat, Sicherheit, Schutz, etc. sein.128 Die Differenz zwischen Signifikant und Signifikat führen wir durch unsere Deutung herbei. Bei U. Eco ist die Semiose offen. Es genügt, dass etwas als signifikanter Bedeutungsträger erkannt wird. Dem Interpreten bleibt es, unabhängig von der ursprünglichen Intention, überlassen, ihn in diesem oder jenem Sinne zu deuten. Deutungsebenen erhalten damit individuelle und gesellschaftliche bzw. gruppenspezifische Aspekte. Verstehen und Deuten steht in Bezug zu Codes, „verabredeten“ Systemen von Symbolen, welche durch gesellschaftliches Übereinkommen dazu geeignet sind, Informationen zu repräsentieren und sie zu übertragen. Wenn man verschiedenen Beobachtern das Bild eines Hauses vorlegt, dann fallen diesen Beobachtern spontan unterschiedliche Bedeutungen zu diesem Haus aufgrund unterschiedlicher Erfahrungshorizonte ein. Das Haus lässt sich aber nicht nur als gesamtes noematisches System erfassen, sondern auch in wichtige einzelne funktionelle Bestandteile, die eben ein Haus ausmachen, gliedern: Eingang, Wände, Dach, Fenster, etc. Man könnte nun die einzelnen Denotationen und Konnotationen der Zeichen und Symbole sondieren. Beispiel: Die Tür ist eine Öffnung und konnotiert Zugang, Durchgang, Grenze, Offenheit, etc. Das Dach bietet Schutz und konnotiert Sicherheit, Geborgenheit. Bei jedem Beobachter schwingen individuelle Konnotationen mit. In einer experimentellen Sequenzanalyse könnte man die durch Probanden präferierten Symbole und ihre Reihenfolge nach Bedeutungsgrad ermitteln. Bei einer großen Anzahl von Elementen und 126 Eco, Umberto: a.a.O., S. 310 f. 127 vgl.: Barthes, Roland: Elemente der Semiologie. Edition Suhrkamp, 1. Aufl., 1983, S. 33. „Die Ebene der Signifikanten bildet die Ausdrucksebene und die der Signifikate die Inhaltsebene.“ 128 „Die semiotische Perspektive hingegen, die wir akzeptiert haben, (mit ihrer Unterscheidung zwischen Signifikanten und Signifikaten; die ersten wahrnehmbar und beschreibbar, abgesehen – im Prinzip wenigstens – von den Signifikaten, die wir ihnen zuschreiben; die zweiten veränderbar gemäß den Codes, mit deren Hilfe wir die Signifikanten lesen), erlaubt uns, in den architektonischen Zeichen beschreibbare und katalogisierbare Signifikanten zu erkennen, die präzise Funktionen denotieren können, wenn man sie nur mit Hilfe bestimmter Codes interpretiert; und diese Signifikanten können sich mit sukzessiven Signifikaten auffüllen, die, wie wir sehen werden, ihnen nicht nur auf dem Wege der Denotation, sondern auch auf dem Weg der Konnotation, auf der Basis von anderen Codes zugesprochen werden können.“ Eco, Umberto: a.a.O., S. 305 149 Probanden wird eine identische Sequenz äußerst unwahrscheinlich, was zum Ausdruck bringt, dass die Wahrnehmung von Bildern und Objekten ein sehr individuelles Phänomen ist. Nur in einem umfassenden Interview, welches sich zum Ziel setzt, den persönlichen Kontext zu ermitteln, lassen sich Prioritäten und Assoziationen zu den einzelnen Elementen oder Zeichen, Denotationen und Konnotationen ermitteln, die auf lebensgeschichtlicher Erfahrung gründen. Dabei treten bei einfühlsamer, vertrauensbildender Gesprächsführung auch Verknüpfungen mit unbewusstem Material in Erscheinung, das ggf. über Jahre verdrängt war. Der Betrachter fühlt sich in einem spiralförmigen Treppenaufgang zunächst über die bewusste Ebene des Hinaufgehens oder Hinabsteigens angesprochen. Darüber hinaus könnte dieses Symbol dem Betrachter eine Tendenz auf einer unbewussten Ebene signalisieren, die ihm eine Klärung tieferer unbewusster Bereiche indiziert. Vielleicht drückt diese spiralförmige Treppe auch seinen Wunsch nach psychischer Weiterentwicklung oder Bewusstwerdung, ein Fortkommen im Individuationsprozess aus. Jean Piaget vertritt die Auffassung, dass Zeichen immer gesellschaftlicher Natur seien, und er konstatiert, dass Zeichensysteme und Sprache nicht ausreichen, um alle Konstellationen darzustellen, die ein semiotisches System abbilden können müsste. Daher fordert er die Erweiterung der Semiotik durch bildhafte Symbole. Sprachsymbole seien als gemeinsames Medium zu abstrakt, um damit alle subjektiven Erfahrungen und individuellen Möglichkeiten vollständig und differenziert zum Ausdruck bringen zu können. „Deshalb konkretisiert das Individuum sogar beim Sprechen den Sinn der Worte, die es verwendet, mit Hilfe eines Systems individueller Bilder.“129 Seine Thesen verdeutlicht er mit Hilfe eines Experimentes: Eine Anzahl von Psychologiestudenten, von denen mehrere den symbolischen Charakter eines Bildes anzweifelten, wurden gebeten, jeder für sich die Folge der ganzen Zahlen darzustellen. Das Ergebnis war durch die Verschiedenartigkeit des bildhaften Ausdrucks beeindruckend: Eine Reihe vertikaler Stäbe von gleicher oder zunehmender Höhe, aufeinandergestapelte Scheiben, aufeinanderfolgende Punkte, regelmäßige Treppen mit Absätzen für die Zehner, etc. Das bedeutet, dass jede Person selbst abstrakte Begriffe, die allen Individuen allgemein bekannt und in einem vereinheitlichten Vokabular definiert sind, unterschiedlich verinnerlicht und infolgedessen anders darstellt. Um wieviel mehr muss dies für Begriffe, Worte und Sachverhalte gelten, die keiner Normung in dem Sinne unterliegen! Die besondere über die Sprache hinausgehende Bedeutung der bildhaften Symbolik kann man folgendermaßen zusammenfassen: „Es gibt nun ein riesiges Gebiet, das die Sprache nicht zu beschreiben vermag, es sei denn auf tausend komplizierten Umwegen: das Gebiet alles dessen nämlich, was gerade eben wahrgenommen wird, und besonders alles dessen, was in der äußeren Umgebung oder an den eigenen Handlungen wahrgenommen worden ist, und das es nicht zu verlieren gilt. Es kann tatsächlich notwendig oder nützlich werden, dieses einem anderen mitzuteilen (hier steht nur die Sprache zur Verfügung, wenn der graphische Ausdruck nicht benutzt wird, welcher viel höher steht, aber schon zum Gebiet des Bildes gehört), aber es ist vor allem 129 Piaget, Jean; Inhelder, Bärbel: Die Entwicklung des inneren Bildes beim Kind. Frankfurt 1979, S. 497 150 unerlässlich, einen Teil davon zu vielfältigen Adaptationszwecken im Gedächtnis zu behalten. Man muss also, wenn man das Wahrgenommene durch das Denken evozieren will, das System der verbalen Zeichen durch ein System von bildhaften Symbolen verdoppeln, da man ohne semiotische Werkzeuge nicht denken kann: das Bild ist ein Symbol, weil es das notwendige semiotische Instrument darstellt, um das Wahrgenommene zu evozieren und zu denken.“130 5.7.4. Bildwahrnehmung nach Stefan Müller-Doohm Die Fragestellung, ob Bildwahrnehmung ein individueller Vorgang ist, führte mich zur sozialwissenschaftlichen Bildinterpretationsforschung Stefan Müller-Doohms. Er analysierte, wie die Welt der Bilder sinnverstehend erschlossen werden kann. Ursprünglich bestand der „Verdacht, dass die Bildersprache aufgrund ihrer unmittelbaren Abbildungsfunktion und ihrer simultanen Zeichenstruktur zu wenig komplex sei, um sie analytischen Auswertungsverfahren zu unterstellen.“131 Das soziologische Bildverstehen zielt darauf ab, die sozialen Bedeutungs- und Sinngehalte in ihrer visuellen Symbolik mit hermeneutischen und semiotischen Mitteln zu dechiffrieren.132 Das Bild und seine ikonischen Ausdrucksmittel versteht er als eine eigene Realität, die aus einer Vielfalt von Gestaltungsformen und Strukturelementen besteht. Er spricht mit B. Wadenfels von der Doppelgestalt, die sich im Bild präsentiert: „das Bild als Ding, das sich mitzeigt, und das Bild, das die Aufgabe hat, anderes zu zeigen.“133 Dabei wird evident, dass Individuen in ganz verschiedenen Situationen visuelle Phänomene unterschiedlich wahrnehmen und natürlich auch unterschiedlich deuten. Sein Vorschlag zur Bildinterpretation bezieht sich im Wesentlichen auf Bilder, die von Agenturen der Werbebranche zur Sinnvermittlung eingesetzt werden. Sie weisen damit zwar eine geringere ikonische Dichte auf, sie können aber durchaus intensiv mit Symbolik aufgeladen sein. Werbegraphische Bilder konstruieren oft eine Scheinwelt und legen es auf eine Täuschung an. So „stellt sich in der Soziologie die Aufgabe, solche Täuschungsmechanismen etwa hinsichtlich ihrer verhaltenssteuernden, wertsetzenden, weltbildhaften Implikationen aufzudecken. Darüber muss die kultursoziologische Analyse den Nachweis führen, in welcher Weise sich die Inszenierungen der Werbung des kollektiven Symbolhaushalts einer objektiven Kultur bedienen und dabei Umdeutungen vornehmen, die kulturell folgenreich sein können (Reichertz 1995).“134 Denn Bildsymbolik schöpft „aus den Beständen tradierten Wissens und reproduziert sie gemäß ihren eigenen Regeln dadurch, dass die Nonverbalität des Bildes Bestandteil der intersubjektiv verbindlichen Verständigungspraxis ist.“135 Um die Aussage eines Bildes beurteilen zu können, also die Einschätzung vornehmen zu können, was an einem Bild „wahr oder richtig“ ist, muss das Individuum seine Standpunkte auf eine mit anderen Menschen gemeinsam geteilte Lebenswelt zurück beziehen können. 130 Piaget, Jean; Inhelder, Bärbel: a.a.O., S. 498 131 Müller-Doohm, Stefan: a.a.O., S. 82, Fn. 1 132 vgl.: ebenda, S. 84 133 Wadenfels, B.: Ordnung des Sichtbaren, in: Boehm, G. (Hg.): Was ist ein Bild? München 1994, S. 238 134 Müller-Doohm, Stefan: a.a.O., S. 89 135 ebenda, S. 88 151 Diese generiert Strukturprinzipien, die ihm einen Bewertungsmaßstab liefern. „Indem neben dem Bedeutungsgehalt des Bildes von seiner Sinnstruktur die Rede ist, wird behauptet, dass unterhalb der Ebene manifester Aussagen eine Ebene latenter Strukturprinzipien existiert. (...) Diese Strukturprinzipien sind als eine den symbolischen Formen, so auch Visualisierungen, immanente Größe zu verstehen. Sie ist den subjektiv gemeinten Bedeutungszuschreibungen immer schon voraus.“136 Der gesellschaftliche Interpretationsrahmen liegt den subjektiven Deutungen des Einzelnen zur Orientierung als Basisbedeutung bereits strukturell vor. Die subjektive Bedeutungseinschätzung des Wohnens bekommt z.B. in Werbebotschaften über „richtiges Wohnen im Einfamilienhaus“ einen gesellschaftlich symbolischen Strukturrahmen mitgeliefert, von dem her sich die Individuen und ihre Welt in einen Deutungsrahmen setzen können. Dieser unterliegende Deutungsrahmen erklärt dann auch die außerordentliche Bedeutung von Statussymbolen. Stefan Müller-Doohm konstruierte ein Verfahren der Symbolanalyse, das hermeneutische und strukturale Elemente miteinander verbindet, und zwar im Rekurs auf die einschlägigen Schriften Theodor W. Adornos, demzufolge Bilder „Chiffren gesellschaftlicher Sachverhalte“137 sind. Wenn es aber um das Bild als Träger sozialer Bedeutungsgehalte geht, müssen, so der Autor, Fragerichtungen, wie die nach Bildinhalt, Bildrezeption und Bildproduktion aufeinander bezogen werden. Im Rückgriff auf Ikonologie (Panofsky), lkonik (Imdahl) und Semiologie (Barthes) entwickelte er ebenso wie die genannten Autoren ein dreiphasiges Interpretationsschema der Bild-Text-Analyse, das folgende Komponenten enthält: 1. Deskription: Die Beschreibung dessen, was man sieht; darunter versteht er die Paraphrasierung der Bild-Text Botschaften und die reine Wahrnehmung im Sinne eines Scanners. 2. Rekonstruktion: Die zweite Phase dient der sorgfältigen Rekonstruktionsarbeit und bildet damit die eigentliche Bedeutungsanalyse für den symbolischen Gehalt, sie dringt tief in die Bedeutungsebene von Bild und Text ein. 3. Interpretation: Die abschließende Phase des Deutungsprozesses dient der Interpretation dessen, was man beschrieben und rekonstruiert hat, und zwar in Bezug auf eine Kulturtheorie, die sich folglich durch die jeweiligen kultursoziologischen Interpretationsparameter unterscheidet. Diese Analyse-Methodik ist bei Texten und bildlichen Botschaften anwendbar. Er isoliert formal zunächst die einzelnen Botschaftselemente des Bildes, um sie dann in einem gemeinsamen Beziehungsrahmen wieder zusammenzusetzen. Bildbotschaften sind prinzipiell zweigliedrig: „einerseits als perzeptive, mithin „nicht – kodierte Bildbotschaft“ und andererseits als „kodierte bildliche“, mithin als symbolische Botschaft des 136 Müller-Doohm, Stefan: a.a.O., S. 93 137 Adorno, T. W.: Stichworte – Kritische Modelle II. Frankfurt a. M., 1969, S. 117 152 Bildes“.138 Vergleichbare Differenzierungen verwendet U. Eco, indem er von einer ersten Funktion (welche denotiert wird) und einem Komplex der zweiten Funktionen (welche konnotiert werden) spricht. Der kognitive Verarbeitungsvorgang in Form von Sinngebung liegt nicht im denotativ Funktionalen, im konkret durch Reizeinwirkung Wahrgenommen, sondern in der Entschlüsselung der Bedeutung. Die symbolische Botschaft eines Bildes erfasst den gesamten Bereich der bildlichen Konnotationssignifikate, die deshalb vorhanden sind, weil eben Bilder nicht nur denotative Elemente beinhalten, sondern darüber hinaus eine Metasprache entfalten. „Diese Meta- oder Konnotationssprache des Bildes strukturiert und steuert die Bildbedeutung insgesamt; sie ist der bedeutungsstiftende Teil der symbolischen Botschaft, die durch die werblichen Botschaften vermittelt wird. Das Konnotationssystem, das der buchstäblichen Bildbotschaft wie eine semantische Verkleidung anhängt, enthält nun alle semantischen Komponenten, die durch die einzelnen Bildelemente und ihre bildliche Organisationsform gegeben sind. Die Reichweite wie die Kohärenz dieses Konnotationssystems, das durch die Bildanalyse rekonstruiert wird, hängt ab von den Lesarten, die an das Bild herangetragen werden.“139 Die Interpretation eines Bildes oder seiner Teilelemente / Symbol ist individuell verschieden und unterliegt damit der Subjektivität, auch wenn die Codes einer Gruppe eine übereinstimmende Lesart festsetzen. Damit wird jede Analyse eines Raumbildes notwendigerweise zu einer Einzelfallbetrachtung. Ebenso handelt es sich bei dem o.g. dreiphasigen Interpretationsverfahren um ein Interpretationsverfahren der Einzelfallanalyse.140 5.8. Zusammenfassung Unsere Umwelt nehmen wir in Form von Bildern in uns auf. Das chiastische Modell der Blickverschränkung von Jacques Lacan analysiert die Wechselwirkung zwischen Betrachter und Betrachtetem und entwickelt die These, dass das Subjekt nicht Bilder auswählt, sondern dass der Blick ihm entgegenkommt. Das Subjekt gerät hierdurch in eine Beziehung zu den Objekten, sie lenken seine Blicke. Die Wahrnehmung unserer Lebenswelt erfolgt durch die Aufnahme, Weiterleitung und Verarbeitung von Sinnesreizen, die das Individuum mit früheren Erfahrungen abgleicht und sie synthetisch zu einem neuen Inhalt verknüpft. Sinngebung und Bedeutungszuweisung sind kognitive Vorgänge. Zusammenhänge mit sozioökonomischem Status und Schichtenspezifität sind nachweisbar. Die Bildwahrnehmung folgt einer Struktur, die man gestalttheoretisch als Figur-Grund- Wahrnehmung bezeichnet. Sie ermöglicht es, einzelne Figuren vor einem Hintergrund zu 138 Müller-Doohm, S.: a.a.O., S. 101. Zit. nach: Barthes, R.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt 1990, S. 28 ff. 139 ebenda, S. 101 140 vgl.: ebenda, S. 102. Zur Systematisierung und Selektion von Einzelfällen schlägt er folgende Untersuchungssystematik vor: 1. Bildersteindrucksanalyse (Primärbotschaft, dargestellte Objekte und Personen, verwendete markante Stilmomente, etc.), 2. Hypothetische Typenbildung, 3. Typenbildung und 4. Einzelfallanalyse. 153 erfassen und sie auch, wenn sie für uns nur zu einem Teilbereich ersichtlich sind, als Ganzes begreifen zu können. Eine intakte visuelle Wahrnehmung versetzt uns in die Lage, die Konzentration auf wesentliche, bedeutsame Bildelemente zu richten und Dinge in räumliche Bezüge zu stellen. Die Phänomenologie liefert Erkenntnisse in Bezug auf die Betrachtung von Raum – Bildern. Wir erfassen Bilder in noematischer Weise: Obwohl wir nur Teile eines Objektes und nie das Ganze betrachten, können wir auf das gesamte noematische Objektsystem schließen. Zu solchen bildhaft ergänzenden Schlussfolgerungen sind wir aufgrund kognitiver Prozesse der Apperzeption in der Lage. Wir nehmen den Raum wahr, wie er „mehrdimensional“ aussieht bzw. aufgrund unserer Gedächtnisleistung aussehen könnte, und nicht, wie er sich uns „wirklich“ präsentiert. Bilder unserer (städtischen) Lebenswelt setzen sich aus Zeichen und Symbolen zusammen. Den Modellvorstellungen der Semiotik zufolge teilen uns architektonische, stadt- und raumplanerische Elemente und Systeme etwas mit. Es existiert eine Beziehung zwischen Betrachter und Betrachtetem. Erst die Synthese der Funktionen (Denotationen) mit den ihnen verbundenen, aufgeladenen Bedeutungen (Konnotationen) macht einen sinnvollen, differenzierten Gebrauch von Architektur und Raumplanung möglich. Signifikant und Signifikat beschreiben das Verhältnis zwischen dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten, der Ausdrucksebene und der Bedeutung eines Zeichens für uns. Durch Zeichen und Symbole werden Objekte ohne ihre physische Präsenz kommunizierbar, mitteilbar. Konnotationen offenbaren über die konkrete stoffliche Ebene hinaus einen „Bedeutungszuwachs“. Das, was wir „hinter“ einem Bild an Inhalten erkennen, ist mehr als der Gebrauchswert der Figur oder der Funktion, es ist Bedeutung, Sinngebung, Symbol. Der Untersuchungsansatz von K. Lynch verdeutlicht den Wunsch, die Erlebbarkeit der städtischen Umwelt verobjektivieren zu können. Dabei reduziert er den Erfahrungshintergrund „Stadt“ vornehmlich auf visuelle Erfassbarkeit, Ablesbarkeit und Orientierungsprinzipien, wobei die tieferen Bedeutungsebenen von Objekten aber verloren gehen. Es genügt eben nicht, das Auge durch festgefügte, klare Formen zu „begeistern“, die Bildprägekraft durch physisch erfassbare Gegenstände zu erhöhen. Den untersuchten Arbeiten ist im Wesentlichen gemeinsam, dass wir Dinge/Objekte unserer Lebenswelt erfassen oder uns von ihnen ansprechen lassen, weil sie für uns eine besondere Bedeutung innehaben. Sie kommunizieren mit uns. „Hinter“ den Objekten ist eine subjektiv-interpretierbare symbolische Bedeutung verschlüsselt, denn das Objekt hat zur Denotation zusätzliche Konnotationen erfahren. Diese Wahrnehmungs-, Betrachtungs- oder auch Selektionsvorgänge zeigen an, dass die Motivwahl etwas mit unserer persönlichen Lebensgeschichte zu tun hat. Wir nehmen einen „einzigartigen Standpunkt“ ein, der den Rest des Wahrnehmungsbildes „verschattet“ oder in den Hintergrund drängt. Reizverarbeitung, Deutung und Sinngebung sind durch die Subjektivität der Lebenserfahrung als individuelle Vorgänge vorstrukturiert. Die Deutung von Bildern, Zeichen und Symbolen ist daher immer eine „Einzelfallbetrachtung“. 154 6. Die städtische Lebenswelt der Moderne und ihre Einflüsse aus sozialpsychologischer Sicht 6.1. Einleitung Im letzten Kapitel analysierte ich, dass die „Bilder“, die uns ansprechen, Ausdruck unserer subjektiven psychosozialen Struktur sind. Im Umkehrschluss folgte die Hypothese, dass Individuen (und Gruppen) ebenso ihre inneren Bilder als repräsentative Raumbilder in die Lebenswelt übertragen. Derartige „Projektionen“ sind individuelle und kollektive Lebensentwürfe von PlanerInnen und Verantwortlichen, die sich vor einem historisch-epochaltypischen Kontext entwickelten und die wechselseitige Beeinflussung von Individuum und Gesellschaft widerspiegeln. Die Charta von Athen ist als zeitgenössisches Leitbild für den Städtebau der Moderne als Endpunkt einer historischen Entwicklungslinie aufzufassen; ihre Ausformungen in der Realität bezeichnete Alexander Mitscherlich als „Defektformen der Raumplanung“ 1. Der rational-funktionale Städtebau der Moderne kann psychogene und pathologische Reaktionen im Menschen hervorrufen, so lautet die Kernhypothese dieser Arbeit. Der Psychoanalytiker Jakob von Uexküll äußerte zum modernen Städtebau folgende These: „Die Umweltleere ist eine Art nach außen verlegter Seelenkunde.“ Ähnlich lautet Alexander Mitscherlichs Aussage: „Das heißt also, dass die Art und Weise, wie wir unsere Umwelt gestalten, ein Ausdruck unserer inneren Verfassung ist.“2 Im diesem Kapitel möchte ich den Städtebau fordististisch-moderner Lebenswelten und seine direkten und indirekten Einflüsse auf die Psyche aus sozialpsychologischer Sicht näher untersuchen. Die Sozialpsychologie verfolgt in der Stadtforschung u.a. das Ziel, die Auswirkungen des bebauten und unbebauten Raumes auf das Individuum in städtischen Lebensgesellschaften zu analysieren. Einen „Schwerpunkt der auf Stadtplanung und Städtebau gerichteten Sozialpsychologie bildet die Analyse der Wechselwirkung von städtischen Verhältnissen und städtischem Verhalten, von bebautem Raum, den Gesellschaftsbildern von Architekten und Stadtplanern sowie den Problemen der Stadtbewohner.“3 In städtischen Entwicklungsprozessen verorten sich konträre gesellschaftliche Interessen, was jedoch immer mit irgendwelchen sozialen Folgen verbunden ist, wie z.B. der Verdrängung von Wohnen aus dem innenstädtischen Kern durch den tertiären Sektor. Die „rationale“ Standortplanung stellt vielerorts nur eine Schein-Rationalität dar, mit der sich gesellschaftliche oder kapitalorientierte Begründungen „passend“ machen lassen. Zweckrationalität und Funktionalität wurden in vielen Kommunen zu einem Trojanischen Pferd, mit dem sich ganze Stadtviertel im ökonomischen Interesse Einzelner oder einzelner Gruppen abreißen, umgestalten, wegsanieren oder aufteilen ließen. 1 Mitscherlich, Alexander (1965): a.a.O., S. 93: „Es werden durch die Defektformen der Raumplanung – sowohl in der Intimsphäre wie in den Bereichen der Öffentlichkeit – an der Sozietät nur wenig interessierte oder ihr gar feindlich gesinnte Individuen herangebildet.“ 2 Uexküll, Jakob von: zit. bei Mitscherlich, Alexander (1965): a.a.O., S. 50 3 Schmals, Klaus M. (2001): a.a.O., S. 70 155 Die kritischen Stimmen zum funktionalistischen Städtebau (der Nachkriegszeit) schlossen daher zwangsläufig auch die Kritik am Menschen- und Gesellschaftsbild von ArchitektInnen, StädtebauerInnen und RaumplanerInnen mit ein. So vertritt Alfred Lorenzer die These, dass ein Architekt ein „bloßer technischer Erfüllungsgehilfe der tonangebenden Instanzen sei, und dies sei keineswegs ein Wunschtraum der Soziologen und Sozialpsychologen.4 Auch Heide Berndt kommt zu dem Urteil, „dass die Wahl der Standorte für Wohnung und Gewerbe nicht länger vom Gemeinwesen bestimmt werde, sondern von Privatleuten und deren privaten Interessen.5 (...) Da jedoch eine völlig mangelhafte Finanzverfassung die Gemeinden zwingt, sich den Wünschen wirtschaftlich mächtiger Standortkäufer zu fügen, vollzieht sich der moderne Städtebau doch weitgehend nach Interessen ökonomisch Mächtiger, die nicht mit einem gesamtgesellschaftlichen Interesse gleichgesetzt werden können.“6/7 Hinter dem funktionalen Städtebau steht offenbar „ein Zwang ökonomischer Art“8, der „heutige Funktionalismus in der Architektur [ist] eine »eindimensionale« Ästhetik. Er spiegelt jene Eindimensionalität der gesamten gesellschaftlichen Entwicklungsrichtung wider, die Verselbständigung der technischen Mittel gegenüber gesellschaftlichen Zielsetzungen - eben die Verselbständigung der ZweckrationaIität - (...). Der eindimensionale Charakter der modernen Industriegesellschaft gründet in der Kopplung von rationalen Mitteln und irrationalen Zwecken, in der Verknüpfung von Produktivität und Vernichtung. Der verwirrendste Aspekt dieser Gesellschaftssysteme ist der »rationale Charakter ihrer Irrationalität«9.“10 Der Stadtsoziologe und Architekt Klaus M. Schmals folgert hieraus: „Hinter diesem funktionalistischen, auf Zweckrationalität zielenden Gesellschaftsbild der Stadtplanung, dieser Variante von Selbstdestruktion und Kulturvernichtung, steht der ökonomische Zwang kapitalistischer Verhältnisse, deren primärer Zweck die „Rationalisierung, (...) die quantitative 4 vgl.: Lorenzer, Alfred: Städtebau: Funktionalismus und Sozialmontage? Zur sozialpsychologischen Funktion der Architektur. In: Berndt, Heide; Lorenzer, Alfred; Horn, Klaus: Architektur als Ideologie. Suhrkamp. Frankfurt 1968, S. 51. Hier ergänzt er: „... dieses Bild entspricht vielmehr genau der Selbsteinstufung konsequenter „Funktionalisten“.“ 5 H. Berndt ergänzt: „Alexander Mitscherlich hat diese Form der städtischen Bodenverhältnisse konsequent kritisiert, indem er nachwies, dass die heutigen Städte tendenziell nur für erwerbstätige Menschen eingerichtet werden und die Bedürfnisse von ökonomisch nicht produktiven Bevölkerungsgruppen, vor allem der Kinder und alten Leute, vernachlässigt und unterdrückt werden.“ Vgl.: Mitscherlich, A. (1965): a.a.O. 6 Berndt, Heide: a.a.O., S. 27 mit Bezug auf ihre Arbeit „Das Gesellschaftsbild bei Stadtplanern“ 7 ebenda, S. 28: Heide Berndts Beurteilung hat auch aus heutiger Sicht an Aktualität nichts verloren: „Dass die städtischen Behörden sich diesen Tendenzen oft widerspruchslos beugen und sie teilweise sogar gutheißen und fördern, liegt daran, dass diese Behörden zu finanzschwach sind, um eigene Vorstellungen zum Städtebau, sofern sie welche besitzen, auch in die Tat umzusetzen. Sie werden auch deshalb so oft zum stillschweigenden Kollaborateur privatwirtschaftlicher Interessen im Städtebau, weil sie sich, um nicht restlos vom stadtplanerischen Feld abgedrängt zu werden, durch Beratung mit den mächtigsten Interessengruppen einen Rest von Einflussnahme zu sichern versuchen. Dabei bleibt jedoch die Position der stadtplanerischen Behörden immer ungünstig: Selbst wenn die Planungsbehörden andere planerische Vorstellungen haben, zwingt die Abhängigkeit von den Gewerbesteuern großer Betriebe und Unternehmen die Stadt zu Zugeständnissen, besonders dann, wenn die Betriebe mit Abwanderung in benachbarte Städte oder Gemeinden drohen. Unsere Städte, vor allem die großen Metropolen, werden primär von den Standortwünschen mächtiger Wirtschaftsinteressen bestimmt.“ 8 vgl.: Horn, K.: Zweckrationalität in der modernen Architektur. Zur Ideologiekritik des Funktionalismus. In: Berndt, Heide; Lorenzer, Alfred; Horn, Klaus: Architektur als Ideologie. Frankfurt 1968 9 Marcuse, Herbert: One Dimensional Man. Studies in the ldeology of Advanced lndustrial Society. London 1964, S. 9 (Deutsche Fassung: Der eindimensionale Mensch, Neuwied 1967) 10 Berndt, Heide (1971): a.a.O., S. 40 156 Verbesserung bestimmter Mittel-Zweck-Relationen im Sinne der partikularen Gewinnmaximierung“ ist.“11 Den funktionalen Städtebau der Nachkriegszeit in Deutschland hat insbesondere der Sozialpsychologe und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich heftig kritisiert und dabei immer wieder fehlende Reformen des Grundbesitzes, insbesondere aber die Unwirtlichkeit der neuen Städte beklagt, welche die sozial- und entwicklungspsychologischen Bedürfnisse nicht berücksichtigen. 6.2. Gesellschaftliche Psychodynamik der Nachkriegszeit Die gesellschaftliche Ausgangssituation der Nachkriegszeit sah alles andere als „rosig“ aus. Nach so viel Zerstörung (psychoanalytisch betrachtet: Nach soviel Regression und Inflation) versuchten die Bürger, wieder auf den Boden der Tatsachen zu kommen. Aber die eigentlichen (inneren) Probleme wurden nur äußerlich technisch – planerisch und rational bearbeitet bzw. verschoben.12 Zerstörung, Flüchtlingswellen und Bevölkerungsdruck führten zu einem großen Wohnungsbedarf, der in möglichst kurzer Zeit befriedigt werden sollte. Aber die Bürger kämpften kollektiv innerpsychisch mit ihrer Regression, dem Größenwahn, ihren Idealisierungen und Projektionen. Die radikal zerstörten Allmachtsphantasien führten zur Entwertung und inneren Leere und verstärkten die tiefen Minderwertigkeitsgefühle. So ist es psychoanalytisch erklärbar, wie sehr der expansive Aufbau und Aktionismus eine Flucht, eine Ablenkung in die Wirtschaftswunder-Aktivität darstellte, um sich positive Erlebnisse zu schaffen und damit das Selbstwertgefühl wieder zu stärken oder das fehlende Selbstwertgefühl zu kompensieren. Psychoanalytisch gesehen dienten solche Verhaltensweisen der Abwehr von beängstigenden Gefühlen und Schattenanteilen: Ängste und Konflikte, Gefürchtetes und Unannehmbares, Beschämendes und Schuldgefühle wurden ins Unbewusste verdrängt.13 Das materielle Streben des „Wirtschaftswunders“ beurteilt Alexander Mitscherlich als eine 11 Schmals, Klaus M. (2001): a.a.O., S. 71, teilw. zit. nach Horn, Klaus (1971): a.a.O., S. 119 12 Mit diesem Thema beschäftigt sich u.a. die Arbeit „Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens“, die Alexander Mitscherlich gemeinsam mit seiner Frau Margarete 1967 veröffentlichte. Sie setzt sich psychoanalytisch mit der Schwierigkeit der Vergangenheitsbewältigung der Deutschen auseinander. 13 Abwehrmechanismen: „Muster von Gefühlen, Vorstellungen und Verhaltenstendenzen, die mit dem Innewerden psychischer Bedrohung automatisch auftreten und die Person vor Angst, vor dem Bewusstwerden innerer oder äußerer Gefahren, vor Belastungen und / oder Konflikten bewahren bzw. den Umgang mit ihnen erleichtern, ohne sich dessen notwendigerweise bewusst zu werden und tatsächlich eine Neuanpassung oder Situationsbewältigung zu erreichen.“ (Definition nach Fröhlich, W. D.: Wörterbuch Psychologie, d t v, S. 36. „Das vordergründige Ziel der Abwehr ist, mit dem Unlust erregenden Impuls, der zum Konflikt führt, fertig zu werden. Das dahinter stehende Ziel ist, den Affekt oder diesen Impuls unbewusst zu machen oder zu halten. (...) Das Ich versucht deshalb konsequent, Impulse, die aus dem Es, dem unbewussten Triebbereich, stammen und ihm Unlust bereiten würden, zu verdrängen. (...)Verdrängen heißt, einen Affekt, eine Regung, einen Inhalt unbewusst zu machen oder unbewusst zu halten. Da die Angst oder die Unlustgefühle des Ichs als Motiv hinter der Verdrängung stehen, können wir die Verdrängung auch als ein „Vergessen aus Angst“ bezeichnen. Die unlustvollen Reize können von innen kommen, es können für das Ich nicht akzeptable Triebimpulse sein, sie können aber auch aus dem Über – Ich kommen, es können für das Ich nicht akzeptable Normen sein. Die primitive und archaische Art der Inhalte des eigenen Gewissens ist z. B. für viele aufgeklärte und liberale Menschen unerträglich. Solche Anteile des Gewissens werden häufig verdrängt. Dieses Konzept von verdrängten Über-Ich-Anteilen, von unbewussten Gewissensinhalten, ist außerordentlich wichtig für die Annahme von unbewussten Schuldgefühlen, wie sie bei einer ganzen Reihe von Neurosen postuliert wird.“ (Hoffmann, Sven O., Hochapfel, G.: Neurosenlehre, psychotherapeutische und psychosomatische Medizin: 5. Auflage Stuttgart, New York, 1995, S. 60 f.) 157 Form kollektiv-regressiven14 Verhaltens, d.h., eine Regression vom „enttäuschenden Vater“ zurück zur „Mutter Erde“15. Bauboom und Materialismus überspielen das Bedürfnis, die Vergangenheit zu verdrängen. „Denn leider ist es nicht so, wie manche Zeugen großer geschichtlicher Katastrophen erhoffen: das Trauma würde einen heilsamen Schock, eine reinigende Wirkung entfalten. Zusammenbrüche erzeugen selten einen Sinneswandel. Meist folgt ihnen eine Phase der Unansprechbarkeit (als Reizschutz), dann kehrt ein ungemindertes Bedürfnis zurück, das alte Selbstgefühl wieder aufzubauen. (...) Nicht der geistige Impetus, sondern die durch Katastropheneinbruch gewandelte Sozialstruktur übte den viel stärkeren Zwang aus, doch neue Wege einzuschlagen. Im Falle von Deutschland nach 1945 ist es der rasche Ausbau der industriellen Produktionsbasen (...), die etwas in Gang gebracht hat – wenn dies überhaupt geschehen ist.“16 Die Psychodynamik der Nachkriegsgesellschaft zeigt, dass der Städtebau der Moderne in Deutschland die spezifische Komponente der unbewältigten Vergangenheitskonflikte übernommen hat. Der Psychoanalytiker Fritz Riemann bezeichnete die Tendenzen der Nachkriegsgeneration als die Entwicklung zur „Schizoiden Gesellschaft“. Ich werde zunächst auf einige Strukturelemente des funktionalen Städtebaus eingehen, bevor ich die mittelbaren und unmittelbaren Einflüsse sowie die daraus potentiell resultierenden psychogenen Reaktionen untersuchen möchte. Die Risikofaktoren, die die rational – funktionale Lebenswelt birgt, werde ich darzulegen versuchen. 6.3. Elemente des funktionalen Städtebaus aus sozialpsychologischer Sicht Wolfgang Müller hat mittelalterliche Städte als „gewachsene Städte“ und „nachmittelalterliche Städte“ als „erdachte Städte“ bezeichnet17. Um die Besonderheit des funktional-rationalen Städtebaus der Moderne erkennbar werden zu lassen, möchte ich zunächst die markanten Charakterzüge des mittelalterlichen Städtebaus zusammenfassen: 6.3.1. Traditioneller und moderner Städtebau im Vergleich • Historisch-traditionelle Städte besaßen Strukturen, die auf ein Zentrum, einen Stadtkern bezogen waren. Die Elite der städtischen Gesellschaft wohnte unmittelbar im Zentrum, während die unterprivilegierten Gruppen am Rande der Stadt oder sogar außerhalb ihrer Mauern hausten. 14 Die Regression ist ein Vorgang, der zu den Abwehrmechanismen gehört. Ein konfliktgeladener, verdrängter, aber angstbesetzter unbewusster Inhalt gelangt ins Bewusstsein und wird abgewehrt durch einen Rückschritt des Individuums auf frühere psychische Entwicklungsstufen. Mit Hilfe dieses Abwehrmechanismus im Sinne einer Regression „zur Mutter“ ist natürlich auch die in der Nachkriegszeit und im Wirtschaftswunder dominierende Flucht in die Materie zu verstehen. Sie findet auch in den Bauformen, insbesondere im symbolträchtigen Einfamilienhaus ihren Ausdruck. 15 vgl. Mitscherlich, Alexander (1965): a.a.O., S. 62 16 ebenda, S. 68 17 vgl.: Müller, Wolfgang: Städtebau. Stuttgart 1970, S. 443 f. 158 • Das Wachstum dieser Städte vollzog sich kreisförmig um den lebendigen Kern. Im Mittelpunkt standen die für die Stadt bedeutenden Elemente wie Plätze, Burgen, Schlösser, Kirchen, etc. als Symbole der Macht und der Gemeinschaft. • Vorindustrielle Städte enthielten die Einheit von Wohnen und Arbeiten in einem Haus, städtebaulich gemischt in einem Quartier. Sie repräsentierten die damaligen Produktions- und Wohnformen der Gesellschaft. • Das Verkehrswesen war für heutige Begriffe unterentwickelt, d.h. an die tatsächlichen Bedürfnisse des meist fußläufigen Transportes angepasst. „Prachtstraßen“ existierten zu diesem Zeitpunkt noch nicht, Fluchtpunkte- und Fluchtlinien waren noch nicht „erfunden“. • Das Formgefühl des Mittelalters ließ nie axiale, symmetrisch-geometrische Anordnungen zu. Grundrisse, Verkehrsführungen und Platzfolgen ermöglichten trotzdem sich optisch schließende Räume. • Symbolische Elemente drückten Gemeinschaft und ein Zugehörigkeitsgefühl aus. Sie wurden zu Schmuck- und Machtsymbolen der Stadt. Dies war besonders ausgeprägt an Brunnen, die nicht nur die Funktion der Wasserversorgung besaßen. • Landmarks, wie Kirchtürme, Rathäuser oder Befestigungstürme lieferten Orientierung im Raum und schafften so auch symbolisch Sicherheit. • Stadtmauern erfüllten Schutz- und Verteidigungszwecke und verhinderten andererseits die Ausweitung und Öffnung. Charakteristische Formen von Architektur, Städtebau und Raumplanung der Moderne kann man pauschalisierend folgendermaßen zusammenfassen: • Stadtbilder und –strukturen, sowie Gebäude orientieren sich meist an rational- funktionalen Nutzungsaspekten. • Städtebauliche Gestaltung reduziert sich überwiegend auf Daseinsgrundfunktionen und vermeidet Vielfalt, Differenziertheit und Durchmischung von Nutzungen. (Entmischung städtischer Funktionen, Kernverlust der Städte, Umgestaltung der Zentren) • Die (städte)bauliche Ästhetik ist vielfach geometrisch gradlinig, rechteckig, rational, „affektfrei“. Die Räume bleiben oftmals anonym, leblos, uniform, geschlossen. • Das zweckfunktionale Stadtbild meidet traditionelle Symbolik, kleinräumige verwinkelte Muster und Strukturen, es gestaltet Symbolik um. • Die Funktionstrennung unterschiedlicher Nutzungen zergliedert das Ganzheitsgefühl von Stadt, spaltet gewachsene Strukturen und monotonisiert nicht nur den Wohnungsbau. Nutzungstrennung fördert vielfach ausufernde Städte mit hohem Verkehrsaufwand, Landschafts- und Flächenverbrauch sowie Umweltzerstörung. • Erdachte Städte führen oft zu Stadtbildern „ohne Persönlichkeit“, häufig in leblosen Rasterstrukturen, ohne Lokal-Kolorit. Letztendlich verhindern sie emotionale Beziehungen von Heimat und Identifikation des Bürgers mit seiner Stadt. • Die Entfremdung von der Stadt führt zur Stadtflucht in Einfamilienhaussiedlungen am Rande der Stadt und damit zu noch mehr Flächenverbrauch. Diese typischen Strukturveränderungen im Städtebau des 20. Jahrhunderts sind in einem Knäuel von Wirkungsbeziehungen miteinander verknüpft. Ich möchte versuchen, die o.g. Phänomene in Kürze darzustellen: 159 6.3.2. Entmischung städtischer Funktionen Der funktionelle Städtebau entmischt die Stadt, teilt sie in einzelnen Funktionsbereiche auf. Nutzungen wurden räumlich voneinander getrennt bzw. dezentralisiert. Die Stadt, im Mittelalter ein Symbol für Integration, Vielfalt und Ganzheit, wurde in ihre einzelnen Funktionen aufgespalten. Im Gegensatz zum traditionellen Nebeneinander von Wohnen, Arbeit, Handel, Bildung, Erholung, Verwaltung und Industrie entstanden weitgehend monofunktionale Bereiche. Vermeidung städtebaulicher Vielfalt hat den Verlust städtischer Attraktivität bewirkt. Die Stadt wird nicht mehr als Ganzheit erlebt, sondern als Summe der einzelnen Teilaspekte / Teilnutzungen. Ein integratives urbanes Lebensgefühl ist nicht mehr erfahrbar: „Lösen sich die alten, gestalthaften Städte immer weiter in wuchernde Vorstädte auf, und entmischen sie sich gleichzeitig in ihren Grundfunktionen immer weiter, dann können natürlich die einzelnen Areale nur mehr Partialbefriedigung verleihen. Wenn Produktions- Verwaltungs-, Vergnügungs- und Wohnbereiche regional streng getrennt sind, was hält dann das Leben einer Stadt noch zusammen? Dann werden hier und dort verstreut Teilwünsche befriedigt, die aber nicht mehr auf ein Ganzes bezogen, und der Erfahrung eines Ganzen integriert werden können. Es stellt sich dann ein Zustand permanenter Gereiztheit her, der nicht mehr mit einer Gestalt - der mütterlichen Stadt -, sondern mit gestaltlosen, erregenden oder beruhigenden Erfahrungen im Zusammenhang erlebt wird.“18 6.3.3. Kernverlust der Städte und Umgestaltung der Zentren Städtebau bringt in seiner Gestaltung der Lebenswelten gesellschaftliche Wertsysteme zum Ausdruck. So spiegeln offenbar die Lebenswelten der Moderne eine Gesellschaft wider, die ihre Mitte entleert und leblos macht. Das Wohnen wurde/wird aus innerstädtischen Kernbereichen verdrängt, da für Büro- und Geschäftsräume bessere Kapitalerträge und Renditen zu erzielen sind. Die tagsüber lebhaft bevölkerten „City-Konsumentenrennstrecken“ und Bankenviertel präsentieren sich nach Feierabend zunehmend verwaist, das Stadtzentrum verlor/verliert weitgehend seine ursprüngliche Funktion als Kern und Ort der Begegnung. Traditionelle Formen- und Nutzungsdiversität wich/weicht vielerorts der funktionellen Gleichmäßigkeit und Gradlinigkeit des Schachbrettmusters.19 Das „Kapital“ hat 18 Mitscherlich, Alexander (1965): a.a.O., S. 116 f. Hier konkretisiert er diesen Sachverhalt noch folgendermaßen: Der Vergleich mit sehr frühen Entwicklungsphasen unseres Lebens lässt sich kaum abweisen, und es ist nicht nur ein Vergleich; es könnte sein, dass die affektive Erlebnissphäre, mit der wir es nun bei Millionen von Menschen zu tun haben, auch im Zustand der Erwachsenheit ebenso undifferenziert, so unartikuliert, so vage wie die eines Kleinkindes bleibt, das an der Brust der Mutter liegende, warme Nahrung erfährt, die Mutter selbst als Person aber noch gar nicht erkannt hat. (...) Die emotionale Beziehung zur klassischen Stadt war dem gegenüber ohne Zweifel höher organisiert; schon deshalb, weil eine Fülle von Produkten in ihr vor den Augen aller hergestellt wurde, weil ihr Verwaltungszusammenhang nahezu mit den Grenzen der sinnlichen Wahrnehmung übereinstimmte.“ 19 „Die Stimmung, von der wir hier ausgehen wollen, ist das Missbehagen in unseren Städten. (...) Den Randsiedlungen der Städte wird die lieblose Eintönigkeit, die Unfruchtbarkeit und Kälte einer rationalen „Reißbrettmentalität“ vorgehalten, den Zentren großer Städte wird kulturelle Verödung nachgesagt. Man könnte erläuternd hinzufügen, dass unsere Städte eine Anhäufung, ein Agglomerat von Wohnstätten, Arbeitsplätzen, Essgelegenheiten, Illusionsgewerben aller Art sind; und nur eines sind sie gewiss nicht: eine aus ihrem Kern wachsende Stadt. Die hochgradig integrierte alte Stadt hat sich in einzelne Leistungs- und Lebensbereiche entmischt. Die gegenwärtigen Städte haben, bestenfalls, eine City, in der es tagsüber geschäftig zugeht. Ein Stadtkern wäre nicht nur etwas für die Arbeitszeiten, er lebt 24 Stunden: Wohnen und 160 finanziell schwächere Nutzungskonkurrenten ausgeschaltet. Der Architekt und Stadtsoziologe Klaus M. Schmals hat dies an einem aktuellen Beispiel verdeutlicht: „Geeignet dazu ist das Bild des Banken-, Handels- und Versicherungszentrums in Frankfurt, vor dem Hintergrund des im Abbruch befindlichen innerstädtischen Wohnens und der damit einhergehenden Vertreibung aIteingesessener Bürger. Diese scheinbare Nutzungskonkurrenz, dieser ‚rationale Charakter der Irrationalität’ (H. Marcuse) veranschaulicht uns nicht nur die hier symbolisierten politisch-ökonomisch-kulturellen Widersprüche und die Skrupellosigkeit der staatlichen Bauordnungspolitik (gesellschaftliche Strukturebene), sondern offenbart uns auch die angewandten Regeln baulich-räumlicher Gestaltung, die Sinnhaltigkeit von Demokratie und Urbanität sowie die soziale Wirkung solchermaßen zweckrationalisierter ‚Sozialräume’ im kommunalen Interaktionsgefüge (individuelle Wahrnehmungs- und Erfahrungsebene ).“20 Das Stadtzentrum verlor die sozial-kollektive Zentrierungsfunktion, die gemeinschaftsstiftende Aufgabe, sowie die symbolische Bedeutung der Kosmogonie (s. Kap. 4.4.2.). Den Mittelpunkt traditioneller Städte bilden zentrale Orte, Plätze oder Zeichen, die das Exklusive, Unverwechselbare dieser Stadt verkörpern. Dieses unverwechselbare und gemeinschaftsstiftende Symbol vermittelt Zusammengehörigkeit, Identifikation sowie ein „Kollektiv – Kolorit“. In der städtischen Lebenswelt der Moderne wird das Stadtzentrum vielfach zum Symbol kapitaler Machtdemonstration, auch die übrigen Stadtteile sind auf diesen „Kern“ meist nur „materiell fixiert“. Das Konsumentenzentrum hält den Städter auf der Erlebnisebene eines undifferenzierten Kleinkindes, Stadt wird kindlich als eine allzeit versorgende Mutter erlebt, in der man jederzeit heftig konsumieren kann und „muss“.21 6.3.4. Agglomeration und Suburbanität Der „Unsinn der Entmischung der Stadtfunktionen“22 hat zu erheblichen städtebaulichen und regionalplanerischen Konflikten geführt. Kommunen benötigten permanent neue Bauflächen, die zwangsläufig im Umland der Städte, im Freiraum, ausgewiesen wurden. Kerngemeinden leiden an unausgelasteten Infrastruktureinrichtungen, „aufnehmende“ Gemeinden tätigen erhebliche Infrastrukturinvestitionen, beide stehen hierdurch oft vor dem finanziellen Ruin. In agglomerierten Verstädterungsprozessen ist vielen Bewohnern die Identifikation mit ihrer Stadt verloren gegangen. Urbanität wird für sie oft zur Inszenierung eines Doppellebens. Städter pendeln häufig zwischen zwei Lebenswelten: Sie arbeiten tagsüber in der hektischen Wirken sind nicht getrennt, und ihr Beieinander hat nichts Unerträgliches. Eine solche Trennung mag für die „schmutzigen“ Industrien noch angehen, gilt aber sicher nicht für die zahllosen sauberen Fertigungsbetriebe und Verwaltungen. (Mitscherlich, Alexander: Thesen zur Stadt der Zukunft. Frankfurt 1971, 4. Aufl. 1974, S. 1 f.) 20 Schmals, Klaus M. (2001): a.a.O., S. 70 21 Mitscherlich, Alexander (1965): a.a.O., S. 117 f.: Der durch Technik beherrschte Siedlungsraum der Metropolen „erweckt in den Individuen eine höchst anspruchsvolle Haltung. Sie setzen schlechthin voraus, dass alles, woran sie gewöhnt sind, für immer zu ihren Diensten sein wird. So entsteht eine Forderungshaltung, die auf kein leibhaftiges, gestalthaftes Gegenüber oder Objekt mehr bezogen ist. Die Gestaltlosigkeit der Städte hinterlässt also im unbewussten Seelenbereich ihrer Bewohner ein primitives, archaisches Urbild einer unerschöpflichen magna mater; und die Werbeindustrie tut alles, um dem Konsumenten bei Stimmung, nämlich im Erlebnis kategorischer, auf rasche Befriedigung drängender, innerer Bedürfnislage zu halten.“ 22 ebenda, S. 16 161 City und „fliehen“ abends in die „Suburbanität“. Jene auf dem Reißbrett entworfenen Zweckwohnviertel „mutieren“ zu unattraktiven Wohn- bzw. Schlafstädten, in denen sich die Menschen kaum wohlfühlen. Die zumeist flächenintensive Suburbanisation durch „sozialen“ Geschosswohnungsbau und Einfamilienhaussiedlungen wurde in den sechziger und siebziger Jahren stark kritisiert. Er beurteilte Einfamilienhaussiedlungen als „Einfamilienweiden mit Komfort, Gräuel, Demonstration pekuniärer Potenz auf dem Geschmacksniveau von Devotionalienhändlern, eine Anhäufung von Zufälligkeiten des Gestaltungswillens“23, „Demonstration des Eigensinns und der monetären Potenz“24, „eine aufwändige Form der Asozialität“25 und „eine große Landzerstörung.“26 Eigentlich sollte die städtische Lebenswelt für den Bürger ein Psychotop darstellen, in dem er gerne lebt. Die Stadt (der Moderne) scheint aber für viele Menschen unerträglich geworden zu sein, so dass Ballungsgebiete, wie z.B. das Ruhrgebiet, oft unter der Stadtflucht ihrer Bürger leiden. „Der Mensch wird so, wie die Stadt (die städtischen Lebensverhältnisse, Anm. d. Verf.) ihn macht, und umgekehrt; mit fortschreitender Urbanisierung trifft das auf immer mehr Menschen zu. (...) Wenn Städte Selbstdarstellungen von Kollektiven sind, dann ist das, was uns hier an Selbstdarstellung begegnet, alarmierend.“27 Stadtflucht könnte man als Ausbruchssehnsucht des Städters, als Wunsch nach Kontrasterfahrung deuten; es gibt jedoch auch gegenläufige Tendenzen. Er hat das Verlangen, der Enge, der baulichen Verdichtung sowie den Emissionen zu entgehen und flieht in die Idylle des Freiraumes. Die alljährlichen Urlaubsmigrationen zeigen im Gegensatz hierzu jedoch, dass viele dieser an Bebauungsdichte gewöhnten Städter in den sogenannten schönsten Wochen des Jahres sich ähnliche bauliche Strukturen suchen, wie sie sie von zu Hause gewohnt sind. Monotone Ferien-Wohnsilos unterscheiden sich in der baulichen Gestalt- und Lebensqualität nur unwesentlich von den Merkmalen der heimatlichen Trabantenstädte.28 6.3.5. Entfremdung von der Natur Alexander Mitscherlich vertrat die These, dass ein Stadtmensch, der mehr als 120 Meilen fahren muss, um aus seinem bebauten Stadtbereich zur freien Natur zu gelangen, von der Natur entfremdet ist.29 Aufgrund der städtischen Flächenexpansion und allgemeinen Metropolisierungstendenzen dürften sich diese Entfernungen in Ballungsräumen heute noch erheblich erhöht haben. Veränderte Lebensformen, verbesserte Haushaltseinkommen und 23 „(...) Das Vorort-Einfamilienhaus, dieser Nachkömmling der noch stadtbezogeneren Villa des späten 19. Jahrhunderts, ist der Begriff städtischer Verantwortungslosigkeit: Dem Bauherrn ist gestattet, seine Wunschträume mit seiner Identität zu verwechseln.“ Mitscherlich, A. (1965): a.a.O., S. 11 ff. 24 vgl. ebenda, S. 36 25 ebenda, S. 53 f. 26 ebenda, S. 59 27 ebenda, S. 16 28 „Doch auch dort, wo die Ausbruchssehnsucht des Städters die Urlauber zu ihren winterlichen und sommerlichen Völkerwanderungen treibt, finden sie sich in standardisierten Hotels und Bungalows gleicher Bauweise, aus gleichen Bauelementen, in gleicher Massierung wieder – ob das nun Westerland oder Rimini, die Küste Floridas oder die Ski-Städte Cortina, Davos und Kitzbühel sind. Die Erfüllung städtischen Kontrastwunsches nach Einsamkeit, nach Stille, nach Natur, nach nicht – organisiertem Dasein, wird durch die Reise – Industrie zusätzlich immer unmöglicher oder wenigstens schwieriger gemacht.“ Mitscherlich, Alexander (1971): a.a.O., S. 2 f. 29 vgl.: Mitscherlich, Alexander (1965): a.a.O., S. 52: Die Tatsache, dass ein Bewohner New Yorks 1965 etwa diese Entfernung zurücklegen musste, bis er an ein einigermaßen unberührtes Naturgebiet kam, bildete seinen Maßstab. 162 zunehmende räumliche Mobilität haben wiederum die Bereitschaft, räumliche Distanzen durch zeitlichen Mehraufwand zu überwinden, deutlich verstärkt. Die Entfremdung von der Natur, die der Mensch in der Stadt erfährt, kann Sehnsucht nach einer heilen Welt auslösen, die „der naturentfremdete Stadtmensch“ in den „grünen“ Schlafstädten der Vororte wiederzufinden hofft. Das suburbane Einfamilienhaus mit Garten wird vielfach zu einem Statussymbol idealisiert. Die Auswirkungen dieser Idealisierungen führ(t)en zu immensem Freiflächenverbrauch, dessen fortschreitende Folgen auf Dauer noch nicht absehbar sind. 6.3.6. Monotonie der Satellitenstädte Satellitenstädte vermögen den Bewohnern meist weder Kontakt zu Grund und Boden noch Bezüge zu Freiraum und Natur zu bieten. Kann hier den Bürgern das Gefühl vermittelt werden, ein Individuum zu sein oder drohen sie in der allgemeinen „Vermassung“ unterzugehen? Ein Wohnungsmarkt, der für sich den Anspruch erhebt, ein sozialer zu sein, macht den Menschen offenbar zum Wohnraumverbraucher. Bewohnern der Wohnblocks gelingt es oft nicht, individuelle Wohnbedürfnisse und das menschlich-konnotative Grundbedürfnis nach Schutz, Geborgenheit, Heimat, Individualität und Persönlichkeit zu befriedigen. Andererseits herrscht in den „Einfamilienhausweiden“ das große „Individualchaos“. Nicht das Bedürfnis, sich in die Gemeinschaft einzufügen, überwiegt, sondern das der Isolierung. „Es ist eine ganz korrekte Beschreibung, wenn Wolf Jobst-Siedler angesichts der Villenvororte die „neue isolierende Vorstadtbauweise in vielerlei Hinsicht als Luxusausführung der vorzeitlichen Behausung von Höhlen- und Waldbewohnern“ auffasst.“30 Es gibt offenbar auch unbewusste Motivationen für den Hausbau, „Ablenkungsmanöver“ oder, psychoanalytisch betrachtet, „Abwehrmechanismen“. Alexander Mitscherlich kommt zu dem Ergebnis, dass sich mancher Bauherr in das Unternehmen Hausbau stürzt, um sich nicht mit anderen Lebensproblemen auseinandersetzen zu müssen. Er suche zumeist unbewusst Befreiung aus verfahrenen Lebenslagen durch Hausbau. Der „typische Bauherr“ habe dabei neurotische, sozial desintegrative Bedürfnisse. Das Eigenheim diene in diesen Fällen als Identitätsstütze.31 So wird das wohlersehnte Eigenheim auch nicht zu einem Psychotop32, zu einem seelischen Ruhepunkt, in dem heimische Erholung möglich ist. 6.4. Städtebau und psychogene Reaktionen „Der Städtebau spiegelt die Regressionen des sozialen Verhaltens im Verzicht auf die Gestaltung öffentlichen Raumes und in der ungezügelten Durchsetzung des städtebaulichen Funktionalismus. Dass sich die großen Städte in immer mehr Zonen aufsplittern, die jeweils 30 Der Tagesspiegel, Berlin, 07.01.1962. Zit. bei: Mitscherlich, Alexander (1965): a.a.O., S. 74 31 vgl.: ebenda, S. 45 f. 32 ebenda, S. 60: „Richard Neutra hat den Begriff des Biotopes entsprechend der seelischen Differenzierung des Menschen um den „Psychotop“ ergänzt. Er meint, wir brauchen seelische Ruhepunkte; der Psychoanalytiker würde sagen, „Objekte“, die wir mit gleichmäßigem Interesse, mit bleibendem Affekt besetzen können. Das kann ein Bild an der Wand und ebenso der erholsame Gang in eine bevorzugte Landschaft sein. Solche Objekte vermögen uns offenbar zu befriedigen, zu beruhigen und damit auch für die gefühlsbetonten Beziehungen zu unseren Mitmenschen freundlicher zu stimmen.“ 163 begrenzten Zwecken und Nutzungen dienen, zeigt, wie wenig der Städtebau für die Bedürfnisse (vor allem die psychologischen Bedürfnisse) des Menschen konstruiert ist.“33 Für viele Menschen sind Städte Orte unerträglicher Reizbelastungen, Quellbereiche psychogener Reaktionen und Fehlentwicklungen, die wenig positive affektive Belegungen und Identifikationen bewirken. Sich beheimatet oder einfach nur wohl zu fühlen, setzt aber gerade diese Verknüpfungen voraus. Die bebaute und unbebaute Umwelt kann zu Orten der Entbehrung34, der Isolation35, Apathie36 und Depression37, zu einem unerträglichen Ort des Aufenthalts werden38 und verantwortlich sein für die in aller Welt zunehmende Asozialität39. Sofern die städtischen Lebenswelten nicht die sozial- und entwicklungspsychologischen Bedürfnisse der Bewohner widerspiegeln, führen sie zu negativen Auswirkungen auf die Psyche. Klaus M. Schmals hat die sozialpsychologischen Erkenntnisinhalte folgendermaßen zusammengefasst: „Es geht um die systematische Analyse von Bedürfnissen bzw. von Defiziten in den Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung des Individuums, die authentische Aufnahme von Bedürfnissen durch die Sozialwissenschaft oder Stadtplanung und ihre Umsetzung in räumlich-baulich-ästhetische Produkte sowie deren Rückwirkung auf die Individuen, die diese wiederum in Bedürfnisse, Motivationen, Aggressionen oder Frustrationen umsetzen. D.h., individuelles Verhalten in seiner materiellen und normativen Orientierung kristallisiert sich im Prozess der Bedürfnisbefriedigung, -unterdrückung und - realisierung sowohl zwischen aufeinander bezogenen Individuen (aber auch zwischen Individuen und räumlichen Strukturen), als auch zwischen Interessengruppen und der Gesellschaft.“40 Die Entwicklungspsychologie untersucht diese Bedürfnisse und Notwendigkeiten ihrer Befriedigung, die mit der frühsten Existenz des Individuums beginnen. Dabei entfaltet sich und reift das Subjekt in seinem Lebenszyklus in den einzelnen Phasen, die unterschiedliche Entwicklungsanforderungen und verschiedene zu bewältigende Themenstellungen, sogenannte psychosoziale Krisen, enthalten. 6.4.1. Psychosoziale Entwicklungsphasen nach Erik H. Erikson Der Entwicklungspsychologe und Psychoanalytiker Erik H. Erikson hat in Anlehnung an die psychosexuellen Phasen S. Freuds ein Modell der psychosozialen Entwicklung des Menschen erarbeitet41. Die prägendsten und einflussreichsten Phasen für das Leben des 33 Berndt, Heide: a.a.O., S. 33 34 Mitscherlich, Alexander (1965): a.a.O., S. 30: „Entbehrungen hinterlassen Gefühlseinsstellungen, die man oft nicht mehr so leicht loswerden kann. Zum Beispiel kommt einem jedes Interesse für den Körper der Stadt, für den lebendigen Umschlag von Energie, der in ihm vor sich geht, abhanden, wenn sich nicht gar Gefühle heftiger Feindseligkeit einstellen.“ 35 ebenda, S. 70 36 vgl.: Mitscherlich, Alexander (1971): Thesen zur Stadt der Zukunft, Frankfurt 1971, S. 79 37 vgl.: Mitscherlich, Alexander (1965): a.a.O., S. 13 38 ebenda, S. 142 f. 39 vgl.: ebenda, S. 105 40 Schmals, Klaus M. (2001): a.a.O., S. 71 f. 41 Erikson, Erik H.: Kindheit und Gesellschaft, Klett Verlag, Stuttgart, 1973 Diese Entwicklungsphasen enden nicht wie bei den bis dato üblichen Modellen mit der Pubertät, sondern E. H. Erikson vervollständigt den Lebenszyklus durch Stadien des Erwachsenalters. 164 Individuums sind gemäß psychoanalytischem Paradigma die frühen Phasen, die im Vergleich zu den späteren Phasen in sehr kurzen Zeitabschnitten aufeinander folgen. Diese Phasen stehen untereinander in Beziehung, sie bauen aufeinander auf. Durch die Bewältigung des sogenannten Kernkonfliktes der entsprechenden Phase wird eine neue Ich- Qualität erreichbar. Das Modell geht von der Annahme aus, „1. dass sich die menschliche Persönlichkeit im Prinzip gemäß bestimmter Schritte entwickelt, die in der Bereitschaft der wachsenden Person vorgegeben sind, auf einen sich erweiternden sozialen Radius hin angetrieben zu sein, seiner gewahr zu werden und mit ihm in Wechselbeziehung zu treten; und 2. dass die Gesellschaft im Prinzip darauf eingerichtet ist, dieser Aufeinanderfolge von Möglichkeiten zur Wechselwirkung gerecht zu werden und ihnen entgegenzukommen, und dass sie versucht, das richtige Maß und die richtige Reihenfolge ihrer Entfaltung zu sichern und zu ermutigen. Das ist »die Aufrechterhaltung der menschlichen Welt«.“42 Tabelle 1: Diagramm der psychosozialen Entwicklung Quelle: Erik H. Erikson43 42 Erikson, Erik H. (1973): a.a.O., S. 264 f. 43 Nach Erikson, Erik H.: 1966 (a), S. 214-215; Erikson, Erik H.: 1973, sowie: Davison, Gerald C.; Neale, John M.: Klinische Psychologie (Hrsg. von Hautzinger, Martin) 5. Aufl., Beltz Psychologie Verlags- Union, Weinheim 1998, S. 43 f. Phase Alter (ca.) A Psychosoziale Krisen B Beziehungs- personen C Elemente der Sozial- Ordnung D Psycho- soziale Modalitäten E Psycho- sexuelle Phasen 1 Säuglingsalter (bis ein Jahr) (Ur-)Vertrauen gegen (Ur-)Mißtrauen Mutter Kosmische Ordnung Gegeben bekommen, Geben Oral ... (Einver- leibungsmodi) 2 Frühe Kindheit (1-3 Jahre) Autonomie gegen Scham und Zweifel Eltern „Gesetz und Ordnung“ Halten (Festhalten), Lassen (Loslassen) Anal ... Muskulär ... 3 Kindergarten- alter (3 –6 Jahre) Initiative gegen Schuldgefühl Familienzelle Ideale, Leitbilder Tun (Drauflosgehen), „Tun als ob“ = Spielen Ödipal, Infantil-genital, lokomotorisch (eindringend, einschließend) 4 Schulalter (7-11 Jahre) Leistung/ Werksinn gegen Minderwertigkeitsgefühl Wohngegend, Schule Technologische Elemente Etwas Richtiges machen, etwas mit anderen zusammen machen Latenzzeit 5 Adoleszenz (12-20 Jahre) Identität gegen Identitätsdiffusion (bzw. Rollenkonfusion) „Eigene“ Gruppen, „die Anderen“, Führer, Vorbilder Ideologische Perspektiven Wer bin ich (wer bin ich nicht). Das Ich in der Gemeinschaft Pubertät 6 Frühes Erwachsenen- alter (20-30 Jahre) Intimität und Solidarität gegen Isolierung Freunde, sexuelle Partner, Rivalen, Mitarbeiter Arbeits- und Rivalitätsord- nungen Sich im anderen verlieren und finden Genitalität 7 Mittleres Erwachsenen- alter (30-65 Jahre) Generativität gegen Selbstabsorption und Stagnation Gemeinsame Arbeit, Zusammenleben (in der Ehe) Zeitströmungen in Erziehung und Tradition Schaffen, Versorgen 8 65 - ... Jahre Ich – Integrität gegen Verzweiflung „Die Menschheit“, „Menschen meiner Art“ Weisheit Sein, was man geworden ist, Wissen, dass man einmal nicht mehr sein wird 165 Die phasentypische Entwicklung möchte ich hier darlegen, da ihre Kenntnis für die Planung erforderlich ist. Der Psychoanalytiker Fritz Riemann hat in „Grundformen der Angst“ zusätzlich die typischen Ängste der Entwicklungsperioden aufgezeigt, die entstehen, wenn bestimmte erzieherische Aufgaben, Umweltbedingungen und Entfaltungsmöglichkeiten nicht adäquat gelöst werden bzw. vorhanden sind. „Das erste Lebensjahrfünft“ ist gekennzeichnet durch eine besondere Empfindlichkeit für neurotische Dispositionen.44 Später im Leben auftretende Problemstellungen, Konflikte und Schocks können problemlos überstanden werden, wenn die ureigenste Basis des Menschen stabil ist. Die Bedeutung dieses Lebensabschnitts für die weitere Entwicklung des Menschen kann nicht oft genug betont werden.45 Architektur, Städtebau und Raumplanung können direkt und indirekt beitragen zur Entstehung psychogener Störungen, asozialer oder neurotischer Verhaltensformen des Individuums bzw. der Gesellschaft. Diese Begriffe möchte ich zunächst erläutern. 6.4.2. Ätiologische Aspekte der Neurose und psychogener Reaktionen Der Neurosebegriff geht auf den schottischen Arzt W. Cullen46 zurück. Die Psychotherapeutin Ilsabe von Viebahn definiert Neurose so: „Seelisch bedingte Krankheit oder „psychogene Erkrankung“, für die in der Regel die Grundlagen bereits in der frühen Kindheit entstanden sind. Die Bezeichnung Neurose würde wörtlich eigentlich bedeuten, dass es sich um eine Nervenerkrankung handelt. Diese Namensgebung ist medizingeschichtlich bedingt. (...) Das Festhalten an solchen Vorstellungen hat vermutlich etwas damit zu tun, dass es vielen Menschen lieber wäre, eine körperliche Störung zu haben als eine seelische.“47 Sie empfiehlt, statt der Bezeichnung Neurose die Bezeichnung „psychogene Erkrankung“ zu verwenden. „Statt entsprechende Erscheinungen als „neurotisch“ zu bezeichnen, sollten wir besser sagen, sie seien „seelisch bedingt“ oder „psychogen“, was eben psychisch bedingt, auf psychischem Wege entstanden, psychisch erzeugt bedeutet.“48 Hierdurch wird der Begriff 44 Mitscherlich, A. (1965): a.a.O., S. 152) „Zwar stehen wir noch sehr am Anfang unserer Einsichten in die kollektiven zeitgenössischen Arrangements, aber wir haben doch immerhin erkennen und wissen gelernt, dass die entscheidenden Grundlagen für die spätere neurotische Fehlentwicklung im ersten Lebensjahrfünft gelegt werden. Später kann er vieles selbst. Aber bis er in die Schule kommt, muss ihm das Milieu entgegenkommen. Hier wird bis heute mehr zerstört als man auch nur ahnt! Deshalb unsere Anstiftung, überall dort unfriedlich zu reagieren, wo dem Menschen in dieser Zeit vermeidbares Leid geschieht. Schwerste aus der Umwelt hereinbrechende Belastungen können keine neurotische Fehlentwicklung erzeugen, wenn sie nicht in dieser Frühzeit durch Traumen und Dauerverkrüppelungen seelischer Art vorbereitet worden sind. Ein aktueller Schock, selbst sehr dramatisch erlebter (...), selbst schmerzliche Verluste an nächsten Beziehungspersonen und mit ihnen endende Lebensgeborgenheit werden adäquat, nämlich mit Angst, Abscheu, Trauer und Verzweiflung, aber schließlicher Überwindung des Schmerzes beantwortet, wenn nicht das Selbst- und Lebensgefühl in den frühen Entwicklungsphasen bleibende Schwächungen erfahren hat.“ 45 ebenda, S. 152: „Das Milieu des Kindes wird hinsichtlich seelischer Gesundheit immer in erster Linie durch die ihm nahe verbundenen Menschen bestimmt; aber auch durch die Möglichkeit, sich ein Territorium der Aktivität aneignen zu können. Kollidieren hier Erwachsene und Kinder auf unglückliche Weise, dann haben die bleibenden Folgen die Kinder zu tragen." 46 Er bezeichnete damit 1776 eine Nervenkrankheit ohne anatomisch-pathologischen Befund. 47 Viebahn, Ilsabe von: Seelische Entwicklung und ihre Störungen: Ein psychoanalytischer Grundlehrgang; Göttingen 1992, S. 85 48 ebenda, S. 85/88: „Der Ausdruck „psychogene Reaktion“ ist also der umfassendere Begriff. Eine psychogene Reaktion kann Krankheitswert haben oder auch nicht. Es kann dabei bereits eine früher entstandene 166 der Reaktion der Psyche auf einen Tatbestand weiter gefasst. Nicht jede psychische Reaktion ist ein Ausdruck einer neurotischen Fehlentwicklung mit „Krankheitswert“, sondern es kann durchaus sein, dass eine Belastungssituation so stark ist, dass es vorübergehend zu bestimmten psychischen Reaktionen kommt. Diese lassen aber nicht unbedingt immer auf eine „neurotische Fehlentwicklung“ schließen. Die Erscheinungen einer Neurose, psychogenen Erkrankung oder sonstigen psychogenen Reaktion dürfen nicht nur als Anzeichen einer Störung, sondern sie sollten auch als ein „Selbstheilungsversuch“ verstanden werden, als Versuch des Individuums, das psychische oder psychosomatische Gleichgewicht zu halten bzw. es wiederherzustellen. Daher kann man sie auch als Versuch der Persönlichkeit zur Kompromissbildung und Anpassung an die Umwelt bezeichnen. S. Hoffmann und G. Hochapfel definieren Neurosen klassisch „als psychogene, überwiegend umweltbedingte Erkrankungen, die eine Störung im psychischen und / oder körperlichen und / oder charakterlichen Bereich bedingen. Das psychoanalytische Verständnis sieht in den Neurosen unzureichende Verarbeitungsversuche unbewusster, in ihrer Genese infantiler Konflikte oder Traumen.“49 Persönlichkeits- und Neurosenstruktur Der Mensch wird in seiner frühen Sozialisationsentwicklung über Spiegelungen durch „Objekte“ geprägt. Auf chronisch schlechte Sozialisationsbedingungen reagiert das Individuum mit Anpassungs- und Abwehrmechanismen50, die sich im Laufe der Zeit zu charakteristischen und dauerhaften Erlebens- und Verhaltensmustern, welche wir die Persönlichkeit oder die Persönlichkeitsstruktur nennen, verdichten und verfestigen. Erst wenn es sich um eine Struktur handelt, die besonders anfällig für eine neurotische Störung ist, kann man auch von einer Neurosenstruktur sprechen. „Die Neurosenstruktur ist gewissermaßen das Resultat der subjektiv erlebten und verinnerlichten früheren Realität, einschließlich der -teilweise unbewusst gewordenen- Defizite und Konflikte dieser Zeit sowie der dazu gehörenden kompromisshaften Anpassungs- und Lösungsversuche. Die Neurosenstruktur beinhaltet zwar die Disposition zu einer seelischen oder psychosomatischen Störung. (...) Sie kann jahrzehntelang gut kompensiert, funktional und symptomfrei/-arm sein. (...) Dysfunktional und therapiebedürftig wird sie erst, wenn ihr Anpassungswert durch eine deutlich veränderte Umwelt und die besonderen Anforderungen der auslösenden Belastungssituation verloren geht (Dekompensation). Die Neurosenstruktur ist - mit anderen Worten - der emotionale und Disposition vorliegen oder auch nicht. Neurose ist dabei ein spezieller Fall, nämlich der, in welchem eine früher entstandene Disposition anzunehmen ist. Eine Neurose ist auf jeden Fall eine psychogene Erkrankung. Der Begriff der psychogenen Erkrankung wird jedoch manchmal etwas weiter ausgedehnt, wobei nicht unbedingt die früher entstandene Dispositon vorausgesetzt wird. Dem Fall, in dem man von psychogener Erkrankung spricht, wird aber jedenfalls praktisch Krankheitswert beigemessen.“ 49 Hoffmann, 1986 in: Hoffmann, Sven O. / Hochapfel, G.: Neurosenlehre, psychotherapeutische und psychosomatische Medizin: 5. Auflage Stuttgart, New York, 1995, S. 9. Die in dieser Arbeit nicht zu diskutierende Lerntheorie betont die genetische Bedeutung von Konditionierungen in der Folge verfehlter, zu starker oder zu schwacher Lernvorgänge. 50 Das Kleinstkind hat aufgrund seines Lebensalters und seiner geringeren Ich-Entwicklung und Ich-Stärke natürlich nur wenige Abwehrmechanismen zur Verfügung. 167 gedankliche Hintergrund, vor dem die aktuelle Störung als Reaktion auf die aktuelle Belastung tiefenpsychologisch überhaupt erst verständlich wird.“51 Konflikt- und Defizitmodell Neurosen sind Äußerungen psychodynamischer Konflikte und gehen einher mit Entwicklungsstörungen der Persönlichkeit. Neurotische Konflikte sind unbewusst, biographisch verstehbar und basieren auf infantilen Internalisierungen ursprünglich sozialer Konflikte. Ich möchte mich hier auf zwei Erklärungsmodelle der Entstehung von Neurosen, und zwar auf das Konflikt- und das Defizitmodell, beschränken. Das Dynamische Neurosenverständnis des psychoanalytischen Paradigmas erklärt, dass in der frühen Entwicklungsgeschichte ein Konflikt z.B. zwischen dem Ich und dem Über-Ich verinnerlicht wurde (beispielsweise ein Konflikt zwischen dem Anspruch und der Wirklichkeit, zwischen Ideal-Ich und Real-Ich). Dieser Konflikt, der frühkindlich scheinbar durch Anpassung und Abwehr gelöst wurde, bleibt im Unbewussten virulent und kann durch eine aktuelle Situation wieder aktiviert werden. Der Betroffene regrediert durch den Aktualkonflikt zum verdrängten, aber mobilisierten Infantilkonflikt. Neurotische Entwicklungen müssen aber auch als Versuche der Psyche verstanden werden, Kompromisslösungen zu finden und unlösbare Konflikte in subjektiv leichter erträgliche seelische Zustände umzuwandeln.52 Die Ausgangslage des Defizitmodells53 bildet die Vorstellung, dass das Individuum frühen schädigenden Einflüssen ausgesetzt war, die Defizite in Form von „leeren Stellen“ entstehen ließen. Hierhin gehören in der Neurosentheorie die sog. „frühen Störungen“54. Bei diesem Modell handelt es sich also nicht um die Wiederbelebung infantiler Probleme aus einem aktuellen Konflikt heraus, sondern um die Folgen eines primären Entwicklungsschadens. Die Versuche des Kindes, die Störeinflüsse zu vermeiden oder zu verarbeiten, waren von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das, entwicklungspsychologisch betrachtet, noch unreife Ich war mit den vorgefundenen Bedingungen der Sozialisation völlig überfordert. Das „Milieu gab ihnen keine Chance, ein stabiles Ich aufzubauen, meist herrscht jener Zustand vor, den wir eine ausgeprägte Ich-Schwäche nennen.55 (...) Wir gehen davon aus, dass es aus den gleichen Gründen, die zur Ich-Schwäche führten, auch zu einer unzulänglichen 51 Boessmann, Udo: Psychoanalytisch und tiefenpsychologisch fundierte Berichte an den Gutachter schnell und sicher schreiben: Mit Berücksichtigung der ICD-10 und OPD sowie Anträgen zur Kurzzeittherapie und Anträgen bei Kindern und Jugendlichen, Dt. Psychologen Verl., Bonn 2000, S. 14 52 Hoffmann, Sven O.; Hochapfel, Gerd: Neurosenlehre, psychotherapeutische und psychosomatische Medizin. Stuttgart, Schattauer, 5. Aufl., New York 1995, S. 69. Für dieses Erklärungsmodell „ist die Formel geprägt worden: „Das Ich hat etwas getan“ (nämlich versucht, einen Entwicklungskonflikt mit unzureichenden Mitteln und auch unzureichendem Erfolg zu verarbeiten). Die Neurose ist also Folge eines aktiven Vorgangs. 53 ebenda, S. 69.: „Demgegenüber lautet die andere Formel [des Defizitmodells, Anm. d. Verf.] „Dem Ich wurde etwas angetan“ (es wurde ihm infolge seiner Hilflosigkeit passiv ein bleibender Schaden zugefügt). Die Störung wäre hier Folge eines passiven Geschehens.“ 54 ebenda, S. 69: Zu den frühen Störungen gehören z.B.: „Kriminalität, Dissozialität, Soziopathie, Süchte, Perversionen, Psychopathien. Auch das Borderline Syndrom, die narzißtischen Neurosen, andere Neurosen mit Neigungen zu malignen Regressionen und die Psychosen (soweit psychogen) gehören hierher.“ 55 ebenda, S. 70: „Zwar haben alle Neurosen infolge der Entwicklungsstörung eine mehr oder minder ausgeprägte Ich-Schwäche, bei den Dissozialen, Kriminellen, bei Süchten und anderen Störungen ist diese Ich-Schwäche jedoch von vornherein so ausgeprägt, dass auch von einem „Ich-Defekt“, im angelsächsischen Schrifttum von „ego-distortion“ gesprochen wird. Damit ist gemeint, dass das Ich kaum Möglichkeiten hat, Triebimpulse zu hemmen. Das Leben solcher Menschen wird mehr oder minder von ihrem Impulsverhalten und von der Art der Außenwelteinflüsse bestimmt. Ein extrem versagendes Milieu, insbesondere ein solches, das keine affektive Zuwendung geben kann, bewirkt auch eine unzulängliche Über-Ich-Bildung.“ 168 Innenrepräsentation von sozialen Gesetzen kommt. Man spricht von Über-Ich-Schwäche56 oder noch drastischer vom Über-Ich-Defekt.“57 Soziales Verhalten kann in einem meist extrem versagenden, affektiv dünnen Milieu nicht oder nur unzureichend erworben werden, da die Eltern dieses Verhalten zumeist selbst nicht beherrschen. Neurosenstrukturen und Dissozialität werden oft familial, d. h. von einer Generation zur nächsten, tradiert. Biographische Risikofaktoren für die Entstehung psychischer und psychosomatischer Krankheiten sind nach Sven Hoffmann und Gerd Hochapfel u.a.: • Niedriger sozioökonomischer Status • Mütterliche Berufstätigkeit im ersten Lebensjahr und alleinerziehende Mutter • Große Familien und sehr wenig Wohnraum • Chronische Disharmonie/Beziehungspathologie in der Familie • Unerwünschtheit Autoritäres väterliches Verhalten • „Häufig wechselnde frühe Beziehungen“, etc. 58 Diese Auflistung von Risikofaktoren ist sehr schlüssig, sie spiegelt eine „kumulative Benachteiligung“ wider. Im Milieu sozialer Armut treten zerbrochene Familien, völlig unzureichende Wohn- und Wohnumfeldbedingungen, Süchte, Dissozialität und Kriminalität verstärkt auf. Dass aber diese Risikofaktoren so deutlich mit dem Auftreten späterer psychischer Krankheiten korrelieren, ist zunächst überraschend. Die Differenzierung neurotischer Entwicklungsstörungen durch das Konflikt- und Defizitmodell beantwortet nicht nur die entstehungsgeschichtliche Frage. Es ergeben sich auch nennenswerte schichtenspezifische Korrelationen: „Vor allem wird dadurch auch die Bedeutung von Entwicklungskonflikten zugunsten der Bedeutung von Entwicklungsschäden relativiert. In der Tendenz häufen sich Entwicklungskonflikte (Neurosenstrukturen; Anm. d. Verf.) in Mittel- und Oberschicht, während Entwicklungsdefizite (frühe Störungen, wie z.B. Borderline; Anm. d. Verf.) eher in der Unterschicht aufzutreten scheinen.“59 56 Auf die Bedeutung der Über-Ich-Bildung und die Position des generalisierten Anderen in der Sozialisation bin ich bereits im Kapitel „Symbolischer Interaktionismus“ eingegangen. 57 Hoffmann, S. O.; Hochapfel, G: a.a.O., S. 70 f.: „Menschen mit solchen Störungen richten sich fast ausschließlich nach der Art der Intensität der äußeren Gesetzeskontrolle. Fehlt eine äußere Kontrolle, dann existiert für das Ich auch kein Gesetz. In den USA existiert hierfür das Konzept der „moral insanity“. Diese Art von Gewissensbildung kontrastiert sehr scharf zur häufig hypermoralischen und überstrengen Gewissensbildung bei den Neurosen. Schließlich muss bei der Entstehung von asozialem Verhalten auch daran gedacht werden, dass im entsprechenden Milieu für die heranwachsenden Kinder solches Verhalten gar nicht als dissozial erkannt werden kann, da die Erwachsenen, an denen sie sich orientierten, sich selbst entsprechend verhalten. (Hier sei noch einmal an die Risikofaktoren erinnert!) Das gestörte Verhalten, die Sucht, das kriminelle Symptom tritt hier – metaphorisch ausgedrückt – an die Stelle des Strukturdefektes, füllt gleichsam die früh entstandene Lücke im Ich aus. Die „frühen Störungen“ werden um so eher auftreten, je mehr sich Ablehnung und emotionale Kälte im Erziehungsmilieu kombinieren. In diesem Sinne ist die Formulierung von A. Freud zu verstehen, dass prinzipiell zwei Ausgänge von Entwicklungsstörungen möglich sind: der Ausgang als Konflikt und der Ausgang als Defekt.“ 58 ebenda, S. 55. 59 ebenda, S. 54 f.: Am Beispiel der „Unerwünschtheit“ eines Kindes lässt sich gut zeigen, dass diese im Prinzip schichtunabhängig ist, in der Realität aber, wegen der inkonsequenteren Antikonzeption, in der Unterschicht wahrscheinlich häufiger vorkommt. 169 Protektive Faktoren Im Gegensatz zu Risikofaktoren gibt es auch „Protektive Faktoren“ 60: • Die dauerhafte, gute Beziehung zu mindestens einer primären Bezugsperson, • Großfamilie / kompensatorische Elternbeziehungen / Entlastung der Mutter, • insgesamt attraktives Mutterbild, • Soziale Förderung (z. B. Jugendgruppen, Schule, Kirche), etc. Neurosen können aus einer nicht geglückten oder nicht machbaren Anpassung entstehen. „ (...) Die Einschätzung spezifischer Fehlentwicklungen der Gesellschaft [wird] durch die Art des Selbst- und Fremdverständnisses ihrer Glieder bewirkt. In einer industriellen Großstadtkultur haben wir es mit für sie neurotischen oder einer Neurose vergleichbaren leib-seelischen Fehlsteuerungen zu tun. (...) Psychoneurosen wie psychosomatische Erkrankungen werden dann undenkbar, wenn ein Lebewesen mit seiner Umwelt durch angeborene Verhaltensmuster fest verzahnt ist. (...) Denn Neurosen sind Anpassungskrankheiten, Reaktionsformen, die unter der Belastung der Forderungen aufgetreten sind, die im Zusammenleben der Menschen dem Individuum gegenüber geltend gemacht werden. Dass diese soziale Außenwelt gleichsam ins Innere des Individuums wandern kann, dass sie dann als ein Sozial-Gewissen, als Über-Ich, von innen heraus ihre Macht entfaltet, das ist bereits ein nächster Schritt der sozialen Adaptation.“61 Bebaute und unbebaute Lebenswelten können für den Menschen offenbar zu einem traumatisierenden und neurotisierenden Risikofaktor werden, wenn seine subjektive Anpassungsfähigkeit62 überfordert wird. Sie stellt eine große psychische Leistung dar, die für das Individuum auch Weiterentwicklung beinhalten kann.63 Menschen, die sich in ihrem Wohnumfeld wohl und angenommen fühlen und mit der Natur verzahnt sind, neigen weniger zu neurotischen Störungen und psychogenen Reaktionen. Psychische Probleme können sich auch über die körperliche Ebene als psychosomatische Erkrankungen ausdrücken, ein Phänomen, das A. Mitscherlich als „zweiphasige Verdrängung“ bezeichnete. 60 ebenda, S. 56: „Auch die protektiven Faktoren leuchten unmittelbar ein, sind aber so selbstverständlich nicht. Ein befriedigendes Bindungserleben in der Entwicklung scheint nicht nur emotional unerlässlich, wie schon ausgeführt, sondern auch vor seelischer Krankheit im Erwachsenenalter schützend.“ 61 Mitscherlich, Alexander (1965): a.a.O., S. 146 f. 62 ebenda, S. 147 f. „Neurotisches Verhalten, das wissen wir seit Freuds Hysterieuntersuchungen, stellt einen Protest gegen Anpassungsforderungen an die Sittengesetze dar, denen das Individuum offen nicht zu widerstehen, die es aber in der Tiefe seiner Triebnatur auch nicht hinzunehmen vermag. Zwischen unserem Wollen, unserem inneren Müssen und dem, was wir nach den Gesetzen unserer Gesellschaft sollen und dürfen, vollzieht sich ein ununterbrochenes Kräftespiel; und zwar an unserer Bewusstseinsoberfläche eher in einer beruhigteren Form als in der Tiefe unserer Person. Hier gibt es keinen endgültigen Frieden, hier stellen sich bestenfalls, so lange Leben nicht erstarrt ist, wie Ludwig von Birtalanffy sagt, „Fließgleichgewichte“ her. Die Einführung in unsere Mitwelt kann immer nur hinlänglich befriedigend gelingen. Je gewalttätiger der Zwang ist, der ausgeübt wird, desto nachhaltiger wirkt der aus unserem Unbewussten gespeiste und von den unbewussten Anteilen unseres Ichs dirigierte Widerstand.“ 63 Paula Heimann hat Anpassung so beschrieben: „Der Begriff der Anpassung steht im Gegensatz zu dem der Befriedigung und bezieht sich auf die psychische Leistung, die durch ein Versagenserlebnis in Gang gesetzt wird. (...) Anpassung setzt den Verlust einer ursprünglichen Befriedigungsquelle voraus, so dass die Anpassungsleistung einen Ersatz, eine Alternativbefriedigung schaffen muss.“ Heimann, Paula: Entwicklungssprünge und das Auftreten der Grausamkeit. In: Mitscherlich, Alexander (Hrsg.): Das beschädigte Leben. Diagnose und Therapie in einer Welt unabsehbarer Veränderungen. Symposion in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München am 21. und 22. März 1969, Hoffmann-La Roche AG, Grenzach / Baden, S. 55 170 „Verstimmung, Brutalität, Unduldsamkeit, zahllose Einstellungen und fest gefügte Reaktionsmuster, unter denen ein Mensch leidet, die ihn beherrschen, denen er ausgeliefert ist, unter denen seine Umgebung ächzend mitleidet, sind dauerhafte Fernwirkungen einer nicht bewältigten Anpassung. Hiermit ist keineswegs allein eine passive Anpassung gemeint, in der man sich jedem Gebot der Gesellschaft blindlings unterwirft. Es gibt die überaus wichtige aktive Anpassung durch den Widerstand und Auflehnung, indem sich nämlich das Individuum für seine Ansprüche ein ihm angemessenes Lebensrecht erkämpft. Wo schwere seelische Störungen aufgetreten sind, gelang weder die eine noch die andere Form der Anpassung, in welcher das Individuum noch befriedigenden Spielraum behalten hat. In jedem Fall ist Neurose also durch eine Vertiefung der Spaltung zwischen bewussten, gewollten und unbewusst diktierten Verhaltensweisen zu charakterisieren. (...) Als Faustregel kann man formulieren: Je rücksichtsloser das Individuum dazu gezwungen wird, gegenüber der Realität primitive Verleugnungsmechanismen anzuwenden, etwa zu verdrängen, Motive seines Handelns ins Gegenteil zu verkehren und ähnliches – je schlechter es also angeleitet worden ist, seine individuellen Bedürfnisse auf dem Weg der Vernunft im Einklang mit den Wünschen der Anderen zu befriedigen – desto unausbleiblicher die Konflikte, desto hartnäckiger der Widerspruch der nicht-sozialisierten, nicht mit den Verzichten abgefundenen Triebnatur. Dann beginnen Unlust, Zerstreutheit, Konzentrationsmängel, Jähzorn, Zerstörungswut, grausame Rücksichtslosigkeit, die Freiheit der Lebensführung einzuschränken.“64 6.4.3. „Die schizoide Gesellschaft“ nach Fritz Riemann Der Psychoanalytiker Fritz Riemann hat die Einflüsse der Umwelt auf die Persönlichkeitsstruktur umfassend untersucht und dabei festgestellt, dass Persönlichkeitsbilder nicht nur bei Individuen diagnostizierbar sind, sondern dass sich auch kollektive Tendenzen in der Gesellschaft abzeichnen. In seinem Traktat „Die schizoide Gesellschaft“ demonstriert er die Präsenz eines kollektiven Wesens- bzw. Charakterzuges in der westlichen Gesellschaft, speziell in Deutschland. Er vertritt die These, dass wir heute „nicht nur eine Zunahme der schizoiden Neurosen feststellen können, sondern weil auch der sogenannte Gesunde zunehmend schizoide Züge und Verhaltensweisen erkennen lässt, die wir offenbar als die Folge von Lebensbedingungen sehen müssen, denen wir alle unterliegen und die uns krank zu machen drohen. Kannten wir bisher Persönlichkeitsentwicklungen mit schizoiden Merkmalen nur beim Einzelnen als Folge schwerer Frühschicksale, (...), scheinen heute ganze Generationen, ja scheint überhaupt die westliche Menschheit von einem Schizoidisierungsprozess ergriffen zu sein. Wir müssten daraus folgern, dass diesem Vorgang ähnliche Ursachen zugrunde liegen werden, wie wir sie aus der Lebensgeschichte des einzelnen schizoiden Patienten kennen gelernt haben.“65 64 Mitscherlich, Alexander (1965): a.a.O., S. 149 f. 65 Riemann, Fritz: Die schizoide Gesellschaft. München 1975, S. 16 und ebenda, S. 11: „In der Lebensgeschichte dieser Menschen finden wir mit großer Regelmäßigkeit den Ausfall oder das Nicht – Geglücktsein einer verlässlichen und tragenden Bindung in ihrer Frühzeit. Entweder fiel eine emotionale Bindung aus durch frühe Trennungen von der Mutter, durch Heimaufenthalte, oder durch zu langes und zu häufiges Alleingelassen werden, wie es nicht selten der Fall bei Müttern ist, die kurz nach der Geburt des Kindes wieder auf Arbeit gehen müssen. Das Kind fand dann kein Echo in seiner Umwelt, sie konnte ihm nicht vertraut werden; seine Bereitschaft, sich auf die Umwelt hin zu beziehen, sich ihr reagierend, antwortend zuzuwenden, griff ins Leere.“ 171 Der Begriff der schizoiden Persönlichkeiten stammt ursprünglich aus der Psychiatrie, er wurde von Ernst Kretschmer in seiner Konstitutionslehre verwendet und hat sich in der Neurosenlehre als eine der vier großen Neurosen herauskristallisiert. Er steht für eine Neurosenform, bzw. für eine Persönlichkeitsstruktur, deren Prägung in frühen Entwicklungsstadien des Menschen abläuft.66 In „Grundformen der Angst“ entwickelte Fritz Riemann eine psychoanalytische Charakterkunde des In-der-Welt-seins, aus der er vier Grundtypen von Persönlichkeitsstrukturen ableitete. Die: • schizoiden, • depressiven, • zwanghaften und • hysterischen Persönlichkeiten Diese Charakterstrukturen resultieren aus vier Grundformen von Ängsten, die sich in den ersten drei nach E. Erikson beschriebenen Entwicklungsphasen aufgrund eines nicht bewältigten Lebensthemas (psychosoziale Krise) einstellen können. Diese sind die Angst vor der: • Selbsthingabe, als Ich-Verlust und Abhängigkeit erlebt (schizoid); • Selbstwerdung, als Ungeborgenheit und Isolierung erlebt (depressiv); • Wandlung, als Vergänglichkeit und Unsicherheit erlebt (zwanghaft); • vor der Notwendigkeit, als Endgültigkeit und Unfreiheit erlebt (hysterisch).67 Diese Ängste bedingen Persönlichkeitseigenschaften, deren Charakteristika zunächst in Abstufungen jedem Individuum inhärent sind. Erst, wenn eine der vier Grundängste überwertig wird, entsteht eine Persönlichkeitsstruktur mit einer einseitigen, neurotischen Akzentuierung in Bezug auf die vier Grundängste.68 Aus diesem Konzept entwickelte er eine gesamtgesellschaftliche Charaktertheorie, und er war überzeugt, im Deutschland der Nachkriegszeit gesamtgesellschaftliche Züge einer schizoiden Charakterstruktur zu erkennen, die sich mit Symptomen wie: 66 vgl.: Riemann, Fritz (1975): a.a.O., S. 7. In diesem Traktat beschreibt Riemann auch die begleitenden psychosomatischen Symptome der Patienten. Nicht selten finden sich bei ihnen Schlafstörungen verschiedenen Ausmaßes, asthmatische Beschwerden oder Affektionen der Haut, beides also Störungen an den Organen des kommunikativen Austausches bzw. des Kontaktes. Sie haben häufig wechselnde Beziehungen, scheuen Bindungen, berichten von der Sinnlosigkeit des Lebens. „Wenn man mit ihnen etwas mehr Kontakt bekommt, was schwierig ist, denn sie verschanzen sich hinter einer scheuen Distanz oder hinter einer arrogant wirkenden Scheinsicherheit, die etwas Abweisendes haben, erfährt man, dass sie Angst haben.“ Diese Angst ist keine Angst vor etwas Konkretem, sondern ein Lebensgrundgefühl. 67 vgl.: Riemann, Fritz (1987): a.a.O., S. 15 68 ebenda, S. 17: „Je ausgeprägter und einseitiger die zu beschreibenden Persönlichkeitsstrukturen sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie auf Grund frühkindlicher Entwicklungsstörungen entstanden sind. Dementsprechend wäre es als ein Zeichen von seelischer Gesundheit anzusehen, wenn jemand die vier Grundimpulse in lebendiger Ausgewogenheit zu leben vermöchte – was zugleich bedeutet, dass er sich auch mit den vier Grundformen der Angst auseinandergesetzt hat. Die vier Persönlichkeitsstrukturen sind zunächst Normalstrukturen mit gewissen Akzentuierungen. Wird indessen die Akzentuierung zu ausgesprochener Einseitigkeit, erreicht sie Grenzwerte, die als Zerrformen oder Extremvarianten der vier normalen Grundstrukturen zu verstehen sind. Wir stoßen damit auf die neurotischen Varianten der Strukturtypen, wie 172 • Kühle, Distanz, Angst vor Nähe, Kontakt und emotionaler Bezogenheit, • Autarkiestreben und großes Unabhängigkeitsbedürfnis, • Mangel an Intimität und Emotionalität bei großer Sensibilität und Verletzlichkeit • Tiefes Misstrauen und überwertiges Abgrenzungsbedürfnis beschreiben lässt. Menschen dieser Charakterstruktur legen aus Gründen des Selbstschutzes eine Distanz zwischen sich und die sie umgebende Umwelt, weil sie eine zu große physische und psychische Nähe befürchten. Sie streben danach, so unabhängig und autark wie möglich zu werden. Auf niemanden angewiesen zu sein, niemanden zu brauchen, niemandem verpflichtet zu sein, ist ihnen sehr wichtig. „Deshalb distanziert er sich von den Mitmenschen, braucht er Abstand zu ihnen, lässt er sie sich nicht zu nahe kommen, lässt er sich nur begrenzt mit ihnen ein. Wird diese Distanz überschritten, empfindet er das als Bedrohung seines Lebensraumes, als Gefährdung seines Unabhängigkeitsbedürfnisses, seiner Integrität, und wehrt sich schroff dagegen. So entwickelt er die für ihn typische Angst vor mitmenschlicher Nähe. (...) und daher sucht er nach Schutzhaltungen, hinter denen er sich gegen sie abschirmen kann. (...) Das Vermeiden jeder vertrauten Nähe aus Angst vor dem Du, vor sich öffnender Hingabe, lässt den schizoiden Menschen mehr und mehr einsam werden.“69 Der Traum eines schizoiden Menschen verdeutlicht die Problematik symbolhaft: „Eine Festung aus Zementmauern mit wenigen kleinen Gucklöchern in einer riesigen Sandwüste; die Festung ist schwer bewaffnet und mit Lebensmitteln für Jahre ausgestattet. Ich bewohne sie allein.“70 Das Bedürfnis nach Abschirmung, Abgrenzung und Autarkie lässt sich m.E. kaum besser beschreiben. 71 Die Prägungen, die zu einer schizoiden Persönlichkeitsentwicklung führen können, finden bereits im Stillalter statt: Defizite oder das Nicht-geglückt-Sein einer tragenden und zuverlässigen Urbindung in der frühsten kindlichen Entwicklungszeit. Die erste Umweltsituation sollte dem Kind u.a. emotionale Wärme, Zuwendung, ein ihm angemessenes Maß an Reizen und Ruhe sowie die Stabilität des Lebensraumes bieten, damit sich eine vertrauensvoll aufgeschlossene Persönlichkeit entwickeln kann. Die schizoidisierende Kindheit wird aber als Mangel an Nähe und Geborgenheit oder aber als eine Zeit der übertriebenen, distanzlosen Nähe erlebt. Vernachlässigung, Ungeliebt- und Unerwünschtsein können ebenso Auslöser sein wie überschwemmende Reizangebote, ein Zuviel an Wechsel der Umgebung und an Sinneseindrücken, die nicht verarbeitet werden können.72 Es kommt sozusagen zu einer „Abspaltung“ von körperlich–emotionalen sie die Psychotherapie und Tiefenpsychologie in den vier großen Neurosenformen der Schizoidie, der Depression, der Zwangsneurose und der Hysterie beschrieben hat.“ 69 Riemann, Fritz (1987): a.a.O., S. 20 70 ebenda, S. 49 71 Folgende Symptome sind gemäß Riemann typisch. Riemann, Fritz (1975), a.a.O., S. 10 f.: Außenseitertum, Feindlichkeit gegenüber der Gesellschaft oder zu bestimmen sozialen Schichten, radikale Standpunkte, hinter denen man Bitterkeit, Enttäuschtheit und Hass verspürt. Bei aller Verschiedenheit der Symptome fielen Riemann immer wieder folgende Züge auf: Ausgeprägte Egozentrik, Mangel an Liebesfähigkeit, geringe Einfühlung, tief verankertes Misstrauen, breite Unsicherheit im mitmenschlichen Umgang; Mangel an Lebensfreude, Angst vor mitmenschlicher Nähe. Jede Annäherung wird als Bedrohung empfunden. Demgegenüber steht eine radarähnliche Wachheit und Beobachtungsgabe. Die gefühlsmäßige Bezogenheit wird durch Denkprozesse ersetzt. Rational-intellektuelle Seiten sind oftmals einseitig überwertig entwickelt. 72 „Erfährt das Kind dagegen in dieser Frühstzeit die Welt als unheimlich und unzuverlässig, als leer, oder aber als überrennend und überschwemmend, wird es sich von ihr zurücknehmen, abgeschreckt werden. Anstatt 173 Empfindungen und einer Überbetonung der Ratio: Die „kopfgesteuerten“ Persönlichkeiten setzen ihren „messerscharfen Verstand“ in entsprechenden Interaktionen ein. Mangelnde Objektlibido lässt Interaktionen mit empathischer Rollenübernahme kaum entstehen. Auf die Spaltung von Körper und Geist durch die Rationalisierung moderner Lebenswelten hatte ich bereits hingewiesen. Durch die Kriege in Deutschland und Europa wurden/werden die Spaltungstendenzen offensichtlich noch verstärkt. F. Riemann entwickelte die These, dass die Generation, in deren frühe Entwicklungszeit der zweite Weltkrieg fiel, bedingt durch die negativen Umwelteinwirkungen (Unruhe des Krieges, Bombenangriffe, Flüchtlingsschicksale, Trennung der Familien, Verlust von Heimat, etc.) gehäuft schizoide Züge aufweist. Sie könnten aber auch, ähnlich dem Städtebau der Moderne, lediglich der Endpunkt einer ratiobetonenden gesellschaftlichen Entwicklungstendenz sein. Die gesamte Umweltsituation des westlichen Menschen wirke sich schizoidisierend aus: „die Welt gibt uns immer weniger Geborgenheit; trotz allem Komfort fühlen wir uns immer gefährdeter, und unser Lebensgefühl wird labilisiert durch die Überfülle an Reizen. (...) Die Beherrschung der Natur, die Zeit und Raum überwindende Technik, und die Lebensbedingungen, unter denen wir unseren Existenzkampf führen müssen, drohen unsere gemüthaften Seiten immer mehr verkümmern zu lassen, so dass wir von einem Schizoidisierungsprozess der westlichen Welt sprechen können. Mangel an altersgemäßer Geborgenheit in der frühsten Kindheit ist also gleichsam die Kurzformel für die Entwicklung schizoider Persönlichkeitsstrukturen, soweit sie mit den Umwelteinflüssen zusammenhängen.“73 F. Riemann beobachtete in seiner Praxis sowohl eine Zunahme der schizoiden Neurosen als auch eine Zunahme der schizoiden Verhaltensformen an sich, z. B. als Ängste durch existentielle Bedrohtheiten wie Umweltverschmutzung, die Nicht-Unerschöpflichkeit der Ressourcen, der Nahrungs- und Energiequellen, Überbevölkerung, Reizüberflutung, Leistungsgesellschaft, Verlust an Bindung, Verbindlichkeit und Verantwortungsgefühl, wankende Stützen der Gesellschaft wie Familie, Staat und Kirche.74 Auch Städtebau und Wohnverhältnisse können sich schizoidisierend auf Individuum und Gesellschaft auswirken: „Schizoidisierend wirken für viele von uns auch die Wohnverhältnisse; wir wohnen in genormten Betonbauten, deren Komfort, Hygiene und austauschbare Unpersönlichkeit das Grün einer landschaftlichen Umgebung, die man lieb gewinnen kann, nicht zu ersetzen vermag. Wir können uns heute zwar viele Wünsche erfüllen, geraten aber in die Gefahr, dass die uns in Überfülle angebotenen Konsumgüter, die uns die Reklame als erstrebenswert, ja als notwendig suggeriert, beginnen, einen wesentlichen Teil unseres sozialen Prestiges auszumachen. Das läßt uns für ihren Erwerb zuviel Zeit und Kraft aufwenden, die anderen, wichtigeren Dingen verloren geht. Wir reisen mit sich vertrauend der Welt zuzuwenden, wird es ein ganz frühes und tiefes Misstrauen erwerben.“ Riemann, Fritz (1987): a.a.O., S. 37 73 Riemann, Fritz (1987) : a.a.O., S. 40 f. 74 vgl.: Riemann, Fritz (1975): a.a.O., S. 16 ff. 174 Massenverkehrsmitteln in ferne Gegenden, finden überall die gleichen Hotels vor, wie auch unsere Städte mehr und mehr austauschbar geworden sind und ihre individuelle Prägung zu verlieren drohen, die einst ihren Reiz ausmachte.“75 6.5. Einflüsse der städtischen Lebenswelt der Moderne auf die Psyche Die Beeinflussung der Psyche durch die bebaute und unbebaute Umwelt möchte ich in den folgenden Abschnitten differenzieren als Wirkung über: • ihre Gestalt (Monotonie, etc.) • die Funktionstrennung und ihre sozialpsychologischen Folgen • fehlende Möglichkeiten zu räumlichen Sinnes- und Expansionserfahrungen sowie • die Symbolik. 6.5.1. Einflussfaktor „städtebauliche Gestalt“ „H. F. Searles betont, dass jede Umwelt „einen grundlegend wichtigen Bestandteil der psychologischen Existenz des Menschen« bildet (Parr 1966). Eine in „kleinen Entscheidungen“ gewachsene, lange belebte Umwelt hat eine differenzierte seelische Ansprechbarkeit zur Folge, eine monotone Umwelt reduziert das Neugierverhalten und hilft nicht, die kritischen Fähigkeiten zu entfalten und natürlich auch nicht den geformten affektiven Ausdruck (den wir meinen, wenn wir jemandem „Urbanität“ zusprechen.) (...) Den Rückzug ihres Interesses von den »Objekten«, den wir an so vielen Menschen beobachten können, darf man zu einem beträchtlichen Teil der Monotonie ihres Daseins zuschreiben, zu welcher die monotone Hässlichkeit der industrialisierten Wohnlandschaft, des Arbeitsplatzes, der Vergnügungsstätten, also ihrer gesamten Umwelt beiträgt.“76 Der Städtebau der Moderne verfügt offenbar über wenig Aufforderungscharakter und weiß das Neugierverhalten kaum anzuregen. Monoton-langweilige Siedlungen können zu einer frühzeitigen Hemmung der Initiative des Kindes führen. Die starre Gleichförmigkeit der Bauweise hat Isbary mit dem treffenden Paradoxon „explosive Ballung“ bezeichnet77. Trotz eines erheblichen Forschungsaufwands konnte die beschriebene „explosive Ballung“ eines sozialen Brennpunktes mit hoher Kriminalitätsrate auch in Heidelberg - Emmertsgrund nicht entschärft werden. A. Mitscherlich kritisierte diese Form des Städtebaus bereits 1971 als „grandiose Fehlplanung“ und warnte, dass aus diesen „langweiligen Schlafstädten Unheil auf uns zukommen“ würde78. Heute sind diese Wohnungen, so die Stadt Heidelberg, nicht mehr zu vermarkten. 75 Riemann, Fritz (1975): a.a.O., S. 26 76 Mitscherlich, Alexander: Vom möglichen Nutzen der Sozialpsychologie für die Stadtplanung, Bauwelt, 1966, 39/40, S. 868-876: in: Mitscherlich, Alexander: Gesammelte Schriften VII, Politisch-publizistische Aufsätze 2, Suhrkamp, Frankfurt 1983, S. 664 f. 77 vgl. Mitscherlich, Alexander (1965): a.a.O., S. 17 zit. nach Isbary 78 Mitscherlich, Alexander, (1971): Thesen zur Stadt der Zukunft, Frankfurt am Main, Suhrkamp S.100 in: Fischer, Manfred: Stadtplanung aus Sicht der ökologischen Psychologie, Weinheim: Beltz 1995, S. 47: „Slums können Unterprivilegiertheit ausdrücken; Vorstädte, in denen sich kalt und lieblos die Blocks und 175 Traditionelle Stadtformen boten im Gegensatz zu Stadtbildern und Trabantenstädten der Moderne eine Fülle von Blickpunkten, eben ein abwechslungsreiches Ortsbild. Gestaltungselemente durften noch unzentriert und nicht achsengebunden platziert werden, es gab unregelmäßige Strukturen und Versprünge in der Baufluchtlinie. Jeder Winkel bot die Gelegenheit, etwas Neues zu entdecken, die Stadt zeigte sich permanent in anderen Sichtwinkeln als vielfältiger Lebensraum. Moderne rationale Raster-Siedlungen vermögen dieses Raumgefühl nicht mehr zu vermitteln und damit auch das ursprünglich durch Vielfalt geförderte Neugierverhalten nicht mehr zu befriedigen. Auf die Reizlosigkeit und Kontrastlosigkeit der Umgebung kann das Subjekt einerseits mit innerem Rückzug und / oder mit einem übergroßen Verlangen nach Reizen andererseits reagieren, der Beginn eines Circulus vitiosus, der in der Sozialpathologie enden kann.79 Artikulieren kann sich dieser Bedarf u.a. in immer aggressiveren Sport- und Freizeitbeschäftigungen, die kompensatorisch den ultimativen Kick für das in früher Kindheit entstandene Leeregefühl ermöglichen sollen.80 Ersatzbefriedigungen und Süchte aller Art sollen von der defizitären Situation ablenken. Sie verbleiben immer nur ein Scheinersatz mit Plombenfunktion. Die Desensibilisierung der Reizaufnahme kann suchtartig zu immer größerem Reizbedürfnis führen, oft vermischt mit Aggression und Zerstörungswut. Es besteht auch grundsätzlich eine Tendenz zu Kriminalität und Drogenabhängigkeit. Besonders gefährdet ist der Jugendliche ab Beginn der Pubertät, einem Zeitpunkt, zu dem die Ich-Identität auch in der Gruppe neu gefunden werden muss. Dieses Entwicklungsalter macht ihn für Instabilitäten ohnehin sehr anfällig, da er durch ein gewisses Imitationsbedürfnis und „clanhaftes“ Gruppenabgrenzungsbedürfnis auf der Suche nach Idealen und Idolen ist. In New York haben beispielsweise Destruktion, Aggression und Suchtverhalten pathologische Züge angenommen, die Bezüge zur „tödlichen Unzufriedenheit mit der Umgebung“ und zum schlechten „Community spirit“ zulassen. 81 Reihenhäuser ausbreiten, können von einer anderen Unterprivilegiertheit sprechen – die Härte einer Gesellschaft verraten, die unfähig geworden ist, sich selbst anders zu gliedern, als sie es in ihren Organisationen tut: schematisch. Die Folgen der in ungezählten Fällen und täglich sich vollziehenden Reduktion des Menschen auf eine unpersönliche Größe sind unabsehbar - im Wortsinn: Wir wissen nicht, was diese langweiligen Schlafstädte an Unheil aus sich gebären werden.“ 79 vgl.: Mitscherlich , Alexander (1965): a.a.O., S. 94 80 ebenda, S. 39: „Es geht um die relative Annäherung an eine Daseinsform, in der genügend Reize vorhanden sind, welche zu Objektbeziehungen herausfordern, aber nicht zu viel Reize, welche desintegrierend wirken. Dabei ist zu bedenken, dass übergroße Triebstimulierung ebenso fatal wirken muss, wie unbewältigbare Triebunterdrückung. Der goldene Schnitt für die Proportionen zwischen Gewähren und Versagen ist noch nicht gefunden, und das wird auch nicht geschehen, weil immer die integrative Kapazität von Individuum zu Individuum sehr verschieden bleiben wird. Die Aufgabe der Planung menschlicher Umwelt – wo immer sie anpacken mag – liegt in der Förderung der integrativen Leistungen.“ 81 ebenda, S. 113 f.: „Zu allen Zeiten und in allen Städten haben übrigens Jugendliche aus dem gleichen Wohnquartier Banden gebildet und mit denen anderer Nachbarschaften Kämpfe ausgetragen. Dabei handelt es sich um natürliche Gesellungsvorgänge in der Protestphase der Pubertät. Erst bei Zielsetzungen wie denen der jugendlichen Gangs, die New Yorks Untergrundbahnen unsicher machen, hat der Unfug einen Destruktionsgrad angenommen, der ernsthaft gefährlich ist und prognostisch im Hinblick auf diese Zeichen der Verwahrlosung beunruhigen muss. Denn hier organisiert sich nicht die sozial integrierte und infantil bleibende bedenkenlose Aggressivität – ein Gradmesser also für den schlechten Community Spirit. Das Auftreten von Süchtigkeit, die mit diesen Bandenbildungen verknüpft ist und in immer früherem Lebensalter erscheint ist in der Tat sehr alarmierend. Eine sachverständige Untersuchung über eine Welle von Rauschgiftsucht unter Jugendlichen New Yorks (Fn. Anm. A. Mitscherlichs: Harms, Ernest: Drug Addiction Wave Among Adolescents. New York State Journal of Medicine, December 1962) hat sehr deutlich gemacht, dass es nicht ein „pathologisches, unwiderstehliches Verlangen“ wie beim erwachsenen Süchtigen ist, das diese Jugendlichen trieb, sondern der Wunsch nach einer abenteuerlichen Erregung („thrill“). Dazu kommt das für den Jugendlichen charakteristische Imitationsbedürfnis, um sich seiner Altersgruppe anzupassen. Die Entartung zur Süchtigkeit ist gut geeignet, zu zeigen, dass das Bedürfnis nach abenteuerlicher, „kitzliger“ 176 Technisch durchgeplante Stadträume bieten kaum noch „natürliche“, positive Abenteuer zur Förderung des Neugierverhaltens, sondern fördern Versagungen, die in die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen tief eingreifen. Unkontrolliert wachsende Großstädte können durch Mängel in der Befriedigung biologischer und psychologischer Grundbedürfnisse eine Basis für Jugendkriminalität82 darstellen: „Gewiss spielen lokale Faktoren eine Rolle; wir haben aber Grund, übereinstimmende Faktoren, die aus der unkontrollierten Entwicklung der Großstädte herrühren für die in aller Welt zunehmende Asozialität verantwortlich zu machen. Da die amerikanische Großstadt weitgehend eine fabrizierte und nicht eine gewachsene Stadt ist, können wir erwarten, dass sie repräsentativ für diesen Entwicklungstrend zur Asozialität einsteht. (...) Die ganze Aussichtslosigkeit späterer Sozialarbeit mit Jugendlichen, die in Slums groß geworden sind, wird dort sichtbar. Es ist ebenso schwer, in die Sozialarbeit eine vernünftig zentrale Planung hinein zu bekommen wie in die Stadtplanung. Sie existiert einfach nicht. Niemand setzt sich hin mit einem Plan und denkt darüber nach, wie die Stadt aussehen sollte, wie sie zu verbessern wäre. Alles wächst wild durcheinander und führt ein eigenes Leben. Wir müssen alle für die schrecklichen Geschwüre zahlen, die wir mit schaffen helfen“.83 Mangel an Freiraum durch beengte Wohn- Haus- und Stadtverhältnisse sind zumindest Mitverursacher einer seelischen Problematik, die sich später in Form von Aggressivität äußern kann. Der beengte Lebensraum verlangt vom Menschen eine starke Anpassung seiner Triebenergien. Sofern diese aber in Freiräumen, Spiel- und Sportflächen nicht herausgelassen werden können, sondern unterdrückt werden müssen, kann es zu einer impulsartigen Entladung kommen.84 Die Lebenswelt spiegelt deutlich wider, welchen Wert die Gesellschaft den Bedürfnissen ihrer Mitglieder beimisst. Würden Kinder und Jugendliche Betätigung eine altersentsprechende Erscheinung ist. Der Heroingenuss wird ganz in diesem Sinn gesucht, bis sich dann der eigentliche Mechanismus der Süchtigkeit herstellt und es für den Jugendlichen unerlässlich wird, sein Selbstbewusstsein immer wieder durch den illegalen Zugang zum Suchtmittel wie durch dessen Genuss periodisch zu steigern. So entsteht schrittweise eine Subkultur jugendlichen Verbrechertums, dessen Wurzeln in der pubertären Unruhe liegen und die unter besseren städtischen Wohnbedingungen nicht diesen Grad von „tödlicher Unzufriedenheit mit der Umgebung“ annähme. Solange das Kind in einer wenig bevölkerten Welt aufwuchs, war Spielraum eine ungefragte Selbstverständlichkeit, und im nächsten Wald begann das Abenteuer. Die zweite Natur der technischen Binnenräume bringt neue Abenteuer, aber auch sehr tief in die Persönlichkeitsentwicklung eingreifende Versagungen.“ 82 Mitscherlich, Alexander (1971): a.a.O., S. 79 f. Jugendkriminalität bringt früh entstandene Defizite zum Ausdruck: „Aus den großen Untersuchungen von Sheldon und Eleanor Glück geht hervor, dass 47,9% der jugendlichen Kriminellen gegenüber 9% einer nicht kriminellen Vergleichsgruppe einen ausgesprochenen Abenteuerdrang hatten. Die Suche nach Abenteuern ist aber ein sehr alterstypisches Anzeichen eines nicht erloschenen Neugierverhaltens in der Pubertätsperiode. Der Antrieb ist normal, erst eine für ihn verständnislose Umwelt zwingt ihn, sich in einem asozialen Verhalten zu befriedigen.“ 83 Mitscherlich, Alexander (1965): a.a.O., S. 105 teilw. Zit. nach Salisbury, H. E., S. 125: hier sagt er auch: „Die Zahl sozial schlecht angepasster Jugendlicher ist sehr groß. Das ist gewiss das Ergebnis vieler Faktoren; aber auch dieses Einen, dass dem jungen Menschen zu wenig Bewegungsspielraum angeboten, dass er in einer übervölkerten Umwelt allein gelassen wird. Wut auf das Bestehende bricht in großer Wildheit durch.“ 84 ebenda, Seite 39 f.: „Es geht nämlich immer wieder um die Frage, wie eine Kultur – als spezifische menschliche Umwelt – mit der Voraussetzung fertig wird, dass die menschliche Triebnatur nicht definitiv mit einer Umwelt, mit definitiv fixierten Objekten verzahnt ist. Die Kulturen lehren, solche befriedigenden Objekte zu finden, sie verbieten den Zugang zu Anderen. Die städtische Welt mit ihrem verengten Eigenterritorium für den Einzelnen verlangt erhöhte Anpassung der Triebäußerungen. Der Überschuss an ungesättigter Aggressivität kann gerade in diesem Milieu bedrohlich anwachsen (...) es kommt in der Stadt demnach auf eine Entschärfung, eine „Neutralisierung“ primärer aggressiver Triebenergie und auf ihre Bindung an die „intelligenten“ Zielbereiche besonders an. Die überragende Bedeutung des Denkens in Kategorien der rücksichtsfreien Konkurrenz in unserer Umwelt zeigt aber an, dass die Verwandlung der archaischen Aggressivität in sozial geschmeidige, die Rechte des Anderen anerkennende Aktivität nur recht unvollkommen gelungen ist.“ 177 eine andere Wertschätzung erfahren, so müsste sich dies an baulichen Strukturen und Freiraumpotenzialen ablesen lassen. Jugendliche werden stattdessen zu Sündenböcken gemacht. Wollte man tatsächlich vermeiden, dass sozial „defekte“ Wesen entstehen, so muss die Stadtplanung entsprechende Voraussetzungen85 zur Verzahnung der Subjekte mit ihrer Umwelt schaffen. 6.5.2. Funktionstrennung und mögliche sozialpsychologischen Folgen „Die städtische Einheit zerfällt in Parzellen mehr oder weniger funktionierender Sozialleistungen; daneben breitet sich organisierte Nichtkultur aus: die Subkulturen der Kriminalität, der psychisch Ruinierten, der Süchtigen, des politischen Militarismus. Man kann hier riesige Aufgaben der moralischen Sanierung, vergleichbar oder parallel zur physischen Slumsanierung sehen. Zweckmäßiger ist die bescheidenere Analyse, die uns die Einsicht bringt, dass die kulturelle Realität, wie sie ist, dieses Ausmaß von „drop outs“, von Versagern, von Kriminellen und Süchtigen hervorgebracht hat. (...) Vielmehr besteht zwischen dieser in Konsumzwängen, Statussymbolen aufwendiger Art verhedderten und eingekeilten Normalpopulation und dem Rand, jenem immer breiter werdenden Rand, an dem sich die sogenannten Randfiguren ansiedeln, ein recht intensiver funktionaler und kompensatorischer Zusammenhang. Jede Gesellschaft hat – wie schon Paul Reiwald beschrieben hat – die Verbrecher, die sie verdient – genauer, die sie sich erzeugt.“86 Diese Gruppen halten durch ihre Verhaltensauffälligkeiten der Gesellschaft einen Spiegel vor. Die amerikanische Rap-Gruppe Fun Lovin’ Criminals bringt es auf den Punkt: „Society prepares the crime, the criminal commits it.“87 Die Stadt wurde zu einer Stadt der langen Wege, so dass zusätzlich zur Arbeitszeit noch ein erhebliches Zeitpotenzial für die Mobilität aufgewandt werden muss. Für Eltern und für Alleinerziehende kann dieser Zeitaufwand zu einem unerträglichen Stressfaktor werden. 85 „Blicken wir noch einmal auf die Ausbrüche antisozialer Gesinnung unter Jugendlichen, so spricht, wie gesagt, viel für die Mitschuld der Stadt, der gegenüber sich statt einer libidinösen Bindung aggressive Enttäuschtheit entwickelt. (...) Wo Minoritäten wie die Jugendlichen zum Sündenbock gemacht werden, ist nach der eigenen Schuld zu suchen. Man spüre überall der Mischung von Brutalität und Hilflosigkeit nach, mit der gegen die natürlichen Lebensäußerungen der Kinder und Jugendlichen in den Städten vorgegangen wird, man entdecke, mit wie wenig Einfühlung ihnen an die Hand gegangen wird, wie Scheinheiligkeit noch immer Erwachsene von Jugendlichen trennt, wie wenig vorausschauend ihren Bedürfnissen entsprechend geplant wird – und man findet rasch die Motive der Entfremdung der Jüngeren von einer Umwelt, die ihnen die Älteren – Vorbilder, die sie sind – anbieten. Unser gesellschaftsübliches Bewusstsein von der Kindheit des Menschen ist derart vorurteilsbelastet, derart verniedlicht, derart antiquiert, dass es nicht Wunder nimmt, wenn für diese Welt nichts Vernünftiges geschieht. Aber, um es wiederzukäuen: wenn wir in dieser kindlichen Erlebniswelt nicht saturiert werden, treten wir nicht als für die soziale Umwelt empfängliche, empfindliche, sondern als sozial defekte unempfindliche Wesen die Reise in die Welt der Erwachsenen an. Eine solche Entwicklung in ihrer Breite und in ihren Determinanten zu erkennen und durch kluges Bereitstellen von Voraussetzungen zu verhindern, innerhalb derer dann eine Planung sich organisch entwickeln kann, das ist eine Aufgabe, an der der Stadtplaner unmittelbar beteiligt ist.“ Mitscherlich, A. (1965): a.a.O., S. 109 ff. 86 Mitscherlich, Alexander (1971): a.a.O., S. 143 f. Man könnte meinen, dass Städte geradezu Menschen mit psychischen oder kriminellen Problemstellungen anziehen. „Die Städte laufen voll von solcher Art Verwahrlosten, Süchtigen und Arbeitsgehemmten. (...) Insgesamt Signale körperlicher wie psychischer Belastung, der offenbar eine steigende Zahl von Menschen nicht mehr symptomlos gewachsen ist. Neben anderer Ahnenreihe stammen sie auch von den Städten ab, sind Stadtkinder. Die Städte verbrauchen Menschen. Die Reizbelastung hat sich zu Unerträglichkeit gesteigert.“ 87 Fun Lovin’ Criminals: Come find yourself. EMI Rec. 1996 178 Mütter und Väter sind durch ihren Beruf so eingespannt, dass Kinder oft zu „Schlüsselkindern“ werden.88 Erste Entwicklungsphasen Die Stadt der Moderne griff durch Funktionstrennung in das Beziehungsgeschehen der Bürger ein: Die räumliche Trennung von Wohnen und Arbeiten verhindert einen kontinuierlichen, Sicherheit gebenden und vertrauensbildenden Beziehungsaufbau zwischen Mutter und Kind in den ersten Lebenswochen und -monaten. Die Mutter kann nicht, wie in früheren Familienstrukturen üblich und möglich, zwischen ihren Tätigkeiten hin und her wechseln, so dass ein kontinuierlicher Aufbau der Beziehung möglich wäre. Frauen und Mütter haben ein neues Selbst- und Rollenverständnis entwickelt. Selbstverwirklichung, qualifizierte Ausbildung und Berufstätigkeit spiegeln Wertmaßstäbe einer veränderten Gesellschaft wider. Hausarbeit und Kinderbetreuung wird erheblich geringer geschätzt als die berufliche Verwirklichung außer Haus. Viele Frauen möchten aber die gerade gewonnene Selbstständigkeit nicht zugunsten eines Kindes ganz oder zeitlich befristet wieder aufgeben. Häufige Trennung von Mutter und Kind, z.B. durch weit entfernte berufliche Tätigkeiten, sind weder biologisch noch entwicklungspsychologisch mit den Erfordernissen der primären Entwicklungsphase in der Mutter-Kind-Dyade vereinbar: Die zuverlässige Präsenz einer festen Bezugsperson in den ersten Lebenswochen ist unabdingbar. In dieser Zeit besteht für das Kind das basale Bedürfnis nach „Genährtwerden“ im Vordergrund, und zwar in doppelter Hinsicht: Stillen bedeutet nicht nur Ernährung, sondern vermittelt auch Liebe, Körperkontakt, Zärtlichkeit, menschliche Nähe, Geborgenheit und Sicherheit. Diese grundlegenden Werte können unter dauerndem Berufsstress kaum anvermittelt werden. Eine gelungene postuterine Phase und die stabile, gute Beziehung zu einer primären Bezugsperson sind wichtige protektive Faktoren zum Schutz vor psychischer Instabilität. Erik H. Erikson beschreibt das Gelingen oder Scheitern dieser ersten „oralen“ Entwicklungsphase (siehe Tabelle 1) mit dem Gegensatzpaar: „Vertrauen gegen Ur- Mißtrauen“. In dieser Phase geht es darum, ob im Interaktionsprozess mit der Mutter ein Urvertrauen entstehen konnte oder ob sich später Defizite als Urmisstrauen und psychogene Reaktionen äußern.89 Die Stabilität dieser ersten Beziehung, die E. Neumann auch als 88 In städtischen Räumen existieren kaum noch traditionelle Großfamilien. Mit Beginn der Industrialisierung folgten viele Arbeitnehmer der industriellen Arbeit in die Stadt, was nicht selten dazu führte, dass die bestehende klassische Mehrgenerationen – Großfamilie sich auflöste. Eine Delegation von Aufgaben an die ursprünglich im gleichen Haus lebenden Großfamilienmitglieder, wie z. B. die Großeltern, war kaum mehr möglich. Die Kleinfamilie muss alle Beaufsichtigungs- und Erziehungsfragen eigenständig lösen. Aber selbst dieses Prinzip scheint heute nicht mehr zu funktionieren. Mitscherlich, Alexander: (1971): a.a.O., S. 50: „Wir beobachten eine fortschreitende Auflösung clanhaften oder sippenhaften Zusammenlebens unter den Einflüssen der fortschreitenden industriellen Entwicklung, insbesondere der Entstehung neuer Produktionsbereiche und –zentren. Die Auflösung hat jetzt mit der funktionalen Gleichstellung der Frau auch die Primärgruppe, die Familie von Eltern und Kindern selbst, erreicht, deren Schutz so viel rechtliche und ideologische Sicherungen gegolten haben.“ 89 Erikson, Erik H.: a.a.O., S. 241: „Der früheste Beweis für das Vertrauen des Kindes zur Gesellschaft ist das Fehlen von Ernährungsschwierigkeiten, Schlafstörungen und Spannungszuständen im Verdauungstrakt. Das Kind erlebt die wechselseitige Regulierung seiner eigenen wachsenden Fähigkeit zur Nahrungsaufnahme mit der Nährtechnik der Mutter, und dies hilft ihm nach und nach, das Unbehagen der bei der Geburt noch unausgewogenen Homöostase zu überwinden. In den allmählich länger werdenden Zeiten des Wachseins erwecken die Abenteuer, die ihm seine Sinne vermitteln, im Kinde immer mehr das Gefühl des Vertrauten 179 „postuterine Embryonalzeit“ bezeichnet hat und sich dabei stützt auf den von Portmann geprägten Begriff der „sozialen Uteruszeit“90, ist Ausgangspunkt für die Objektbeziehungs- fähigkeit des Menschen zu seinen Mitmenschen aber auch zu seiner sonstigen Umwelt. „Die feste Prägung dauerhafter Verhaltensformen für die Lösung der Kernkonflikte von Urvertrauen und Urmisstrauen in Bezug auf das Leben an sich ist also die erste Aufgabe des Ich und daher auch die vornehmste pflegerische Aufgabe der Mutter. Dazu muss jedoch gesagt werden, dass die Summe von Vertrauen, die das Kind seinen frühesten Erfahrungen entnimmt, nicht absolut von der Quantität an Nahrung und Liebesbezeugungen, sondern von der Qualität der Mutter-Kind-Beziehung abhängt.“91 Die „Dualunion Mutter und Kind“ gelingt mit viel qualitativer Nähe, Zuneigung, Kontinuität und Zeit. Getrennte Wohn- und Arbeitsstandorte bieten hierfür keine entsprechenden Voraussetzungen, sondern erzeugen Unruhe und Stress, die sich auf das Kind zweifellos übertragen. Mütterliche Berufstätigkeit im ersten Lebensjahr eines Kindes wird als deutlicher Risikofaktor für die Entstehung psychischer oder psychosomatischer Krankheiten bewertet.92 Eine positiv erlebte Urbeziehung zwischen Mutter und Kind ist ein wertvolles Startkapital für den Menschen, ein lebenslanger „Schatz“ von unermesslichem Wert, der mit dem „mythologischen Bild des Paradieses“93 verglichen werden kann. Die negative Urbeziehung bietet eine Erfahrung, die E. Neumann mit dem Bild der Hölle symbolisierte.94 Eine frühe Konstellation dieses Zustandes kann z.B. zu einer Ich-losen Apathie führen. Wenn das Ich bereits eine bestimmte Festigkeit erreicht hat, ist auch die Entstehung eines sogenannten Not-Ichs denkbar, welches eine egoistisch- egozentrische Verstärkung der Ichhaftigkeit mit sich bringt, bei der der „Kontakt zum Du, zur Welt und zum Selbst“95 gestört ist. Zahlreiche Formen der Neurosen und Psychosen werden in der Psychoanalyse auf diese gestörte Entwicklungsphase zurückgeführt: „In der Psychopathologie kann man das Fehlen des Urvertrauens am besten bei schizophrenen Kindern beobachten; bei Erwachsenen äußert sich ein zu schwach entwickeltes Vertrauen in schizoiden und depressiven Persönlichkeitsbildern.“96 Die starke räumliche Trennung von Wohnen und Arbeiten hat viele Bewohner auch in die Isolation, Langeweile und „Folter des suburban environment“97 geführt. In den Vorstadtsiedlungsbereichen bewegen sich im Wesentlichen drei Gruppen von und der Koinzidenz mit etwas, das sich im Inneren gut anfühlt. Zustände des Wohlbehagens und die damit in Beziehung stehenden Personen werden ihm ebenso vertraut wie die nagenden Unlustgefühle in seinen Verdauungsorganen. Daher kann man es als die erste soziale Leistung des Kindes bezeichnen, wenn es die Mutter aus seinem Gesichtsfeld entlassen kann, ohne übermäßige Wut oder Angst zu äußern, weil die Mutter inzwischen außer einer zuverlässig zu erwartenden äußeren Erscheinung auch zu einer inneren Gewissheit geworden ist. Das Erleben des Konstanten, Kontinuierlichen und Gleichartigen der Erscheinungen liefert dem Kinde ein rudimentäres Gefühl von Ich-Identität; es scheint dies davon abhängig zu sein, dass das Kind eine innere Welt erinnerter und voraussehbarer Empfindungen und Bilder in fester Korrelation mit der äußeren Welt vertrauter, zuverlässig wiedererscheinender Dinge und Personen „weiß“. 90 Neumann, Erich: Das Kind, Zürich 1961, S. 7 91 Erikson, Erik H.: a.a.O., S. 241 ff. 92 Hoffmann, Sven O.; Hochapfel, Gerd: a.a.O., S. 55 93 Schlingschröder, Maria: Das Sandspiel in der Heilpädagogik, Diplomarbeit an der Ev. Fachhochschule Rheinland - Westfalen - Lippe im Studiengang Heilpädagogik, Bochum 1998, S. 37 94 Neumann, Erich: Das Kind, Zürich 1961, S. 81: „Die gestörte Urbeziehung steht im Zeichen des Hungers, des Schmerzes, der Leere, der Kälte, der Ohnmacht und des völligen Ausgeliefertseins an die Einsamkeit des Verlustes jeglicher Sicherheit und Geborgenheit, sie ist der Absturz in das Verlassensein und in die Angst in einem bodenlosen Nichts. Das Zentralsymbol dieses Zustands ist der Hunger.“ 95 Neumann, Erich (1961): a.a.O., S. 85 96 Erikson, Erik H.: a.a.O., S. 242 97 vgl.: Mitscherlich, Alexander (1971): a.a.O., S. 125 180 „unterprivilegierten Minoritäten. Es sind dies die Ehefrauen und Mütter, die Kinder und die alten Leute nach ihrer Pensionierung.“98 Der Tätigkeit als Mutter und Hausfrau droht die Gefahr von Unzufriedenheit und Frustration, wenn das Zuhausesein bei den Kindern nicht mehr als angenehm, sondern als blockierend empfunden wird. Dies gilt insbesondere für Mütter, die sich mit ihrer Rolle nicht identifizieren können, ihre Aufgabe als monoton und wertlos empfinden.99 Unter der städtebaulichen Funktionstrennung leiden aber nicht nur Mütter und Kinder. Alle Partner verlieren wertvolle Freizeit durch Pendelverkehr. Die ganze Umwelt, „die ein Individuum durch seine Aktivitäten berührt, sein Wohnbereich, der Bereich der öffentlichen Verkehrswege und Kommunikationsorte wie der Bereich der Arbeit, [werden] unbewusst als Ganzheit erlebt. Das bedeutet einerseits, dass Mankos ausgeglichen werden durch besonders befriedigende Erfahrungen am anderen Platz. Ein guter Arbeitsplatz tröstet über eine primitive Wohnung – oder auch über ein primitives Familienleben. Umgekehrt verstärken sich die Mankos.“100 Die unausgelastete Kreativität und Phantasie benötigt Freiräume, die dem Einzelnen wieder die Entfaltung dieser Kräfte ermöglichen. Funktionaler Städtebau vermag diesen Ausgleich kaum zu leisten, so dass die Gefahr besteht, dass sich negative Erlebniserfahrungen von Wohn- und Arbeitswelt aufsummieren.101 Klaus Horn beurteilt die Situation folgendermaßen: „Die Dominanz der Angestelltensilos für Tag oder Nacht ist der architektonische Niederschlag der die kapitalistische Gesellschaft beherrschenden Zweckrationalität. (...) Selbst ein traditionalistischer, d.h. bis hin zur Ich-Integrität alle psychosozialen Entwicklungsstufen integrierender Sozialisationsprozess sei gegenüber extremen Umweltbedingungen relativ machtlos. Diese Bedingungen könnten den Verlust des Realitätsbewusstseins und die Zerstörung erworbener psychischer Strukturen bewirken.“102 6.5.3. Fehlende Räume für Sinneserfahrungen und Autonomie „Es scheint nicht zum allgemeinen Bewusstsein zu gehören, dass die Geschichte des Menschen von Geburt bis zum Tode ein einheitliches Geschehen ist und dass die Früherfahrungen der Kindheit die spätere Erlebnisform vorstrukturieren. Immer noch glaubt eine große Zahl unserer Erwachsenen, dass die Erlebnisse der Kinder gar nicht zählen; nur deshalb offenbar, weil das Kind noch nicht in der Lage ist, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen und sein Recht zu beanspruchen. Dass hier die Weichen für unser definitives Verhalten als Erwachsene in der Kindheit festgestellt werden, das muss erst noch gelernt, das muss noch eingesehen werden. Wer von uns aber hier nicht seine Initiative geübt hat, 98 ebenda, S. 124 99 ebenda, S. 127 100 ebenda, S. 122 101 Mitscherlich, Alexander (1965): a.a.O., S. 41: „Wo keine affektive Anteilnahme an den Objekten des Biotops besteht, wird sich kaum die Leidenschaft zu Gestaltung und damit kein auf Präzision dringendes Problembewusstsein ausbreiten. Wir erwähnen dies, weil der Zusammenhang mit der Stadtgestaltung offen zu Tage liegt. Man pferche den Angestellten hinter den uniformierten Glasfassaden der Hochhäuser dann auch noch in die uniformierte Monotonie der Wohnblocks, und man hat einen Zustand geschaffen, der jede Planung für eine demokratische Freiheit illusorisch macht. Denn sie ist praktisch nirgendwo mehr erfahrbar. Wo keine Phantasie an der Gestaltung der Gruppenbeziehungen wirksam wird, wo die Dynamik dieser Beziehungen nicht beflügelt wird durch Kühnheiten des Versuchs, da bleibt dem Einzelnen nur der Rückzug in archaisches Wunschträumen, das ohne starke Widerstände in dumpfes Handeln umgesetzt werden kann.“ 102 Horn, Klaus: a.a.O., S. 135 181 wird sich später ungleich schwerer tun, wird diese Initiative schwerer, wenn überhaupt erwerben.“103 Moderner Städtebau billigt den Bewohnern in ihrem Wohnumfeld nur wenig Freiraum zu, der zudem wenig einladend ist, oft nicht betreten werden darf und den Kindern nur ausgesprochen geringe Chancen zur kreativen phantasievollen Entfaltung bietet. Elementare Bedürfnisse, wie z.B. Natur und Bewegung entsprechend der kindgemäßen Entwicklungsstufe zu erleben, können selten erfüllt werden. Die zwischen den Baureihen verbleibenden Freiräume sind geradlinig mit Beton, Pflasterungen und Waschbetonkübeln dekoriert. Spielplätze sind einfallslos, reizlos, lieblos. In den verbleibenden, eher parkartigen Anlagen sind Naturelemente (wie z. B. Bäche, Brunnen, Quellen, Hecken, Gebüsche, Teiche etc.) kaum präsent. „Der technifizierte Spezialverstand, mit dem die Städteplaner an die Fabrikation neuer Produktions- und Wohnstätten gehen, erinnert verzweifelt an die Mentalität jener Spielzeugfabrikanten, die sich da irgendwelche blechernen Gegenstände ausgedacht haben, ohne je ein Kind zu fragen, ob es auch damit länger als 5 Minuten zu spielen beabsichtige.“104 Ein junger Mensch braucht „Tiere, überhaupt Elementares, Wasser, Dreck, Gebüsche, Spiel- Raum. Man kann ihn auch ohne das alles aufwachsen lassen, mit Teppichen, Stofftieren oder auf asphaltierten Straßen und Höfen. Er überlebt es – doch man soll sich dann nicht wundern, wenn er später bestimmte soziale Grundleistungen nie mehr erlernt, z. B. ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem Ort und Initiative. Um Schwung zu haben, muss man sich von einem festen Ort abstoßen können, ein Gefühl der Sicherheit erworben haben.“105 Ingenieurmäßig-zweckrationalen Planungen gelingt es oft nicht, entwicklungspsychologische Erkenntnisse zu berücksichtigen, damit Kinder sich altersgemäß entwickeln und Sozialisationsprozesse adäquat durchlaufen können.106 Architektur, Städtebau und Raumplanung spiegeln offenbar ein gesellschaftliches Wertesystem wider, das die heranwachsende Generation geringschätzt. Profitinteressen einzelner Gruppen, wie z.B. der Bauträger, Konzerne und Projektentwickler, besitzen eine größere Bedeutung als die Verpflichtung für die folgende Generation. Nur in den seltensten Fällen werden Abenteuerspielplätze errichtet oder Brachflächen dauerhaft zur Verfügung gestellt, die Natur erfahrbar machen könnten und Raum für das Neugierverhalten anbieten. „Neugier beginnt früh wirksam zu werden, nämlich mit der Reifung der Fähigkeit, sich vom Fleck bewegen zu können. Gleich sei noch hinzugefügt: sie ist ein spontaner Antrieb. Die Umwelt kann diesen Antrieb fördern, ihm freundlich gesonnen sein, oder sie kann die Neugier einschüchtern, gar sie unterdrücken. Es geht hier um die Frage, wie viel Initiative, und das heißt doch beim Kleinkind, ja beim Menschen bis tief in die Pubertät und Nachpubertät hinein auch, wie viel ungekonnte, oft zerstörerisch wirksame 103 Mitscherlich, Alexander (1971): a.a.O.: S. 81 104 Mitscherlich, Alexander (1965): a.a.O. S. 49. 105 ebenda, S. 24 106 ebenda, S. 25: „Warum werden unsere städtischen Kinder nicht wie Kinder von Menschen behandelt, sondern wie Puppen oder Miniaturerwachsene, von infantilisierten Erwachsenen umgeben, deren städtische Vorerfahrungen sie dermaßen beschädigt haben, dass sie schon gar nicht mehr wissen, was der Mensch bis zum sechsten, bis zum vierzehnten Lebensjahr für eine Umwelt braucht ? (...) nicht nur die ästhetische Gestalt unserer Städte ist zu bedenken, will man die Ursachen ihrer Unwirtlichkeit und der verbauten Zukunft der Städter auffinden. Der Mensch und seine Umwelt sind untrennbar.“ 182 Aktivität erträgt eigentlich die menschliche Mitwelt? Werden hier Frühbarrieren, Frühwarnschilder aufgehängt (Das Betreten des Rasens ist verboten!), werden hier Frühstrafdrohungen ausgesprochen, oder haben sich verständige Erwachsene Erinnerungen an eigene Kindheitsbedürfnisse und Missgeschicke erhalten und verhalten sich entsprechend? Das ist ein Problem der zwischenmenschlichen Verständigung, und es ist ein Problem, das über das Klima in einer Kultur entscheidet.“107 Eine Zunahme psychischer und allgemein-gesundheitlicher Folgen durch eingeengte Bewegungsräume in den Städten sieht auch der Psychologe Wolfgang Settertobulte in einem Gespräch mit der dpa.108 Der Wissenschaftler der Universität Bielefeld berichtet von Untersuchungen bei Kindergarten- und Schulkindern, die gezeigt hätten, dass die in einer dörflichen Struktur heranwachsenden Kinder beweglicher sind als Heranwachsende in der Stadt. „Da Dorfkinder häufiger im Freien spielen, sind ihre psychomotorischen Fähigkeiten – also etwa die Koordination zwischen Hand und Gehirn – besser ausgestattet.“109 Forschungsstudien aus München hätten darüber hinaus den Beweis geliefert, dass Kinder auf dem Land seltener an Allergien leiden als Stadtkinder. „Die klassischen Kinderkrankheiten werden zunehmend von den sogenannten „Neuen Epidemien“ wie Stresssymptomen und Allergien abgelöst.“110 Er beklagt die geringe Anzahl an Abenteuerspielplätzen in deutschen Städten, weil auf diesen großzügig und interessant gestalteten Plätzen Beweglichkeit und soziales Verhalten besser geübt werden könnten als auf „normalen“ Spielplätzen. Wohnungsgrundrisse Die Wohnungsgrundrisse bieten meist ebensowenig persönlichen Freiraum wie das bereits skizzierte Wohnumfeld. „Die Bemerkung von Heinrich Zille, des unvergessenen Zeichners des Berliner Milieus, man könne einen Menschen mit seiner Wohnung erschlagen, ist unlängst von Bruno Bettelheim in Chicago bestätigt worden.“111 Der Mensch benötigt auch „öffentlichen und privaten“ Raum in seinen Behausungen. Die Kunst, sich zu Hause wohlfühlen zu können, ist mit der sinnvollen Aufteilung des Wohnungsgrundrisses in Gemeinschaftsräume und Privaträume verknüpft. Ein nach A. Mitscherlichs sozialpsychologischen Erkenntnissen entworfener Wohnungsgrundriss hat lebendige Treffplätze, Nebenräume für Spiele und Erholung und Bereiche für die Privatssphäre zum Ziel. „Ein gutes, zum Beispiel familiäres, Wohnklima lässt sich nur dort erreichen, wo zwei Bedürfnissen genügt werden kann: dem Kontaktbedürfnis der Zusammenhausenden – in einer heruntergekommenen aber ursprünglich guten Sprachfloskel: dem geselligen Beisammensein – und zugleich dem Bedürfnis nach Alleinsein. Das heißt, eine Wohnung soll Sammelplätze und von den Teilnehmern einer Gruppe respektiertes Sonderterritorium des Einzelnen enthalten.“112 Damit ein Haus/eine Wohnung zum Heim werden kann, muss Freiraum zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit vorhanden sein, ein eigener Raum, um sich zurückziehen zu können. 107 Mitscherlich, Alexander (1971): a.a.O., S. 78 f. 108 Settertobulte, Wolfgang: Eingeschränkte Bewegungsfreiheit. Westfälische Rundschau, 01.07. 2002 109 ebenda. 110 ebenda. 111 Mitscherlich, Alexander (1971): a.a.O., S. 103 112 Mitscherlich, Alexander (1965): a.a.O., S. 136 183 Die Ungleichverteilung von Räumen innerhalb einer Wohnung hat A. Mitscherlich heftig kritisiert, da sie meist dem Expansionsdrang und der Initiative eines Kindes zuwenig Rechnung tragen. Wohnzimmer werden zu „livingrooms“ und erhalten als Statussymbole Repräsentationscharakter wie fürstliche Suiten113. Die restlichen Räume seien klein und für Refugien nicht geeignet. Familienmitglieder mit dem größten Expansionsdrang erhalten die kleinsten Räumlichkeiten, die auch als Rückzugsbereiche nicht geeignet sind. Sie sind nicht genug voneinander abgeschirmt und zu klein. Die Erfahrung einengender Wohnatmosphäre, die A. Mitscherlich den „Wohnfetischismus“ nannte, von Zwang und Lieblosigkeit im Kleinkindalter hat nicht unerheblichen Einfluss auf psychische Konflikte. Zwanghafte Ordnungssucht wird über Generationen unreflektiert tradiert. Dabei konterkariert sie jegliches kindliche Bedürfnis nach Freiheit und Expansion. In der „zweiten“ Lebensphase des Kindes sind aber gerade Autonomie und eigene Kraft zu spüren, festhalten und loslassen sowie „auf eigenen Füßen stehen“ zentrale Entwicklungsthemen. Zweite Lebensphase des Kindes Hier besteht die Gefahr, dass „eine neue Leidensperiode der städtischen Kinder an[fängt]. Denn ihre noch ungekonnte Aktivität ist unausgesetzt ein Stein des Anstoßes; einfach deshalb, weil die Abseitsräume für kindliches Spiel sowohl in der Enge der Wohnung wie in der Enge großstädtischer Wohnareale fehlen. Aber Eigenraum für das Kind ist nun unerlässlich; zudem braucht es Plätze, an denen es sich mit Seinesgleichen treffen kann. Ist für ein Kind kein Eigenraum in der Wohnung gegeben, dann kollidiert es ununterbrochen mit der Mutter und mit anderen Erwachsenen bei deren Tätigkeiten.“114 Die Hemmung von Entfaltungsimpulsen durch Wohnungsenge, gepaart mit bestimmten Verhaltensweisen („Um halb drei ist man nicht laut, da ist Mittagsruhe (...) Mit dem Fahrrad fährt man nicht auf dem Spielplatz (...) Sei doch ruhig, was sollen denn die Nachbarn denken (...) Der Rasen ist nicht zum Ballspielen da – und die Beispiele ließen sich endlos fortsetzen) führen zum Konflikt. Dieser wiederum fördert Strukturen, die je nach Intensität zu psychogenen Reaktionen oder zwangsneurotischen Symptomen führen können. 113 ebenda, S. 138 f.: „In unserem Lande, dessen Möblierungskomfort an sich hoch ist, dessen Raumzuschnitt jedoch für den großen Durchschnitt – vor allem in den neu gebauten Wohnungen – weit unter den natürlichen Minimalbedingungen liegt, muss sich ein Demonstrieren der Status–Rolle, wenn sie zu hoch gegriffen ist, besonders nachteilig auswirken. Ich denke dabei an die fixe Idee, jede Wohnung müsse einen großen „Livingroom“ enthalten; er hat den alten Salon als Statussymbol abgelöst. In den so beschränkten Verhältnissen ist er zu einer absurden Konvention geworden. Oft wird mehr als ein Drittel der Nutzfläche diesem Repräsentationsraum geopfert. Dann erinnert er an ein Fürstenzimmer ohne das Schloss im Hintergrund. (...) Da die restlichen Räume dann oft so klein geraten und von einander so unvollkommen abgeschirmt sind, dass man sie kaum als Rückzugsreservate nutzen kann, herrscht im großen Wohnraum jene permanente Stimmung der Gereiztheit, die ganz notwendig entstehen muss, wenn es den Bewohnern nicht möglich ist, zwischen Sozialwesen und Individualwesen zu oszillieren, weil der unphysiologische Grundriss sie daran hindert. Gerade die Verteuerung des Wohnens und die als Konsequenz eingetretene Beschneidung der physiologischen Wohngröße (Symbol: jene Platz sparenden Badewannen, in denen man sitzen muss wie in einem Hockergrab statt sich wohlig zu entspannen) – gerade diese Missstände zeigen, dass die Probleme der Massengesellschaft nicht mehr von den Fachleuten des jeweiligen Sachbereichs allein gelöst werden können.“ 114 ebenda, S. 90 f. : Er ergänzt hierzu: „Die wachsenden Lebenskosten, die immer mehr Investition bezahlter Arbeit von Vater und Mutter notwendig machen, bewirken bei der Mutter zusammen mit dem Gefühl, dass ihre Tätigkeit in dieser Gesellschaft unterprivilegiert ist, leicht einen permanenten Zustand der Gereiztheit. Sie reagiert dann gar nicht aus der Einfühlung in ihr Kind, was ihr leicht möglich wäre, wenn sie ihm gelassen zuschauen könnte, sondern sie zwingt es frühzeitig zu einer Überangepasstheit, die seinem Alter gar nicht entspricht, vielmehr frühzeitig die Autonomiestrebungen durch Strafandrohung zum Erlahmen bringt.“ 184 Das Scheitern der „Autonomie“-Entwicklungsphase ist vorprogrammiert, „wenn dem Kinde die allmähliche und gelenkte Erfahrung der Autonomie, der freien Wahl, vorenthalten wird (oder wenn es schon durch den Verlust des Urvertrauens geschwächt ist), so kehrt es all seinen Erkenntnis- und Forscherdrang gegen sich selbst. Es wird sich übermäßig mit sich selber beschäftigen, ein frühreifes Gewissen entwickeln. Statt die Welt der Dinge in Besitz zu nehmen und sie in zielbewusster Wiederholung auszuprobieren, konzentriert sich das Kind zwanghaft auf seine eigenen, sich wiederholenden Körpervorgänge. Durch diese Selbstbezogenheit lernt es dann natürlich, seine Umgebung erneut auf sich zu lenken und durch eigensinnige, bis ins Einzelne gehende Forderung pünktlicher Beachtung dort eine Macht auszuüben, wo es die größere wechselseitige Regulierung nicht erreichen konnte. Solche Pyrrhussiege sind die kindliche Form einer späteren Zwangsneurose. Sie sind auch die kindliche Quelle späterer Versuche, im Erwachsenenleben den Buchstaben, statt den Geist walten zu lassen.“115 Dritte Entwicklungsphase des Kindes In der dritten Phase ist das Gegensatzpaar „Initiative und Schuldgefühl“ das Entwicklungsthema, das zu einer deutlichen Erweiterung der Autonomiebestrebungen des Kindes gegenüber der zweiten Phase führen sollte: „Die Initiative fügt zur Autonomie die Qualität des Unternehmens, Planens und „Angreifens“ eine Aufgabe um der Aktivität und der Beweglichkeit willen, wo zuvor viel häufiger Eigensinn Akte des Trotzes veranlasste, oder mindestens aus diesen Motiven Unabhängigkeit verteidigt wurde (...), aber Initiative ist ein unerlässlicher Teil jeder Tat und der Mensch bedarf eines Gefühls der Initiative für alles, was er lernt und was er tut, vom Obst einsammeln bis zu einem System für ein Unternehmen. Die Phase der freien Fortbewegung und der infantilen Genitalität fügt der Reihe grundlegender sozialer Modalitäten eine weitere hinzu: das „Machen“, und zwar zunächst im Sinne des „Sich–an–etwas–Heranmachens“. Es gibt kein einfacheres und kräftigeres Wort, das mit den früher aufgezählten sozialen Modalitäten so gut zusammenstimmte. Es deutet zugleich das Vergnügen an, das in Angriff und Eroberung erlebt wird. (...) Die Gefahr dieser Phase ist das Schuldgefühl in Bezug auf die Zielsetzungen und Unternehmungen, die in der überschäumenden Freude an der neuen körperlichen und geistigen Beweglichkeit und Kraft angegangen werden: Akte aggressiver Manipulation und Nötigung, die die Leistungsfähigkeit von Körper und Geist weit übersteigen und daher der Initiative ein energisches Halt entgegensetzen.“116 Die negativen Auswirkungen einer rigiden Unterdrückung von Autonomiebestreben und Initiative lassen sich stichwortartig zusammenfassen: Strenges Gewissen (Über – Ich) mit Übergehorsam und Buchstabengenauigkeit, potentielle tiefe Regression und bleibende Ressentiments. Leben Eltern die moralischen Anforderungen, das Gewissen, das sie den Kindern vermitteln wollen, selber nicht vor, so können peinlich genaue Moralisten mit dem „Alles oder Nichts Prinzip“ entstehen. In pathologischen Fällen Erwachsener drückt sich der noch immer fortbestehende Initiativekonflikt entweder in hysterischen Verleugnungen aus, die zur Wunschunterdrückung führen und zur Außerkraftsetzung des Exekutivvorgangs oder 115 Erikson, Erik H.: a.a.O., S. 246 116 ebenda, S. 249 f. 185 aber in einer Überkompensation durch Großtuerei. Der Sprung in psychosomatische Krankheiten ist häufig.117 6.5.4. Verlust städtischer Identität, Heimat und Symbolik Städte können als kollektive Ausdrucksform der in ihr lebenden Gesellschaft ein typisches Gesicht haben, das ihnen Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit verleiht. Eine Satellitenvorstadt Münchens unterscheidet sich nur marginal von der Satellitenvorstadt Londons. „Ob jemand hingegen die Wohnsilos von Ludwigshafen oder von Dortmund vor sich hat, weiß er nur, weil er da – oder dorthin gefahren ist. Die gestaltete Stadt kann Heimat werden, die bloß agglomerierte nicht, denn Heimat verlangt Markierungen der Identität eines Ortes.“118 Identifikation mit dem Lebensraum setzt die positive affektive Belegung eines Ortes voraus.119 Orte und Objekte, die uns nicht „ansprechen“, meiden wir, sie werden für uns, wie die Theorien des symbolischen Interaktionismus schlüssig darstellen, nicht handlungsleitend. Wir suchen sie nur dann auf, wenn wir dazu gezwungen werden (z.B. dadurch, dass an diesem Ort so viele städtische Funktionen gebündelt werden, dass man sie aufsuchen muss): 1. Unverträgliche (z.B. unerträgliche, monotone) Orte betreten wir nicht freiwillig. Wir suchen sie nur dann auf, wenn sie durch zweckvolle Einrichtungen so verankert werden, dass sie unentbehrlich sind. 2. Durch Einbringung künstlichen Lebens in gestalterisch verödete Stadtbereiche wird der „innere Rückzug“ des Individuums von diesen Orten nicht aufgehoben, sondern umgekehrt nur verstärkt. 3. Die Übereinstimmung der äußeren Welt mit unseren Erwartungen und die Übereinstimmung der realen Welt mit der in der Phantasie imaginierten sind wichtige Faktoren für das psychische Gleichgewicht. Unter recht belastenden Umständen vermag sich der Mensch einzurichten, sich sozusagen anzupassen, aber doch immer um den Preis einer erheblichen Anstrengung oder Deformierung. 117 vgl. Erikson, Erik H., ebd. 118 Mitscherlich, Alexander (1965): a.a.O., S. 15 119 ebenda, S. 31 f.: „Unbestreitbar ist jene Neigung, die einer Stadt entgegengebracht wird, oder einem Quartier, einem entlegenen Winkel in ihr, ein Ergebnis psychologischer, nämlich affektiver Prozesse. Wenn sie in Ordnung ist, wird die Stadt zum Liebesobjekt ihrer Bürger. Sie ist ein Ausdruck einer kollektiven, Generationen umspannenden Gestaltungs- und Lebenskraft; sie besitzt eine Jugend unzerstörbarer als die der Geschlechter, ein Alter, das länger dauert als das der Einzelnen, die hier aufwachsen. Die Stadt wird zur tröstlichen Umhüllung in Stunden der Verzweiflung und zur strahlenden Szenerie in festlichen Tagen. In diesem Aufblühen und Stagnieren, in wiederholten Anläufen, ihre Nachbarstädte zu überflügeln, verwirklicht sich im städtischen Leben immer mehr als nur die männliche Potenz; die Stadt repräsentiert in einer Vielheit ihrer Funktionen eine ältere als die väterliche Welt. In ihren großen Exempeln ist sie unverhüllt eine Muttergeliebte. Ein Wesen, dem man verfallen ist, von dem man nicht loskommen kann; man bleibt ewig ihr Kind oder ihr zärtlicher Besucher. Oder wir übertragen unsere Enttäuschungen auf dieses Gebilde, als seien sie von ihr, der Stadt, verschuldet; kehren ihr den Rücken zu, entfremden uns ihr. Dann wird sie uns ferne wie die ungeliebte Kindheit, die wir in ihr verbrachten. Städte prägen sich uns gestalthaft ein, aber auch gleichsam in ihrer Anatomie. Wo immer wir uns durch die Gassen von Paris bewegen, wir behalten ein Gefühl für das Ganze dieses Körpers, für seine Topographie. Wien, das alte Köln, Gent, sie sind mehr als die Summe der Straßen und Häuser. “ 186 4. Eine Welt, in der die Phantasie keine Entsprechung mehr finden kann, wird als kalt, böse, feindlich und unheimlich angesehen und damit der Kontakt zu dieser Welt abgewehrt.120 5. Enttäuschende Umwelterfahrungen können bewirken, dass sich der Mensch von seinem Umfeld zurückzieht. Dadurch kann er emotionale Bindungen und Bezüge, Aufgeschlossenheit und Kontaktbereitschaft zum öffentlichen Raum und zur Gesellschaft verlieren. Wenn die Lebenswelt und ihre Objekte Akzeptanz erfahren und affektive Bezüge vermitteln können, vermag der Einzelne diese Objekte zu integrieren, so dass eine Erweiterung räumlicher Objektbeziehungen erfolgen kann. „Die Stabilität der Objektbeziehungen – das ist psychologisch gesehen das bindende Element der menschlichen Gesellschaft.“121 A. Mitscherlich führt in diesem Zusammenhang aus anthropologischer Sicht den Terminus „Heimat“ ein, der unter positiven Vorzeichen Sicherheit, Vertrauen und Identität konnotiert.122 Stabile primäre Objektbeziehungen und mit ihnen verknüpfte positive emotionale Erlebnisse in Räumen können ein Gefühl von Heimat und Geborgenheit vermitteln.123 Heimat sollte Vertrauen und Sicherheit vermitteln, aber auch einen Aufforderungscharakter enthalten, der das Neugierverhalten herausfordert.124 Der rational-funktionale Städtebau will „affektfrei“125 sein und flüchtet in Neutralität. 120 vgl. auch bei: Lorenzer, Alfred: a.a.O., S. 71 121 Mitscherlich, Alexander (1971): a.a.O., S. 40; hier ergänzt er noch folgendes: „Das „Objekt“ kann ich aber nur dann ohne zu heftige Ambivalenz ertragen, wenn ich mich ihm erfolgreich annähern kann – erfolgreich meint, wenn meine Annäherung beantwortet wird – und wenn ich mich von ihm zurückziehen darf – ohne fürchten zu müssen es zu verlieren. Diese optimale Beziehung der Menschen zueinander hat natürlich eine räumliche Entsprechung. Das Teilnehmen am Gedränge der Stadt, dort wo sie sich am intensivsten verwirklicht, muss nicht den Genuss der Stille der benachbarten freien Landschaft unmöglich machen; man muss aus der Stadt heraus können, ohne dass das zu einer nervenaufreibenden Aufgabe per se wird. Die Stille eines Schlafraumes und die Bevölkerbarkeit einer Küche oder eines Wohnraumes müssen beieinander, aber trennbar voneinander sein; ich muss vom Einen zum Andern wechseln können. Weder die Leere, noch die allgegenwärtige Nähe anderer Menschen soll mich erschrecken. Zonen der Geborgenheit und solche abenteuerlicher Fremdheit müssen erreichbar sein, das wäre ein Definitionsbeitrag zum Begriff „Heimat“.“ 122 ebenda, S. 41: „Zur Heimat werden die Orte in der Welt, in denen das Risiko der Erkundung – am eindrucksvollsten bei den Ersterfahrungen der Kindheit -, das Risiko der Abenteuer also sich mit dem Erlebnis der Sicherheit verbunden hat. Auf die Rückzugsmöglichkeit kommt es an, auf die Antwort, wenn man sich in Not fühlt.“ 123 ebenda, S. 84: „Mindestens ein Stück sesshafter, konstanter Umwelt scheint notwendig zu sein, um Identität entwickeln zu können und dann im fortgeschrittenen Lebensalter Distanz zu sich selbst. Wir alle erkennen uns auch in den Dingen, die wir als Besitz erworben haben, wieder; im glücklichen Fall empfinden wir zwischen „Heimat“ und unserem Selbst eine Art Fusion. Heimat ist dann ein Stück unseres Wesens. Das ist eine sehr subjektive Einfärbung eines objektiv beschreibbaren Stückes Erde, einer Stadt, einer Stadtgegend, manchmal nur einer Straße oder eines Platzes. Das alles kann natürlich bis zur Karikatur übertrieben werden; alle menschlichen Gefühle lassen sich in dieser Weise übertreiben. Aber von solchen Übertreibungen aus kann man nicht gegen das Grundbedürfnis argumentieren. Vielmehr zählt es zu dem Unwissen über uns selbst, dass wir so relativ wenig von den unabdingbaren Angeboten wissen, die aus unserer Umwelt kommen müssen, damit eine differenzierte seelische Entwicklung in Gang kommt und in Gang bleibt.“ 124 vgl.: Mitscherlich, Alexander: Vom möglichen Nutzen der Sozialpsychologie für die Stadtplanung, Bauwelt, 1966, 39/40, S. 868. In: Mitscherlich, A.: Gesammelte Schriften VII: a.a.O., S. 655: „Soll Heimatgefühl im Sinne einer positiv empfundenen Bindung entwickelt werden, muss den Menschen seine Umwelt ansprechen; zunächst im buchstäblichen Sinn des Wortes. Es muss jemand zu ihm reden. So lernt er als Kind die Sprache dieses Territoriums. Diese Umwelt muss darüber hinaus für ihn Aufforderungscharakter haben. Sie muss sein Neugierverhalten herausfordern. Das Neugierverhalten teilt der Mensch mit allen höheren Lebewesen.“ 125 vgl.: Meyer, H.: Zitiert nach Konrads Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, S. 110: „Konsequente Funktionalisten forderten im Gegensatz hierzu, dass Architektur vielmehr ganz „affektfrei“ sein soll.“ 187 „Die Gewichtigkeit der Umwelterfahrung für den Aufbau der psychischen Strukturen wird noch dadurch vermehrt, dass es dabei um Eindrücke geht, denen sich niemand entziehen kann und die in einer ständigen Eindruckskette über die Sinnesorgane einwirken. Damit wird die Annahme, Stadtbau könne in Neutralität ausweichen, unhaltbar. Städtebau ist gerade auch dort wo er sich auf Leergehäuse beschränken will, gestaltaktiv. Eine Straße mit einer langen stereotypen Reihung gleichartiger Häuser ist keineswegs eine gestaltneutrale Straße, sie ist viel mehr für das Erleben hochwirksam durch ihre ermüdende Monotonie, die als kalt, anonym, abweisend und verwirrend „ortlos“ empfunden und abgelehnt wird.“126 Hieraus lässt sich ableiten, dass die Stadt sich nicht völlig entsymbolisierte, sondern, dass traditionelle Symbole sich verändern zu „kalten, anonymen“ Objekten, die aufgrund ihres abweisenden Charakters Gemeinschaft kaum mehr herzustellen vermögen. Das Resultat ist eine „versagende Umwelt von jener vollkommenen „Unwirtlichkeit“127, gegen die nicht nur F. Hundertwasser argumentiert hat (...).“128 Der Fonte Gaia, Sienas berühmter Brunnen am Piazza del Campo, spricht mehr Besucher an als Brunnen aus Waschbetonelementen in Dortmund, Frankfurt oder Berlin. Die Denotation Wasserversorgung war ursprünglich die gleiche; der höchst unterschiedliche Grad der Beachtung offenbart aber, dass diese Brunnen mit sehr verschiedenem „Reiz“ ausgestattet sind: Sie vermögen nicht, das „Begehren“ des Betrachters auf sich zu lenken. Offensichtlich sind mit den modernen Brunnen andere Konnotationen verknüpft als mit den historischen. Zeitgenössische ArchitektInnen, StädteplanerInnen und RaumplanerInnen kreieren offensichtlich neue Symbole oder verwandeln die „alten“ und drücken damit das Wertesystem einer veränderten (Stadt-) Gesellschaft aus: Die Stadt Schwerte, ein Mittelzentrum in der Ballungsrandzone des östlichen Ruhrgebietes, hat schon seit längerem alle Brunnen im Innenstadtgebiet trocken fallen lassen und damit der Lebendigkeit des Stadtbildes erheblich geschadet. Nach der letzten Wahl entschloss man sich zu einem weiteren symbolischen Akt: Der Brunnen am Bahnhofsvorplatz, der einst das Entrée, die Visitenkarte der Stadt sein sollte, wurde abgebrochen und durch ein sehr funktionales Toilettenhäuschen ersetzt. Eine solche (symbolische) Vorgehensweise bedarf m. E. keines weiteren Kommentars! Offenbar fehlen den nach zweckrational-funktionalen Gesichtspunkten gestalteten Städten ganzheitliche Symbole, die die Gemeinschaft über ein positives Ich-Ideal verbinden können. Alfred Lorenzer hat das Symbol und seine Bedeutung für den Prozess der städtischen Gemeinschaftsbildung psychoanalytisch untersucht und kommt dabei zu folgendem Ergebnis: „Worum sich eine Gruppe sammelt, sind jeweils Symbolgebilde, die das gemeinsame dieser Menschen hic et nunc ausmachen. Ihre Übereinstimmung ist eine Übereinstimmung in den 126 Lorenzer, Alfred: a.a.O., S. 70 127 Mitscherlich, Alexander: Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Frankfurt 1965 128 Lorenzer, Alfred: a.a.O., S. 57 188 Strukturen (im übereinstimmenden Ich-Ideal). Mit anderen Worten: Die Gruppierung wird hier durch Symbole hergestellt.“129 6.6. Brasilia: Beispiel einer funktional-städtebaulichen Lebenswelt Beispiele des modernen Städtebaus lassen sich zahlreiche finden, insbesondere auch in Deutschland. Unmittelbar vor der Planung der Ruhr-Universität in Bochum war die von Lúcio Costa und Oskar Niemeyer entworfene neue brasilianische Hauptstadt Brasilia fertiggestellt worden. Sie war seinerzeit ein vieldiskutiertes Beispiel moderner Urbanistik, eine Realisierung der in den zwanziger Jahren noch utopischen städtebaulichen Vorstellungen. Am Beispiel der Stadt Brasilia wird deutlich, dass die Planungsmaxime des fordistischen Städtebaus der Moderne nicht erfolgreich umgesetzt werden konnte, obwohl die Konzeption der Stadt von hervorragenden planerischen Rahmenbedingungen ausgehen konnte. Ohne Restriktionen durch bestehende Bestimmungen irgendwelcher Art sollte sie aus dem Nichts konstruiert werden. Die Konstrukteure zielten auf eine neue Lebenswelt, welche eine sehr komplexe konnotative Botschaft enthalten sollte. Als eine sogenannte Stadt von Gleichen, als eine Stadt der Zukunft, sollte sie Idealvorstellungen von Demokratie, Pioniergeist, der Eroberung des unbekannten Landesinneren und einen triumphalen Versuch der Selbstidentifizierung eines jungen Landes auf der Suche nach einem eigenen Gesicht widerspiegeln. Mit diesen idealisierten Konnotationen waren das Gebilde Stadt, die Planer und vor allen Dingen die Bewohner hoffnungslos überfordert. Brasilia wurde in der Form eines Vogels oder eines modernen Flugzeuges mit nach hinten abgewinkelten Flügeln konstruiert, die Flügel über die Hochebene ausgebreitet. Dem Zentrum wurden erste Funktionen zugewiesen, es sollte die öffentlichen Gebäude beherbergen und vor allem symbolische Werte konnotieren: Den Identitätswillen oder das Identitätsbedürfnis des jungen Brasiliens. Die seitlichen Flügel Brasilias waren dem Wohnen in größeren Blockeinheiten, Superblöcken nach dem Vorbild Le Corbusiers, vorbehalten, die den ersten Funktionen Vorrang vor den zweiten geben sollten. Dort sollten sowohl die Minister als auch die Amtsdiener nebeneinander eine Unterkunft finden und dieselben Einrichtungen benutzen können. Ein zeitgenössischer Reisebericht130 brachte die Einwohnerstruktur folgendermaßen zum Ausdruck: „In Brasilia – die umliegenden Siedlungen außer Betracht gelassen – wohnten Ende 1963 ungefähr 80000 Personen; davon waren etwa 50000 Beamte und Angestellte der Bundesverwaltung, denen die Übersiedlung in die neue Hauptstadt mit großen Vergünstigungen schmackhaft gemacht worden war. (Sie zahlen nur einen Bruchteil der Miete, die Privatpersonen für dieselbe Art Wohnung aufbringen müssen!) So ist Brasilia die Stadt des « Funktionalismus », der Bürokratie, die hier, wie anderswo, zur herrschenden, « Neuen » Klasse aufgestiegen ist.“ 131 129 Lorenzer, Alfred: a.a.O., S. 82 130 Brasilia wurde am 21.04. 1960 feierlich eingeweiht. 131 Moser, Rudolf: Brasilien, Zürich 1964, S. 124 189 Die Planer hatten „ganz richtig die Systeme zu erfüllender Funktionen in einer Modellstadt der Zukunft untersucht (sie hatten biologische, soziologische, politische, ästhetische Daten und Bedingungen der Erkennbarkeit und der Orientierungsmöglichkeit, Verkehrsgesetze etc. einander zugeordnet) und sie in architektonische Codes übersetzt, indem sie Systeme von Signifikanten schufen, die in günstigem Verhältnis zu den traditionellen Formen standen (hinreichend redundant waren), um damit unbekannte und - maßvoll – informative Möglichkeiten zu artikulieren. „Archetypische“ Symbole (Vogel, Obelisk) fügten sich in ein Netz neuer Bilder (Pfeiler, Kleeblatt); die Kathedrale, außerhalb der gewohnten typologischen Schemata konstruiert, bezog sich doch auf eine archaische ikonographische Codifizierung (die Blume, das Sich-öffnen-der-Blütenblätter, das Zusammenschließen der Finger einer Hand beim Gebet, sogar – und das war Absicht – das Rutenbündel als Symbol für die Vereinigung verschiedener Staaten).“132 Diese Art der Symbolik, die intellektuell vordergründig konstruiert wurde, hat offensichtlich nicht zu einer erfolgreichen Stadtentwicklung beigetragen, da die Stadt bei ihren Bewohnern wenig Akzeptanz fand. Die Konnotationen waren nicht durch die Menschen selber erfolgt, sondern sie waren durch die Konstruktionen „aufgesetzt“ worden. „Die Regelgemäßheit Brasilias widerspricht dem einheimischen Lebensstil, welcher eine sich von selbst, aus den Umständen und Notwendigkeiten ergebende Ordnung jedem Schema bei weitem vorzieht. Brasilia aber wurde von (europäischen; Anm. d. Verf.) Architektenhirnen gezeugt und auf den Reißbrettern geboren; es ist die Planung an sich, der Städtebau aus dem Nichts. Jeder Stadtteil hat seine genau festgelegte Zweckbestimmung: hier Kultur und Vergnügen, Hotels, da Handel, Banken und Versicherungen, dort die Wissenschaft und ihre Adepten, in genau umgrenzten Zonen die künftige Industrie, Sportanlagen, Kasernen, der Bahnhof; an den Flügeln die Wohnungen, längs der Esplanaden die Regierung, das Parlament, die Gerichte, am Seeufer die ausländischen Botschaften (...).“133 Umberto Eco analysierte folgende Fehler der PlanerInnen: „Sie hatten blindlings die Funktionen akzeptiert, die unter soziologisch-politischen Gesichtspunkten ermittelt worden waren, und hatten diese in völliger Anpassung denotiert und konnotiert; sie hatten geglaubt, dass schon aufgrund der Tatsache, dass Brasilia in der Art gebaut wurde, die Stadt die Geschichte für ihre eigenen Zwecke zurechtgebogen hätte. Statt dessen haben sich gegenüber der Struktur Brasilias die Ereignisse ganz autonom entwickelt; und in ihrer Bewegung haben sie andere historisch-soziologische Kontexte geschaffen, einige der vorgesehenen Funktionen dahin welken lassen, andere wiederum vordringlich gemacht.“134 Brasilia entsprach offenbar nicht den inneren Bedürfnissen seiner Bewohner, so dass sich um diese konstruierte Stadt herum andere Wohn- und Lebensformen herauskristallisierten, nämlich die wirklichen kollektiven Konnotationen. Für die zahlreichen Bauarbeiter waren zuwenig Wohnungen eingeplant worden, so dass sie in Randbereiche der Stadt abwanderten. Elendste Favelas, Slums aus Baracken sowie Kneipen und Amüsierviertel entstanden. Unerwartet starke Zuwanderungen haben das 132 Eco, Umberto: a.a.O., S. 354 133 Moser, Rudolf: a.a.O., S. 124 134 Eco, Umberto: a.a.O., S. 354 190 Problem der ungenügender Anzahl von Wohnungen erheblich verschärft, es entstanden infolgedessen Satellitenstädte, in denen sich die Bevölkerung verzehnfachte. Da die Superwohnblöcke in unterschiedlicher Qualität erbaut worden waren, machten sich bereits früh Alterungserscheinungen bemerkbar. Der bessere Südflügel wurde von hohen Funktionären bewohnt, was der Ausgangszielsetzung einer Stadt der Gleichen deutlich widerspricht. Industrielle und Unternehmer, die sich nicht in diesen Wohnblöcken ansiedeln ließen, zogen in die Villen der Parallelstrassen, der sogenannten Avenues. So demonstrierten sie Privacy, die Möglichkeit der Zurückgezogenheit gegenüber der Gesellschaft und der Gemeinschaft der „vermassten“ Superblöcke. Die an den Stadträndern entstandenen zahlreichen kleinen Häuser wurden von den Slumbewohnern nicht für eine Umsiedlung akzeptiert, da sie Reglementierungen befürchteten. Kreuzungsfreie Verkehrsachsen, wie Le Corbusier sie favorisiert hatte, führten zu flächenintensiven Kleeblattverbindungen und großen Distanzen zwischen den einzelnen Stadtteilen. Brasilia war „autogerecht“ geplant und damit für Nicht-Motorisierte kaum bewohnbar, was die sozialen Unterschiede in der Population noch verstärkte und sich damit „kontraproduktiv“ auswirkte. Brasilia geriet zu einer Stadt, in der sich der Status eines Individuums deutlicher als in anderen Städten durch den Wohnstandort manifestierte. Aus der ursprünglich sozialistischen Stadt, die Brasilia eigentlich werden sollte, entwickelte sich ein Abbild sozialer Unterschiede: „Primäre Funktionen sind zu sekundären geworden, und die letzteren haben ihr Signifikat geändert; die Gemeinschaftsideologie, die aus dem Stadtnetz und dem Aussehen der Gebäude hervorgehen sollte, hat anderen Anschauungen vom Leben in der Gesellschaft Platz gemacht. Und das, obwohl der Architekt in Bezug auf den Ausgangsentwurf nichts falsch gemacht hat. Nur, dass sich der Ausgangsentwurf auf ein System von sozialen Beziehungen stützte, das ein für allemal als definitiv betrachtet wurde, während in Wirklichkeit der Wandel der Ereignisse die Umstände, in denen die architektonischen Zeichen interpretiert werden sollten, verändert hatte, und damit auch das globale Signifikat der Stadt als Kommunikationsfaktum. Zwischen dem Augenblick, in welchem die signifikanten Formen konzipiert wurden, und dem, wo sie empfangen wurden, war genug Zeit vergangen, um den historisch-sozialen Kontext zu verändern.“135 Die Veränderung des Zeitgeistes während der Planungsphase oder zwischen dem Entwurf und der Umsetzung ist ein weitverbreitetes Phänomen, das insbesondere bei Planungsverfahren mit längerem Zeithorizont auftritt. Der lange, bürokratische Weg der Abwägungs- , Beteiligungs- und Genehmigungsprozesse kann oft nicht mehr rechtzeitig flexibel modifiziert und an den neuen Kontext angepasst werden. Daher müssten die Planungsdisziplinen Formen finden, die sowohl den augenblicklich verwandten Codes der Gesellschaft entsprechen, als auch eine zukünftige Anpassung an neue Werte und gesellschaftliche Strukturen ermöglichen. Planung könnte daher nach diesem Modellansatz zu mobilen oder schnell veränderbaren Formen führen, damit sie verschiedene Signifikate annehmen kann: 135 Eco, Umberto: a.a.O., S. 356 191 „Brasilia wäre eine Zukunftsstadt geworden, wenn sie auf Rädern erbaut worden wäre oder mit vorfabrizierten und demontierbaren Elementen oder nach so dehnbaren Formen und Gesichtspunkten, dass sie verschiedene Signifikate je nach der Situation hätte annehmen können; stattdessen wurde Brasilia als Monument gebaut, dauerhafter noch als Bronze. Es erfährt allmählich das Schicksal der großen Monumente der Vergangenheit, welche die Geschichte mit anderen Inhalten füllt und welche von den Ereignissen verändert werden, während doch sie die Ereignisse verändern wollten.“136 U. Eco vertrat die Auffassung, dass der Architekt die Aufgabe hat, sich an den Forderungen der verschiedenen Wissenschaften zu orientieren. Bei der Umsetzung dieser Forderungen in bauliche Formen sollte er die Fehlbarkeit der Voraussagen anderer Disziplinen und ihre Fehlerquote in Untersuchungen voraussehen können. Damit steht er vor der unlösbaren Aufgabe, die „Bewegungen der Geschichte zu antizipieren und aufzugreifen“.137 Mit einer solchen allumfassenden, m. E. geradezu „hellseherischen Aufgabe“ sind ArchitektInnen, Stadt- und RaumplanerInnen jedoch völlig überfordert, weil wir alle „nur“ Menschen sind. 6.7. Zusammenfassung „Die traditionelle Stadt“ unterscheidet sich in vielen Strukturelementen von der fordistischen Stadt der Moderne. Es werden markante Charakterzüge der funktionalen Stadt herausgearbeitet, die sich durch Begriffe wie Entmischung von Funktionen, Kernverlust, Agglomeration und Suburbanität, Monotonie etc. beschreiben lassen. Die typischen Ausgestaltungen des funktionalen Städtebaus zeigen aus sozialpsychologischer Sicht nachteilige Einflüsse auf den Menschen. Die bebaute und unbebaute Lebenswelt kann zu Orten der Versagung und Unwirtlichkeit138, der Entbehrung139, der Isolation140, der Apathie141 und Depression142, zu einem unerträglichen Ort des Aufenthalts werden143 und (mit-) verantwortlich sein für die in aller Welt zunehmende Asozialität144. Psychogene Reaktionen, psychopathologische Veränderungen und Neurosen können z.B. entstehen, wenn sich das Individuum an dieses menschen- und umweltfeindliche Szenario nicht mehr anpassen kann und die Lebenswelt die entwicklungspsychologischen 136 ebenda 137 ebenda, S. 356: „In dem Augenblick, wo der Architekt außerhalb der Architektur den architektonischen Code sucht, muss er auch seine signifikanten Formen so zu gestalten wissen, dass sie anderen Lesecodes genügen. Denn die historische Situation, auf welche er sich stützt, um den Code festzustellen, ist vergänglicher als die signifikanten Formen, mit denen er diesen Code füllt. Der Architekt muss sich also an Soziologen, Physiologen, Politikern, Anthropologen orientieren, aber beim Anlegen von Formen, die ihren Forderungen entsprechen, die Fehlbarkeit ihrer Hypothesen und die Fehlerquote ihrer Untersuchungen voraussehen. Er muss jedenfalls wissen, dass es seine Aufgabe ist, Bewegungen der Geschichte zu antizipieren und aufzugreifen, nicht sie in Gang zu setzen.“ 138 vgl.: Lorenzer, A.: a.a.O., S. 57 139 Mitscherlich, Alexander (1965): a.a.O., S. 30 140 vgl.: ebenda, S. 70 141 vgl.: Mitscherlich, Alexander (1971): a.a.O., S. 79 142 vgl.: Mitscherlich, Alexander (1965): a.a.O., S. 13 143 ebenda, S. 142 f. 144 vgl.: ebenda, S. 105 192 altersgemäßen Grundbedürfnisse der Entfaltung des Menschen auf dem Weg zu einer ausgereiften Persönlichkeit nicht mehr ermöglicht. In verschiedenen Entwicklungsphasen stehen Architektur und Städtebau der Moderne den kindlichen Autonomiebestrebungen entgegen und verursachen ein physisches und psychisches Konfliktpotential, weil elementar notwendige Natur- und Sinneserfahrungen nicht mehr erfüllbar sind, da „zweckfreie“ Räume kaum existieren und die „reglementierten“ Lebensräume den natürlichen Expansionsdrang der Subjekte verhindern. Wenn die städtische Lebenswelt den Bedürfnissen der Individuen und Gruppen angemessen ist, Orte und ihre einzelnen Elemente als ansprechend empfunden werden, kann eine affektive Belegung des Raumes stattfinden. Rationalität jedoch lässt gemeinschaftsstiftende Symbolik vermissen, die zum Aufbau einer Gemeinschaftsidentität notwendig wäre. Der zweckrationale Städtebau ersetzt traditionelle Symbole durch „affektlose“, kühle und damit abweisende Symbolik. Er wird damit zum Ausdruck einer Gesellschaft der Moderne, die Fritz Riemann für das Nachkriegsdeutschland als „Die schizoide Gesellschaft“ bezeichnet. Das Beispiel Brasilia zeigt, dass Städte den Bedürfnissen der Bewohner sowohl in ihrer Denotation als auch in ihren konnotativen Ebenen entsprechen sollten. „Aufgesetzte“, vordergründige Symbolik vermag den Kern des gesellschaftlich-verbindenden kaum zu treffen. Die Bürger schafften sich Lebenswelten, Wohn- und Aufenthaltsbereiche nach eigenen Vorstellungen, die jedoch nicht im Interesse der Brasilia - PlanerInnen lagen. 193 7. Das therapeutische Sandspiel nach Dora M. Kalff: Eine Methode zur Visualisierung innerpsychischer Lebenswelten 7.1. Einleitung Lebenswelten stellen Produkte präsentativer Symbolik dar. In den symbolischen Objekten, die ArchitektInnen und RaumplanerInnen verwenden, verorten sich biographisch (und kollektiv) geprägte Lebensentwürfe. Symbolische Belegungen von Räumen sind i.A. unbewusste Übertragungen bzw. Projektionen. „Es [handelt] sich -wie bei allen Projektionen- auch in der Architektur um einen unbewussten Vorgang, ein unbewusstes, jedoch sinnvolles Gestalten.“1 Das Therapeutische Sandspiel ist eine tiefenpsychologisch-analytische Methode, die von der Schweizer Psychotherapeutin Dora M. Kalff entwickelt wurde. Sie vermag den Transfer psychischer Dynamik, d. h. die Wechselwirkungen zwischen dem Individuum und seiner Lebensumwelt zu visualisieren. In seiner Miniaturwelt macht sie eine jeweils individuelle Möglichkeit des In-der-Welt-seins sichtbar. Lebenswelten und Objekte sind im „Kleinen“ abbildbar, ohne dabei an Symbolgehalt zu verlieren. Mit der nonverbalen Methode des Therapeutischen Sandspiels entstehen Bilder, die wiederum dazu beitragen, dass Konflikte und Defizite, die durch Beziehungen, Interaktionen und Einflüsse der Lebenswelt entstanden, sich ausagieren können, das heißt zur Darstellung kommen können. Das Sandspiel hat sich als eine wirksame psychotherapeutische Methode erwiesen, die zur Diagnostik und Therapie bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen eingesetzt wird. Sie ist ein Therapieangebot zur Behandlung auch eben der Konflikte und psychogenen Reaktionen aus (post)modernen Lebenswelten, wie ich sie im vorigen Kapitel ausführlich erörterte. Das Sandspiel betrachte ich als ein (Selbsterfahrungs-) Angebot für PlanerInnen, BürgerInnen und Planungbetroffene, um eigene Bedürfnisse und eigene unbewusste Inhalte kennen zu lernen und zu hinterfragen. Darüber hinaus bietet es den mit der Raumplanung befassten Fachleuten die Möglichkeit, Symbole für eine bedarfsgerechtere Planung zu entwickeln, bzw. die Wirkungsweise von Symbolen der städtischen Lebenswelten zu überprüfen. Durch den Prozess der Gestaltung von Materie mit den Händen verbindet das Sandspiel Körper und Geist, materielle und seelische Ebenen. Damit bietet es einen Weg an, um der einseitigen Rationalität, der Dualisierung von Körper/Leib und Geist auf therapeutischem Weg zu begegnen. Es bekennt sich als hermeneutisches Verfahren, bei der die „Einzigartigkeit der schöpferischen Bildgestaltung“, d.h., die „Einzelfallanalyse“ und subjektive Interpretierbarkeit im Vordergrund stehen. 1 Jaffé, Aniela: Bildende Kunst als Symbol. In: Jung, C. G.: Der Mensch und seine Symbole, Olten und Freiburg, 10. Aufl., 1987, S. 243 194 7.2. Fundamente des Therapeutischen Sandspieles Die Wurzeln des Sandspiels gehen zurück auf verschiedene Fachleute, Theorien und kulturelle Traditionen2. Als ursprünglich für Kinder entwickelte therapeutische Methode finden sich u.a. auch psychoanalytische Grundlagen nach M. Klein und D. Winnicott, insbesondere aber die Ausarbeitungen der unmittelbaren Vorläufer des Sandpiels, nämlich der „World Technique“ Margaret Lowenfelds und der „Floorgames“ des englischen Schriftstellers H. G. Wells. 7.2.1. Das Städtebauspiel H. G. Wells H. G. Wells verfasste 1911 ein wenig beachtetes Buch mit dem Titel „Floorgames“. Er war sich offenbar „seiner Erfindung“ nicht bewusst, denn er erwähnte diese für die damalige Zeit ungewöhnliche Publikation nicht in seiner Autobiographie. Er beschreibt, wie er und seine zwei kleinen Söhne um das Jahr 1900 mit Figuren und verschiedensten Objekten oft tagelang auf dem Fußboden spielten. Dies fand auf einer Fläche statt, die durch Bretter und Bohlen abgegrenzt war. Oft wurden auch Besucher des Wellsschen Hauses mit in das Spiel einbezogen.3 „Aus vielen Schachteln entstanden Häuser, Menschen, Soldaten, Schiffe, Züge und Tiere, die den Fußboden des Kinderzimmers in ein Phantasieland von Städten und Inseln verwandelten. Dabei entwickelten sich zwei Spiele, die bevorzugt gespielt wurden und die Wells in seinem Buch als „Spiel der wunderbaren Inseln“ und das „Städtebauspiel“ bezeichnete.“4 H. G. Wells war davon überzeugt, dass das Spielen für die Kinder eine wichtige Entwicklungsgrundlage darstellt und die Basis für kreative Ideen im Erwachsenenalter darstellt. Wie sehr das Spiel die Entwicklung eines Kindes begünstigt, ist heute in der Psychotherapie anerkannt.5 7.2.2. Die „World Technique“ Margaret Lowenfelds „Floorgames“ gehörte zur Kindheitslektüre der Englischen Ärztin und Psychotherapeutin Margaret Lowenfeld, die u.a. hierdurch zur Entwicklung ihrer „Welttechnik“ angeregt wurde. Während der Kriegsjahre hatte sie - aus international geprägtem Hause stammend - als Dolmetscherin viersprachig gearbeitet. Dabei machte sie die Erfahrung, dass die Vielschichtigkeit der Wortbedeutungen oft zu Verständigungsschwierigkeiten führt. Sie kam zu der Ansicht, dass Sprache nur ein unzureichendes Mittel ist, das die ganze Spannweite von Bedeutungen nicht auszudrücken vermag. Daher hatte sie ihr ganzes Leben lang Interesse an Formen der nonverbalen Kommunikation und wurde 1928 mit der Gründung ihrer Londoner „Clinic for nervous and difficult children“6 zur Pionierin des Therapeutischen 2 Zu den Vorfahren des Sandspieles werden die Sandbilder der Navajo Indianer (vgl. Weinrib 1983), die tibetanischen Streumandalas und die taoistischen Miniaturgärten gezählt. 3 Mackenzie, N; Mackenzie, J.: H. G. Wells. A Biographie, Simon and Shuster, New York 1973. In: Mitchell, Rie Rogers; Friedman, S. Harriet: Konzepte und Anwendungen des Sandspiels: a.a.O., S. 23 4 ebenda 5 vgl. Wells, H. G: Floorgames. Palmer, London. Neuauflage 1976, Arnopress, New York, in: Mitchell, Rie Rogers; Friedman, S. Harriet: a.a.O., S. 24 6 Diese Klinik Lowenfelds lag mitten in einem sozialen Brennpunkt Londons „mit kleinen Geschäften und lauter identischen Häusern aus Ziegelsteinen, die hauptsächlich von Arbeitern bewohnt wurden“. Nach: Andersen, V.: Historical note on the manuscript; in : M. Lowenfeld, The World Technique XI-XII, George Allen and Unwin, London, zitiert bei Mitchell, Rie Rogers; Friedman, S. Harriet: a.a.O., S. 31 195 Sandspiels. Sie transferierte das Spiel H.G. Wells in eine therapeutische Methode, indem sie zunächst eine Vielzahl von Materialien und Figuren in einer Schachtel sammelte und zwei Kästen aus Zink hinzufügte.7 Wenig später wurden die Figuren in ein Regal eingeräumt, welches die Kinder schon bald samt seinem Inhalt als „The World“ bezeichneten. Ihre Intention war es, „ein Medium zu finden, das für Kinder attraktiv ist und ihnen und dem Beobachter als „Sprache“ dient, mit deren Hilfe eine Kommunikation hergestellt werden kann.“8 „Was möchte der/die Spielende/KlientIn mit dieser Gestaltung oder Figurenauswahl mitteilen?“, ist also die entscheidende Frage. Der Englische Philosoph Robin Collingwood mit dem M. Lowenfeld befreundet war, übte vermutlich einen erheblichen Einfluss auf die Entfaltung der Welt-Technik aus. Eine seiner grundlegenden Thesen war, dass „alles Denken mit einer Frage beginnt“, und dass man dem Wahrheitsgehalt einer Aussage, eines Bildes, einer künstlerischen Gestaltung nur beurteilen kann, wenn man die Frage zu erfassen versucht, die mit dieser Gestaltung „beantwortet“ werden sollte9. Daher instruierte Margaret Lowenfeld ihre Klienten nicht, ein bestimmtes Thema zu bauen, sondern sie sagte ihren Klienten, „dass die meisten Kinder (und natürlich auch die Erwachsenen, Anm. d. Verf.) Ideen im Kopf haben, die nicht in Worte zu fassen sind, dass viele Ideen leichter in Bildern und Handlungen gesagt werden können als in Worten, und dass dies eine natürliche Art des „Denkens“ ist.“10 Dann zeigte sie dem Kind die Kästen und Figuren. Mit den Objekten (Materialien, Figuren etc.) kann es Dinge kreiieren, die für es eine Bedeutung, einen persönlichen Bezug besitzen. Um die Gedankenwelt nicht zu beeinflussen oder zu stören, verzichtet die Methode bewusst auf jegliche Deutung eines Bildes. M. Lowenfeld sprach von einer höchst unerwarteten Entdeckung, als sie das „Primary system“ erforschte, eine innerpsychische Struktur, ein inneres Netzwerk, in dem sich Empfindungen des Individuums „verfangen“ können. „...die Innenwelt des Kindes hat eine Struktur (...). Diese Struktur ist insofern eigenartig, als ihre Verknüpfungen durch Faktoren geschehen, die, obwohl sie generellen Linien folgen, dem Kinde persönlich eigentümlich sind, und deren Entwirrung ein sehr sorgfältiges und ins Einzelne gehendes Studium verlangt. Die Empfindungen und Triebe des Kindes verfangen sich in diesem inneren Netzwerk. Psychosomatische Zustände, Phobien, Ängste und Phantasien, bewusste wie unbewusste, erweisen sich oft als Projektionen von Gebilden dieser inneren Struktur, sei es in den Körper hinein oder auf die äußere Welt. Sie können nur 7 Lowenfeld, Margaret: The World Technique. George Allen and Unwin, London, 1979, in: Mitchell, Rie Rogers; Friedman, S. Harriet: Konzepte und Anwendungen des Sandspiels. München, Basel 1997, S. 32: „In weniger als 3 Monaten, nachdem ein metallener Sandkasten auf einem Tisch und ein Regal mit vielen Figuren zu der Ausstattung des Spielzimmers dazu gekommen waren, hatte sich spontan eine neue Methode entwickelt, die aber von den Kindern selbst kreiert worden war.“ 8 Lowenfeld, M., in: Mitchell, Rie Rogers; Friedman, S. Harriet: S. 33 9 vgl.: Rasche, Jörg: a.a.O., Berlin 1992, S. 67. zit. nach: Lowenfeld, Margaret: Child Psychotherapy, War and the Normal Child. -Selected papers of M. Lowenfeld-. Hrsg. v. Urwin, Cathy & Hood-Williams, John. Free Association, London 1988, S.80 10 Lowenfeld, Margaret: Die „Welt“technik in der Kinderpsychotherapie, in: Biermann (Hrsg.): Handbuch der Kinderpsychotherapie III, S. 442-451,1976. 196 dadurch wieder rückgängig gemacht werden, dass man ihre Elemente aussondert und sie in geeigneteren Zusammenhängen neu gruppiert. Eine solche Aussonderung, die in gemeinsamer Arbeit von Kind und Therapeut mit Hilfe des vom Kinde gebauten Materials vorgenommen wird, verursacht ein Freiwerden von Energie in dem Kinde. Diese Energie findet dann Ausdruck in lustvollem Experimentieren mit Sinneserlebnissen, und die Geschicklichkeit, das Verständnis und die Lustempfindungen, die durch diese Experimente erreicht werden, fördern die Entwicklung des kindlichen Ich und das Vertrauen in die Integrität dieses Ich.“11 Dieses „innere Netzwerk“ bezeichnete sie als „clusters“12, eine Synthese von (Sinnes-) Erfahrungen und Wahrnehmungserlebnissen, die sich aus verschiedenen Zeiteinheiten zu kleinen Ganzheiten herauskristallisieren können. Diese Vorgänge verlaufen im „primary system“. Diesen Ausdruck möchte ich so übernehmen, um Verwechselungen mit dem Primär-System der Psychoanalyse zu vermeiden: „Bei der Psychoanalyse handelt es sich vor allem um Triebdynamik, hier dagegen um Bilder- und Vorstellungsdynamik. Es handelt sich (...) bei der Therapie ebenfalls nicht um Bewusstmachung oder um Abreagieren im Sinne der Psychoanalyse, sondern um Wiederherstellung eines Zuganges zur ursprünglichen Vorstellungswelt des Kindes“.13 Im „primary system“ gibt es keine feste Zeit- und Raumstruktur, es ist auch nicht mit den Möglichkeiten des sekundären Systems der Sprache oder der Ratio erklärbar: „Diese besondere Welt, in der das Kleinkind lebt, noch außerhalb der Sprache, wird später von einem zweiten, dem „secondary system“ ergänzt oder immer mehr verdrängt: der Welt der Sprache und der Logik. Gegen das 7. bis 8. Altersjahr sei dieser Prozess vollzogen. Gewisse Menschen behalten aber später immer noch einen leichten Zugang zu diesem „primary system“, insbesondere Dichter und Künstler. Die meisten Erwachsenen finden jedoch keinen Kontakt mehr, oder nur in Träumen.“14 Mit der sekundären Sozialisation, d.h. dem Schulbeginn in der westlichen Welt und der damit verbundenen Betonung von Ratio und Logik, geht in den meisten Fällen der Zugang zu bildhaften Wahrnehmung verloren. Dabei ist es nur eine andere Art der apperzeptiven Organisation, d.h. der kognitiven Verarbeitung des Erkennens, Benennens und Einordnens von Objekten in ein Bezugssystem. M. Lowenfeld betonte, dass in ihrer Therapie das Spielen das Wichtigste sei, Entwicklungs- und Verhaltensstörungen führte sie auf fehlende Spielmöglichkeiten zurück. Als Folge mangelnder spielerischer Entfaltung im Kindesalter (Zeit der Entstehung des primary system) kann es nach ihren Erkenntnissen zu nachteiligen kollektiv-gesellschaftlichen Auswirkungen kommen. „Wenn ein Kind nicht genügend frei spielen könne, könne sich das primary system nur ungenügend entwickeln und enthalte ungebundene Energien, die später durchbrechen und das secondary system außer Kraft setzen könnten: in Form von Symptomatik, oder gesellschaftlich gesehen auch in Form sozialer, politischer oder kriegerischer Katastrophen.“15 11 Lowenfeld, M.: Einige Grundzüge einer Kinder-Psychotherapie (1951), in: Psyche 6: 208-216 (1953), S. 214 12 vgl. Rasche, Jörg: a.a.O., S. 68 13 Ellenberger, H.: Institute of Child Psychology in London. In: Psyche III, Nr. 11: 877, Heidelberg 1950, S. 879 14 Rasche, Jörg: a.a.O., S. 70 15 Rasche, Jörg: a.a.O., S. 82: „Die Entwicklung des Nationalsozialismus führte sie auf eine solche kollektive Überflutung durch das primary system zurück: Disintegrierte cluster hätten die Oberhand bekommen, und es 197 7.3. Das Strukturmodell der Analytischen Psychologie C. G. Jungs Das Therapeutische Sandspiel wird überwiegend von Jungianischen Therapeuten angewendet, da die Jung’sche Auffassung dem bildhaft-anschaulichen Denken mehr verbunden ist als z.B. die Psychoanalyse. Die analytische Psychologie kann verstanden werden „als Reaktion auf einen übermäßig rationalen und bewusstseinsorientierten Ansatz, der den Menschen von seiner natürlichen Welt und auch seiner eigenen Natur isoliert und also einschränkt.“16 C. G. Jung wollte sich mit der von ihm entwickelten „Analytischen Psychologie“ deutlich von der Psychoanalyse Sigmund Freuds abgrenzen. Sie enthält sowohl grundlegende Modellvorstellungen über die Strukturen der menschlichen Psyche, als auch Auffassungen zum kontinuierlichen psychischen Entwicklungsprozess, den er auch Individuationsweg nennt. Die Analytische Psychologie ist „von einem Menschenbild geprägt, das den Menschen in einem umfassenden Sinnzusammenhang sieht, in schöpferischer Wandlung stehend, der fehlende Wandlung als bedrückend erlebt; zudem einem Selbstverständnis verpflichtet [ist], für das alles Geschehen noch eine Dimension über das Offensichtliche hinaus hat (...).“17 C. G. Jung verstand sich insbesondere als Empiriker und beschrieb viele psychologische Themenbereiche spiralförmig sich dem Kern nähernd, und nicht rasterförmig. Er war kein Freund feststehender theoretischer Systeme, „so dass sein Gedankengebäude keine abstrakte Theorie darstellt, zustande gekommen durch den spekulierenden Intellekt, sondern ein Bauwerk, das auf der soliden Grundlage der Erfahrung errichtet wurde und sich ausschließlich auf diese stützt.“18 In seinen Gesammelten Werken bekannte er sich zu einer großen Vorsicht feststehenden theoretischen Systemen gegenüber. Daher ist seine Methode eher dialektisch, symbolisch und nicht logisch gradlinig. Der Inhalt wird umkreisend erfasst und aus immer wieder leicht veränderten Blickwinkeln gesehen. Auf diese Weise kann eine weit größere Wahrheit oder ein größerer Blickwinkel entstehen, der umkreisend Vieles, auch Widersprüchliches, in sich aufnimmt. Sigmund Freud hatte seine Unterscheidung von Unbewusstem und Bewusstsein durch die Korrelate Es, Ich, Über-Ich, etc. ausgedrückt. C. G. Jung differenzierte seine Erkenntnisse, vereinfacht gegliedert, in das Bewusstsein, das persönliche und das kollektive Unbewusste. habe z.B. kein Schuldgefühl gegeben, weil jeder Teil der Persönlichkeit vom anderen dissoziiert war, so wie auch die cluster des primary system oft voneinander getrennt sind. Die Thesen, die Lowenfeld hierzu entwickelt, sind eine Parallele zu den Thesen von Freud und Jung aus derselben Zeit und zum selben Thema. Wie Jung von einer Überbetonung und Überbewertung des rationalen Bewusstseins im 19. Jahrhundert gesprochen hatte, auf das notwendigerweise ein Rückschlag aus dem Bereich des abgewerteten kollektiven Unbewussten erfolgen musste, so sprach Lowenfeld von der Überbewertung des secondary systems in Deutschland in den Jahrzehnten vor 1933, stärker als in anderen Ländern, und mit wenig Gelegenheit zu spielen. Die Kluft zwischen beiden Systemen und die Spannung innerhalb der Individuen sei immer stärker gewachsen, und schließlich sei die Persönlichkeit vieler Individuen und Gruppen von unzusammenhängenden Elementen des primary systems überflutet worden. Deshalb die Grausamkeit und das gestörte Realitätsempfinden vieler Nazis. Wie neurotische Kinder haben sie die Elemente ihres primary systems für die ganze Realität genommen, und sie schließlich in ihrem Leben ausgedrückt.“ 16 Samuels, A.; Shorter, B.; Plaut, F.: Wörterbuch Jungscher Psychologie. München 1989, S. 102 17 Kast, Verena: Die Dynamik der Symbole. Grundlagen der Jung’schen Psychotherapie, 4. Aufl., Solothurn und Düsseldorf 1994, S. 9 18 Jacobi, Jolande: Die Psychologie von C. G. Jung. Eine Einführung in das Gesamtwerk, Frankfurt 1996, S. 14 198 Nach seiner Auffassung ist Bewusstwerdung eine Vorbedingung für das Menschsein und die Entwicklung des Menschen zu einer eigenständigen Persönlichkeit. Abbildung 7: Das Modell der Psyche nach M.-L. von Franz. Quelle: M.-L. von Franz19 Zwei wichtige Grundprinzipien der Analytischen Psychologie sind die psychische Ganzheit des Menschen und die Gegensatzstruktur (wie z.B. die kompensatorische Funktion des Unbewussten in Bezug auf das Bewusstsein). Die Psyche besteht aus zwei sich ergänzenden, in ihren Eigenschaften jedoch gegensätzlichen Sphären, den beiden komplementären Korrelaten des Bewusstseins und des Unbewussten20. Diese beiden Bereiche der Psyche ergänzen sich, sie verhalten sich auch kompensatorisch zueinander und bilden zusammen die Ganzheit oder Einheit der Psyche: „Als ganzheitliches und sich selbst regulierendes dynamisches System, das auf struktureller, inhaltlicher und energetischer Gegensätzlichkeit beruht, schöpft es aus dieser Gegensatzspannung die Libido, die allgemeine Lebensenergie.“21 Das Gegensatzprinzip ist ein der menschlichen Natur innewohnendes Gesetz: „Eine psychologische Theorie, die mehr sein soll, als bloß technisches Hilfsmittel, muss sich auf das Gegensatzprinzip gründen; denn ohne dieses könnte sie nur eine neurotisch 19 Franz, Marie-Louise von: Der Individuationsprozess. In: Jung, C. G.: Der Mensch und seine Symbole, Olten und Freiburg, 10. Aufl. 1987, S. 161 20 „Das Bewusstsein ist wie die Oberfläche oder wie eine Haut über einem ausgedehnten unbewussten Gebiet, dessen Umfang wir nicht kennen. Da wir nichts vom Unbewussten wissen, können wir auch seinen Herrschaftsbereich nicht abstecken. Über etwas, was man nicht kennt, kann man keine Aussagen machen. Wenn wir „das Unbewusste“ sagen, sind wir oft der Meinung, damit etwas Konkretes zum Ausdruck zu bringen, aber in Tat und Wahrheit bringen wir nur zum Ausdruck, dass wir nicht wissen, was das Unbewusste ist. Wir haben lediglich indirekte Anhaltspunkte dafür, dass es ein psychisches Gebiet unterhalb der Bewusstseinsschwelle gibt. Wir haben auch einige wissenschaftlich stichhaltige Begründungen dafür. Aus den Inhalten, welche das Unbewusste hervorbringt, können wir gewisse Schlüsse auf sein Wesen ziehen. Wir dürfen aber in unseren Schlussfolgerungen nicht allzu anthropomorph vorgehen, denn es wäre durchaus möglich, dass die Dinge in Wirklichkeit ganz anders sind, als unser Bewusstsein sie sieht.“ Jung, C. G.: GW Bd. 18/ , a.a.O., § 11 21 Schlingschröder, Maria: a.a.O., S. 20 199 unbalancierte Psyche rekonstruieren. Es gibt kein Gleichgewicht und kein System mit Selbstregulierung ohne Gegensatz. Die Psyche aber ist ein System mit Selbstregulierung.“22 Daher sind alle Theoreme C. G. Jungs wie z.B. die Struktur der Psyche, die Beziehung des Bewussten zum Unbewussten, die Einstellungsfunktionen, etc., unter diesem Aspekt der das Gleichgewicht anstrebenden Polarität zu betrachten. 7.3.1. Das Bewusstsein Das Bewusstsein ist „die Bezogenheit psychischer Inhalte auf das Ich, so weit sie als solche vom Ich empfunden wird. Beziehungen zum Ich, so weit sie von diesem nicht als solche empfunden werden, sind unbewusst. Das Bewusstsein ist die Funktion oder Tätigkeit, welche die Beziehung psychischer Inhalte zum Ich unterhält. Bewusstsein ist nicht identisch mit Psyche, indem Psyche die Gesamtheit aller psychischen Inhalte darstellt, welche nicht notwendigerweise alle mit dem Ich direkt verbunden, das heißt dermaßen auf das Ich bezogen sind, dass ihnen die Qualität der Bewusstheit zukäme. Es gibt eine Vielheit von psychischen Komplexen, die nicht alle notwendigerweise mit dem Ich verbunden sind.“23 C. G. Jungs Definition des Bewusstseins unterstreicht die Dichotomie der menschlichen Psyche. Das Bewusstsein stellt einen Teilbereich der Psyche dar, die aus den sich kompensatorisch zueinander verhaltenden Bereichen des Bewusstseins und des Unbewussten ergänzt. Das Bewusstsein ist nur eine kleine Insel auf dem grenzenlosen Meer des Unbewussten.24 Aber die Grenzen zwischen Unbewussten und dem Bewusstsein sind fließend, was wir an den Phänomenen Schlaf, Traum und Sandspiel gut nachvollziehen können. Das Bewusstsein entwickelt sich aus dem Unbewussten heraus, es ist ein Produkt späterer Differenzierung. „Die Unterscheidung des Ich von der „Mutter“ steht am Anfang jeder Bewusstwerdung. Bewusstwerdung jedoch ist: Weltwerdung durch Unterscheidung. Bewusstheit schaffen, Ideen formulieren, das ist das Vaterprinzip des Logos (...).“25 Merkmale des Bewusstseins sind: Gerichtet sein, Differenziertheit und Unterscheidungsfähigkeit.26 Nach Toni Wolff gibt es analog zum persönlichen und kollektiven Unbewussten auch ein persönliches und kollektives Bewusstsein: „Das allgemeine Bewusstsein entspricht dem jeweiligen Zeitgeist, also den in einer Epoche herrschenden allgemein gültigen Ideen und Werten. Das Ich – Bewusstsein hat daran teil, ist aber nicht damit identisch, insofern es aus typologischen oder Persönlichkeitsdifferenzen davon abweicht.“27 Hier spiegelt sich die Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft. 22 Jung, C. G.: GW, a.a.O., Bd. 7, § 92, S. 69. 23 Jung, C. G.: GW, a.a.O.,Bd. 6, Psychologische Typen. § 687, S. 444 24 vgl. Jung, C. G.: Psychologie und Religion, GW, a.a.O., Bd. XI, § 141, S. 102 25 Jacobi, Jolande: a.a.O., S. 52 26 „Infolgedessen ist das Bewusstsein der Unterschiedlichkeit eine relativ späte Erwerbung der Menschheit und vermutlich ein relativ kleiner Ausschnitt aus dem unbestimmbar großen Feld von ursprünglicher Identität. Unterscheidung ist das Wesen und die Conditio sine qua non des Bewusstseins“ (Jung, C. G.: GW 7, a.a.O., § 329, S. 464) 27 Wolff, Toni: Studien zu C. G. Jungs Psychologie, Zürich 1981, S. 23 200 Abb. 8: Die Struktur der Psyche in der Analytischen Psychologie C. G. Jungs. Quelle: U. Eschenbach28 Das Ich: Das Zentrum des Bewusstseins „Unter „Ich“ verstehe ich einen Komplex von Vorstellungen, der mir das Zentrum meines Bewusstseinsfeldes ausmacht und mir von hoher Kontinuität und Identität mit sich selber zu sein scheint. (...) Insofern aber das Ich nur das Zentrum meines Bewusstseinsfeldes ist, ist es nicht identisch mit dem Ganzen meiner Psyche.“29 28 Eschenbach, Ursula (Hrsg.): Der Ich-Komplex und sein Arbeitsteam: Topographie der Selbstentfaltung. Therapeutische Konzepte der Analytischen Psychologie C. G. Jungs; Bd. 4, Bonz Verlag, Leinfelden- Echterdingen 1996, S. 392 29 Jung, C. G.: „Psychologische Typen“. Zürich, Rascher & Cie. 1921, zit. bei: Wolff, T.: a.a.O., S. 21 201 Im Laufe der Kindheit entwickelt sich als Zentrum des Bewusstseins30 das Ich oder auch der Ich – Komplex. In der frühen Kindheit lebt das Individuum unbewusst; das Bewusstsein muss erst aus dem Unbewussten hervorgebracht werden. „Das Bewusstsein zu entwickeln, ist eine fast unnatürliche Anstrengung.“31 Es verhilft zur Anpassung an die äußere Wirklichkeit, da am Anfang der Entwicklung des Bewusstseins die Triebbeherrschung steht. „Aber Anpassung birgt ebenso wie die Kontrolle natürlichen und triebhaften Verhaltens die Gefahr in sich, dass das Bewusstsein einseitig wird, dominiert und den Kontakt zu den dunkleren und irrationalen Anteilen verliert.“32 Wenn die Kontakte zu den dunkleren, unbewussten Anteilen verloren gehen, reagiert die Psyche mit Kompensation33, um das gesunde Gleichgewicht wieder herzustellen. Der westliche Mensch neigt zu einer Überbetonung des Ich-Bewusstseins. Eine einseitige Betrachtungsweise kann zur Kompensation oder Regression des Bewusstseins in das Unbewusste führen. C. G. Jung verwendet als psychisches Grundgesetz in Anlehnung an Heraklit den Begriff der Enantiodromie, das Entgegenlaufen34, „das Hervortreten des unbewussten Gegensatzes“ bezüglich der vom Bewusstsein eingenommenen oder ausgedrückten Positionen. Wenn eine extreme, einseitige Tendenz das bewusste Leben beherrscht, wird nach einiger Zeit in der Psyche eine gleich starke Gegenposition aufgebaut. Diese behindert zunächst die bewusste Leistung und durchbricht dann die Gehemmtheiten und die bewusste Kontrolle des Ich.35 Die fatalen Auswirkungen hatte Jörg Rasche für die deutsche Vergangenheit mit Bezug auf M. Lowenfeld, C. G. Jung und S. Freud beschrieben (siehe Fn. 15). Das Ich ist die Instanz, „durch die all unsere inneren und äußeren Erfahrungen hindurch müssen, um überhaupt wahrgenommen werden zu können.“36 Es ist mit Themen befasst wie persönliche Identität, Aufrechterhaltung der Persönlichkeit, Kontinuität, Vermittlung zwischen der bewussten und unbewussten Ebene, Wahrnehmung und Realitätsprüfung. Das Ich muss aber auch als eine Instanz gesehen werden, die auf die Forderungen des ihm überlegenen Selbst, des anordnenden Prinzips der ganzen Persönlichkeit, reagiert. 30 Jung, C. G.: GW, a.a.O., Bd. 18/I, § 18 f.: „Wesentlich am Bewusstsein ist, dass nichts bewusst sein kann ohne ein Ich, auf das es sich bezieht. Was nicht ans Ich angeschlossen ist, ist nicht bewusst. Daher kann man das Bewusstsein definieren als die Beziehung psychischer Inhalte zum Ich. Was aber ist das Ich? Das Ich ist eine komplexe Gegebenheit, die vor allem aus der allgemeinen Wahrnehmung des Körpers, des „Daseins“ besteht, und sodann aus den Gedächtnisinhalten; man hat eine Vorstellung davon, gewesen zu sein, und besitzt eine lange Reihe von Erinnerungen. (...) es ist das absolut unumgängliche Zentrum des Bewusstseins.“ 31 Jung, C. G.: GW, Bd. 18/I , a.a.O., § 15 32 Samuels, A.; Shorter, B.; Plaut, F.: Wörterbuch Jungscher Psychologie, München, dtv, 1989, S. 52 33 „Kompensation bedeutet Ausgleichung oder Ersetzung. (...) Während Adler seinen Begriff auf die Ausgleichung des Minderwertigkeitsgefühles einschränkt, fasse ich den Begriff der Kompensation allgemein als funktionelle Ausgleichung, als Selbstregulierung des psychischen Apparates auf. In diesem Sinne fasse ich die Tätigkeit des Unbewussten als Ausgleichung der durch die Bewusstseinsfunktion erzeugten Einseitigkeit der allgemeinen Einstellung auf. (...) Je größer die Einseitigkeit der bewussten Einstellung ist, desto gegensätzlicher sind die dem Unbewussten entstammenden Inhalte, so dass man von einem eigentlichen Kontrast zwischen Bewusstsein und Unbewusstem sprechen kann. In diesem Fall tritt die Kompensation in Form einer kontrastierenden Funktion auf. Dieser Fall ist extrem. In der Regel ist die Kompensation durch das Unbewusste kein Kontrast, sondern eine Ausgleichung oder Ergänzung.“ Jung, C. G.: GW, Bd. 6, §§763,764, S. 477 ff. 34 Jung, C. G.: GW, Bd. 7, a.a.O., § 111: „Der alte Heraklit, der wirklich ein großer Weiser war, hat das wunderbarste aller psychologischen Gesetze entdeckt: nämlich die regulierende Funktion der Gegensätze. Er nannte dies die Enantiodromia, das Entgegenlaufen, worunter er verstand, dass alles einmal in sein Gegenteil hineinlaufe(...).“ 35 vgl. Samuels, A.; Shorter, B.; Plaut, F.: a.a.O., S. 68 36 Schlingschröder, Maria: a.a.O., S. 21 202 7.3.2. Strukturen des Bewusstseins Die Inhalte des Bewusstseins sind in einer psychischen Ordnung individuell strukturiert. Sie haben „typische Gestalt“: Es lassen sich generelle Formen des Verhaltens erkennen, die bestimmten Gruppen von Individuen eigen sind.37 Diese Grundstrukturierung in verhaltenstypische Gruppierungen nannte C. G. Jung die psychologischen Typen. Ich- Funktionen und Einstellungstypen bezeichnen „eine psychologische Morphologie des Bewusstseins (...). Der psychologische Typus ist sozusagen Gerüst und Skelett, das die spezifische Haltung gegenüber dem Stoff der Erlebnisinhalte präjudiziert und modifiziert.“38/39 Dynamische Objektbeziehungs-Funktion / Einstellungstypen Zunächst differenzierte er zwischen zwei „Einstellungstypen“40, die er auch als „dynamische Objektbeziehungs-Funktion bzw. Anpassungsfunktion“ bezeichnete. „Objekt ist in unserer westlichen Psychologie der Sammelbegriff für Inhalte der empirischen oder geistigen Um- und Außenwelt. Subjekt dagegen bezeichnet das psychologische Individuum mit dem Einschluss der objektiv-psychischen Innenwelt. Das Subjekt ist also nicht identisch mit dem Ich. Dieses letztere ist der zum Teil willentliche, zum Teil unwillkürliche Dirigent und Träger der Einstellung und ihrer spezifischen Richtung.“41 Der Einstellungstypus differenziert ohne Bewertung das Individuum als extravertiert oder introvertiert und unterscheidet damit die energetische Richtung des Bewusstseins in den Subjekt-Objekt Bezügen mit der Umwelt42. Jolande Jacobi spricht vom „Reaktionshabitus in Bezug auf die Objekte der äußeren und inneren Welt, mit dem die Art des Handelns, der subjektiven Erfahrung und sogar die der Kompensation durch das Unbewusste determiniert sind. Diesen Habitus nennt C. G. Jung die zentrale Umschaltstelle, von der aus einerseits das äußere Handeln reguliert und andererseits die spezifische Erfahrung geformt wird.“43 Extra- und Introversion verhalten sich entsprechend der Polaritätstheorie kompensatorisch zueinander. D.h.: Ist das Bewusstsein extravertiert, so ist infolgedessen das Unbewusste introvertiert. • Der Extravertierte Einstellungstypus Die psychische Energie „des Extravertierten“ ist in seiner Orientierung und Anpassung mehr nach außen gerichtet. Dieser Typus hat meist ein verstärktes Interesse an der Außenwelt, er 37 vgl. Wolff, Toni: a.a.O., S. 81 38 ebenda, S. 86. 39 Eschenbach und Gaupp haben in einer „Typenuhr“ Berufsgruppen mit diesen Grundtypen in Verbindung gebracht. Eschenbach, Ursula und Gaupp, Berthold: Die Typenuhr nach der Typologie C. G. Jungs; Anleitung zum Gebrauch der Typenuhr; Leinfelden–Echterdingen 1997, S.13-20 40 Wolff, Toni: a.a.O., S. 85: „Die Einstellung ist eine Art von psychischem Anpassungsapparat, mit dem ein Individuum bewusst und unbewusst auf die Anforderungen des Lebens reagiert und sich mit ihnen auseinandersetzt.“ 41 Wolff, Toni: a.a.O., S. 85 42 „Libido heißt für mich psychische Energie, welche gleichbedeutend ist mit der Intensitätsladung psychischer Inhalte. FREUD identifiziert die Libido mit dem Eros, seiner theoretischen Voraussetzung entsprechend, und will sie von einer allgemeinen psychischen Energie unterschieden wissen.“ Jung, C. G.: GW, Bd. 7, a.a.O., § 77 Fn. 7, S. 61 43 Jacobi, Jolande: a.a.O., S. 28 203 „verlegt“ sein Interesse aus dem Subjekt auf das Objekt hinaus und strebt mehr nach allgemein gültigen, kollektiven Normen. Wenn das unbewusste Gegenstück durchbricht, so setzen sich die introvertierten und subjektiven Faktoren „mit Gewalt“ durch. Damit kann aus dem positiv bezogenen, mit aller Welt in Einklang stehenden Menschen zeitweise oder endgültig ein egozentrisches, kritisierendes, misstrauisches Individuum werden. • Der Introvertierte Einstellungstypus Für den introvertierten Einstellungstypus ist das Subjekt das psychologisch Wichtige. Die Haltung gegenüber Objekten erscheint beim Introvertierten eher zögernd, abwartend, ja sogar ablehnend. „Es ist, wie wenn er befürchtete, vom Objekt zu viel beeinflusst zu werden. Er ist daher leicht versucht, das Objekt und dessen Wirkung zu entkräften, indem er ihm seine subjektiven Gegebenheiten aufdrängt – entweder durch entsprechende Auffassungen über das Objekt oder durch tatsächliches Beherrschen.“44 Sofern beim introvertierten Typus die entgegengesetzte unbewusste Einstellung „durchbricht“ wird durch die unbewusste Extraversion das äußere Objekt scheinbar überwertig. „Jedoch entsteht keine objektive Erfassung und Beziehungsnahme zu ihm, sondern es wird überschwemmt mit Projektionen von subjektivem Material und ganz besonders mit Inhalten des kollektiven Unbewussten.“45 Diese Typologie der psychologischen Einstellung wird ausdifferenziert in vier psychologische Grundfunktionen, die in der Literatur auch als Bewusstseinsfunktionen oder Ich-Funktionen bezeichnet werden: Denken, Fühlen, Empfinden, Intuieren46. Die Ich-Funktionen Das Ich bedient sich dieser Funktionen, die modellhaft in einem Kreis angeordnet sind. Denken und Fühlen sind nach C. G. Jung wertende Funktionen (Klein, groß, angenehm, unangenehm, etc.). Empfindung und Intuition sind „irrationale Funktionen“, nicht urteilend oder bewertend, sondern erfassend wahrnehmend. Mit einer der Grundfunktionen erfasst und verarbeitet das Individuum vorwiegend seine Umwelt. Sie steht dem bewussten Willen ständig zur Verfügung und wird aufgrund ihrer Differenziertheit die „Superiore Funktion“ oder Hauptfunktion genannt. Ihr gegenüber liegt die „Inferiore Funktion“, die Grundfunktion, die das Individuum am wenigsten entwickelt hat und die damit unbewusst ist. Sie verhalten sich immer kompensatorisch zueinander, Vermischungen dieser Funktionen sind schon von daher nicht möglich. Das wesentliche Kriterium der minderwertigen Funktion dagegen ist ihre Unzuverlässigkeit und Unbeeinflussbarkeit bzw. Ungeschliffenheit, ihr verschwommener Charakter: „Nicht man hat es in der Hand, sondern es hat einen.“ Sie wirkt autonom aus dem Unbewussten und sie hat, weil sie völlig undifferenziert mit dem Unbewussten vermischt ist, einen infantilen, triebhaft-primitiven Charakter. „Darum werden wir so oft durch Handlungen ganz launischer, primitiver, triebhafter Art auch bei Menschen überrascht, zu deren uns bekanntem Wesen 44 Wolff, Toni: a.a.O., S. 87 ff. 45 ebenda, S. 88 46 Die acht Grundtypen sind: Der extravertierte und der introvertierte Denktypus, der extravertierte und der introvertierte Fühltypus, der extravertierte und der introvertierte Empfindungstypus, der extravertierte und der introvertierte Intuitionstypus. 204 das gar nicht zu passen scheint.“47 Bei einem Menschen mit intellektueller Überbetonung wird die Gegensatzfunktion, das Fühlen, aufgrund des Kompensationsbedürfnisses zum Ausgleich drängen und dann „ganz unerwartet“ in der inferioren Form erscheinen.48 Abb. 9: Die Bewusstseinsfunktionen Quelle: J. Jacobi 49 Neben der Hauptfunktion bedient sich der Mensch zweier benachbarter Funktionen, die aufgrund ihrer nicht so starken Differenzierung die Auxiliären oder Hilfsfunktionen50 genannt werden. Im Laufe seines Lebens oder seines Individuationsprozesses ist es Aufgabe des Individuums, die einzelnen Funktionen bis zu einem bestimmten Grade auszudifferenzieren. Das Diagramm Jolande Jacobis zeigt die Denkfunktion als die Superiore Funktion und die Vermischung mit anderen Grundfunktionen. • Die Denkfunktion51 arbeit nach den Gesetzen der Logik. Zu ihr gehören Denkarbeit, Erkenntnis, begriffliche Zusammenhänge und logische Folgerungen. 47 Jacobi, Jolande: a.a.O., S. 26 48 ebenda, S. 26 f.: „Dieser Intellektuelle wird dann ganz unerwartet, wie von hinten, von lauter infantilen Gefühlsäußerungen überfallen; Phantasien und Träume rein triebhafter Art, denen er sich ausgeliefert fühlt, überschwemmen ihn. Ähnlich ergeht es dem einseitig Intuitiven, dem seine vernachlässigte Empfindungsfunktion die Berücksichtigung der harten Realität mit oft unverständlichen Schlägen aufnötigt.“ 49 ebenda, Diagramm VI, S. 27 50 Wolff, Toni: a.a.O., S. 92: „Die Auxiliärfunktion ist ebenfalls relativ differenziert und gerichtet, also von den übrigen zwei Funktionen unterschieden. Sie ist aber nicht bestimmend und folgt der superioren Funktion. (...) Einer rationalen Funktion kann eine irrationale Funktion als sekundäre beigestellt sein, nie aber die zur superioren Funktion gegensätzliche.“ 51 „Das Denken ist diejenige Funktion, welche, ihren eigenen Gesetzen gemäß, gegebene Vorstellungsinhalte in (begrifflichen) Zusammenhang bringt. (...) Von Denken sollte man meines Erachtens nur da sprechen, wo es sich um die Verbindung von Vorstellungen durch einen Begriff handelt, wo also mit anderen Worten ein Urteilsakt vorliegt, gleichviel, ob dieser Urteilsakt unserer Absicht entspringt oder nicht. (...) Das Vermögen des gerichteten Denkens bezeichne ich als Intellekt (...).“ C. G. Jung: GW, a.a.O., Bd. 6, § 700 ff., S. 450 f. „In seiner einfachsten Form sagt mir das Denken, was etwas ist. Es gibt dem Ding einen Namen. Es fügt einen Begriff hinzu, da Denken Wahrnehmung plus Urteil ist. (Die deutsche Psychologie spricht von Apperzeption.)“ Jung, C. G.: GW BD. 18/I , a.a.O., § 22 205 • Die Fühl-Funktion52 ist die Funktion, die Situationen, Zustände oder Menschen nach Fühlkriterien im Spektrum zwischen angenehm und unangenehm bewertet. • Die Empfindungs–Funktion53 ist eine realitätsbezogene Bewusstseinsfunktion über die Sinnesorgane (sehen, hören, tasten usw.) Sie ist im Gegensatz zur Intuition an den materiellen Körper gebunden. • Die Intuitions–Funktion54 hat etwas Ahnendes, Erspürendes. D.h. die Inhalte der Intuition treten aus Bild- oder Worteinfall, als Phantasie oder Spontanwissen plötzlich und im Sinne des Wortes unvermittelt ins Bewusstsein. Kreativität und Ideen werden ihr zugeschrieben. Ideal wäre es natürlich, wenn das Ich–Bewusstsein ständig auf alle Ich-Funktionen gemeinsam zurückgreifen könnte. Realistisch ist aber, dass nur eine oder zwei Ich- Funktionen stärker ausdifferenziert und genutzt werden. Im Ich-Komplex des Menschen sind beide Einstellungstypen enthalten. Fast immer aber reagiert ein Individuum mit „seiner“ dominierenden Einstellung und es fällt Menschen oft schwer, gegensätzliche Einstellungen und Ich-Funktionen zu akzeptieren. Die Gegensätze der Einstellungen prallen aufeinander und bieten eine Bühne für Projektionen. „Jede Einseitigkeit der Einstellung, sobald sie extrem wird, hat schon ihre Kompensation im Unbewussten, die sich dem Bewusstsein immer mehr aufdrängt in Form der Aktivierung und Intensivierung des Gegenprinzips.“55 7.3.3. Das Unbewusste, seine Struktur und seine Inhalte Das Unbewusste56 kann vereinfacht als die Gesamtheit aller psychischen Vorgänge und Inhalte, die nicht im Bewusstseinsfeld liegen, bezeichnet werden. 52 „Das Fühlen vermittelt einem durch den Gefühlston den Wert der Dinge. Das Fühlen sagt mir zum Beispiel, ob etwas annehmbar, beziehungsweise angenehm ist oder nicht. Es sagt mir, was mir etwas wert ist. (...) Nun das „Furchtbare“ bezüglich des Fühlens besteht darin, dass es wie das Denken eine rationale Funktion ist. Jeder denkende Mensch ist absolut überzeugt davon, dass Fühlen keine rationale Funktion, sondern im Gegenteil höchst irrational sei. Machen Sie sich aber bitte einmal das Folgende klar: Niemand kann auf allen Gebieten vollkommen sein. Wer im Denken vollkommen ist, ist es bestimmt nicht im Fühlen, da man diese zwei Dinge nicht gleichzeitig tun kann; sie stehen sich gegenseitig im Weg.“ Jung, C.G.: GW, Bd. 18/I, § 23 53 „Wir sprechen zuerst von den ektopsychischen Funktionen. Da ist einmal die Empfindung, unsere Sinnesfunktion. Unter Empfindung verstehe ich das, was die Franzosen „la fonction du réel“ nennen, also die Gesamtsumme der von mir wahrgenommenen äußeren Fakten, die mir durch meine Sinnesfunktionen vermittelt werden. Der französische Ausdruck „la fonction du réel“ scheint mir der umfassendste Ausdruck dafür zu sein. Die Empfindung sagt mir, dass etwas ist: sie sagt nicht, was es ist, und sie sagt auch sonst nichts über dieses „etwas“ aus, sie sagt mir lediglich, dass etwas ist.“ Jung, C. G.: GW BD. 18/ , a.a.O., § 21 „Die Empfindung ist daher in erster Linie Sinnesempfindung, das heißt Perception vermittels der Sinnesorgane und des „Körpersinnes“ (kinästhetische, vasomotorische usw. Empfindungen). (...)“ Jung, C. G.: GW, Bd. 6, § 711, S. 456 54 „(...) die Intuition scheint etwas sehr Mysteriöses zu sein, und Sie wissen, dass die Leute mich für „sehr mystisch“ halten. Hier haben sie also einen Teil meiner Mystik! Die Intuition ist eine Funktion, mit der man um die Ecken sehen kann; das kann man zwar in Wirklichkeit nicht tun, aber die Intuition tut es für einen, und man verlässt sich auf sie. (...)“ Jung, C. G., GW, Bd. 18, § 25, S. 30. „Intuition (von intueri = anschauen) ist diejenige psychologische Funktion, welche Wahrnehmung auf unbewusstem Wege vermittelt. Gegenstand dieser Wahrnehmung kann alles sein, äußere und innere Objekte oder deren Zusammenhänge. (...) Bei der Intuition präsentiert sich irgendein Inhalt als fertiges Ganzes, ohne dass wir zunächst fähig wären, anzugeben oder herauszufinden, auf welche Weise dieser Inhalt zustande gekommen ist. (...)“ Jung, C. G.: GW, Bd. 6, § 754 f., S. 474 55 Wolff, Toni: a.a.O., S. 89 56 „Die Berechtigung, überhaupt von der Existenz unbewusster Vorgänge zu reden, ergibt sich mir einzig und allein aus der Erfahrung, und zwar zunächst aus der psychopathologischen Erfahrung, welche unzweifelhaft dartut, dass zum Beispiel in einem Fall von hysterischer Amnesie das Ich von der Existenz ausgedehnter 206 „Der Begriff des Unbewussten ist für mich ein ausschließlich psychologischer Begriff, und kein philosophischer in einem metaphysischen Sinne. Das Unbewusste ist meines Erachtens ein psychologischer Grenzbegriff, welcher alle diejenigen psychischen Inhalte oder Vorgänge deckt, welche nicht bewusst sind, das heißt nicht auf das Ich in wahrnehmbarer Weise bezogen sind.“57 Abb. 10: Strukturmodell der Psyche Quelle: J. Jacobi58 • Persönliches und Kollektives Bewusstsein Die Besonderheit in der Analytischen Psychologie C. G. Jungs ist die Gliederung des Unbewussten in das persönliche59 und das un- oder überpersönliche, kollektive psychischer Komplexe nichts weiß, dass aber eine einfache hypnotische Prozedur imstande ist, im nächsten Moment den verlorenen Inhalt zur Reproduktion zu bringen. Aus den Tausenden von Erfahrungen dieser Art leitet man die Berechtigung ab, von der Existenz unbewusster psychischer Inhalte zu sprechen. (...) Vermöge der Erfahrung wissen wir zunächst, dass bewusste Inhalte durch Verlust ihres energetischen Wertes unbewusst werden können. Dies ist der normale Vorgang des Vergessens. Dass diese Inhalte unter der Bewusstseinsschwelle nicht einfach verloren gehen, wissen wir durch die Erfahrung, dass sie gelegentlich nach Jahrzehnten aus der Versenkung auftauchen können unter geeigneten Umständen, zum Beispiel im Traum, in der Hypnose, als Kryptomnesie („verborgene Erinnerung“: Jung, C. G.: GW, a.a.O., Bd. 1, § 180, S. 110 / „Psychische Vorgänge, bei denen eine automatisch schaffende Kraft verlorene Gedächtnisspuren in größeren Fragmenten von photographischer Treue wiedererscheinen lässt.“: Jung, C. G.: GW, a.a.O., Bd. 1, § 185) oder durch Auffrischung von Assoziationen mit dem vergessenen Inhalt. Des ferneren belehrt uns die Erfahrung, dass bewusste Inhalte ohne allzu erhebliche Werteinbuße durch intentionelles Vergessen – was FREUD als Verdrängung eines peinlichen Inhaltes bezeichnet – unter die Bewusstseinsschwelle geraten können.“ Jung, C. G.: GW, a.a.O., Bd. 6, § 837 ff., S. 517 f. 57 Jung, C. G.: GW, a.a.O., Bd. 6, § 837, S. 517 58 Jacobi, Jolande: a.a.O., S. 42 59 Jung, C. G.: GW, a.a.O., Bd. 6, § 842, S. 519 207 Unbewusste.60 „Das Unbewusste ist älter als das Bewusstsein. Es ist „das ursprünglich Gegebene“, aus dem sich das Bewusstsein immer wieder neu hervorhebt. (...) Es ist unbestreitbar, dass das Bewusstsein in allen wichtigen Lebenslagen vom Unbewussten abhängt. Kinder beginnen ihr Leben in einem unbewussten Zustand und wachsen in den bewussten Zustand hinein. Während das sog. persönliche Unbewusste Inhalte umfasst, die der Lebensgeschichte des Individuums entstammen, d.h. Verdrängtes, Zurückgestelltes, Vergessenes, subliminal Wahrgenommenes usw., besteht das kollektive Unbewusste aus Inhalten, die den Niederschlag der typischen Reaktionsweisen der Menschheit seit ihren Uranfängen – ohne Rücksicht auf historische, ethnische oder andere Differenzierung – in Situationen allgemein menschlicher Natur darstellen, also zum Beispiel Situationen wie Angst, Gefahr, Kampf gegen Übermacht, Beziehung der Geschlechter, der Kinder zu den Eltern, väterliche und mütterliche Gestalten, Haltungen zu Hass und Liebe, zu Geburt und Tod, die Macht des hellen und des dunklen Prinzips, usw.“61 Das kollektive Unbewusste enthält auch mythologische Zusammenhänge, die Motive und Bilder, die jederzeit und überall ohne historische Tradition neu entstehen können62, Muster des „allgemeinen Menschseins“ als Sphäre menschlicher Gemeinsamkeit. • Die Komplexfelder Das Unbewusste besteht aus einer Vielzahl von Komplexfeldern. Der eigentliche Kern des Komplexes besteht modellhaft aus einem energetisch geladenen Kernelement, aus einem Bedeutungsträger, der unbewusst und autonom, das heißt durch das Bewusstsein des Individuums nicht steuerbar ist. „Komplexe spielen im Leben jedes einzelnen, aber auch im Kollektiv eine sehr große Rolle. Sehr viele Ängste und daraus resultierende Entscheidungen, die wir als der Realität angepasst beurteilen, sind bedingt durch Komplexe, also nur mehr oder weniger angepasst an die Realität. (...) Es ist aber völlig normal, dass wir Komplexe haben. Die Komplexe sind unsere normalen Zentren, die die Informationen aus der Welt ordnen, die unsere Eigenarten als Persönlichkeit ausmachen und unser Erfassen von Wirklichkeit steuern. Von da aus ist erkenntnistheoretisch klar, dass es nicht die Wirklichkeit gibt, sondern immer nur meine Wirklichkeit.“63 60 Jung, C. G.: GW, a.a.O., Bd. 7, § 103, S. 74: „Diese Entdeckung bedeutet einen weiteren Fortschritt der Auffassung: nämlich die Erkenntnis von zwei Schichten im Unbewussten. Wir haben nämlich ein persönliches Unbewusstes und ein un- oder überpersönliches Unbewusstes zu unterscheiden. Wir bezeichnen letzteres auch als das kollektive Unbewusste, eben weil es vom persönlichen losgelöst und ganz allgemein ist und weil seine Inhalte überall gefunden werden können, was bei den persönlichen Inhalten natürlich nicht der Fall ist. Das persönliche Unbewusste enthält verloren gegangene Erinnerungen, verdrängte (absichtlich vergessene), peinliche Vorstellungen, sogenannte unterschwellige (subliminale) Wahrnehmungen, das heißt Sinnesperceptionen, welche nicht stark genug waren, um das Bewusstsein zu erreichen, und schließlich Inhalte, die noch nicht bewusstseinsreif sind. Es entspricht der in den Träumen vielfach auftretenden Figur des Schattens.“ 61 Jacobi, Jolande: a.a.O., S. 20, Zitate nach Jung, C. G.: Kinderträume 1938/39 (Privatdruck): Eine entscheidende Fähigkeit des Unbewussten ist es nun, sich kompensatorisch zu verhalten und dem Bewusstsein, das ja normalerweise stets die individuelle und dem Außen angepasste Reaktion auf die jeweilige Situation abgibt, eine aus der Menschheitserfahrung stammende, typische, den regelmäßigen Verhaltensweisen und Notwendigkeiten des Innen entsprechende Reaktion gegenüberzustellen und damit dem Menschen eine dem Total – Psychischen gemäße, adäquate Haltung zu ermöglichen. 62 vgl.: Jung, C. G.: GW, a.a.O., Bd. 6, § 842, S. 519 63 Eine Ausarbeitung zum Thema Komplex mit Praxisbeispiel zum Vaterkomplex findet sich bei Kast, Verena: Der Komplex; in: Eschenbach, Ursula (Hrsg.) Die Behandlung in der Analytischen Psychologie; Therapeutische Konzepte der Analytischen Psychologie C. G. Jungs; Band 2, Halbb. 1, Stuttgart 1979, S. 87 208 Komplexfelder, wie z.B. der Vater-, Mutter-, Geschwister- und der Elternkomplex, beinhalten zahlreiche persönlichen emotionale Erfahrungserlebnisse, Gefühlstönungen, Assoziationen. Diese Inhalte gruppieren sich um archetypische Kernbereiche herum, die ihre Verwurzelung im kollektiven Unbewussten bzw. in den entsprechenden archetypischen Wirkfeldern haben. Komplexe lassen sich als „abgesprengte Teilpsychen“64, „Teilpersönlichkeiten“65, die unbewusst, vom Bewusstsein getrennt, willkürlich und unkontrollierbar autonom agieren. Wenn sie ins Spiel kommen, „konstelliert werden“, beeinflussen sie Verhalten und sind durch das Auftreten von Affekten, Emotionen66 gekennzeichnet. Sie lassen sich auch als internalisierte Beziehungs- und Interaktionserfahrungen, die sich gesammelt haben, psychoanalytisch übersetzen. Peter Jüngst und Oskar Meder haben Prägungen innerpsychischen Erlebens, also Komplexe im Feld des persönlichen Unbewussten, mit Hilfe ihres Modells der präsentativen Symbolik anschaulich und erlebbar gemacht. Demzufolge können Komplexfelder „Außenwirkung“ zeigen, sich „landschaftlich“ und auch im Sand symbolisch verorten als Garten, Acker, Wasser, Teich, Meer, Berg, Höhle, Fels, Vegetation, Pflanze, Baum, Haus, Tor, Zaun, Stadt, Dorf, Mauer. Im kollektiven Unbewussten befinden sich ebenso zahlreiche Kernkomplexfelder, wie z.B. auch der patriachale Archetyp und der matriachale Archetyp. Das bedeutet z.B., dass der „Vaterkomplex“ sowohl ein archetypisches Vater-Bild, d.h. alles das, was in unserem Kulturkreis die Aura des Väterlichen trägt, als auch eine Ansammlung aller Interaktionen, Erinnerungen und Erfahrungen mit dem persönlichen Vater beinhaltet. 7.3.4. Die Archetypen Nach Jungscher Auffassung steht am Anfang der individuellen Entwicklung der Archetyp, „ein vorwiegend qualitativer Bildbegriff, der sekundär durch die Emotion oder den Affekt aufgeladen wird und sich konkret ausgestaltet.“67 Er nannte sie zuerst die Urbilder, dann Dominanten des kollektiven Unbewussten. „Es handelt sich bei dem Begriff nicht um eine 64 Jung, C. G.: GW, a.a.O., Bd. 8, u.a.: „Allgemeines zur Komplextheorie“, § 204 , S. 116 f.; Hier sagt Jung: „Man darf heutzutage wohl die Hypothese als gesichert betrachten, dass Komplexe abgesprengte Teilpsychen sind. Die Ätiologie ihres Ursprungs ist ja häufig ein sogenanntes Trauma, ein emotionaler Schock oder ähnliches, wodurch ein Stückchen Psyche abgespalten wurde. Eine der häufigsten Ursachen ist allerdings der moralische Konflikt, welcher seinen Grund in der anscheinenden Unmöglichkeit hat, das Ganze des menschlichen Wesens zu bejahen. Diese Unmöglichkeit setzt unmittelbare Spaltung voraus, unabhängig davon, ob das Ich – Bewusstsein darum weiß oder nicht. In der Regel besteht sogar eine ausgesprochene Unbewusstheit über die Komplexe, was diesen natürlich um so größere Aktionsfreiheit gewährt. In solchen Fällen erweist sich ihre Assimilationskraft in ganz besonderem Maße, insofern nämlich die Unbewusstheit über den Komplex diesem dazu verhilft, sogar das Ich zu assimilieren, woraus eine momentane und unbewusste Persönlichkeitsveränderung entsteht, die als Komplexidentität bezeichnet wird. Dieser durchaus moderne Begriff hatte im Mittelalter einen anderen Namen: damals hieß er Besessenheit.“ 65 Jung, C. G.: GW, Bd. 18/I, § 153, S. 88 66 Der Begriff des Affektes wird synonym zur Emotion gebraucht; „ein Gefühl, das genügend Intensität besitzt, um nervöse Unruhe oder andere offensichtliche psychomotorische Störungen hervorzurufen. Ein Gefühl kann man kontrollieren; ein Affekt dringt hingegen wider Willen ein und kann lediglich mühsam unterdrückt werden. Eine affektive Explosion ist ein Einbruch in das Individuum und eine vorübergehende Überwältigung des Ich. (...) Emotionen geschehen uns; ein Affekt ereignet sich dort, wo unsere Anpassung am schwächsten ist, und offenbart gleichzeitig den Grund für ihre Schwäche.“ Samuels, et al.: Wörterbuch Jungscher Psychologie, a.a.O., S. 18 f. Der Affekt steht damit im unmittelbaren Zusammenhang zum Komplex. Er ist praktisch die Enthüllung desselben und er zeigt durch seine Intensität praktisch das Ausmaß der psychischen Wunde des Komplexes. 67 Rasche, Jörg: a.a.O., S. 88 209 „vererbte Vorstellung“, sondern um ererbte Bahnungen, d.h. um einen vererbten Modus der psychischen Funktion, also jene angeborene Art und Weise, nach der das Hühnchen aus dem Ei kommt, die Vögel ihre Nester bauen, (...), also um einen „pattern of behaviour.“68 Der Psychoanalytiker Erich Neumann beschreibt, dass das Selbst des Kindes zunächst mit dem Selbst der Mutter eins sei, er spricht von einer „primären Ganzheit“.69 In einer ersten Phase „der Urbeziehung“ erfährt das Kind die Mutter noch als „enthaltende und nährende Welt“, während in einer zweiten Phase die menschlich erfahrbare Mutter allmählich zum Erleben des Gegenüber, des ‚Du’ und damit zur Entstehung des Objektes führe. Es kommt allmählich zu einem „Hinüberwandern des Selbst von der Mutter in die Person des Kindes“70. Das führt dazu, dass der Archetypus nach und nach durch die Imagines der Eltern ersetzt werden kann. „Bei all diesen und bei allen späteren Differenzierungsschritten sind Verbildlichungen und Gestaltungen von ausschlaggebender Bedeutung, weil sie Innen- und Außenwelt verbinden, die Welt „be-greifbar“ machen und die archetypischen Muster erst mit Leben füllen. Archetypen sind nicht ‚angeborene Bilder’, sondern Dispositionen für psychische Strukturierung. Sie haben eine gewisse Ähnlichkeit mit den „Organisatoren“ von R. Spitz oder den „angeborenen Schemata“ bei J. Piaget.“71 7.3.5. Das Assoziationsexperiment C. G. Jungs Assoziationsexperiment bietet die Möglichkeit, Symbole und Objekte mit besonderem konnotativem Bedeutungswert für das Individuum herauszufinden. Affektive Bezüge zu Begriffen werden durch Assoziation von Wörtern und damit durch Symbole dargestellt, die der anschließenden Entschlüsselung bedürfen. In langjährigen Studien verifizierte er hierdurch die Existenz von Komplexen, und er entdeckte den „gefühlsbetonten Komplex“ als Ursache für Störungen, die im Verlauf dieser Experimente zu beobachten waren. In einer Versuchsreihe werden den Probanden einhundert einzelne Wörter genannt und die unterschiedlichen Reaktionszeiten bis zu einer assoziierten Antwort erfasst. Verlängerte Reaktionszeiten lassen sich häufig mit einer Erinnerungsstörung erklären. Im Assoziationsexperiment erfolgt oft auch ein zweiter Durchgang, in dem häufig die Antworten des ersten Durchgangs richtig und unmittelbar erinnert werden. Bei einigen konfliktbeladenen „Reizworten“ fällt jedoch die Antwort völlig aus. Die Versuchspersonen sind nicht in der Lage, schnell zu reagieren, weil sich plötzlich eine große Anzahl von Bildern und Wörtern ins Bewusstsein gedrängt hat, von denen der Proband/die Probandin kein passendes Wort für die Reaktion hätten finden können. Ebenso kann sich auch die Reaktionszeit bei dem Objekt, das auf den problematischen Begriff folgt, verlängern. Der Proband ist, so erklärt das Verfahren die Zusammenhänge, nicht in der Lage zu antworten, zu reagieren, weil seine Emotionen an die Assoziationen zum vorhergehenden Objekt gebunden sind. „Dies ist durchaus verständlich, denn starke Affekte versammeln immer zahlreiche Assoziationen um sich, und andererseits wird eine Ansammlung von Assoziationen immer von einem intensiven Gefühlston begleitet. In manchen Fällen haben 68 Jacobi, Jolande: a.a.O., S. 49 69 vgl. Neumann, Erich : Das Kind, Zürich 1961 und Neumann, Erich: Die große Mutter. Eine Phänomenologie der weiblichen Gestaltungen des Unbewussten, 11. Auflage, Walter Verlag, Zürich und Düsseldorf, 1997 70 Neumann, Erich: Kunst und schöpferisches Unbewusstes. Zürich 1980, S. 30 71 Rasche, Jörg: a.a.O., S. 92 210 wir das Gegenteil vom obigen Zustand, und die Versuchspersonen sind außerstande zu reagieren, weil im Bewusstsein ein Vakuum entsteht; in solchem Falle verhindert der Komplex die Reaktion, indem er einfach nicht im Bewusstsein auftaucht. Auf diese Weise drängt der zugrunde liegende Vorstellungskomplex manchmal zu viel ins Bewusstsein, und dann wieder zu wenig, indem er in beiden Fällen den gleichförmigen Fluss der psychischen Funktionen unterbricht. Er wirkt wie ein Friedensstörer in der psychischen Hierarchie.“72 Die Unbeeinflussbarkeit der Reaktionszeit hat C. G. Jung dazu veranlasst, den Komplexen ein hohes Maß an unkontrollierbarer Autonomie zuzuschreiben, welche er mit der Unbewusstheit der Komplexe und ihrer Abspaltung vom Ich begründete. Sie brechen in den Bewusstseinsraum ein, was Pierre Janet als „abaissement de niveau mental“ bezeichnet hat, das bewusste Ich ist dagegen machtlos. So können diese Komplexe nicht über den Verstand mit Argumenten gedämpft werden. Komplexe sind somit aus dem Unbewussten herrührende Störungen, verursacht durch einen Konflikt bzw. belastete oder tabuisierte Erlebnisbereiche. „Alle Menschen haben Komplexe. Sämtliche Arten von Fehlleistungen bezeugen das, wie schon Freud in seiner „Psychopathologie des Alltagslebens“73 in unmissverständlicher Weise aufgezeigt hat. (...) Sie zeugen nur davon, dass “Unvereintes, Unassimiliertes, Konflikthaftes besteht, vielleicht ein Hindernis, vielleicht aber auch ein Anreiz zu größeren Anstrengungen und damit sogar zu neuen Erfolgsmöglichkeiten. (...) Je nach ihrem „Umfang“ und Geladensein, bzw. der Rolle, die sie im psychischen Haushalt jeweils innehaben, können wir also gleichsam von „gesunden“ und von „kranken“ Komplexen reden, wobei es ausschließlich vom Zustand des Bewusstseins, das heißt vom mehr oder minder Festgefügtsein der bewussten Ich-Person abhängt, wieweit sie aufgearbeitet werden können bzw. ob sie letztlich eine günstige oder schädliche Wirkung haben. Sie bezeichnen immerhin stets das „Unerledigte“ im Individuum, „also die unzweifelhaft schwache Stelle in jeglicher Bedeutung des Wortes“.74 Und dieses Unerledigte in den individuellen Lebensentwürfen wird sichtbar über (präsentative) Symbolik. 7.4. Das Therapeutische Sandspiel nach Dora M. Kalff Die Schweizer Analytikerin Dora M. Kalff hat C. G. Jungs Ideen „konkret, ja fast konkretistisch angewendet. Sie begnügt sich nicht mit Imagination, sondern erfindet Objekte dazu. Dies ist psychoanalytisch gesehen ein „Acting out“. (...) Dass ein konkretes Bild sich mit Seelensubstanz auflädt, dass es nicht nur ein Abbild von etwas ist, sondern als pars pro toto tatsächlich als Objekt „wirkt“, entspricht einer sehr weit zurückliegenden Phase der Menschheitsgeschichte.“75 Mit den Augen D. W. Winnicotts lässt sich sagen: „Das Kleinkind erschafft das Objekt, aber das Objekt war bereits vorher da, um geschaffen und besetzt zu werden.“76 72 Peterson, F. und Jung, C. G.: Psychophysische Untersuchungen mit dem Galvanometer und dem Pneumographen bei Normalen und Geisteskranken. Jung, C. G.: GW., Bd. 2, a.a.O., § 1083, S. 548 73 Freud, S.: Zur Psychopathologie des Alltagslebens. (Karger, Berlin 1904; Ges. Werke Bd. 4) 74 Jacobi, Jolande: a.a.O., S. 46 ff., zit. nach: Jung, C. G.: „Seelenprobleme“, S. 108 75 Pattis, Eva: Mit den Händen begreifen. Was kann ein Jungscher Analytiker vom Sandspiel lernen? In: Zeitschrift für Sandspiel-Therapie, Nr. 12, Mai 2002, S. 6 76 Winnicott, W. D.: Die therapeutische Arbeit mit Kindern. München 1973, S. 104 211 Dora M. Kalff erlernte die World Technique in London bei Margaret Lowenfeld. Sie verknüpfte sie mit der Analytischen Psychologie und ihrem Interesse für asiatische Philosophien zum Therapeutischen Sandspiel. Dies ist eine psychotherapeutische Methode, die, ursprünglich für Kinder gedacht, heute bei Menschen jeder Altersstufe Anwendung findet. Dora M. Kalff „beobachtete das Fehlen einer inneren Sicherheit bei Kindern der modernen Gesellschaft und betrachtete dies als Resultat einer Trennung von ihrem natürlichen Sein. Sie kritisierte nicht die Eltern dafür, stellte aber fest, dass unsere vom Rationalen und Mechanischen geprägte Gesellschaft diesen wichtigen Aspekt einer Persönlichkeit nicht fördert.“77 7.4.1. Methode, Materialien und Elemente „Es wäre ein unglückliches Missverständnis zu glauben, alles was man als Sandspieltherapeut braucht, ist ein Kasten mit Sand, eine Kollektion von Figuren und ein Symbollexikon. (...) Ganz notwendig ist vor allem eigene Erfahrung mit dem Sandspiel, um einen Prozess wirklich begleiten zu können.“78 Der Name Sandspiel hört sich zunächst sehr einfach an und verführt zu dem Schluss, es handele sich lediglich um einen „Matschkasten für Kinder“. Augenfällig ist zunächst natürlich das Material durch die Kästen und das reichhaltige Figuren- und Materialiensortiment, mit dem der Spielende in die Lage versetzt werden soll, seine Lebenswelt „en miniature“ zu kreieren. Wichtiger als die gesamte Ausrüstung ist aber nach meiner Auffassung die verstehende und empathische Grundhaltung des Therapeuten (bzw. im diagnostischen Bereich des Untersuchenden), sich auf einen Dialog verbaler und non-verbaler Art mit den Klienten einzulassen. Der Sandkasten wird zu einem Interaktionsforum. Die Relevanz des Materiales liegt darin, als Medium die Kommunikation über bestimmte symbolische Inhalte zu ermöglichen. 7.4.2. Projektive Verfahren Sandspiel und Sandspieldiagnostik sind „projektive Verfahren“. Die Differenzierung dieses heterogenen Begriffes ist für das weitere Verständnis sehr wichtig. Projektion besagt soviel wie „Abbilden“, „Hinausverlegen“ und meint die Verlagerung, die Übertragung von „Innenvorgängen“ (von „innerpsychischen“ Vorgängen) in die Außenwelt. Das Wesen eines projektiven Verfahrens liegt darin, dass es etwas hervorruft, was Ausdruck der Eigenwelt, des Persönlichkeitsprozesses des Probanden ist.79 Den klassischen Projektionsbegriff hatte Sigmund Freud als Abwehrmechanismus verstanden, welcher bewirkt, dass „Eigenschaften, die das Ich bedrohen, nicht mehr in der eigenen Person gesehen werden, sondern einem Objekt, einer Person oder der Außenwelt 77 Mitchell, Rie Rogers; Friedman, S. Harriet: a.a.O., S. 97, zit. nach: Kalff, Dora M.: Sandspiel, Regie und Produktion: Peter Ammann. Auf Video aufgenommen 1985, erhältlich beim C. G. Jung Institute, San Francisco CA 78 Löwen-Seifert, Sigrid: Überlegungen zur Deutung von Sandbildern. In: Zeitschrift für Sandspiel, Nr. 3, Berlin 1994, S. 11 79 vgl.: Bundschuh, Konrad: Einführung in die Sonderpädagogische Diagnostik, München, Basel 1999, S. 114 212 zugeschrieben werden.“80 Später in „Totem und Tabu“ erweitert er den Projektionsbegriff: „Aber die Projektion ist nicht für die Abwehr geschaffen, sie kommt auch zustande, wo es keine Konflikte gibt. Die Projektion innerer Wahrnehmungen nach außen ist ein primitiver Mechanismus, dem z.B. auch unsere Sinneswahrnehmungen unterliegen, der also an der Gestaltung unserer Außenwelt normalerweise den größten Anteil hat.“81 Für Amos Rapaport ist jedes Verhalten des Menschen projektiv.82 In der Analytischen Psychologie gibt es „kein psychisches Leben ohne einen gewissen Grad von Projektion“83. Sie kann als „normal oder als pathologisch angesehen werden und als Abwehr gegen Angst.“84 In jedem Falle steht die Projektion ganz außerhalb des bewussten Willens: „Projektion wird nie gemacht, sie geschieht.“85 C. G. Jung definiert sie als die „Hinausverlagerung eines subjektiven Vorgangs in ein Objekt.“86 Die Übertragung bezeichnet dagegen „einen nicht nur in der Psychotherapie, sondern auch im Alltagsleben stattfindenden, häufig unbewussten Vorgang, der darin besteht, dass man Einstellungen, Gefühle und Erwartungen, die man gegenüber früheren Bezugspersonen (v. a. den Eltern) hatte, nun auf andere Personen überträgt.“87 Im Therapeutischen Sandspiel sind die Übertragungs- und Projektionsvorgänge noch erheblich komplexer. Bei einer rein verbalen Analyse finden zwischen Klient und Therapeut o.g. Übertragungsgeschehen statt, welche als Übertragung und Gegenübertragung in der Fachwelt bekannt sind. Im Sandspiel gibt es aber noch mindestens ein drittes Element, nämlich den Sandkasten als aufnehmendes Gefäß für Projektionen und Übertragungen. Während der klassischen Analyse versuchen zwei Menschen, einen dritten Kommunikationsbereich, die symbolische Dimension, zu erarbeiten, während beim Sandspiel dieser symbolische Raum von Anfang an konkret und materiell (durch Kasten und Sand) vorhanden ist.88 Jörg Rasche spricht daher von einem „doppelt projektiven Verfahren“89. Der Diagnostiker oder Therapeut gibt nicht nur den inneren und äußern Raum vor, sondern auch ein Figurensortiment, das er allein zusammengesammelt hat und damit auch ein Stück seiner inneren Welt öffnet. 7.4.3. Die Materialien und „der freie geschützte Raum“ • Die Sandkästen Dora M. Kalff legte die Größe der Sandspielkästen auf die Innenmaße (57x72x7 cm)90 fest, die quer aufgestellt werden. Maß und Form des Sandkastens sind abgestellt auf den Blickwinkel des Menschen, so dass der Spielende jederzeit den Kasten als Ganzes 80 vgl.: Bundschuh, Konrad: a.a.O., S. 114, zit. nach Hörmann, 1971, S. 73 f. 81 Freud, S.: Totem und Tabu. In Gesammelte Schriften, Bd. X. Leipzig, Wien, Zürich 1924, S. 81 82 vgl.: Bundschuh, Konrad: a.a.O., S. 115, zit. nach Rapaport (1942) 83 Jacobi, Jolande: a.a.O., S. 95 84 Samuels, A. et al: Wörterbuch Jungscher Psychologie, München 1991, S. 165 85 C. G. Jung: Psychologie und Alchemie [Ges. Werke XII, S. 284] , S. 338, zit. bei Jacobi, J.: a.a.O., S. 95 86 C. G. Jung: Psychologische Typen [Ges. Werke VI, S. 500] , S. 625 ff., zit. bei Jacobi, J.: a.a.O., S. 95 87 Humboldt Psychologie Lexikon, München 1990, S. 392 88 vgl. auch: Pattis, Eva: a.a.O., S. 11 89 Rasche, Jörg: a.a.O., S. 1O 90 Kalff, Dora M.: Sandspiel: Seine therapeutische Wirkung auf die Psyche, 3. Aufl., Basel 1996, S. 15 213 überblicken kann. Diese vom menschlichen Blickfeld abgeleitete Dimension gibt dem Spieler natürliche Grenzen, sie „begrenzt die Phantasie der Spielenden und wirkt so als ordnender, beschützender Faktor“91 Diese Begrenzung gestattet es, die ins Grenzenlose strebende Phantasie zu formen und zu gestalten. „Wir können sagen, dass Phantasie nur dort fruchtbar wird, wo sie gezwungen ist, sich in bestimmte Formen zu beschränken. Es ergibt sich daraus die Polarität Freiheit – Beschränkung.“92 Quadratische oder runde Sandkastenformen sind für diese Arbeit ungeeignet. Das rechteckige Format kann eine erwünschte innere Dynamik des Vorwärtsschreitens auslösen.93 Der Sandkasten hat aus tiefenpsychologischer Sicht auch die Bedeutung eines Gefäßes.94 / 95 Ruth Ammann sieht in ihm auch einen „Zwischenraum“, der in der Lage ist, die äußere konkrete Welt mit der innerpsychischen Lebenswelt zusammenzubringen. „Im Sandspiel bildet der Sandkasten den Raum für das Leben dieser Zwischen – Welt zwischen innen und außen, zwischen psychisch und physisch, zwischen bewusst und unbewusst und auch zwischen Kultur und Natur, das heißt zwischen der kulturell und ethnisch geformten Seite eines Menschen und seiner körperlichen, instinkthaften Seite. Doch ob innere Räume oder äußere Räume, oder Räume dazwischen, vor allem brauchen wir freie und leere Räume, in denen sich neues Leben entwickeln kann.“96 Die Innenflächen der Sandkästen sind mit einer hellblauen Farbe gestrichen, was Wasser oder Himmel andeuten kann. Die vier Grundelemente: Erde, Wasser, Feuer und Luft sind darstellbar. Zwei Sandkästen sollten dem Spielenden zur Verfügung stehen: Ein Kasten beinhaltet trockenen, rieselfähigen Sand, der andere nassfeuchten Sand. • Sand Sand und Wasser sind Urmaterialien, in deren Stofflichkeit der weiblich-mütterliche Aspekt („mater“) und symbolischen Aspekte wie Instabilität, Unbeständigkeit und Qualitäten wie Reinheit und Unendlichkeit mitschwingen.97/ 98/ 99 91 ebenda, S. 15 92 vgl.: Kalff, Dora M.: Einführung in die Sandspieltherapie. In: Zeitschrift für Sandspieltherapie. Berlin 1992, Nr. 1 ,S. 8 93 Quadratische Kastenformen können durch ihre vorgegebene Symmetrie vorschnell zur Gestaltung mandalaartiger, zentrierter Sandbilder führen und damit Fehldeutungen begünstigen. Derart zentrierte Bilder würden eine „Selbst“-Findung vortäuschen, die aber nicht dem inneren Prozess des Probanden entspricht. Dora M. Kalff wies immer wieder auf die Tendenz der Psyche hin, Zentrierungen und Ganzheitssymbole zu bilden. Es sei wichtig, „dass die Symbole, welche auf die Ganzheit zielen (...), richtig verstanden werden. Sie bilden nämlich das Hilfsmittel, mit dem sich neurotische Dissoziationen aufheben lassen, indem sie dem Bewusstsein wieder jenen Geist und jene Haltung zuführen, welche seit jeher von der Menschheit als lösend und heilend empfunden wurden.“ Jung, C. G.: a.a.O., GW XI, S. 208 94 zur Symbolik des Gefäßes vgl. bei C. G. Jung: GW, Bd. 6, § 406 95 vgl.: Ammann, R. (1989): a.a.O., S. 35 und S. 41: R. Ammann stellt ihn im übertragenen Sinne als das alchimistische Gefäß vor, in dem sich die Wandlung der psychischen Substanz vollziehe. Es sei der geschützte Ort, eine Art Uterus und Mutterbauch, in dem eine ganzheitliche Erneuerung und Wiedergeburt möglich wird. 96 Ammann, R.: Der Sandkasten als Garten der Seele. In: Zeitschrift für Sandspieltherapie, Nr. 4, Berlin 1995, S. 4. 97 Cooper, J. C.: Illustriertes Lexikon der traditionellen Symbole, S.153 „Im Islam steht der Sand für Reinheit; denn wenn kein Wasser zur Verfügung steht wird er für rituelle Waschungen verwendet.“ 98 vgl. Eliade, Mircea: a.a.O., S. 126: Die reinigende Funktion des Sandes bzw. der Erde ist aus alten Traditionen überliefert. So wird nach alten Bräuchen das Kind nach der Geburt auf die Erde gelegt, damit es durch Vater und Mutter legitimiert wird. Auch im Fall der Krankheit werden Kinder und auch Erwachsene in 214 Generell kann der Sand dazu benutzt werden, Dinge, Figuren, Symbole mehrdimensional hineinzuzeichnen. Der trockene Sand ist rieselfähig, weich und gefühlvoll, er erlaubt in einem eher „leichteren“ Spiel auch die Darstellung von Wüsten und heiß – trockenen Erdbereichen. Er lässt keine soliden Formen zu, hat eher einen flüchtigen Charakter, eine Darstellung der dritten Dimension ist kaum möglich. Mit Wasser vermischt erhält der Sand schwere, dunkle, feucht – erdhafte Qualitäten. Mit Hilfe dieses Sandes können Bilder entstehen, die dreidimensionalen Charakter haben, Landschaften mit Bergen und Tälern aufweisen, aber auch, je nach Stärke der Addition von Wasser, Sumpf- und Überschwemmungscharakter erhalten. Die Verwendung der Sandbeschaffenheiten ist auch ein Ausdruck für die unterschiedliche Nähe zum Unbewussten. Der feuchte Sand, der den Erd- oder Körperbereich symbolisiert, ist dem Unbewussten deutlich näher, als der leicht flüchtige, „geistige“, trockene Sand.100 Die Entscheidung, ob für das Sandspiel trockener oder nasser Sand ausgewählt wurde, kann wichtig sein.101 • Das Element Wasser „Es ist das Wasser eines der vier Elemente und damit von höchstem Range unter den Dingen (...) Kein organisches Leben ist denkbar ohne das Wasser, obwohl es an sich keine Nahrung darstellt. (...) Das Wasser ist vor allem ein Symbol des Unbewussten selbst.“102 Das Wasser ist ein weiteres Grundelement im Sandspiel. Verschiedenste Konnotationen, Assoziationen und Erinnerungen schwingen in ihm mit. Wertvolle Lebensräume, belebende traditionellen Bräuchen auf die Erde gelegt bzw. eingegraben. Dieser Ritus des symbolischen Begrabens bedeutet eine Neugeburt und hat im Grunde genommen denselben religiösen Wert wie das Eintauchen in Wasser für eine Taufe. 99 Herder Lexikon der Symbole: S. 137: „Wegen der unermesslichen Vielzahl seiner Körner [gilt er als] Symbol der Unendlichkeit.“ 100 Ammann, Ruth: Der Sandkasten als Garten der Seele, in: Zeitschrift für Sandspieltherapie, Berlin 1995, Nr. 4, S. 12: „Das Eintauchen in die ungeformte Masse des feuchten Sandes bedeutet ein Hineingehen in die uns unbekannte Materie, und das langsame Formen dieser Masse aktiviert einen Bewusstwerdungsprozess über das schöpferische Gestalten. Die Alchimisten nannten die ungeformte Masse „Massa Confusa“, die Ausgangsmaterie, die in einem langsamen schöpferischen Prozess gewandelt, verfeinert und geformt wurde. Hand in Hand mit der Gestaltung der äußeren, konkreten Materie ging ein innerer, seelisch – geistiger Bewusstwerdungsprozess. (...) Die Begegnung mit dem Sand als dem ungeformtesten Material bedeutet ein wirkliches Abenteuer, nämlich die Begegnung mit dem Unbekannten, dem Unbewussten. Nach meiner Erfahrung bringt das Berühren und das Arbeiten mit dem Sand tiefe Emotionen und Körpergefühle hervor und aktiviert die verschiedensten Reaktionen auf der organischen Ebene (was nicht harmlos ist und sorgfältig beobachtet werden muss). Ich meine, dass durch das Spiel mit dem Sand die unbewusstesten Schichten der heutigen Menschen, nämlich die Emotionalität, die Gefühlswelt und der Bezug zum Körper belebt und bewusst gemacht werden können.“ 101 Kalff, Martin: 20 Punkte zur Interpretation des Sandspiels, in: Zeitschrift für Sandspieltherapie, Berlin 1996 (Nr. 5) S. 47 f.: „Hier ist zu berücksichtigen, ob trockener oder nasser Sand gewählt wurde. Manchmal werden Gründe dafür genannt. So fühlt sich manchmal nasser Sand eher „schmutzig“ an und ruft „unangenehme Gefühle“ hervor oder ist „lustig, damit zu spielen“, während trockener Sand keine solide Form abgibt und einen fließenden Charakter hat etc. (...) Während des Sandspiels beobachten wir, ob der Sand unberührt blieb oder ob er in Form gebracht, festgeklopft oder aufgewühlt wurde, ob der Kontakt damit Gefühle hervorgerufen hat (...) oder nicht etc. Die Abneigung, den Sand zu berühren oder zu formen, kann ein Hinweis sein für die Angst vor unbewussten Anteilen oder für die Schwierigkeit, eine Beziehung zur körperlichen Seite des Lebens herzustellen. Das Festklopfen des Sandes ist je nachdem bezeichnend für das Bedürfnis Gefühle zu kontrollieren oder auf deren Kontrolle angewiesen zu sein, aus Angst vor den unbewussten Anteilen oder aufgrund einer zwanghaften Abwehr.“ 102 Aeppli, Ernst: Der Traum und seine Deutung (Zürich 1943), Knaur Verl. München 1987, S. 278 215 und gliedernde Landschaftselemente. Bäche, Wasserläufe, Brunnen und Teiche sind in der Lebenswelt meist Attraktionen. Im Sandspiel bietet der blaue Untergrund die Möglichkeit, Wasser in jeglicher Form darzustellen, einen Zugang zu unbewussten Schichten anzudeuten.103 Es gilt als „(...) Lebensspender und Lebenserhalter, (...) Symbol des unbewussten Selbst. Denn wie dieses entsteigt es dem Dunklen. Als Quelle bricht es aus dem Schoß des Bodens, aus dem verschlossenen Fels. Als unbewusste Energie strömt es im Gleichnis großer oder kleinerer Wasserläufe durch die Landschaft der Seele, dehnt es sich als abgrundtiefes Meer in die fernste Weite. (...) Das Wasser als ein Symbol des Unbewussten kann wie das wirkliche Wasser ein gefährliches Element darstellen, wenn es seine Grenzen überschreitet, wenn das Gleichgewicht der Elemente gestört ist.“104/105 Es ist in seiner Polarität von „belebend“ bis „verschlingend“ anzutreffen106. • Die Figurensammlung „Das vom Kind mit einer Auswahl aus hunderten von kleinen Figuren hergestellte Sandbild kann als dreidimensionale Darstellung einer psychischen Situation aufgefasst werden. Ein unbewusstes Problem wird wie ein Drama im Sandkasten aufgeführt. Der Konflikt wird von der inneren Welt in die äußere transponiert und sichtbar gemacht. Dieses Phantasiespiel beeinflusst die Dynamik des Unbewussten und wirkt so auf seine Psyche ein.“107 Die Figuren- oder auch Miniaturensammlung sollte dem Spieler die Möglichkeit eröffnen, eine innere Welt zu gestalten, die seinen Objektvorstellungen entspricht. Aus einer großen Anzahl von Dingen kann er das für ihn wichtige aussuchen, das ihm etwas bedeutet. 103 Neumann, Erich: Die große Mutter, S. 58: „Zu den Natur – Elementen, die ihrem Wesen nach mit der Gefäßsymbolik verbunden sind, gehört neben der Erde auch das Wasser. Dieses enthaltene Wasser als Urschoß des Lebens, aus dem in unzähligen Mythen das Lebendige geboren wird, ist „unteres“ Wasser oder Wasser der Tiefe als Untergrundwasser und Meer, als See und Teich.“ 104 Aeppli, Ernst: Der Traum und seine Deutung, a.a.O., S. 279 f. 105 Wasser symbolisiert „als ungeformte, undifferenzierte Masse (...) die Fülle aller Möglichkeiten oder den Uranfang alles Seienden, die Materia prima. In diesem Sinne erscheint es in zahlreichen Schöpfungsmythen. (...) Das Wasser ist auch ein Symbol der körperlichen, seelischen und geistigen Reinigungs- und Erneuerungskraft sowohl im Islam, im Hinduismus und Buddhismus als auch im Christentum. In diesen Zusammenhang gehören auch die Vorstellungen vom Wasser als Jungbrunnen. In China ist das Wasser dem Prinzip Yin zugeordnet, auch in anderen Kulturen wird das Wasser zumeist mit dem Weiblichen, der dunklen Tiefe und mit dem Mond in Verbindung gebracht. Weltweit verbreitet ist die mit Fruchtbarkeit und Leben zusammenhängende Symbolik des Wassers, das unter diesem Aspekt gelegentlich der Wüste gegenüber gestellt wird. Auch die geistige Fruchtbarkeit und das geistige Leben werden häufig durch das Wasser symbolisiert. (...) Das Wasser kann aber auch als zerstörerische Macht destruktiven, negativen Symbolcharakter haben, z. B. als Sintflut. Die Psychoanalyse sieht im Wasser vorwiegend ein Symbol des Weiblichen und der Kräfte des Unbewussten.“ Herder Lexikon Symbole: a.a.O., S. 179 106 Das Symbol sollte in Bezug zum biographischen Kontext stehen: So kreiert z.B. jemand im Sand eine urwüchsige, überschwemmte Landschaftsstruktur und sagt dazu, dass er die Erschaffung der Welt darstellen möchte: Auf der Erde war es noch wüst und unheimlich, es war finster und Wasserfluten bedeckten alles (Genesis 1,2). Nach Cooper, J. C.: a.a.O., S. 209 steht das Wasser für die „Quelle aller Möglichkeiten des Seins“ (...) Ursprung und Grab aller Dinge im Universum; das Undifferenzierte; das Nichtmanifeste; die erste Form der Materie. Alle Wasser sind symbolisch für die große Mutter und stehen im Zusammenhang mit der Geburt, dem weiblichen Prinzip, dem Weltenschoß, der Prima Materia, den Wassern der Fruchtbarkeit und Stärkung und mit der Quelle des Lebens.“ 107 Kalff, Dora M. (1996): a.a.O., S. 15 216 Abb. 11: Sandkasten und Figurensammlung Quelle: Fotografie aus eigener Sandspielpraxis Er „formt im Sand Hügel, Tunnels oder Ebenen, Seen und Flüsse, gerade so, wie es (er, sie; Anm. des Verfassers) eben aus seiner Situation heraus die Welt sieht, und lässt darin die Figuren so handeln, wie es sie in seiner Phantasie erlebt. Das Kind (und natürlich auch der Erwachsene, Anm. d. Verf.) ist also völlig frei in der Gestaltung, in der Wahl der Figuren und ihrer Verwendung. Aber so, wie echte Freiheit immer eine Begrenzung voraussetzt, so setzt das auf den Menschen zugeschnittene Maß des Sandkastens dem Dargestellten eine Grenze, innerhalb derer sich die Wandlung vollzieht. Das Kind erlebt also ganz unbewusst das, was ich als den freien und zugleich geschützten Raum bezeichne.“108 Die Sandspiel-Figurensammlung ist nicht standardisiert und daher nicht als komplette Sammlung wie beim Scenotest109 käuflich erwerbbar. Sie ist in der Regel das Ergebnis eines jahrelangen individuellen Sammelprozesses der PsychotherapeutInnen / DiagnostikerInnen. Die Differenziertheit der über die „Standardmaterialien“ hinausgehenden Figuren spiegelt somit auch die Persönlichkeit der TherapeutInnen wider. Dora M. Kalff lud die Klienten ein, „die Regale zu betrachten, bis Sie etwas sehen, das zu Ihnen spricht. Setzen Sie es in den Sandkasten und fügen Sie soviel weitere Figuren, wie Sie möchten, dazu.“110 108 ebenda, S. 24 109 von Staabs, Gerthild: Der Scenotest, Beitrag zur Erfassung unbewusster Problematik und charakterologischer Struktur in Diagnostik und Therapie. 7. Auflage Bern, Stuttgart, Toronto: Huber 1988: Beim Scenotest ist die Anzahl der Figuren, das für den Test vorgegebene Material standardisiert. Dieser Test vermittelt in konkreter Form einen unmittelbaren Einblick in die innerseelische Einstellung der Versuchsperson gegenüber den Menschen und Dingen in der Welt, besonders in ihren affektiven Bezügen unter spezieller Berücksichtigung tiefenpsychologischer Faktoren. 110 Bradway, Kay: A womans individuation through Sandplay. In: Bradway, Kay, et al. (Hrsg.): Sandplay Studies, Origins, Theory and Practice, 133 – 156, C. G. Jung Institute, San Francisco. Neue Auflage (1990) Sigo Press, Boston; zitiert bei Mitchell, Rie Rogers; Friedman, S. Harriet: a.a.O., S. 174 217 Folgende Materialien bilden die Basis einer Sammlung111: Häuser und Bauwerke Gebäude: verschiedene Arten von Häusern. Kirchen, Schulen, Läden, öffentliche Gebäude, Leuchtturm, Wasser- und Windmühle. Alte und neue Gebäude. Schlösser und Burgen. Bauformen und Wohnungen fremder Kulturen, z.B. Zelt, Iglu, Höhle Andere Bauwerke: Brücken, Zäune, Brunnen, Türme. Natur Erde: Felsen, Steine, Vulkan, Berge, Halbedelsteine und Kristalle. Meer: Korallen, Muscheln, Seetang, Treibholz. Pflanzen: Bäume unterschiedlicher Art, sowohl aus natürlichen Materialien als auch aus Plastik. Büsche und Sträucher, Baumrinde, Zweige und Wurzeln, Moos und Flechten, Blumen und Gemüse, Früchte und Samen. Menschliche Wesen Leute des täglichen Lebens: Bei der Arbeit, laufend, sitzend, spielend. Familien vergleichbarer Größe und Kinder unterschiedlichen Alters. Berufe: Bauern, Ärzte, Krankenschwestern, Feuerwehrmänner, Geistliche, Sportler, Polizisten; als Frauen und Männer. Phantasiewesen: Zauberer und Hexen, Schlümpfe und Zwerge, Science-fiction, Aliens. Einschließlich schrecklicher und Angst einflößender Figuren. Verschiedene Kulturen: Leute aller Zeiten, verschiedener Rassen und sozialer Schichten; Urmenschen; Clowns und Musiker, Soldaten und Könige, Cowboys und Indianer. Es sollte immer eine ausreichende Anzahl von Figuren angeboten werden, um eine ganze Szene darstellen zu können. Religionen: Miniaturen unterschiedlicher Kulturen. Tiere Sowohl bei domestizierten wie bei wildlebenden Tieren ist es sinnvoll, ganze Familien (Vater, Mutter, Kinder) sowie Tiere in unterschiedlichen Positionen zu haben. 111 vgl. die Ausführungen von Hegemann, Grete: Die Figurensammlung für das Sandspiel. In: Zeitschrift für Sandspiel-Therapie, Nr. 2, Berlin 1993, S. 63 f. 218 Wilde und frei- lebende Tiere: Tiere aus Afrika, Asien, Australien, aus aller Welt: Vögel, Schlangen, im Wasser lebende Säugetiere, Fische, Insekten. Domestizierte Tiere: Pferde, Kühe, Stiere, Schafe, Schweine, Hühner, Hunde, Katzen Prähistorische Tiere: Dinosaurier: Fleischfresser und Pflanzenfresser. Phantasietiere: Drachen, Einhörner, Monster. Gegenstände Verkehr: Fahrzeuge zu Land, zu Wasser und zu Luft. Militärische und berufliche Transportgeräte. Historische Transportmöglichkeiten. Gerätschaften: Arbeitsausrüstungen, Geräte für Haushalt und Landwirtschaft, Musikinstrumente. Möbel: Puppenhaus: Badezimmer, Küche, Schlaf- und Wohnzimmer. Verschiedenes Spiegel, Fahnen, Schirme, Federn, Kerzen mit Streichhölzern, Feuer, Faden, Knetmasse, Pfeifenputzer und weitere Materialien zum Basteln und Bauen, insbes. auch Naturmaterialien, wie z. B. Steine, Holz, Glaskugeln, Muscheln, etc. Symbole aus fernen Ländern sind erforderlich, um z. B. unbekannte oder neue Aspekte der psychischen Entwicklung darstellen zu können. Andererseits mögen sie auch einen fehlenden Realitätsbezug charakterisieren. Diese Auflistung von Miniaturen mag einen ersten Überblick geben, welche Figuren zur Erstellung eines differenzierten Umfeldes hilfreich sind. Erfahrungsgemäß lassen sich nicht immer alle Figuren in einer beliebigen Häufigkeit vorfinden. Rohmaterialien regen dazu an, eigene Konstruktionen zu entwerfen. Um verschiedene Symbolaspekte darstellen zu können, sollten nicht nur schöne, helle Gegenstände und Figuren zur Verfügung gestellt werden. Dunkle, hässliche, böse, Furcht erregende und beschädigte Figuren können u.U. Schattenbereiche in der Psyche zum Vorschein treten lassen. Der Baum, ein „Symbol des Lebens“, kann Aspekte des derzeitigen Befindens ausdrücken. So benötigt man z.B. üppig blühende Bäume, von Früchten überquellende Obstbaumbestände, Orangenhaine, Laubbäume mit großen Kronen, die uns den Rhythmus des Lebens und den Lauf der Jahreszeiten ankündigen und Schutz konnotieren. In 219 trockenen, verdorrten Wüstenzonen dagegen überleben oft nur die Sukkulenten. Palmen machen Hoffnung auf eine Oase in der Wüste. Erscheinen Krüppelkiefern, abgestorbene oder vertrocknete Bäume, so sind möglicherweise die vegetativen Kräfte und auch die Lebensenergie bzw. die Lebensfreude des Analysanden zeitweilig reduziert oder aufgezehrt. Ein großes Angebot von Figuren im Sandspielraum stellt m.E. kein Problem dar. Wenn ein Klient sich überfordert zeigt, so hat dies meist eine diagnostische Bedeutung. Wichtig ist allerdings, dass man keine Miniaturen anbieten sollte, deren kulturelle, religiöse bzw. mythologische Bedeutung man nicht genau kennt, also deren symbolischen Grundbedeutungsgehalt man nicht erfassen kann. Die Verwendung von Figuren kann ein entscheidendes Interpretationskriterium sein, z.B. „ob Figuren benutzt werden oder nicht; wenn ja, versuchen wir herauszufinden, ob eine bestimmte Kategorie von Figuren benutzt wurde. Wird es gänzlich vermieden, Figuren zu benutzen und nur abstrakte Formen im Sand gestaltet, kann dies in vielen Fällen als Zeichen von Widerstand gedeutet werden. (...) An der Wahl der Figuren lässt sich gewöhnlich mehr ablesen als an einem abstrakt gehaltenen Bild ohne Figuren. Es kann aber auch andere Gründe geben, auf Figuren zu verzichten. Einige tiefere innere Bewusstseinsschichten sind eher abstrakter Natur; dies will der Klient vielleicht ohne Figuren ausdrücken. Wenn aber Figuren benutzt werden, sollten wir darauf achten, ob es zum Beispiel ausschließlich menschliche Figuren sind, keine Tiere also, ob die benutzten Figuren alle weiblich sind, alle friedlich, etc. Auch das Auftreten oder Fehlen von Vegetation kann ein wichtiger Hinweis auf den inneren Zustand des Klienten sein (zum Beispiel das Auftreten von Grün nach einer langen Sequenz von Bildern ohne jede Vegetation).“112 • Der „freie und geschützte Raum“ Ohne Sigmund Freuds Entdeckung der Psychoanalyse wäre weder die Praxis der Analytischen Psychologie noch das Therapeutische Sandspiel vorstellbar. „Freud hat das Setting erfunden, dass zwei Personen sich regelmäßig zu derseIben Zeit an demselben Ort treffen, die üblichen Kommunikationsformen ausschließen und sich in definierter Weise dem Hier und Jetzt widmen. Diese Erfindung hat eine kulturelle Revolution ausgelöst. Freud hat entdeckt, dass sich bei Wiederholung der Raum, die zwei Menschen, die Worte, die Blicke, alles mit psychischer Energie auflädt. Er hat entdeckt, was Dora M. Kalff später „den freien und geschützten Raum“ nannte.“113 In diesem Begriff sind mehrere Bedeutungsebenen enthalten: Der geschützte atmosphärische Beziehungsraum der therapeutischen Situation zwischen Analytiker und Analysand und die beschützenden und gleichzeitig Freiraum schaffenden Grenzen des Sandspielraumes. Im übertragenen Sinn bildet der Sandkasten diese Freiraum-Situation als pars pro toto ab durch seine vorgegebenen Ausmaße. In dem „freien und geschützten Raum“ können sich psychische Kräfte sammeln und konstellieren, der Klient wird sich so angenommen fühlen, wie er ist. Hier kann er spüren, dass dieser geschützte Raum ihm ganz 112 Kalff, Martin: Zwanzig Punkte zur Interpretation des Sandspiels. In: Zeitschrift für Sandspiel-Therapie, Nr. 5, Berlin 1996, S. 49 113 Pattis, Eva: a.a.O., S. 8 220 zur Verfügung steht. Für manchen Sandspielenden entsteht aus meiner Erfahrung ein bis dato noch nicht bekanntes Gefühl von Freiheit, Freiraum und Angenommensein.114 Die Haltung des Therapeuten bezeichnete Dora M. Kalff als „einen Zustand der „aufnehmenden Offenheit“, innerlich frei und akzeptierend, nicht wertend. Nicht die Erklärung oder die Bewertung zählt, sondern die Erfahrung, die der Sandspieler macht.115 Interpretierende intellektuelle Ansätze können die frisch geschaffenen inneren Bilder völlig zerstören. Das Typologie - Modell C. G. Jungs im Therapeutischen Sandspiel Gelegentlich wird die Frage gestellt, ob für das Spielen im Sand bestimmte Ich- Funktionen von Vorteil sind. Diese Fragestellung hat Jörg Rasche untersucht und festgestellt, dass ein gestaltetes Sandbild zunächst die Empfindungsfunktion am ehesten anspricht. Dies sei dadurch erklärbar, dass die Empfindung (und neben ihr die Intuition) diejenige Funktion ist, die das Kind zuerst entwickelt, um sich in der Welt zurechtzufinden: „Sie ist „ein Element des Vorstellens“, und in ihrer abstrakten Form stellt sie die „ästhetische Wahrnehmung“ dar.“116 Das Sandspiel vermag auch Fähigkeiten, bestehende Einseitigkeiten zu korrigieren bzw. Einstellungen zu erweitern. Damit kann es die Herausforderung annehmen, einen Gegenpol gegen die moderne Überwertigkeit der Denkfunktion und Rationalität anzubieten. „Es ist die Frage, inwieweit in ihrer Typologie inzwischen die Denkfunktion die Empfindung überwiegt. Ich habe auch schon Adoleszente beiderlei Geschlechts gesehen, die mit Phantasie ästhetisch eindrucksvolle Sandbilder gebaut haben, während ihre reale Lebenssituation für ihre kreativen Bedürfnisse kaum Raum bot. Dann ist es so, dass das Sandspielangebot gerade die Empfindungsfunktion der Patienten angesprochen hat, die vielleicht im Begriffe stand, zugunsten etwa des Denkens zur unentwickelten („minderwertigen“) Funktion zu werden.“117 Ausgeprägt rationale Menschen mit einem großes Bedürfnis zur Selbstkontrolle haben nach meiner Erfahrung oft Anlaufschwierigkeiten, sich auf den Sand einzulassen. Sich vertrauensvoll in unbewusste Prozesse fallen lassen zu können, erfordert ein Loslassen von der Kontrolle und das Vertrauen, in diesem Prozess sorgfältig therapeutisch begleitet zu werden. Um dieses Gefühl aufzubauen, ist gerade bei einer superioren Denkfunktion und 114 „Dieser freie Raum in der therapeutischen Situation ergibt sich dann, wenn der Therapeut das Kind völlig annehmen kann, so dass er innerlich ebenso intensiv an allem, was da vor sich geht, beteiligt ist wie das Kind selbst. Wenn dieses spürt, dass es in all seiner Not aber auch in seinem Glück nicht allein ist, fühlt es sich in seinen Äußerungen frei und doch geschützt. Ein solches Vertrauensverhältnis ist darum so wichtig, weil es unter Umständen die Situation der ersten Phase, diejenige der Mutter – Kind – Einheit wiederherstellen kann. Damit wird eine psychische Situation des In – sich – Ruhens geschaffen, die gleichzeitig alle Kräfte zur Persönlichkeitsentwicklung, sowohl intellektuelle als auch geistige, im Keim enthält. Es ist Aufgabe des Therapeuten, diese Kräfte zu erkennen und sie wie der Hüter eines kostbaren Gutes, in ihrer Entwicklung zu beschützen. Als „Hüter“ bedeutet er für das Kind den Raum, die Freiheit und zugleich die Grenzen. Eine individuell bemessene Begrenzung ist deshalb bedeutsam, weil eine Verwandlung der Energien nicht im Uferlosen sondern nur innerhalb der Grenzen des Einzelnen erfolgreich vor sich gehen kann.“ Kalff, Dora M.: Sandspiel, a a.O., S. 10 115 Kalff, Dora M.: zit. bei: Mitchell, Rie Rogers; Friedman, S. Harriet: Konzept und Anwendung des Sandspieles, a.a.O., S. 100: „Der Zustand von Freiheit, den der Therapeut anstreben sollte, ist eine Freiheit, die durch seine bloße Gegenwart, also nonverbal kommuniziert wird. In einer solchen Situation kann der Patient langsam die verwandelnde Kraft der Freiheit in sich selbst entdecken.“ 116 Rasche, Jörg: a.a.O., S. 130 117 ebenda 221 damit inferioren Fühlfunktion des Klienten viel Geduld auf Seiten des Therapeuten erforderlich. „Die Fähigkeit, Bilder aufzubauen und sich ihrer durch Neukombination zu neuen Mustern konstruktiv zu bedienen, hängt – anders als bei Träumen oder Phantasien – von der Fähigkeit des Einzelnen ab, vertrauen zu können.“118 7.5. Transformations- und Entwicklungsprozesse im Sandspiel Zwei verschiedene Arten von Sandspielprozessen kann man (neben der Sandspieldiagnostik) voneinander unterscheiden: „Den heilenden Prozess und den Prozess der Transformation der persönlichen Weltsicht.“119 • Heilende Prozesse Der heilende Prozess wird insbesondere bei Klienten stattfinden, die an einer Störung oder Verletzung in der früheren Kindheit oder auch vor der Geburt leiden, an einer sogenannten Urbeziehungsstörung, wie ich sie weiter oben schon erläutert hatte. In diesem Fall wird der therapeutische Prozess in die tiefer liegenden Erlebnisschichten des Klienten führen. In einer kreativen Regression geht die psychische Energie zurück bis auf den gesunden Seelenkern, bis auf den Lebensabschnitt, wo aus entwicklungspsychologischer Sicht Defizite oder/und Konflikte aufgetreten sind. Durch das Sandspiel kann dann auf einer gesundeten Basis ein Neuaufbau der Persönlichkeit möglich werden mit dem Ziel einer konstruktiven Persönlichkeitsveränderung.120 C. G. Jung hat keine eigene entwicklungspsychologische Theorie verfasst. Dieses entwarf Erich Neumann121, auf den sich auch Dora M. Kalff beruft. Er differenzierte die Ich- Entwicklungsstufen als die: 1. animalische, vegetative Stufe 2. Kampfphase, und 118 Winnicott, W.D.: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart 1987, S. 119, zit. nach Fred Plaut. In: Rasche, J.: a.a.O., S. 192 119 Ammann, Ruth: Heilende Bilder der Seele, a.a.O., S. 17 120 vgl. Ammann, Ruth 1989: a.a.O., S. 18 121 Die analytische Psychologie ist der Überzeugung, dass der Mensch nicht als „Tabula rasa“ geboren wird, sondern dass von Anfang an das kollektive Unbewusste mit den Inhalten des allgemeinen Menschseins in dem Individuum vorhanden ist. Das Selbst ist allumfassend und das dirigierende Zentrum der Ganzheit der Persönlichkeit zugleich. Das Selbst bestimmt von Geburt an den psychischen Entwicklungsprozess des Menschen, aber es ist in der frühesten Dualunion eines Kindes mit der Mutter noch mit dem Selbst der Mutter verbunden. Diese erste, sogenannte uroboroische Entwicklungsphase bezeichnet Erich Neumann auch als postuterine Embryonalzeit. Dabei verweist er auch auf den von Portmann geprägten Begriff der sozialen Uteruszeit, in der der neugeborene Mensch „das Mütterliche“ positiv als selbstverständliche Sicherheit, Ernährendes, Schutz und Geborgenheit erfahren sollte. Nach etwa einem Jahr löst sich das Selbst des Kindes aus dem Selbst der Mutter, das Kind lebt nicht mehr die Mutter – Kind – Einheit, sondern erfährt Geborgenheit und Vertrauen im Beziehungsverhältnis zur Mutter. Diesen Zeitpunkt der Manifestierung des Selbst im Kind bezeichnet Maria Schlingschröder als die eigentliche Geburt: „Von da an beginnt die Ich- Selbst- Achse, die Beziehung des Ich zum Selbst, als ein Grundphänomen der Psyche sichtbar zu werden. (...) Dieser Prozess zeigt sich in einer beginnenden Ich-Du, Subjekt-Objekt-Trennung ebenso wie in einer beginnenden Beziehung zum Du als auch zur Welt als einem Gegenüber. Das Hinüberwandern des bis 222 3. Anpassung an das Kollektiv. „Das Ich zeichnet sich also zunächst in Bildern ab, in denen Tiere und Vegetation vorherrschen. Die nächste Stufe bringt die vor allem in der Pubertät immer wieder auftretenden Kampfhandlungen. Das Kind ist nun schon so weit gestärkt, dass es den Kampf mit äußeren Einflüssen auf sich nehmen und sich mit ihnen auseinandersetzen kann. Schließlich wird es in der Umwelt als Person aufgenommen und eingegliedert.“122 Im Modell der Analytischen Psychologie ist die Manifestierung des Selbst als Basis für das Ich besonders bedeutsam. Dora M. Kalff bezeichnete „die Manifestation des Selbst (...) als den wichtigsten Augenblick in der Entwicklung der Persönlichkeit. (...) Bei der psychotherapeutischen Arbeit hat es sich erwiesen, dass das Ich sich nur aufgrund einer gelungenen Manifestierung des Selbst, sei es als Traumsymbol oder als Darstellung im Sandkasten, gesund entwickeln kann. Eine solche Manifestierung des Selbst scheint mir Gewähr für die Entfaltung und Konsolidierung der Persönlichkeit zu sein.“123 Diese symbolvermittelte Manifestation des Selbst „sollte“ in der Regel im Alter von ca. zwei bis drei Jahren stattgefunden haben. Bei einem schwachen Ich ist anzunehmen, das diese Basis, die therapeutisch „bis zu einem gewissen Grad auf jeder Stufe nachgeholt werden kann“, nicht stattgefunden hat. Wird die frühkindliche Entwicklung gestört, kann sich das Selbst nicht entfalten, so wird nach Erich Neumann der Ich – Kern lediglich in Form eines „Not – Ichs“ ausgebildet. „Mit dem Sandspiel hat man nun die Möglichkeit, nicht nur tief in die eigene Kindheit, sondern analog tief in die Kindheit der Menschheit zu regredieren.“124 Die therapeutische Arbeit ist somit die Nacharbeitung oder Reparatur der Mutter-Kind-Dyade im freien und geschützten Raum. Die Psychoanalytikerin Eva Pattis bezeichnet das Sandspiel als Dora M. Kalffs „Zeitmaschine“, wohl wissend, dass Experimente mit Zeitmaschinen auch gefährlich sein können. Die Gefahr bestehe u.a. darin, in einer Regression stecken zu bleiben. In der „normalen“ kindlichen Entwicklung zeigt sich das Ereignis der Selbstmanifestation etwa im 3. Lebensjahr: Kinder beginnen als äußere Zeichen runde „Kritzeleien und Kopffüßler“ zu malen. Im Sandspiel erscheinen oft ebenso diese zentrierten „Selbstmanifestationen“ in Form von mandalaartigen Gestaltungen (siehe Abschnitt „idealtypischer Verlauf“).125 • Transformatorische Prozesse Ein Sandspielprozess kann sich als transformatorischer Prozess der persönlichen Bewusstseinserweiterung entfalten, oder als Individuationsweg. Einige Menschen kommen zum Sandspiel, weil sie etwas bedrückt oder sie spüren, dass sich eine Wandlung in ihnen anbahnt bzw. erforderlich ist. Sie beginnen den Sandspielprozess bewusst und nicht forciert durch ein Leiden. Psychische Wandlungen im Rahmen eines transformatorischen dahin in der Mutter quasi inkarnierten Selbst in das Kind ermöglicht die Entfaltung der keimhaften Ich – Anlage und damit des Bewusstseins. (Schlingschröder, M.: a.a.O., S. 32 f.) 122 Kalff, Dora M.: (1996), a.a.O., S. 16 123 ebenda, S. 9 124 Pattis, Eva: a.a.O., S. 7 125 vgl.: Kalff, Dora M.: (1996), a.a.O., S. 10 ff. 223 Prozesses, „die die Weltsicht eines Menschen grundsätzlich verändern, setzen ein gesundes Ich- Bewusstsein und Selbstwertgefühl voraus und bilden Stufen im Individuationsprozess eines Menschen.“126 C. G. Jung hat die positiven, integrierenden Wirkungen des Spieles durch die Auseinandersetzung mit den Unbewussten am eigenen Leib erfahren. Nach der Trennung von Sigmund Freud fühlte er sich in einer Phase innerer Unsicherheit und Desorientiertheit; er hatte seinen Weg noch nicht gefunden. Er versuchte, sich in seine Kindheit zu versetzen, um die Ursachen herauszufinden. Dabei erkannte er, dass die Rückschau mit „dem Kopf“ allein ihm keine zufriedenstellenden Ergebnisse brachte. „Da sagte ich mir: „Ich weiß so gar nichts, dass ich jetzt einfach das tue, was mir einfällt.“ Damit überließ ich mich bewusst den Impulsen des Unbewussten.“127 Er beschreibt, wie in ihm emotionale Erinnerungen an seine Kindheit aufstiegen, als er mit Naturmaterialien zu spielen begann. „Es schien mir unmöglich, die Distanz zwischen der Gegenwart, dem erwachsenen Mann, und meinem elften Jahr zu überbrücken. Wollte ich aber den Kontakt mit jener Zeit wieder herstellen, so blieb mir nichts anderes übrig, als wieder dorthin zurückzukehren und das Kind mit seinen kindlichen Spielen auf gut Glück wieder aufzunehmen. Dieser Augenblick war ein Wendepunkt in meinem Schicksal, denn nach unendlichem Widerstreben ergab ich mich schließlich darein zu spielen. (...) So machte ich mich daran, passende Steine zu sammeln, teils am Ufer des Sees, teils im Wasser, und dann begann ich zu bauen: Häuschen, ein Schloss – ein ganzes Dorf. (...) Dabei klärten sich meine Gedanken, und ich konnte die Phantasien fassen, die ich ahnungsweise in mir fühlte. (...) Das Bauen war nämlich nur ein Anfang. Er löste einen Strom von Phantasien aus, die ich später sorgfältig aufgeschrieben habe.“128 Sand und Hände verbinden Körper, Psyche und Geist Die Ausführungen bei C. G. Jung verdeutlichen, wie sich Gedanken und Phantasien durch die Aufarbeitung unbewusster Bilder „klären“ können. Das Sandspiel verbindet Körper, Geist und Psyche, und es ist eine geeignete Methode, der einseitig gelebten „Überrationalität“, der entzweienden „Dualisierung von Welt“129, entgegenzuwirken. Es bietet an, durch das Gestalten innerer Bilder mit den Händen, die Dualität von Körper und Geist wieder zu einer Ganzheit zu verknüpfen. Dabei kommt den Händen eine besondere Mittlerfunktion zu, die die Jungsche Analytikerin Eva Pattis beschrieben hat. Sie führt aus, dass kein psychoanalytischer Theoretiker für die frühesten Entwicklungsphasen außer der Theorie auch ein entsprechendes Ausdrucksmittel erfunden habe.130 Das Sandspiel „ist als einzige Therapieform in diesem Sinne konsequent: Im präverbalen und präsymbolischen Bereich werden konkrete Objekte geformt und bewegt. Die Hände, also der Körper übernehmen die Führung und nicht die erzählende Sprache. Das 126 ebenda, S. 19 127 Jaffé, Aniela (Hrsg.): Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung. Olten 1971, S. 177 128 ebenda 129 vgl.: Schmals, Klaus M.: Die Dualisierung der Welt (unveröffentlicht) 130 vgl. Pattis, Eva: a.a.O., S. 10 224 Sandspiel folgt dem Patienten in seine jeweilige Entwicklungsphase. Es ist so flexibel, dass es sich den jeweiligen Bedürfnissen völlig anpasst. Einmal rohe Materie, einmal Form, einmal Bild, einmal Wort. So ist es auf allen diesen Ebenen wirksam: körperlich und präsymbolisch, imaginativ, bildhaft, symbolisch und auch verbal.“131 Wir teilen uns unseren Mitmenschen nicht nur über die Sprache mit, sondern wir drücken uns z.B. auch über die Hände aus. Sie bilden die Brücke zwischen unserer Innenwelt und der Außenwelt: „Die Hände sind Mittler zwischen Geist und Materie, zwischen innerer Vorstellung und konkreter Schöpfung.“132 Eva Pattis hat diesen Gedanken aufgenommen. Sie führt aus, dass „Hände nicht nur ausdrücken, sondern auch eine Stimmung, eine Atmosphäre, ein interaktives Feld wahrnehmen, ohne dass dies über einen Bewusstseins-Prozess abläuft.“ Neuere neurophysiologische Untersuchungen hätten bestätigt, das es Körperwahrnehmungen gibt, die nicht über das Bewusstsein gehen.133 „Idealtypischer“ Verlauf eines Sandspielprozesses Estelle Weinrib hat den „idealtypischen Verlauf“ eines Sandspielprozesses aufgezeichnet. Bei der Beschreibung komplexer Beziehungs- und Übertragungsprozessen ist aber besondere Vorsicht geboten. Erfahrungsgemäß verläuft jeder Prozess aufgrund einer Vielzahl von Einflussvariablen individuell. Ich habe mich dennoch zu einer Kurzdarstellung mit Bezug auf E. Weinrib134 und J. Rasche135 entschlossen, um den Lesern, die bisher noch keine Erfahrungen mit dem Sandspiel machen konnten, einen „ersten“ Einblick zu ermöglichen. 1. Im ersten Stadium werden hauptsächlich realistische Szenen aufgebaut, mit Andeutungen des Grundproblems und der möglichen Lösung.136 Dora M. Kalff hat ausgeführt, dass das Initialbild eine Aussage enthalten kann, • wie der Klient der Therapie gegenüber eingestellt ist, • über das Verhältnis des Klienten zum eigenen Unbewussten, • über ein persönliches Problem und über eine mögliche Lösung.“137 2. Mit den folgenden Bildern kann oft ein Eindringen in tiefere Schichten der Persönlichkeit, d.h. ins persönliche Unbewusste und den Schatten, beobachtet werden. Die Bilder können so chaotisch wirken, als sei der Patient in die eigene Unterwelt hinabgestiegen und auf rohe, ungebändigte und unzivilisierte Energien gestoßen. Die Lösungsaspekte werden deutlicher, es kommt zur Freisetzung von Energien: die Symptomatik nimmt ab. Der Abstieg geht idealerweise bis hinab zur „Berührung des Selbst“. Der Klient kann so 131 Pattis, Eva: a.a.O., S. 10 132 Ammann, Ruth (1989): a.a.O., S. 14 133 Pattis, Eva: a.a.O., S. 14 134 Weinrib, Estelle L.: Images of the Self. The Sandplay Therapy Process. Sigo Press, Boston 1983 135 Rasche, Jörg: a.a.O., S. 99 -103: Er betont, dass jeder Sandpielprozess individuell sei, und er ergänzt mit Bezug auf die Bilderserien von E. Weinrib und R. Ammann, dass es in vielen Therapien auch nicht zu einer so eindrucksvollen Manifestationen des Selbst (wie bei R. Ammann (1989) beschrieben) kommen muss. 136 Die Bilder entsprechen den Initialträumen der Verbalanalyse. 137 Kalff, Dora M.: Sandplay in Switzerland. (Seminarunterlagen) University of California at Santa Cruz, Zürich, zit. bei: Mitchell, Rie Rogers; Friedman, Harriet S., a.a.O., S. 130 225 den Weg zurück bis in die uroboroische matriarchale Phase seiner Kindheit gehen, und der/die TherapeutIn begleitet ihn dabei. 3. Die Darstellung des „Selbst“ ist ein bewegendes Ereignis für Klient und Therapeut. Sie geschieht häufig in Zentrierungen, Verbindungen von Gegensätzen, von Kreis mit Vierzahl (Quaternität) und anderen Mandalastrukturen. Estelle Weinrib schreibt, in solchen Stunden habe der Patient das Gefühl, „das Zuhause berührt zu haben“. Das „Ich“ des Klienten werde wieder bescheidener. Das Wandlungserlebnis kann ein tiefgehendes religiöses Erlebnis sein, dass ihn sein Leben lang beschäftigen und „tragen“ wird. Die Gestaltwerdung des Selbst im Sandspiel entspricht der „Manifestierung des Selbst“, einem wesentlichen Ereignis der Kindheit (etwa im dritten Lebensjahr). Estelle Weinrib warnt aber auch vor gefährlichen Auswirkungen, wenn der Prozess nicht durch einen erfahrenen Therapeuten begleitet wird. Mit Zentrierung und Konstellation des Selbst wird eine enorme Energie freigesetzt. Der Klient fühlt sich wie neu geboren. „Psychologisch ist man da ungefähr zwei Jahre alt, voller Energie und bereit, sie in alle möglichen oder unmöglichen Projekte zu stecken“. Es besteht eine Inflationsgefahr, die sehr ernst zu nehmen ist, weil der „Prozess“ unbewusst abläuft. Deshalb sei es unbedingt notwendig, dass ein Sandspieltherapeut selber einen Sandspielprozess an sich erlebt hat. Auch er unterliegt in solchen Momenten der realen Gefahr, vom Archetyp des Selbst inflationiert zu werden. Dann aber verliert der Patient den notwendigen Schutz (Psychosegefahr !). 4. Auf Basis der Selbst-Konstellation können Sandbilder mit dem „neugeborenen Ich“ folgen. Gelegentlich wählt der Patient eine bestimmte Figur als „Träger“ des neuen Ich- Bewusstseins, mit der er sich identifiziert und die in den folgenden Bildern immer wieder auftritt. Die Bilder entwickeln einen kreativen Charakter, wirken geordneter. Der Klient scheint bewusster damit umzugehen, da er jetzt auf die heilenden Kräfte des Unbewussten vertrauen kann. Estelle Weinrib beobachtete, dass nach dem Wendepunkt der Konstellation des Selbst häufiger Gegensatzbildungen der Differenzierung von männlich/weiblich etc. auftreten. 7.6. Dokumentation und Deutung Nach der Stunde fertigt der Therapeut von dem Sandbild ein Diapositiv und ein Kurzprotokoll, um die Entwicklung eines kontinuierlichen Prozessverlaufes dokumentieren zu können. Das Sandbild wird nicht gemeinsam mit dem Klienten gedeutet oder interpretiert, es ist aber für den Therapeuten wichtig, durch aktives Zuhören oder vielleicht auch durch die Bitte, eine Geschichte zu dem Bild zu erzählen, etwas über den persönlichen Bedeutungskontext der Symbole zu erfahren. 226 Denn: Für jeden Menschen ergibt sich eine persönliche Sichtweise von Wahrheit, Welt und Realität, seiner Realität, die er aus seinen Objekten und im Sandspiel aus den Figuren zusammensetzt. „Menschen sind, individuell und kollektiv, darauf ausgerichtet, auf der Grundlage der Bedeutung der Objekte zu handeln, die ihre Welt ausmachen“, sagt Herbert Blumer. Der Sandspielende wählt Objekte, deren symbolische Werte ihn ansprechen, ihm eine verbindende Sinnbedeutung vermitteln. Die Symbolik kann nur aus Sicht des Handelnden / Sandspielenden interpretiert werden. Der Gedanke, eine rasterförmige Diagnose und kausale Bedeutungsketten für Symbole zu entwickeln, ist „eine Antithese zu Kalffs Methode.“138 Ich möchte hierfür ein Beispiel aus eigener Praxis geben. Es zeigt, wie schnell man auf eine falsche Fährte geraten kann, wenn man den subjektiven Kontext nicht erfährt. Im Sand arbeitet eine Klientin begeistert mit einigen Figuren Farbiger und sagt ganz erstaunt: „Sie haben ja sogar Schwarze.“ Diese Aussage könnte in unserem Kulturkreis einen Analytiker in der Symbolamplifikation auf den Pfad nicht integrierter Schattenanteile bringen. Die Klientin hat aber ihre gesamte Kindheit in Afrika verbracht, sodass dieser Kulturkreis für sie eine besondere Bedeutung besitzt. Ohne diese wichtige biographische Information hätte die Gefahr einer Fehlinterpretation bestanden. Sandbilder haben einen ganzheitlichen Ausdruckswert, und es erscheint natürlicher und erfolgversprechender, sie in dieser Ganzheit zu lesen, statt sie analysierend zu „zerlegen“. Ein solcher Deutungsansatz verlangt Empathie, Intuition und Erfahrung, er ist damit weniger ein garantiertes Resultat naturwissenschaftlichen Fleißes. Nicht unumstritten sind in der Diskussion daher auch Deutungsschemata für die räumliche Entschlüsselung von Sandbildern, die mit den Stichworten des „Bilderlesens“, „raumsymbolische Deutungsschemata“ und „Quadrantentheorien“ umschrieben werden. Versuche, Verobjektivierung und Kausalitäten herzustellen, sind im interpretativen, heuristischen Paradigma völlig unangebracht. Ebenso zeigen sich Widersprüche in den verschiedenen räumlichen Projektionsmodellen. Eine rasterförmige Dekodierung widerspricht der ganzheitlichen Betrachtungsmethodik, weshalb solche „Schablonen“ bei vielen Sandspiel- Therapeuten sehr umstritten sind. Diesen Tenor finde ich auch bei R. Mitchell und H. Friedman: „Einer der auch gegenwärtig diskutierten Punkte ist die Frage, wie viel Gewicht der Quadrantentheorie gegeben werden soll. Diese Theorie teilt den Sandkasten in vier Teile auf, die Gegensätze repräsentieren (wie z.B. Mutter – Vater, Bewusstes – Unbewusstes, persönliches und kollektives Unbewusstes). Manche Therapeuten (so auch Dora Kalff in ihren späteren Jahren) sind eher zurückhaltend bei der Aufteilung und Kategorisierung des Sandkastens und betrachten lieber das Bild als ein Ganzes (Furth 1988; Kalff 1988b). Allgemein gilt, dass es mit einer rezepthaften Betrachtung nicht zu einem vollen Verständnis eines Sandbildes kommen kann, da diese Perspektive viel zu eingeschränkt ist. Einige Therapeuten finden jedoch die Quadrantentheorie hilfreich als ersten Schritt im Prozess des Verstehens eines so überwältigenden Materials (Aite 1978; Ammann 1991; Ryce-Menuhin 1992; Weinrib 1983 a; Zeller 1979).“139 138 Mitchell, Rie Rogers; Friedman, Harriet S., a.a.O., S. 131 139 ebenda, S. 130 f. 227 Dora M. Kalff erkannte „Muster in den Sandbildern, sie setzte jedoch lieber ihre intuitiven Fähigkeiten anstelle von Forschungsmethoden ein, um diese Muster zu untersuchen und verstehen zu können. Die wissenschaftliche, rationale Arbeitsweise war nicht ihre Arbeitsmethode. Auch heute noch bewegen sich Therapeuten zwischen diesen Polen der Intuition und der Rationalität. (...).“140 So setzen die meisten Sandspieltherapeuten für eine individuelle Interpretation „ihr Wissen und Können aus der Psychologie und der Symbolik ein, ihre Beobachtungsgabe, ihre Intuition und ihr Einfühlungsvermögen. Der gegenwärtige Trend bewegt sich weg von einschränkenden, starren oder speziellen Regeln.“141 R. Mitchell und H. Friedman haben in ihrer Publikation gegenwärtige Entwicklungen und Trends der Sandspiel - Forschung zusammengetragen. Die nach ihrer Meinung fünf wichtigsten Kriterien aus der aktuellen Literatur liefern eine grobe Strategie für den Therapeuten, können aber keinesfalls eine „Bedienungsanleitung“ für das Sandspiel darstellen. Strukturkriterien 1. Wie wird das Sandbild gestaltet? Wird nasser oder trockener Sand gewählt? Wie werden Sand und Wasser eingesetzt ? Ist das Sandbild in sich abgeschlossen oder mitten in einem Prozess? 2. Der Inhalt des Sandkastens: Eine Vielzahl von Daten werden untersucht, um die psychologische Kommunikation im Sandbild zu verstehen: a. Die symbolische Bedeutung der Figuren (Capitolo 1992; Gradwell 1992; Jackson 1991; Kalff 1980; Millikan 1992a). b. Gebrauch und Position der Miniaturen: Wie viele oder wenige Miniaturen werden benützt? Sind die Figuren in der Nähe des Klienten oder weit weg (Aite 1978)? Gibt es Verbindungen zwischen den einzelnen Objekten im Sand (Bradway 1981 b; Stewart 1981) ? c. Welche Formen entstehen aus Sand und den Figuren? d. Die direkte oder stellvertretende Verwendung der fünf Elemente: Luft, Wasser, Erde, Feuer und Wind (Amatruda 1991; Baldrige 1990; 1990; Berry 1989; Bradway 1985; Cunningham 1991; Friedman; 1991; Kalff 1987; Mc Nally 1984; Tatum 1991). e. Hinweise auf Entwicklungsstadien. Z.B.: Neumanns (1973) vegetative, kämpfende oder kollektive Phasen, die Stadien nach Piaget (Jones 1986) oder nach Erikson (1963). f. Wie ist die Gesamtorganisation des Sandkastens? Wird er vertikal, horizontal oder diagonal benutzt? Wie leer oder voll ist der Sandkasten? Wie viel Raum wird in Anspruch genommen? 140 ebenda, S. 157 ff. 141 ebenda, S. 127 f. 228 Wie wird der Raum in Anspruch genommen? Gibt es Organisation und / oder Chaos? Wie starr oder flüssig ist das Bild? Gibt es Barrieren, Ecken und Einzäunungen? Beachten der Diagonalen, besonders in den Ecken (Kalff 1988 b); Wie wird die Mitte des Sandkastens benützt? Werden bestimmte Quadranten bevorzugt gebraucht? Darstellung von Konflikten, eigenartige Anordnungen? (Furth 1988) Wie viel Statik oder Dynamik enthält das Bild? (Bradway 1992 a) 3. Ist aus einer Folge von Sandbildern eine Entwicklung ersichtlich? Wenn der Therapeut eine Folge von Sandbildern betrachtet, sieht er die evolutionäre Qualität (progressiv oder regressiv) der Bilder und die jeweilige Ebene des persönlichen oder archetypischen Unbewussten, die angesprochen wurde (Weinrib 1989)? 4. Die Sandspiel-Geschichte. Vielleicht erzählt der Klient eine Geschichte während oder nach der Anfertigung des Sandbildes. Das sorgfältige Aufnehmen von symbolischem Inhalt, emotionalen Schwingungen, von Thema und Fazit der Geschichte kann einen weiteren Einblick in die inneren Prozesse des Klienten geben (Kawai 1992b). 5. Die gefühlsmäßige Reaktion des Therapeuten. (...) Dora M. Kalff hatte sich immer beim Anblick des Sandbildes gefragt „Wie geht es mir damit, was fühle ich? Welchen Eindruck gibt mir das Bild? Was fällt mir zuerst auf ?“ (Kalff 1988 b). Ein Therapeut kann z.B. eine Unstimmigkeit spüren, wenn ein Klient ein „hübsches Bild“ macht und er dies als oberflächlich empfindet. Die Gesamtheit der Erfahrung des Klienten mag jedoch für den Therapeuten nicht sichtbar werden. Diese Realität der Gefühle muss zum optimalen Verständnis des Sandbildes integriert werden.142 Forschungsbedarf Trotz aller Kenntnis der Subjektivität der Symbolik existiert bei einigen Sandspieltherapeuten der Wunsch nach „verwissenschaftlichter Erforschung“ der Symbolbedeutungs- zusammenhänge. Auch in der Deutschen Gesellschaft für Sandspieltherapie (DGST) gibt es Bestrebungen, die Sandspieltherapie empirisch zu erforschen, um die Effektivität der Methode „nachzuweisen zu können“. Eine Projektstudie beabsichtigt, u.a. mit Kriterien wie: Spielaufbau, Auswahl und Anzahl der Figuren, Bildthema, wesentliche Symbole, etc., Sandbilder zu evaluieren. Ich möchte den Sinn dieses Projektes hier nicht diskutieren, sondern mich auf Dora M. Kalff beziehen, die immer wieder betont hat, „dass es verbindliche Regeln der Raumsymbolik nicht geben kann. Sie hat auch dazu aufgefordert, die allgemeinen Deutungskriterien immer wieder zu überdenken und den inneren und äußeren Bedingungen der Situationen entsprechend anzupassen. Sie war allerdings der Auffassung (Kalff 1979), dass so elementare Zuordnungen wie links: lntroversion; rechts: Extraversion immer gelten (d.h. auch 142 vgl.: Mitchell, R.; Friedman, H.: a.a.O., S. 127 f. 229 in anderen, z.B. fern-östlichen Kulturen).“143 Hayao Kawai weist z.B darauf hin, dass problemgeladene Inhalte der Klienten symbolisch in entfernte Kulturkreise verschoben werden, wo sie weniger beängstigend wirken und so „aus sicherer Distanz“ bearbeitet werden können. Er berichtet darüber, dass fernöstliche Symbole in europäischen Sandspielprozessen unbewusst auftauchen, und dass europäisch – christliche Symbole auch in fernöstlichen Sandspiel – Prozessen verwendet werden.144 In der Internationalen Sandspielforschung kreist die Forschung ebenso um Themen wie: • Wie verlässlich ist die Sandspielmethode? (z.B. bei S. Fujii, 1979145) • Abbildung von räumlichen Beziehungsmustern im Umgang mit Figuren (z.B. bei L. Kamp und E. Kessler 1970146). • Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Verwendung von Miniaturen (z.B. bei L. Kamp und E. Kessler 1970147) • Altersabhängige Entwicklungen und Bezüge zu den Entwicklungsphasen (Jones 1986148) • Einfluss des Alters auf Spielkonfigurationen (Kamp, Ambrosius und Zwaan 1986)149: • Ergebnis: „Die Bilder der gesunden Kinder erschienen reichhaltiger, voller und weniger mit Blockaden besetzt, während die Bilder der psychisch kranken Kinder weniger klar und scheinbar unvollständig waren.“150 • Diagnostische Stärke bei der Beurteilung von Sandbildern Erwachsener (Denkers 1985151 mit Bezug auf Jones 1986) Die Diagnostische Stärke ist nach G. C. Denkers zwar unumstritten, allerdings kommt er auch zu dem Ergebnis, dass Schlussfolgerungen auf die Verallgemeinerbarkeit bestimmter Symbole nicht zulässig sind. Eine grobe Übersicht fasse ich mit Bezug auf R. Mitchell und H. Friedman hier zusammen: 1. Mit dem Sandbild steht uns ein hochempfindliches Instrument zur Verfügung, um psychische Störungen bei Männern und Frauen zu visualisieren. 143 Rasche, Jörg: a.a.O., S. 173 144 Prof. Hayao Kawai: Referat beim 5. Symposium für Therapeutisches Sandspiel, Seevetal (21.- 23.06. 1996) 145 Fujii, S. (1979) (auch bekannt als Aoki, S.): Retest reliability of the Sandplay technique (1st report). British Journal of Projective Psychology and Personality Study 24, S. 21-25; zit. bei Mitchell, R. R.; Friedman, Harriet S.: a.a.O., S. 132 146 Kamp, L. N. J., Kessler, E. G. (1970): The World Test: Developmental aspects of a play technique. Journal of Child Psychology and Psychiatry 11, 81 – 108. Französische Ausgabe (1971) als: Test du Monde: Aspects développementaux d‘ une technique de jeu. Revue de Neuropsychiatrie Infantile 19 (6), S. 295-322, zitiert bei Mitchell, Rie Rogers; Friedman, Harriet S.: a.a.O., S. 133 f. 147 Kamp, L. N. J., Kessler, E. G. (1970), zit. bei Mitchell, Rie Rogers; Friedman, Harriet S.: a.a.O., S. 135 148 Jones, L. E. (1986): The development of structure in the world of expression: A cognitive-developmental analysis of childrens‘ „sand worlds“. Dissertation, Pacific Graduate School of Psychology, Menlo Park, CA. Dissertation Abstracts International. (University Microfilms No. 83- 03178), zit. bei Mitchell, Rie Rogers; Friedman, Harriet S.: a.a.O., S. 136 ff. 149 Kamp, L. N. J., Ambrosius, A. M., Zwaan, E. J. (1986): The Wold Test: Pathological traits in the arrangement of miniature toys. Acta Psychiatrica Belgica 86 (3), S. 208, zit. bei Mitchell, R. R.; Friedman, H. S.: a.a.O., S. 135 f. 150 Kamp, L. N. J., et al. (1986): zit. bei Mitchel, Rie Rogers; Friedman, Harriet S.: a.a.O., S. 135 f. 151 Denkers, G. C. (1985): An investigation of the diagnostic potential of Sandplay utilizing Linn Jones‘ Developmental Scoring System. Dissertation, Psychological Studies Institute, Pacific Grove Graduate School of Professional Psychology, Berkeley, CA, zit. bei Mitchell, R. R.; Friedman, H. S.: a.a.O., S. 141: Die Sandbilder von 38 Männern und 36 Frauen im Alter von 18 – 50 aus der Mittelschicht mit Collegebildung wurden anhand von Jones Bewertungsskala analysiert. Die Punktzahlen wurden mit den Testergebnissen eines parallel geführten Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI) Tests verglichen. 230 2. Die Größe des benutzten Anteiles des Sandkastens ist ein guter Indikator für psychische Gesundheit. Wenn nur ein Teil des Sandkasten - Raumes in Anspruch genommen wird, so ist dies häufig ein Indikator für psychischen Stress. 3. Erwachsene Männer und Frauen unterscheiden sich nicht im Umgang mit Sand. 4. Eher extravertierte Frauen können Konfrontationen im Sandbild darstellen. 5. Männer mit einer hohen Punktzahl auf der Paranoia Skala machten Sandbilder, die komplexe Kooperationen darstellten, was bedeutet, dass diese Menschen besonders sensibel mit zwischenmenschlichen Beziehungen umgingen. 6. Mehr Frauen als Männer stellten zwischen ihren Figuren und dem Wasser eine Verbindung her. Da Wasser ein Symbol des Unbewussten ist, weist dieses Ergebnis darauf hin, dass Frauen mehr sozial anerkannte Möglichkeiten haben, Zugang zum Unbewussten zu finden. 7. Das Fehlen von Vegetation im Sandbild kann bei Frauen auf psychischen Stress hinweisen. Aussagen über ähnliche Korrelationen bei Männern fehlen. 8. Frauen setzten in der Regel mehr Miniaturen (darunter Tiere, Pflanzen und Naturelemente) in ihre Sandbilder, Männer benützten insgesamt mehr Menschen, wobei es mehr Männer als Frauen gab, die die menschlichen Figuren ganz wegließen.152 9. Denkers schließt ihren Bericht mit dem Fazit, dass „die Welt des kreativen Ausdrucks im Sandspiel durch zusammenhängende Muster strukturiert wird (...) in jedem Entwicklungsstadium“153. Sie unterstreicht ihre Überzeugung, dass Sandspiel ein exzellentes diagnostisches Instrument für psychische Störungen ist und gleichzeitig ein verlässlicher Indikator für Entwicklungsstadien. Diese „vagen Ergebnisse“ veranschaulichen, dass Symboldeutungen nicht verobjektivierbar sind. Ich schließe mich daher ausdrücklich Jörg Rasches Meinung an, wenn er Charlotte Bühler154 kritisiert, die ein statistisch-standardisierendes Bewertungsverfahren anwendete, um subjektive Geschehnisse quantitativ zu bewerten: „Wenn man allerdings dabei bleibt und Figuren zählt oder Konfigurationen beschreibt, geht allzu viel anderes verloren.“155 7.7. Archetypische Symbolik Daher stellt sich die Frage, ob Symbole existieren, die für einen größeren Kreis von Menschen gleiche oder ähnliche Bedeutungen und Inhalte vermitteln; Bedeutungsgehalte also, die sich vom individuellen Bezug weitgehend abstrahieren lassen und in einen größeren, kollektiven Zusammenhang gebracht werden können. An dieser Symbolik ist nicht nur das persönliche Unbewusste mit seinen biographischen Anteilen beteiligt, sondern auch tieferliegende allgemeinmenschliche Inhalte, wie sie C. G. Jung mit dem kollektiven Unbewussten beschreibt. „Motive mythologischer Natur oder allgemeinmenschheitsgeschichtlicher Symbolik sowie Reaktionen besonders intensiver Art lassen immer auf das Beteiligtsein der tiefsten Schichten schließen.“156 152 vgl.: Denkers, G. C.: a.a.O., S. 141 ff. 153 ebenda, S. 176 154 Bühler, C.: The World Test: A Projective Technique. Journal of Child Psychiatry, 2, 1951, S. 4 – 23, zit. bei Mitchell, Rie Rogers; Friedman, Harriet S.: a.a.O., S. 135 155 Rasche, Jörg: a.a.O., S. 130 156 Jacobi, Jolande: a.a.O., S. 48 231 Abb. 12: Modell eines „Psychischen Stammbaumes“ zur kollektiven Symbolik. Quelle: J. Jacobi157 Diese werden als archetypische Symbole bezeichnet, „Lebensäußerungen, insofern sie allgemeinmenschlicher und typischer Natur sind (...). Wir können sogar eine gewisse »Stufenfolge« der Archetypen aufstellen, je nachdem, ob sie eine der ganzen Menschheit, oder einer größeren oder kleineren Gruppe von Menschen gehörende Eigenschaft veranschaulichen. Wie die Eltern einer Genealogie, vermögen auch die Archetypen gleichsam Kinder und Kindeskinder aus sich zu entlassen, ohne ihre „Urgestalt“ zu verlieren.“158 Jolande Jacobi versteht daher die Abbildung 12 als „eine Art psychischen Stammbaum“, aus dem die allgemeinmenschliche Verbundenheit hervorgeht, die sich dann jedoch bis zum Individuum hin ausdifferenziert. Unbefriedigend ist nach meiner Auffassung der Begriff der „zentralen Kraft“, den sie „rein energetisch verstanden wissen will und der ausdrücklich als heuristischer Begriff aufgefasst werden“ soll.159 „Das kollektive Unbewusste ist die gewaltige geistige Erbmasse der Menschheitsentwicklung, wiedergeboren in jeder individuellen (...) Struktur.“160 Archetypen werden als tradierte Urbilder aufgefasst, die durch persönliche Erfahrungen im Hier und Jetzt aktualisiert werden und sich in Träumen oder kreativen Schöpfungen offenbaren. „Wenn die analytische Psychologie von dem Urbild oder dem Archetyp der „Großen Mutter“ spricht, bezieht sie sich auf kein konkret in Raum und Zeit vorhandenes, sondern auf ein inneres, in der menschlichen Psyche wirksames Bild. Der symbolische Ausdruck dieses psychischen Phänomens sind die von der Menschheit in ihren Bildnereien 157 ebenda, S. 43 158 ebenda 159 ebenda, S. 43 / 161, Fn. 55 160 Jung, C. G.: Seelenprobleme, S. 154; GW VIII, S. 183 232 und in ihren Mythen dargestellten Figuren und Gestalten der großen weiblichen Gottheit. Das Auftreten dieses Archetyps und seine Wirksamkeit ist durch die ganze Menschheitsgeschichte zu verfolgen, denn in Riten, Mythen und Symbolen der frühen Menschheit ist er ebenso nachzuweisen wie in den Träumen, Phantasien und schöpferischen Gestaltungen des gesunden und kranken Menschen unserer Zeit.“161 Wenn man den Archetypus des Weiblichen in den Tiefenschichten des Unbewussten analysiert, so erscheint die eigene Mutter, „dann vertieft und vermehrt sich diese Bedeutung zum Symbol Frau in allen Variationen (...); aus einer noch tieferen Schicht emporsteigend, trägt das Bild mythologische Züge, ist eine Fee oder ein Drache; bis es im tiefstliegendsten kollektiven, allgemein menschlichen Erfahrungsmaterial als dunkle Höhle, als Unterwelt, als Meer erscheint, um in ihrer letzten Bedeutung sich zu der einen Hälfte der Schöpfung, zum Chaos, zum Dunkel, zum Empfangenden schlechthin auszuweiten.“162 Abb. 13: Die Entwicklungsreihe des „Archetypus des Weiblichen“. Quelle: Jolande Jacobi163 161 Neumann, Erich: Die große Mutter. Eine Phänomenologie der weiblichen Gestaltungen des Unbewussten, 11. Auflage, Walter Verlag, Zürich und Düsseldorf, 1997, S. 19 162 Jacobi, Jolande: a.a.O., S. 98 163 Jacobi, Jolande: a.a.O., S. 53 233 Viele dieser gemeinschaftlich kollektiven Symbole (siehe Abb. 13) begegnen uns in der Lebenswelt und sprechen uns dort aufgrund der mit ihnen verbundenen Konnotationen an. Eine ähnliches Verständnis von bildhaften Entwicklungsreihen hatte ich in meinen Ausführungen zur Semiotik gezeigt. Zur Höhle als der Ursprungssituation des „Behaustseins“ wird die erste Funktion (z.B. Schutz) denotiert. In der historischen Entwicklung werden n-Funktionen hinzukonnotiert. Eine unendliche Semiose entsteht, die Umberto Eco als symbolische Funktion bezeichnet. 7.8. Zusammenfassung Das Therapeutische Sandspiele habe ich ausgewählt, um • eine Methode vorzustellen, die anerkannt und geeignet ist, psychogene Reaktionen und psychische Problemstellungen (siehe Kap. 6) zu behandeln und um • einen symbolschaffenden tiefenpsychologischen Prozess vorzustellen, der mit den Gestaltungsmöglichkeiten einer Welt „en miniature“ und der Vermittlung zwischen Raum und Symbolik von Bedeutung für Städtebau und Raumplanung sein kann. Das Sandspiel kann in einem therapeutischen Prozess mit komplexem Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen zu tiefen inneren Bildern zurückführen. Eine Rekonstruktion der Vergangenheit über die Herstellung einer gemeinsamen Interaktionsebene ist das Ziel auch jeder Verbalanalyse. Beim Sandspiel wird jedoch ein „Projektions- und Übergangsraum gerade für die sehr frühen, ganzheitlichen und körpernahen Erlebnisse geboten.“164 Der Sandkasten ist dabei das Gefäß, in dem sich bei der Interaktion mit Symbolen heilende Prozesse für das Individuum im Sinne einer konstruktiven Persönlichkeitsveränderung ereignen können. Vor dem Regal der Miniaturen und beim Spiel im Kasten findet die Suche nach einer symbolischen Repräsentation inneren Geschehens statt. Die Bearbeitung des Sandes mit den Händen verknüpft synthetisch Körper und Geist und versucht auf diesem Wege, die Dualisierung von Welt wieder zu einer Ganzheitlichkeit zurückzuführen. Als nonverbale, nicht-rationale Methode ist sie prädestiniert, den Überrationalisierungstendenzen, also der einseitigen Überbeanspruchung der Denkfunktion in unserer Zivilisation entgegenzutreten. Das Sandspiel bietet an, psychische Probleme, wie sie in Kap. 6 dargestellt wurden, zu bearbeiten. In früher Sozialisation internalisierte, belastende Bilder können einen Wandlungsprozess im Sand erfahren. Mit Hilfe des Sandspieles zeigen sich Möglichkeiten, „nicht nur tief zurück in die eigene Kindheit, sondern analog tief in die Kindheit der Menschheit zu regredieren (im pos. Sinne, Anm. d. Verf.).“165 Die Analytische Psychologie 164 Rasche Jörg: a.a.O., S. 167. Er ergänzt: Das wird auch der Grund dafür sein, dass das Sandspiel gerade bei Frühstörungen und psychosomatischen Störungen besonders gut anschlägt, wie Frau Kalff immer betont hat. Es muss allerdings eine erste Brücke des Vertrauens, der Transzendenten Funktion möglich geworden sein. (vgl. dazu das Problem der Borderline-Patienten). 165 Pattis, Eva: a.a.O., S. 7 234 kennt über das persönliche Unbewusste hinaus ein kollektiv verbindendes Unbewusstes. Es enthält eine tiefgehende Symbolik, die über die subjektive Bedeutungsebene hinausreicht. Symbolbedeutungen werden damit keinesfalls kausal verobjektivierbar. Es gibt aber Symbole, die für viele Menschen eine gemeinsame Grundbedeutung enthalten können. Sehr viele Stadt- und Landschaftselemente, mit denen Stadt- und RaumplanerInnen die Lebenswelten für sich und andere gestalten, entstammen einem kollektiv unbewussten Symbolraum. Symbolstudium und Symbolerkenntnis stellen eine wertvolle Erfahrung dar für denjenigen, der – als Sandspieler oder als Planer – gestaltend mit Symbolen befasst ist. Das Sandspiel bietet an, den Umgang mit Symbolen zu erfahren, den Zugang zum Unbewussten mit Leben zu füllen. Die vermittelnde Kraft des Symbols vermag, eigene Lebensentwürfe und archetypischen Ebenen in der „Miniaturwelt“ sichtbar und verstehbar zu machen. Margaret Lowenfeld, die Begründerin der World Technique, setzt den heilenden Prozess in einen gesamtgesellschaftlichen Bezug: „Ich bin überhaupt nicht einverstanden mit der Vorstellung (...), dass es dem neurotischen Menschen an Mut fehle. Die Eigenschaften, die diesen dran hindern in die Formen der Gesellschaft zu schlüpfen, die er kennt, sind oft genau diejenigen, die ihn, wenn er sie realisieren lernt, befähigen werden, schließlich seine Rolle in der Neuschöpfung der sozialen Formen zu übernehmen. (...) was wir brauchen, ist nicht eine größere Kraft sich anzupassen, sondern eine Stärke, unsere Gesellschaft neu zu schaffen. Ich habe ein tiefes Vertrauen in das neurotische Kind; wenn es gut behandelt wird, so wird es, wie ich glaube, ein exzellentes Material sein für das Wohlergehen der nächsten Generation.“166 Es würde den Rahmen der Arbeit sprengen, ein „Symbollexikon“ für PlanerInnen zu erarbeiten. Daher möchte ich im nächsten Kapitel beispielhaft ein Symbol vertieft analysieren: Das Haus. 166 Lowenfeld, Margaret (1988): a.a.O., zit. bei Rasche, Jörg: a.a.O., S. 76 235 8. Das Haus als Symbol, Lebenswelt und Visualisierung individueller Problemstellungen 8.1. Einleitung In diesem Kapitel werde ich die Erkenntnisse der Arbeit vor dem Kontext der symbolischen Bedeutung des Hauses zusammenführen. Anhand von empirischen Beispielen aus Sandspiel, Bildern, Träumen und eines narrativen Interview möchte ich die subjektive Interpretierbarkeit von Symbolen belegen. Das Haus dient als Projektionsfläche verinnerlichter psychosozialer Strukturen, Erfahrungen und Wünsche. Es besteht eine intensive Wechselbeziehung zwischen Mensch und Haus. „Häuser prägen Menschen – Menschen prägen Häuser.“1 Das Haus, das wir bewohnen (wollen), konstruieren wir nach einem inneren Plan (wenn es die Finanzen erlauben), einem Lebensentwurf: Es ist Teil unserer inneren Bühne, ein pars pro toto unserer inhärenten (re-) präsentativen Symbolik. Wir fühlen uns durch Häuser angesprochen, weil sie uns anblicken, mit Jacques Lacan: ein inneres Begehren in uns wecken. Das Haus als „Ganzheitssystem“ besteht aus einzelnen baulichen Elementen, wie Stockwerken, Räumen, etc. Zusätzliche wertvolle Informationen über das Haus und seine Bewohner liefern uns der Standort und seine Bezüge zur Lebenswelt. Ebenso wie das Individuum steht das Haus im Spannungsfeld einer Dialektik von Individualität und Gesellschaft. 8.2. Der symbolische Kontext des Hauses Etymologie Etymologisch kommt „Haus“ aus der indogermanischen Wurzel „skeu“, die im Wort „Scheune“ erhalten geblieben ist und „bedecken, umhüllen“ meint. Dies besagt „ein mehr oder weniger festes Gebäude, das Menschen zum bleibenden Wohnen dient.“2 Es ist „Wohnstätte und Zuflucht des Menschen (...); unter die Bezeichnung Haus fallen Paläste, Burgen, Stadthäuser und Lehmhütten, Landsitze und Höhlenwohnungen; alles was vier Wände und ein Dach besitzt.“3 Dass man sich über dieses Objekt auch definieren kann bzw. Identität daraus schöpfen kann, sieht man an den vielen sprachlichen Wortbildungen, wie z.B.: Hausname, Hausfrau, Hausherr, Hausherrin (!), Hausmittel, Hausmarke, Haushalt, Hausfriede, haushalten, etc. 1 Ammann, Ruth: Traumbild Haus. Von den Lebensräumen unserer Seele. Olten, 2. Aufl., 1991, S. 1 2 Kirchhoff, Hermann: Urbilder des Glaubens, Haus, Garten, Labyrinth, Höhle, München 1988, S. 39 f. 3 Camesasca, Ettore (Hrsg.): Die Geschichte des Hauses, S. 7 236 Das Haus bildet für die meisten Menschen einen fundamentalen Mittelpunkt des Lebens, es ist Sozialisationserfahrung, Heimat, „das Gefäß für das Leben überhaupt und hat dadurch eine Bedeutung, die weit über das profane Wohnen hinausgeht (...) Häuser spiegeln unser Wesen.“4 Manchmal ist auch jemand „aus dem Häuschen“. hat sein „Seelengehäuse“ im Moment verlassen oder „steht neben sich“. Ruth Ammann nennt das Haus auch unsere dritte Haut, bringt damit das Haus in Zusammenhang mit unserem Körper, in dem wir uns auch mehr oder weniger behaust fühlen: „Das Wort Haus ist verwandt mit Haut und bedeutet etwas einhüllen. Ein Haus ist ein festgefügtes, dauerhaftes, geschlossenes Gebäude, eine von Menschen für Menschen geschaffene Kulturschöpfung. Es ist mit dem Zeitgeist und mit dem technischen und künstlerischen Wissen und Können und somit mit dem menschlichen Bewusstsein verbunden. (...) Auf der symbolischen Ebene, bezogen auf die menschliche Psyche, können wir das Haus als Symbol für die bewusste Persönlichkeit sehen. Wir sprechen ja von der „Struktur einer Persönlichkeit“ oder von „Gedankengebäuden“.“5 Wenn jemand in einer Diskussion seine eigenen Belange vertritt, sagen wir deshalb oft: er spricht „pro domo“, für sich, für sein eigenes Haus. Die berufliche Identität geben wir oft mit der Formulierung: Ich bin von Hause aus (...) zur Kenntnis. „Das Haus und sein Besitzer stehen (...) in engster Verbindung.“6 J. C. Cooper versteht es als „ein Weltenzentrum; der schützende Aspekt der Großen Mutter; ein umschließendes Symbol; Schutz. Das Kulthaus, die Kulthütte, das Kultzelt bzw. Tipi ist das Kosmische Zentrum, „unsere Welt“. (...) In Ägypten war „Pharao“ ursprünglich „das große Haus“, d.h. der Königspalast; später ging das Wort auf den König selbst über.“7 Sir Edward Coke (1551 bis 1633) formulierte den Rechtspruch: „Es darf jemand Freunde und Nachbarn versammeln, um sein Haus gegen diejenigen zu verteidigen, welche ihn berauben oder töten oder ihm darin Gewalt antun wollen“ und „For a man’s house is his castle”. Er formuliert in „Semaynes Case“ (5, Report 91): „Das Haus eines jeglichen ist ihm gleich wie seine Burg und seine Feste, sowohl zu seiner Verteidigung gegen Beleidigung und Gewalt wie zu seiner Ruhe.“ Im „Haimburger Stadtrecht“ von 1244 heißt es: „Wier wellen auch, daz einem iegleichen purger sein haus sein veste sei.“8 Das Haus gewährt und genießt besonderen Schutz. Es bietet ein „Dach über dem Kopf“, man ist in den „eigenen vier Wänden“. Der häusliche Frieden, der Schutz der Bewohner eines Hauses, ist ein hohes ethisches Prinzip. Hausfriedensbruch ist eine deutliche Grenzverletzung, die mit erheblichem Strafmaß geahndet wird: Er stellt eine schwerwiegende Verletzung der privaten Persönlichkeitssphäre und territorialer Rechte und Grenzen dar. 4 Kast, Verena: Vorwort in: Ammann, Ruth: Traumbild Haus, Olten 1987, S. 8 5 Ammann, Ruth: Der Sandkasten als Garten der Seele, Zeitschrift für Sandspieltherapie, Heft 4, S. 6 6 Bächtold-Stäubli, H. (Hrsg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Berlin, New York: de Gruyter, 1987, S. 1553 7 Cooper, J.C.: Illustriertes Lexikon der traditionellen Symbole, Leipzig 1986, S. 75 8 vgl.: Büchmann, Georg: Geflügelte Worte, 31. Auflage, Berlin 1964, S. 417; vgl. „Archiv für Kunde österreichischer Geschichtsquellen“ 10, 142, und Osenbrüggen: „Der Hausfrieden“ (Erlangen 1857),3. 237 „Das Haus“ beinhaltet je nach Sozialisationserfahrung nicht nur positiv beschützende Aspekte, sondern auch „negative“ Konnotationen internalisierter Bilder: Eine Klientin assoziiert spontan, dass das Haus auch ein Gefängnis darstellen könne: Eingesperrt- und Ausgeschlossensein. Das Haus „kann in lebensbedrohlicher Art und Weise einengen und zur Erstarrung führen, und zwar gerade dann, wenn die Geborgenheit des Hauses für etwas Letztes gehalten wird. Der Mensch muss sich die Freiheit bewahren, das Haus auch wieder verlassen und zu Neuem aufbrechen zu können.“9 Das Haus ist in der Regel an seinen Standort gebunden. Viele Menschen mit überstarker Bindung „an Haus und Hof“ scheint es unbeweglich zu machen. Der Theologe Hermann Kirchhoff stellt die negativen Aspekt folgendermaßen dar: „Aber die unaufhebbare Ambivalenz des Hauses wird hier bereits deutlich: Der Mensch kann sich in seinem Haus abkapseln - „my home is my castle“ - seine Mauern können von den anderen Menschen trennen; der Mensch zieht sich auf sich selbst und seine Familie, Sippe zurück.“10 Hausbaumotivation Für viele Menschen wird das „eigene Haus“ zu einem idealisierten Wunschprojekt, zur Lebenszielsetzung schlechthin. Das „Traumhaus“ wird zum erreichbaren oder unerreichbaren Statussymbol. Für den Alexander Mitscherlich ist „die Vorortvilla (...) nur Demonstration des Eigensinnes und der monetären Potenz. (...) Das Einfamilienhaus (...) ist der Inbegriff städtischer Verantwortungslosigkeit und der Manifestation des privaten Egoismus.“11 Nach seiner Auffassung gibt es nicht nur bewusste Motive für den Hausbau, sondern auch sehr unbewusst bleibende Motive. "Der Bauherr sucht Befreiung aus verfahrenen Lebenslagen durch Hausbau, ein zumeist sehr unbewusst bleibendes Motiv.“12 Das Individuum habe den oft mehr irrationalen als rationalen Wunsch nach einem „Eigenheim“, das ihm als Identitätsstütze diene.13 Für manche Bürger verbleibt nach dem Hausbau oft nur noch ein kostenintensives „Luftschloss“ mit erheblichen Opfern, hoher Verschuldung und jahrelangem Verzicht. Ein passendes Haus zu finden, kann zu einem schwierigen Unternehmen werden. Standort und Baustil, baulicher Zustand, etc. des Objektes müssen zum Erwerber passen: Das Haus soll ja Individualität, Identität, Persönlichkeit und die Lebensart seiner Bewohner zum Ausdruck bringen. Aspekte des Hauses in einzelnen Lebensabschnitten Das Haus mit allen entscheidenden „Stadien des Lebens eng verbunden, als Ort der Geburt, des Vollzugs der Ehe und Stätte des Todes.“14 9 Biehl, Peter: a.a.O., S. 76, vgl. Bollnow, O. F.: Mensch und Raum, Stuttgart 1963, S. 306 f. 10 Kirchhoff, Hermann: a.a.O., S. 42 f.: Das Haus wird „fensterlos“: Haus und Familie sind nicht mehr Kraftquelle, um für andere Menschen dazusein - sie werden zum Selbstzweck, so dass der Mensch den Sinn des Daseins verfehlt. Im Wissen um solche Ambivalenz weihten die Römer die Tür (Janua) dem Gotte Janus, der mit seinen zwei Gesichtern in das Haus hinein- und aus dem Haus herausschaut. Zur Anthropologie gehören „das Behaustsein“ und das „Unbehaustsein“ gleichermaßen. 11 Mitscherlich, Alexander (1965): a.a.O., S. 36 f. 12 Mitscherlich, Alexander (1965): a.a.O., S. 45 f. 13 Mitscherlich, Alexander (1965): a.a.O., S. 45 f. 14 Biehl, Peter: a.a.O., S.74 238 Für das Kind ist es die erste räumliche Welt in seinem menschlichen Dasein. Mit ihm verknüpft es zunächst die anvermittelten Bilder der primären Sozialisation. Das Haus ist zuerst noch die ganze Welt für das Kind, es ist in ihm „verwurzelt“, bis es in die nächsten „Stufen“ der Sozialisation hineinwächst: Die nähere Nachbarschaft, die Straße, der Spielplatz, der Kindergarten, die Schule, etc. Wenn die frühe Lebenswelt sich mit positven Emotionen verknüpfen lässt, kann das Haus mit Vertrauen, Schutz und Zuversicht konnotiert werden. Diese internalisierten Bilder wirken in uns prägend weiter, werden sozusagen zu einem Psychotop. Aus anthropologischer Sicht ergibt sich eine Dialektik von Wohnen und Wandern, von In- sich-Ruhen und Transzendieren, die sich in der Lebensgeschichte des Individuums unterschiedlich akzentuiert und mit C. G. Jungs Terminus der Individuation gut charakterisiert werden kann: „Das Kind hat ein naives Vertrauen zum Haus; es ist noch unmittelbar mit seinem Raum verbunden, so wie der Mensch mit seinem Körper verbunden ist. Der Jugendliche empfindet das Haus zunehmend als beengend; er muss sich vom vertrauten Raum loslösen und auch Heimatlosigkeit und Unbehaustheit bestehen können. Der junge Erwachsene muss, um eigenständig zu werden, das sog. „Elternhaus“, das „Nest“ verlassen. Um seine eigene Identität und Individualität entdecken zu können, muss er seinen eigenen Weg gehen, den wir auch mit dem Individuationsprozess oder Individuationsweg beschreiben können: Der junge Erwachsene hat die Aufgabe, durch Errichtung des Hauses Geborgenheit wiederherzustellen; die Erfahrung der Bedrohlichkeit aber verschwindet dadurch nicht, sondern bleibt im Hintergrund. Die weitergehende Aufgabe besteht darin, die Erstarrung in einem festen Gehäuse zu überwinden; der Erwachsene muss einen letzten Grund finden, um wieder aufbrechen und weitergehende Erfahrungen machen zu können.“15 Auch als Stätte des Todes und der Vorbereitung auf den Tod begegnet uns das Symbol Haus: „Nach Jes. 38,1: „Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben...“ sagen wir für „sich auf den Tod vorbereiten“ und „sein Testament machen“16. Frühchristliche Grabinschriften sprechen vom „domus aeterna“, vom ewigen oder unsterblichen Haus.17 „Gräber wurden verschiedentlich wie Häuser gestaltet mit Bezug auf ihre Deutung als letzte Wohnstatt des Menschen.“18 Haus, Stadt, Tempel: Abbilder des Universums und ihre Bezüge zum Kosmos In der Literatur finden sich einige inhaltliche Beziehungen der Symbole Haus und Stadt. Mircea Eliade führt aus, dass der Mensch durch den Bau des eigenen Hauses seine eigene 15 Biehl, Peter: a.a.O., S. 76, vgl. Bollnow, O. F.: Mensch und Raum, Stuttgart 1963, S. 306 f. 16 vgl. Büchmann, Georg: Geflügelte Worte, 31. Auflage, Berlin 1964, S. 44 17 Heinz-Mohr, Gerd: Lexikon der Symbole: Bilder und Zeichen der christlichen Kunst, München 1988, S. 128: „Frühchristliche Grabinschriften mit den Worten „domus aeterna“ (Behausung bis ans Ende der Zeit, vgl. auch Pred. 12,5; Ps. 48, 12 Vulg.) knüpfen ebenso wie die öfter auf Steinsärgen abgebildete Tür an die bei Ägyptern, Kelten wie Römern verbreitete und künstlerisch dargestellte Auffassung des Grabes als letzter Wohnstätte des Menschen an; für den Christen ist allerdings die Tür zugleich ein Hinweis auf Christus, die Pforte zum ewigen Leben, und seine Wiederkunft.“ 18 Herder Lexikon der Symbole, 5. Aufl., Freiburg 1997, S. 71 239 Welt, seinen Mikrokosmos konstruiert (s. Kap. 4). Der Mensch imitiert paradigmatisch die Schöpfung der Götter und die Weltentstehung. Ein Kind spielt auf dem Fußboden des Sandspielzimmers und sagt zunächst, dass es mit Holz ein Haus bauen möchte. So entsteht ein umgrenzter Raum und ein Tor. Ein zweites Tor entsteht und weiterer Lebensraum hinter ihm. Zwei umgrenzte Räume, die durch zwei Tore verbunden sind. Links befindet sich ein See mit Inseln und in dem rechten umgrenzten Raum ein Dorf. Um dieses Geschehen herum ist Wasser, „das große Meer mit Fischen“; Boote haben an den Grenzmauern der umgrenzten Flächen meerseitig angelegt. Aus einem amorphen Raum ist eigener Lebensraum, „Welt“, entstanden, aus dem „Urmeer“ wurden in einem Welt-schöpferischen Prozess Land und Wasser getrennt. C. G. Jung hat die Entstehung des Bewusstseins aus dem Unbewussten mit einem symbolhaften Größenvergleich verdeutlicht. Demnach ist das Bewusstsein nur eine kleine Insel auf dem Meer des Unbewussten.19 Und von diesen Inseln aus gab es in diesem „Floorgame“ Zugänge zum Unbewussten (Fischerboote) mit denen Nahrung (Fische) herbeigeholt wurde. Und gerade dies ist das Thema des Kindes: Das Bedürfnis nach eigenem Lebensraum und die orale Befriedigung. „Weltschöpfung wiederholt sich ebenso in jedem Bau eines Hauses, eines Tempels oder einer Stadt. Jeder Hausbau ist Gründung eines Kosmos im Chaos. Das Haus ist Symbol der Welt; es verbindet mit Keller, Erdgeschoß und Dach die kosmischen Ebenen: Unterwelt, Erde und Himmel. Mit der religiösen Erfahrung des heiligen Raums ist schließlich die Symbolik vom Mittelpunkt der Welt verbunden. Im Grunde stellt jedes Haus, jeder Tempel und jede Stadt ein Weltenzentrum dar (...). Er (der Mensch, Anm. d. Verf.) konnte nur in einem Raum leben, der nach oben offen und in dem diese Durchbrechung durch Symbole gesichert war.“20 In die Häuser der nach derzeitigem Wissensstand ältesten Stadt der Welt, Catal Hüyük, gelangt man durch das Dach ins Innere. Dies könnte zum einen etwas mit Verteidigungsaspekten zu tun haben oder aber nach H. Kirchhoff „auch die Symbolik der Erdachse aufnehmen und die Öffnung der Häuser zum Himmel deutlich machen.“21 Ein achtjähriger Junge baut ein frühgeschichtliches viereckiges Haus mit „Flachdach“ und zwei Eingängen. Der vordere, auf normalem Erdniveau liegende Eingang ist bewacht und mit einer Mauer umgeben. Damit die im Gelände befindlichen Feinde nicht in das Haus eindringen können, baut er vom Dach eine Zuwegung in das Innere des Hauses, so dass eine Öffnung in Richtung Himmel entsteht. Auf diesem Dach „wachsen Heilkräuter, die vor Feinden durch einen kleinen Wall geschützt werden müssen.“ Ist dies bei einem Jungen, der von diesen frühen Hausformen noch nie etwas erfahren hatte, eine Frage des Zufalls, oder hat er hier ein Symbol aus kollektiv-archetypischen Ebenen verwandt? 19 vgl. Jung, C. G.: Psychologie und Religion. GW: a.a.O., Bd. XI, § 141, S. 102 20 Biehl, Peter: a.a.O., S. 75, zit. nach: Eliade, M.: Das Heilige und das Profane, Hamburg 1957, S. 16 f. 21 Kirchhoff, Hermann: a.a.O., S. 44 f. 240 8.3. Geometrische Strukturelemente des Symbolsystems Haus Das Haus als Ganzes kann als symbolische Repräsentation der Persönlichkeit, der Individualität und (gruppenspezifischen) Identität verstanden werden, in dem sowohl Persönliches als auch gemeinschaftlich Verbindendes zum Ausdruck kommen kann. Eine nähere Betrachtung des Hauses kann im Hinblick auf seinen kulturellen, gesellschaftlichen und städtebaulichen Hintergrund geschehen. In der Gestaltpsychologie kann man es als eine Figur auffassen, die sich von einer Ganzheit (Stadt, Stadtsilhouette, Landschaft, etc.), einem Kontext abhebt. Andererseits ist das Haus als solches ein Ganzes, das verschiedene Einzelelemente beinhaltet. Mit Hilfe des gestalttheoretischen Ansatzes sind Gliederungen und Strukturierungen des Symbolsystems Haus möglich, die jedoch angesichts der Vielzahl der Elemente hier nur ausschnittsweise dargestellt werden können. Ebenso können im Therapeutischen Sandspiel nicht unendlich viele Häuser in den Regalen angeboten werden. Wird ein Haus im Sand verwendet, so ist der Therapeut bemüht, sich weitere Informationen über das Symbol Haus (und damit natürlich über seinen „Benutzer“) zu erschließen. • Viereck / Quadrat / Rechteck Im westlichen Kulturkreis haben Häuser mehrheitlich einen viereckigen, d.h. quadratischen oder rechteckigen Grundriss. Die „Vierheit“ oder „Quaternität“ entspricht gem. Ruth Ammann „einem Prinzip der Ordnung und der Ganzheit.“22 / 23 „Das Viereck ist etwas, das schützt, birgt; es nimmt Dinge, die es umschließt, wie ein Safe sichernd in sich hinein.“24 In seiner streng geometrischen, eher kantigen Form kommt es eigentlich in der Natur nicht vor, sondern es ist ausdrücklich eine Ausdrucksform menschlicher Schöpfung, bei der es „immer geht (...) um Abgrenzen und Ausgrenzen des uns ureigenen Raumes aus der Umgebung, um Inbesitznehmen, um Sich-Niederlassen. Aber auch darum, ein Zuhause finden zu können.“25 Auf die Parallelen zur Kosmogonietheorie bei Mircea Eliade hatte ich bereits hingewiesen.26 Das Quadrat ist ein gleichseitiges Rechteck. Das Quadrat steht für die Materie, die Erde, das Weibliche, den Leib, das Irdische, das Maß, die Ganzheit, das „die vollkommene Symmetrie 22 Ammann, Ruth: Heilende Bilder der Seele: Das Sandspiel. München 1989, S. 181 23 Aeppli, Ernst: Der Traum und seine Deutung, Zürich 1943, S. 271: „Vier Jahreszeiten machen das Jahr, also das Ganzjahr aus. Vier Elemente: Wasser, Erde, Feuer, Luft sind Material und Erscheinungsweise der Welt. Phythagoras sieht in der Vier den Ursprung und die Wurzel der ewigen Natur. Vier psychologische Funktionen scheinen im Menschen zur Verfügung des Bewussten und des Unbewussten zu stehen. Nach vier Himmelsrichtungen orientiert er sich, und sein Tag entfaltet sich in den Morgen, den Mittag, den Abend und die Nacht.“ 24 Riedel, Ingrid: Formen, Stuttgart 1985 , S. 21 25 ebenda, S. 14 26 ebenda, S. 22: „Innerhalb des Hauses grenzt er weitere Quadrate und Rechtecke aus, die Grundrisse der Zimmer, um sein persönliches Wohnen auszugestalten. Fenster und Türen, die jeweils umgrenzte Ausschnitte der Wirklichkeit öffnen und erschließen, partizipieren an der Symbolik des Vierecks. (...) Das Viereck bietet besonderen Schutz gegen das Chaos, gegen eine noch wilde, ungeordnete, überbordende und vereinnahmende Umwelt. Es entspricht dem Bedürfnis des Menschen nach Abgrenzung, sich solch ein Geviert des Eigenen gegenüber den anderen zu schaffen. So hatten auch die frühen Ab- und Ausgrenzungen von quadratischen Feldern magisch-abwehrenden Charakter, sie galten als Formen des Temenos, des heiligen Bezirks.“ 241 von bewusst und unbewusst ausdrückt, mit allem was die Symmetrierung von Bewusstem und Unbewusstem psychologisch bedeutet.“27 In einer rechteckigen Form herrscht die Dimension des bewussten Ichs vor.28 • Dreieck Das Dreieck ist ebenso eine vom Menschen konstruierte Form und wird bevorzugt in Giebel- und Dachkonstruktionen verwendet. „Allen Dreiecksformen eignet eine Balance, in der sich Dynamik und Statik auf subtile Weise die Waage halten. (...) Das stehende gleichschenklige Dreieck, dessen Spitze nach oben weist wie das Profil eines Zeltes, eines Giebeldaches, einer Pyramide, setzt seine Dynamik, die dem Archetyp der Dreizahl immer schon eignet, nach oben, nach außen frei.“29 Diese Form wird meist als „männliche“ Dreiecksform gedeutet. Flache Dreiecks- bzw. Dachformen wirken „bergend“, spitze, aufragende, keilförmige eher “aggressiv“. Im Altertum galt das spitze Dreieck als Zeichen für Feuer, als Licht - und Erleuchtungssymbol. „Im Volksbrauch, in der sogenannten Magie, die vielfach die durch das Christentum entwertete alte Symbolik bewahrt, ist das Dreieck ein Zeichen des Schutzes und der Abwehr von Dämonen.“30 Das mit der Spitze nach unten zeigende Dreieck stellt das sog. weibliche Dreieck dar. Das Dreieck steht in der psychologischen Bedeutsamkeit auch für familiäre Beziehungen wie Vater, Mutter, Kind und vermag so die entwicklungspsychologische Phase der Triangulierung und der beginnenden Individuation zum Ausdruck zu bringen.31/32 Häufig verkörpern Dreiecksformen auch eine Vater- oder Leistungsproblematik: „Eine Jugendliche malte ein blaues, türenloses, also unzugänglich-verschlossenes, kontaktarmes Haus mit einem sehr hohen, spitzen Dach, das ihr Eingefangensein in eine Ehrgeiz fördernde und fordernde Familienstruktur aufzeigte, die sie statt der wirklichen Geborgenheit eines Hauses umfing. (...) Einsam im Dach, im „Oberstübchen“, ist noch ein erleuchtetes Fenster: ihre Studierstube.“33 • Kreis und Kugel Ingrid Riedel sieht in der Kreisgestalt eine einzigartige Ganzheit und Geschlossenheit, er „bildet ein Innen: das Umgrenzte, das Umschlossene, das Integrierte, das Zugehörige. Er bezeichnet auch ein Außen: das Ausgegrenzte, Ausgeschlossene, Nichtintegrierte, das Nichtzugehörige. (...) Die Gestalt des Kreises entspricht seiner Funktion, etwas Wichtiges, etwas Heiliges zu umgrenzen, zu umschließen.“34 27 ebenda, S. 33, zitiert nach: C. G. Jung: GW, Bd. 5, Olten 1984, S. 203 28 vgl. ebenda, S. 33 29 ebenda, S. 69: 30 ebenda, S. 74 31 ebenda, S. 77: „So stelle ich mir als Modell für die Stellung des Kindes in der Familie zunächst ein Dreieck vor, das dann später, im Laufe der Entwicklung des Kindes, immer mehr an Höhe gewinnt.“ 32 vgl. ebenda, S. 80 ff.: Dächer, gebildet aus stumpfen Winkeln, seien in Kinderzeichnungen für Kinder und Jugendliche charakteristisch, die sich (selbst durch die Spitze des Dreiecks repräsentiert) mit den Eltern (die beide Ecken der Basis darstellen) noch verbunden und von ihnen getragen fühlen. 33 ebenda, S. 82 34 ebenda, S. 91 242 Der umgrenzende Schutzgedanke wird im Bild der mittelalterlichen Stadt und der beschützenden Stadtmauern erkennbar. Oft wird die Stadt auch als Stadtgöttin dargestellt, die eine Mauerkrone trägt und mit einer Kugel, als Symbol der Ganzheit, ausgestattet ist.35 Die Kugel wird in vielen symbolischen Interpretationen als Symbol des größeren Selbst (s. Kap. 7) verstanden, welches das Ich des Menschen umfängt. „Schon die ältesten Behausungen des Menschen dürften rund gewesen sein. Ob es die Schnee - Iglus der Eskimos sind, die Binsenhütten afrikanischer Stämme oder auch Steinhäuser der Megalith - Kulturen von Malta bis Irland, wo sie sich bis heute als Vorratskammern finden: die Häuser waren auf runden Grundrissen errichtet und zu einfachen Halbkugeln geformt. Später wurde dann eine halbkugelförmige Kuppel auf den würfel- oder quaderförmigen Grundkörper eines Hauses aufgesetzt: So entstand auch eine frühe Form der orientalischen Kirche und der Moschee.“36 8.4. Einzelne Hauskomponenten Zur Ausdifferenzierung des Symbols können Deutungsansätze anderer unbewusster Inhalte herangezogen werden, wie z.B. der Träume. In der Traumanalyse kann das vielseitige und umfassende Traumbild Haus den gegenwärtigen Zustand der Persönlichkeitsstruktur symbolisieren und in den Einzelheiten des Hauses oder der Hausteile die verschiedenen Lebenskräfte und Lebensbereiche des Träumenden veranschaulichen.37 „Aber auch das bekannte Haus wird vom Traumarchitekten seinen Absichten gemäß verändert und umgebaut. Sein souveränes Tun fügt Teile verschiedenster Häuser, unter freier Erfindung verbindender Stücke zusammen. Solch ein Traumhaus, bestehend aus Elementen der Wirklichkeit und der Phantasie, ist eine Verbindung von Erlebnisbildern und Symbolen. Im Traumhause sind also mehrere Inhalte unseres Lebens, auch werdende, zu einer psychischen Einheit verbunden. (...) Was „im Hause“ geschieht, geschieht in uns drin. Wir selbst sind sehr oft das Haus.“ 38 • Das Haus als Symbol des menschlichen Körpers In der Literatur finden sich nicht nur etymologische Verwandtschaften zur Haut, sondern auch sehr häufig Bilddarstellungen, die das Haus mit der Gestalt eines menschlichen Körpers vergleichen und von daher die Deutungsvariante „Haus als Ausdruck der Persönlichkeit“ unterstreichen. C. G. Jung fand diese ursprüngliche Bedeutung in einer hebräischen Enzyklopädie des 17. Jahrhundert.39 Das Haus ist das „Seelengehäuse“40 des Menschen und im Buddhismus besteht die Vorstellung, dass der Leib der Seele nur eine Herberge für befristete Zeit bietet. In der psychoanalytischen Traumdeutung wird der 35 vgl. Herder Lexikon der Symbole: a.a.O., S. 160 36 Riedel, Ingrid: a.a.O., S. 92 f. 37 vgl.: Pössiger, Günter: Was bedeuten meine Träume: Lexikon der Traumsymbole und Traumanalyse. München 1988, S. 171 38 Aeppli, Ernst: a.a.O., S. 246 ff. 39 Jung, C. G.: Zugang zum Unbewussten, in: Jung, C. G., et al.: Der Mensch und seine Symbole. Olten und Freiburg, 1987, S.78 40 Doucet, F.: Traum und Traumdeutung. München 1988, S. 114 243 Symbolbezug Leib - Haus noch detaillierter ausgemalt, „so dass die Fassade des Hauses der äußeren Erscheinung entspricht, das Dach dem Kopf oder Geist oder Bewusstsein, der Keller den Instinkten, Trieben, dem Unbewussten, die Küche psychischen Verwandlungen.“41 C. G. Jung sagt: „Wenn in einem Traum ein Haus vorkommt, spielt es sowieso eine wesentliche Rolle, ob man im Keller oder im obersten Stock oder auf dem Dach ist. Da müssen Sie immer an die Stockwerke des menschlichen Körpers denken.“42 • Der Neubau Der Hausneubau in Form eines Sandspielminiaturhauses oder im Traum lässt die meisten Psychotherapeuten positiv aufatmen. Mit ihm konstelliert sich meist ein Wandel, ein neuer Aspekt, eine Erneuerung der Persönlichkeit. Das Richtfest ist aber noch kein Zeichen, dass wir unserem neuen Seelengehäuse Platz genommen haben. Trotzdem ist diese Visualisierung günstig. Sie besagt, „ dass wir eine neue Lebenseinstellung und damit ein neues Heim, einen sicheren Ort unseres künftigen Lebens gefunden haben.“43 Auch in vielen Sandbildern verschiedener Klienten wurde spürbar, dass sich durch den Hausbau wesentliche Veränderungen in der Persönlichkeit ergaben. Dem Neubau (ich besitze mehrere Hausminiaturen unterschiedlich fortgeschrittener Bauphasen) folgten oft mehr Ich-Stabilität und eine größere Eigenständigkeit. • Der Keller Der Keller wird oft zum Sinnbild der verborgenen Schätze des Selbst und der Selbsterkenntnis; in anderem Zusammenhang ist er auch Sinnbild der dunklen Triebe, der Ängste, ein unheimlicher Ort, der Raum für die nährenden Vorräte oder auch der Bereich des Unbewussten. „Wenn das Bewusstsein meist durch das Haus symbolisiert wird, so ist der Keller das Unbewusste, der Ort, wo man das Bewusstsein verliert, das Dunkle, wo alles das geschieht, was man fürchtet, alles das, was man noch nicht kennt. In der Phantasie des Kindes geschieht dort alles Düstere, alles noch Ungeahnte und Geheimnisvolle. Das Dunkle ist der Ort, wo man sich allein fühlt, wo die bösen Träume herkommen und die Gefahr lauert.“44 „Gleichzeitig ist er schon in der Nähe dunklerer kollektiver Tiefe, ist er doch in die Erde eingebaut.“45 • Das Fundament Ein guter Baugrund ist die richtige Basis für ein stabiles Haus. Diese Weisheit gilt nicht nur im Bauwesen, sondern auch für die psychische Entwicklung eines Menschen. Das positive 41 Herder Lexikon der Symbole: a.a.O., S.71 42 Jung, C. G.: Kinderträume, C. G. Jung Seminare, a.a.O., S. 405 43 Aeppli, Ernst: a.a.O. S. 255 44 Jung, C. G.: Kinderträume, C. G. Jung Seminare, a.a.O., S. 110 45 Aeppli, Ernst: a.a.O., S. 247 f.: Der Traumkeller ist wie der wirkliche Keller erfüllt von geheimer Lebensdichte und umwittert von Gefahren. In ihm sind auch die Vorräte der Seele, die Möglichkeiten des Unbewussten, auch das, was noch nicht ausgepackt wurde und uns damit noch nicht zur Verfügung steht. Wer träumt von einem Keller, der geht hinab in diese Tiefe, um Speise zu holen, um den Wein heraufzutragen, oder er muss die Begegnung tun mit dunklen Wesenszügen seiner Seele. Darum ist der Keller ein Ort des Reichtums, aber auch ein Ort der Angst. Er umschließt alles, was „unten“ ist, damit auch den dunklen Teil unseres Leibes. 244 Urbild des lebensspendenden, schützenden, nährenden Mutterarchetypus ist ein solider Baugrund: „Es wird deutlich, dass sich das Energiefeld des positiven Aspektes des Mutterarchetyps nicht nur auf die leibliche Mutter beschränkt, sondern viel mehr umfasst: die Erde, die nährende Natur, das wärmende und schützende Haus (...) Die umfassende Erfahrung der guten Mutter Erde bildet in der Analyse den Boden für den Bau des Seelenhauses. Wir wissen: ohne guten Baugrund kann kein stabiles Haus errichtet werden.“46 Im Initialsandbild einer dreißigjährigen Frau, deren berufliche und private Situation in Schieflage geraten war, drückte sich dies sehr transparent in Form eines Hauses auf schiefer Ebene ohne Fundament aus. Fundament und Grundmauern können aber auch in der Traumanalyse auf die individuellen Grundlagen der Existenz hinweisen, „auf Prinzipien, grundsätzliche Gefühls- und Denkrichtungen, Anschauungen und Verhaltensweisen sowie auf die körperliche und materielle Basis.“47 • Die Eingangssituation Wenn wir ein Haus zum ersten Mal betreten, erhalten wir einen wichtigen ersten Eindruck durch den Eingangsbereich, der als die Visitenkarte des Hauses gesehen wird. „Der Hauseingang, die Schwelle zwischen Heim und (...) der Außenwelt, ist bei Feng-Shui ein Schlüsselfaktor. (...) Der Hauseingang vermittelt uns ein Vorgefühl darüber, was wir empfinden werden, wenn wir das Gebäude betreten haben. (...) Der Eingang sollte einladend und zugänglich wirken (...).“48 Die Türschwelle symbolisiert die Grenzlinie zwischen der inneren, privaten Sphäre und der sog. öffentlichen Außenwelt.49 Um sie ranken sich zahlreiche Bräuche, Riten und Traditionen. So muss die Braut über die Schwelle getragen werden (Einführung in das neue gemeinsame Heim.) Respekt zollen wir dem Hausbesitzer, indem wir in der westlichen Welt den Hut abnehmen oder in der arabisch-orientalischen Welt die Schuhe ausziehen. In China muss der Hauseingang nach Süden, in Madagaskar nach Westen hin orientiert werden. Der Ort der (Tür-) Schwelle ist der Ort vis-à-vis zur Außenwelt und wird in verschiedenen Ländern und Mentalitäten unterschiedlich positioniert: Das nordamerikanische Haus, sofern es sich als solches typisieren lässt, hat zur Straßenfront keine Einzäunung. Es ist Teil des Straßenbildes und der Vorgarten mag als halböffentlicher Raum angesehen werden. Dies könnte als Zeichen der amerikanischen Offenheit gegenüber Fremden interpretiert werden. In England verschiebt die umgrenzte (oft mit Hecken umfriedete) Garteneingangsfront mit Törchen die eigentliche Schwelle vom Hause weg zur Grundstücksgrenze. Ist dies ein Symbol für eine größere Reserviertheit und Zurückhaltung? • Die Hausfassade Die Fassade repräsentiert die Persona, die schützende Maske oder das Gesicht, das ein Mensch aufsetzt, um in verschiedenen Rollen der Welt gegenüberzutreten. In C. G. Jungs Viele Menschen begehren freilich nicht zu wissen, was im dunklen Kellergeschoss vorhanden ist, was in diesem geschieht.“ 46 Ammann, Ruth: Heilende Bilder der Seele: Das Sandspiel, München 1989, S. 98 47 vgl. Pössiger, G.: a.a.O., S. 172 48 Rossbach, Sarah: Feng-Shui, Die chinesische Kunst des gesunden Wohnens. München 1989, S. 107 ff. 49 Auch in Tempeln gibt es die Abgrenzung des innersten Heiligen (das Fanum) und des Profanen, des außerhalb liegenden „Weltlichen“. 245 Konzept zählt sie zu den Archetypen: „Die Persona kann sich auf die Geschlechtsidentität, ein Entwicklungsstadium, einen sozialen Status, eine Tätigkeit oder den Beruf beziehen; im Laufe des Lebens trägt ein Mensch viele verschiedene Personas, manchmal auch mehrere zur gleichen Zeit. Die Gesellschaft braucht ein Mittel zur Erleichterung von Beziehungen und des Austausches; diese Funktion wird teilweise von den Personas der beteiligten Individuen übernommen.“50 Die Persona wird oft auch als „sozialer Archetyp“ bezeichnet, sie beinhaltet alle möglichen Kompromisse, die dem Leben in einer sozialen Gemeinschaft eigen sind. Sie ist Vermittler zwischen dem Ich und der äußeren Welt. Erst wenn der Mensch sich allzu sehr mit seiner Persona identifiziert, besteht die Gefahr einer pathologischen Entwicklung. „Die Fassade kann übertrieben sein, bei Manchen ist sie ungepflegt, es wird kein Wert darauf gelegt, richtig auszusehen. Ein Mann erlebt im Traume, dass man eine Fabrik baut. Wie er näher tritt, bemerkt er, dass es sich nur um großartige Fassaden handelt, die einen Großbetrieb darzustellen hatten. So war es bisher auch in seinem Leben gewesen, leerer Betrieb, auf Schein berechnet. Ein Anderer bemerkt, dass man die Fassade seines Hauses, das wohl seine Ehe darstellte, in schweren, schönen Steinen erneuerte, dahinter war das ganze Haus von Bomben zerstört. Die Ehe ist also bloß formell, aber desto betonter als Fassade noch vorhanden, der großartige Schein trügt - vor allem den Träumer selbst.“51 • Das Dachgeschoss Das Dach nimmt als Symbol für die Schutzfunktion des Hauses oftmals eine Pars-pro-toto- Funktion ein: Man sucht ein Dach über dem Kopf. Oft symbolisiert es „den Kopf, Verstand, Vernunft, Meinungen, Ideen und Pläne“.52 Träume mit dem Dachboden als zentralem Thema vermögen uns auf längst vergessene Situationen und Angelegenheiten, die wir sozusagen auf dem Dachspeicher abgestellt haben, hinzuweisen. „Die obersten Räume eines Hauses, die den weitesten Blick gewähren, sind symbolische Bezirke der Hirntätigkeit und des Verstandes.“53 Der Boden oder Speicher wird für manche Kinder wie der Keller zu einem Angstort. „Außerordentlich gefährlich ist es, wenn „Feuer im Dache“ (...) ausbricht. (...) Solche Brandträume können beginnende geistige Störungen ankündigen.“54 • Die Küche Für die Küche sind Interpretationen zu finden, die diesen Raum als den Weiblich- Mütterlichen beschreiben, als „das ernährende mütterliche Prinzip in uns selbst.“55 Er ist der Ort der (Ver-) Wandlung, Zutaten werden in essbare Gerichte verwandelt. Küchenträume haben oft mit unserer seelischen Verdauung zu tun, „der Ort der seelischen Informationsverarbeitung.“56 50 Samuels, Andrew et al.: Wörterbuch Jungscher Psychologie. München 1989, S. 156 f. 51 Aeppli, Ernst: a.a.O, S. 254 52 Pössiger, G.: a.a.O., S. 172 53 Doucet, F.: Bindlach 1987, S. 245 54 Aeppli, Ernst: a.a.O., S. 251 55 ebenda, S. 248 f. 56 Doucet, Friedrich: Traum und Traumdeutung, München 1988, S. 114 246 • Das Schlafzimmer Schlafzimmer sind nach Klausbernd Vollmar „Orte der Beziehung, deren Probleme und deren schönste Augenblicke.“57 „Schlafzimmerträume machen viel Intimes bewusst. Häufig wird dabei, was gegenwärtig Problem ist, zurückverlegt in das einstige Elternschlafzimmer, vielleicht weil von dort aus heute wirksames Schicksal seinen Anfang genommen hat. Im Schlafzimmer ist man in der persönlichen Sphäre, ist man, weil man dort schläft, auch im persönlichen Unbewussten.“58 • Toilette / Bad Dieser kleine Raum nimmt im Traum der Menschen eine viel größere Bedeutung ein als die meisten gerne zugeben. Er steht auch in Bezug zu den Entwicklungsphasen Sigmund Freuds und Erik H. Eriksons. Das Kind lernt dort auch Vorgänge seines Körpers kennen. Im Traumgeschehen geht es oft um Reinigung, Entlastung vom seelisch Erledigten. • Nicht benutzte Räume Träume sprechen oft von nicht genutzten Räumen einer Wohnung oder eines Hauses. Hierin könnte ein Hinweis auf einen nicht gelebten Teil unserer Persönlichkeit liegen. Solche Träume beziehen sich oft auf die psychologischen Grundfunktionen C. G. Jungs, also darauf, dass der Mensch die innere und äußere Umwelt „mit den Funktionen der Wahrnehmung, des Denkens, des Fühlens und der ahnenden Intuition erfasst. Jeder dieser Funktionen scheint nun ein Raum zu entsprechen (...).“59 „Nach indianischem Glauben ist jeder Mensch ein Haus mit vier Zimmern: Einem körperlichen, einem geistigen, einem gefühlsbetonten und einem religiösen. Die meisten von uns neigen dazu, den größten Teil der Zeit in nur einem Zimmer zu verbringen. Doch solange wir nicht täglich jedes Zimmer betreten, und sei es nur, um zu lüften, so lange sind wir keine ganzen Menschen.“60 57 Vollmar, Klausbernd: Handbuch der Traumsymbole. Königsfurt 1998, S. 236 58 Aeppli, Ernst: a.a.O., S. 249 f. 59 Aeppli, Ernst: a.a.O., S. 251 f. 60 Godden, Rumer: in: Eschenbach, Ursula (Hrsg.): Der Ich-Komplex und sein Arbeitsteam: Topographie der Selbstentfaltung. Therapeutische Konzepte der Analytischen Psychologie C. G. Jungs; Bd. 4, Bonz Verlag, Leinfelden-Echterdingen, 1996, S. 295 247 8.5. Das Haus in der Dialektik zwischen Individuum und Kollektiv Wie der Mensch als Individuum in die Gesellschaft eingebunden ist, so steht bildhaft das Haus in seinem Standortkontext. Es bildet damit eine „Dialektik“ ab, die sich zwischen der Individualität und dem historischen, kulturellen Hintergrund entfaltet und spezielle, lokaltypische Gegebenheiten berücksichtigen muss. Das Haus fügt sich in standorttypische und sozio-kulturelle Gegebenheiten ein, die ich aufgrund der Diversität der Einflussfaktoren nur kurz erwähnen kann. Sozio-kultureller Hintergrund Häuser sind so vielfältig, wie die Menschen, die sie konstruieren, erbauen und/oder bewohnen. Jede Kultur brachte spezielle Hausformen hervor. Die „Baukunst“ und „Architekturstile“ scheinen sich vor einem sozio-kulturellen Hintergrund zu reflektieren. Im Laufe der Geschichte entwickelten sich typische Muster der wohnräumlichen Gestaltung, die sich in der modernen Industriegesellschaft zusehends verwischen. In traditionellen Kulturwelten wird die bebaute Wohnumwelt den vorhandenen lokalen Ressourcen und Möglichkeiten möglichst optimal angepasst. Schlafstätten, Räume, Arbeitsplätze, Wege und Plätze reflektieren die kulturellen Merkmale der jeweiligen sozialen und ethnischen Gruppen. Die wechselseitige Beeinflussung zwischen dem „Hausen“ und der Kultur hat insbesondere der Architekt Amos Rapoport in „House form and Culture“ detailliert untersucht. Dabei fand er Einflüsse in der Hausgestaltung z.B. durch Materialressourcen, kulturell-religiöse und rituelle Hintergründe sowie durch Klimafaktoren, die als umfassendes Geschehen auf den Hausbau einwirken. „The different forms taken by dwellings are a complex phenomenon for which no single explanation will suffice. All possible explanations, however, are variations on a single theme: people with very different attitudes and ideals respond to varied physical environments. These responses vary from place to place because of changes and differences in the interplay of social, cultural, ritual, economic, and physical factors. These factors and responses may also change gradually in the same place with the passage of time; however, lack of rapid change and persistence of form are characteristic of primitive and vernacular dwellings. The house is an institution, not just a structure, created for a complex set of purposes. Because building a house is a cultural phenomenon, its form and organization are greatly influenced by the cultural milieu to which it belongs. (...) My basic hypothesis, then, is that house form is not simply the result of physical forces or any single causaI factor, but is the consequence of a whole range of socio-cultural factors seen in their broadest terms. Form is in turn modified by climatic conditions (the physical environment which makes some things impossible and encourages others) and by methods of construction, materials available, and the technology (the tools for achieving the desired environment). I will call the socio-cultural forces primary, and the others secondary or modifying.“61 Traditionelle Kulturen geben auch durch ihre soziale Kohärenz den Individuen Gestaltungsrahmen vor, die sich aus dem geschichtlichen Verlauf heraus für die jeweilige 61 Rapoport, Amos: House form and Culture. Prentice Hall Inc., Englewood Cliffs, N. J., 1969, S. 46 f. 248 Gruppe als „Bestmögliche“ erwiesen. Klima, Schutzbedürfnis, Materialien und Technologien, Verteidigungsaspekte, wirtschaftliche Verhältnisse, religiös-rituelle Aspekte sowie der Standort bildeten wichtige Einflussgrößen. Viele dieser Einflussfaktoren haben im Zeitalter der Globalisierung und Individualisierung ihre Bedeutung verloren. Es verschwinden damit charakteristische „Stadt- und Landschaftsgesichter“ mit ihrem Kulturgut und womöglich auch das Gemeinschaftsgefühl, das sich hierdurch ausdrückte. Regionaltypen und Materialprovinzen, wie sie z.B. in Deutschland durch Fachwerkhäuser, riedgedeckte friesische Bauernhöfe oder Backsteinhäuser zu finden sind, verschwinden mit der überregionalen Verfügbarkeit von Baumaterialen. Das naturnahe, dem Lebensraum angepasste Haus weicht einem standardisierten, ubiquitär verfügbaren „Fertigprodukt“ aus Beton, Isolierputz und / oder Fertighausteilen. Es wird zu einer austauschbaren „Wohnmaschine“. Integration in das Stadt- und Landschaftsbild versus Individualität Moderne Baugebiete lassen oft wenig Integration der einzelnen Häuser in einen städtebaulichen, kollektiven Gesamtrahmen erkennen. In traditionellen Stadtstrukturen musste sich das Haus in den kollektiven Rahmen der Stadt oder Umgebung einfügen. Hierdurch geschieht symbolisch eine gesellschaftliche Einordnung und nicht etwa nur eine Anpassung an die Bauflucht, die Geschossigkeit und Nutzung aus ästhetischen Gründen. Das Bauplanungsrecht berücksichtigt diese Anpassungs- und Begrenzungserfordernis durch Festsetzungen nach § 3462. Dies trägt m. E. dazu bei, dass Gesellschaft noch als Gemeinwesen erlebt werden kann und nicht nur als individuelle Bedürfnisbefriedigung um jeden Preis. „Aber Einordnung des Individuums bei Wahrung seiner Selbstständigkeit, nicht seine Nivellierung trotz der großen Zahl, bleibt die Aufgabe, die auch uns übertragen ist. In Folge dessen muss die visuelle Gliederung, die ein Stadtprofil verrät, zugleich signalisieren, dass in ihr das Individuum nicht vergewaltigt, nicht missachtet wird, sondern existiert und am Ganzen Anteil nimmt. Signalisiert die so genannte funktionelle Architektur, das Rastermuster der sich vielerorts gleichenden Hochhäuser so etwas? Der visuelle Eindruck, den eine Stadt beim ersten Anblick und beim Wandern durch sie hinterlässt, reicht bis tief in unbewusste Vorgänge des Verstehens eines Ausdrucks. Das Haus ist nicht nur eine Hülle, es ist Gestalt. Gestalt für den Einzelnen, für eine kleine Gruppe oder für eine große Zahl von Menschen, die den gleichen gesellschaftlichen Zwängen unterworfen sind, aber doch den Wunsch haben, ihre eigene Variation des Lebenssinnes zu finden.“63 Beim Hausbau ergeben sich noch andere wechselseitige Bezüge, die man als innere Verpflichtung für das Wohl der Allgemeinheit aus psychoanalytischer Sicht bezeichnen kann. 62 § 34 Bau-GB regelt die Integration einzelner Vorhaben im sog. unbeplanten Innenbereich: „§34 Zulässigkeit von Vorhaben innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile. (1): Innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile ist ein Vorhaben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist. Die Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse müssen gewahrt bleiben; das Ortsbild darf nicht beeinträchtigt werden. “ 63 Mitscherlich, Alexander (1971): a.a.O., S. 104 f. 249 „Wenn ein Mensch eine seiner Ideen in der Außenwelt realisiert, z. B. ein Haus baut, dann wirkt dieses Haus nicht nur auf ihn zurück, sondern eben durch das Betrachten auch auf viele andere Menschen. Wenn wir unserem Kind sein Zimmer einrichten, so wirkt das auf seine Seele zurück. Wenn wir uns mit hässlichen Gegenständen umgeben, so wirkt das dementsprechend auf uns zurück. (...) All diese Aufgaben sind mit großer Verantwortung verbunden.“64 Das Haus befindet sich somit im polaren Spannungsfeld zwischen Individualisierung und gesellschaftlicher Anpassung. Ein Mensch vermag seiner Anpassung an den „Mainstream“ zum Beispiel durch seine „zweite Haut“, die Kleidung, Ausdruck zu verleihen und durch seine „dritte Haut“, das Haus, zu präsentieren. Häuser können ihren Bewohnern durch gleichmachende Bauformen unbewusst ein Gefühl der „Entindividualisierung“ vermitteln. Für C. G. Jung ist „das Erreichen psychologischer Reife ist eine individuelle Aufgabe - und ist deshalb heute zunehmend schwieriger, da die Individualität des Menschen durch weitverbreitete Konformität bedroht ist.“ Er illustriert diesen Sachverhalt in seinem Buch „Der Mensch und seine Symbole“65 beispielhaft mit dem Luftbild eines monotonen englischen Wohnkomplexes mit stereotypen Gebäuden. Ein vergleichbares Wohngebiet habe ich in Canterbury (England) vorgefunden. Jeder Hausbesitzer versucht durch „individuelle Farbgestaltung“ sein Haus von anderen unterscheidbar zu machen. Abb.14: Monotoner Wohnkomplex und Individualität durch Farbgebung Quelle: eigene Fotografie 64 Ammann, Ruth: Traumbild Haus. Von den Lebensräumen der Seele. Olten 1991 65 C. G. Jung, Zugang zum Unbewussten, in: Jung, C. G., von Franz, M.-L. et al.: Der Mensch und seine Symbole. Olten und Freiburg, 1987, S. 218 f. 250 Insbesondere in großstädtischen Verdichtungsräumen und Ballungsrandzonen entstehen durch Baulandknappheit und/oder überhöhte Grundstückspreise vermehrt uniforme Reihenhaussiedlungen mit Standardgrundrissen. Individualität des Wohnens und Hausens „Das Haus als Ganzerscheinung - groß, klein, weiträumig, winklig, Bürgerhaus, Palast oder Hütte, in der Stadt oder auf dem Land - umzeichnet den Ort, wo wir uns seelisch befinden.“66 Das Wohnen ist „nicht eine beliebige Tätigkeit neben anderen, sondern die Bestimmung des Menschen, die über sein Weltverhältnis entscheidet. Nur im Wohnen kann der Mensch zur Erfüllung seines Lebens kommen. Zugleich hat das Wohnen an der jeweiligen Kultur und Gesellschaft teil, so dass man über die Art und Weise des Wohnens etwas über das Selbst- und Wirklichkeitsverständnis des Menschen erfahren kann.“67 In Bezug auf die Bewohner wird das Haus „zum (fast untrüglichen) Indikator der Kultursensibilität der einzelnen Hausbewohner. Der Mensch prägt sein Haus, und an den Möbeln, den Bildern, den Blumen, dem Schmuck, den Gegenständen der Erinnerung (...) ist der Geist des Bewohners abzulesen. Viele Häuser werden (unbemerkt) zum Gericht.“68 Abb. 15: Unterschiedliche Formen des Wohnens Quelle: eigene Fotografien Westlichen Kulturen scheinen den vom Sozialpsychologen Alexander Mitscherlich vielfach beklagten Typus des Einfamilienhauses zu bevorzugen, er bildet wohl die gesellschaftlichen Wunschträume der Kleinfamilie am besten ab. In verschiedenen Studien in England, Australien und den Vereinigten Staaten wurden Leute aller Einkommensschichten und Ausbildungsgrade interviewt und gebeten, ihr „ideales Haus“ zu beschreiben.69 Sie führen zu dem Ergebnis, dass sich die Mehrheit (über 85%) ein freistehendes, viereckiges 66 Aeppli, Ernst: a.a.O., S. 254 67 Biehl, Peter: a.a.O., S. 73 68 Kirchhoff, H.: a.a.O., S. 113. Die Art und Weise, wie sich verschiedene gesellschaftliche Gruppen in den einzelnen Räumlichkeiten eines Hauses einrichten, analysiert: Cooper, Clare: The house as symbol of self. University of California, Working Paper No. 120, 1971, S. 15 ff. sehr detailliert. 69 vgl.: Cooper, Clare: The house as symbol of self. University of California, Working Paper No. 120, 1971, S. 12 f 251 Einfamilienhaus mit Garten wünscht. Das Bild des Hochhaus-Apartments werde für das Familienleben jedenfalls im Allgemeinen abgelehnt; es werde nicht als Heim assoziiert, sondern nur das sog. freistehende Haus auf festem Grund und Boden. Es ist schwierig zu sagen, ob es die Form selbst ist, die bevorzugt geschätzt wird, oder die Tatsache, dass man ein gewisses Territorialrecht über ein kleines Stückchen der Erde ausüben möchte. Clare Cooper fand ihre These bestätigt, dass das Hochhaus von den Amerikanern abgelehnt wird, weil es keinen Bezug zu Grund und Boden vermittelt, das tradierte Bild des Hauses verletzt und unbewusst als eine Bedrohung für das Selbstbild und Einzigartigkeit der Persönlichkeit empfunden wird. Auch die Stern Leserumfrage „Mein Wunschhaus – Ergebnisse einer Leserbefragung (im Sommer 1996)“ ergab, dass 90 % aller Personen, die in den nächsten 2 Jahren ein Haus zu bauen beabsichtigen, ein freistehendes Einfamilienhaus realisieren möchten. Dies ist auch der Favorit bei den potentiellen Hauskäufern. Tab. 2: Bevorzugte Baustile des „Wunschhauses“ Bevorzugter Baustil70 „gefällt sehr gut“ (%) „gefällt gut“ (%) Landhausstil 42 37 Öko-Haus, moderner Stil 37 40 1 bis 1 ½ geschossiges Haus mit Satteldach 32 43 Atriumhaus 18 38 Experimentaler, moderner Stil 15 25 Klassisches, bürgerliches Stadthaus 9 33 Bungalowstil (Flachdach) 5 13 Quelle: Stern Leserumfrage „Mein Wunschhaus – Ergebnisse einer Leserbefragung im Sommer 1996, Hamburg 1996, S. 15 f. „Stadtnähe ist das entscheidende Kriterium. Sowohl für Singles als auch für Familien – die Mehrheit sucht die Nähe zur Stadt. 40% der jungen Familien können sich aber durchaus vorstellen, sich auch in einer ländlichen Umgebung wohl zu fühlen. Der Landhausstil kommt bei den Befragten insgesamt am besten an, dicht gefolgt von einem Haus, das Modernität und ökologische Bauweise in sich vereinigt.“71 Eine Untersuchung von Carl Werthman, nach welchen Kriterien Californische Vorstädter ihr Haus auswählen, kommt zu dem Ergebnis, dass das Streben nach Individualität und Statuspositionen die dominierenden Kauf- und Gestaltungsfaktoren für Häuser sind: „Extrovertierte, selfmade Businessmen tendieren zu „angeberischen“ Häusern im imitierten Kolonialstil mit Schaufensterverglasung; während Leute in den helfenden Berufen eher einen 70 Stern Leserumfrage „Mein Wunschhaus – Ergebnisse einer Leserbefragung im Sommer 1996, Hamburg 1996, S. 15 f. 71 ebenda 252 ruhigen, nach innen gerichteten und von Architekten gestylten Haustyp wählen, der dem gängigen Standard des guten Designs entspricht. Aber fast alle Hauskäufer schauen nach dem Baustil, der ihrem eigenen Image am besten nahe kommt. In den zeitgenössischen Kulturen wird ein besonderer Wert auf die Originalität gelegt. „Man“ erwirbt ein Haus, das einzigartig ist und das sich von den anderen in der Straße unterscheidet, da sich auch der Eigentümer in einer immer mehr conformistischen Welt darum bemüht, seine persönliche Einzigartigkeit zu erhalten. Jedoch darf das Haus auch nicht zu weit weg von den konventionellen Vorstellungen sein, da sonst der Eigentümer leicht in den Ruf gerät, ein „Nonconformist“ zu sein. Und dies ist in der Amerikanischen Gesellschaft ein Etikett, welches man vermeiden sollte.“72 Das „mobile Hippie-Haus-auf-Rädern“, so analysierte Clare Cooper in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, „ist eine Wohn- und Hausform, die das Bild verschiedener Mitbürger, wie ein Haus sein soll, bedroht“. Es werde insbesondere von „Hippies“ angenommen, nicht nur weil es eine günstige Form des Wohnens darstellt, sondern weil es insbesondere Mobilität, Einzigartigkeit und Freiheit von „Verwurzelung“ verkörpert. Diese Art des Zuhause-Seins passte nicht so recht in die Vorstellungen von Haus und Nachbarschaft des durchschnittlichen amerikanischen Hausbesitzers und Bürgers. „Eine Person, die in einem mobilen Haus lebt, muss irgendwie genauso unbeständig und labil sein, wie das Haus, das sie bewohnt.“73 Verschiedene amerikanische Städte reagierten prompt ausgrenzend mit Stellplatzverboten. Ähnliche (Vor)urteile bestanden auch gegenüber Hausbootbesitzern. Sie seien „anders“, „Zigeuner“, „Nonconformisten“, und ihre außergewöhnliche Lebensart reflektiere diese Werte.74 Individualisierungstendenzen und Auswirkungen auf das Wohnverhalten recherchierte auch „Der Spiegel“. Der immer noch ungebrochene Trend zum Einfamilienhaushalt sei offenbar nicht nur ein individuelles, sondern ein gesellschaftlich bedeutsames Phänomen, das sozial- bzw. individualpsychische Strukturen präsentiere: „Isolierung und Werteverfall, das Orientierungsdilemma in einer stetig wachsenden Informationsflut und politische Abstinenz sind Kennzeichen einer neuen, zersplitterten Gesellschaft, deren Angehörige nur noch eine verbindliche Bezugsgröße haben: Ihr Ego. „Die Menschen“, sagt der Soziologe Ulrich Beck, „müssen sich selbst zum Zentrum ihrer eigenen Lebensplanung machen.“ (...) Seit 1950 hat sich die Zahl der Einpersonenhaushalte in Westdeutschland beinahe verdoppelt, in jeder dritten Wohnung lebt heute ein Single. In Großstädten, wo Obdachlose zum Straßenbild gehören und Wohnungssuchende bei Neuvermietungen Schlange stehen, beanspruchen Alleinlebende einen besonders hohen Anteil der Wohnungen für sich.“75 Der Einpersonenhaushalt steht demnach im Verdacht, nicht Individualisierung auszudrücken, sondern auch Bindungs- und Beziehungsfähigkeit abzubilden. 72 Cooper, Clare: The house as symbol of self. a.a.O., S. 11 73 vgl. Cooper, Clare: a.a.O., S. 14 f. 74 ebenda, S. 15 75 „Tanz ums goldene Selbst“ – Wandeln sich die Deutschen von einer Solidargemeinschaft zu einer Gesellschaft von Egoisten? In: Der Spiegel 22/1994 S. 64 f. 253 „Stilles Refugium, Schlafplatz oder Platz für Selbstverwirklichung – für viele Alleinlebende hat die Wohnung, ermittelte die Psychologin Jaeggi, sogar den Rang eines Ersatzpartners. Ein Partner, der etwas ausdrückt, was man selbst mit Worten vielleicht gar nicht ausdrücken kann. Das Gefühl für die „Ebenbildlichkeit“ der Wohnung ist daher bei Vielen ausgeprägt. Für Singles bilden die eigenen vier Wände eine Konstante, die zu ihrer Identitätsbildung beiträgt. Deshalb richten Alleinlebende ihre Behausungen nicht nur mit viel Liebe und Sorgfalt ein, sondern verteidigen sie auch verbissen, notfalls unter Verzicht auf eine Lebensgemeinschaft.“76 Hier offenbaren sich u.U. Selbstdarstellungsbedürfnis, fehlende Anpassungsfähigkeit, Isolation, die Einstellung zum Gemeinsinns, etc. Tendenzen der narzisstischen Selbstverliebtheit haben auch Auswirkungen auf gesellschaftliche Strukturen, Wohnungs-, Städtebau und Raumplanung. Als „Den Tanz um das „goldene Selbst“ bezeichnet Ulrich Beck diese übersteigerte Ich-Bezogenheit: „Denke man das Marktmodell der Moderne zu Ende, sagt Beck, lande man bei einer Welt ohne Ehe und Familie: „Jeder muss selbstständig, frei für die Erfordernisse des Marktes sein, um seine ökonomische Existenz zu sichern. Die durchgesetzte Marktgesellschaft ist auch eine kinderlose Gesellschaft.““77 8.6. Zusammenfassung der Ergebnisse vor dem Symbolkontext Haus Die verschiedenen in dieser Arbeit verwendeten Theorien und Modelle haben verdeutlicht, dass Objekte und Symbole für uns primär eine persönliche Bedeutung haben. Unsere Biographie bildet den Kontext für die subjektive Interpretierbarkeit oder, besser gesagt, für die subjektive Interpretationsnotwendigkeit, die wir uns aber vor einem gesellschaftlichen Hintergrund sozial aneignen. Individuum und Gesellschaft befinden sich in einer Wechselbeziehung gegenseitiger Beeinflussung. Gesellschaft und Individuum entfalten sich vor einem epochaltypisch-historischen Kontext, der sich mit Beginn der Neuzeit zu einem Rationalisierungsprozess des Daseins entwickelt. Die Überwertigkeit der Ratio, wie sie Max Weber in der protestantischen Ethik konstatiert, führt zu einer Entzweiung von Körper und Geist, die Klaus M. Schmals treffend als „Die Dualisierung von Körper und Geist“ bezeichnet. Der funktionelle Städtebau der Moderne bildet schließlich den evidenten Schlusspunkt in einer Entwicklungsreihe, die die Entwicklung von Stadt und Haus (mit-) beeinflusst. Bei vielen Menschen führten zweckrational- funktionale Architektur, Städtebau und Raumplanung zu psychogenen Reaktionen. Also forschte ich nach einem soziologischen Modell, welches das Beziehungsgefüge des Menschen in seiner Lebenswelt individuell abbilden kann und gleichzeitig erhellt, wie das Individuum seine Lebenswelt in sich aufnimmt. Die persönliche „Lebenswelt“ impliziert, dass wir es mit einer individuellen Sicht von Welt und Dingen zu tun haben, die der Interpretation bedarf und deren Bedeutung nicht „verobjektiviert“ werden kann. Ich wählte den Symbolischen Interaktionismus, ein Modell, das die Beziehungen zwischen dem Menschen und seiner Umwelt interaktiv beschreibt und damit als hermeneutische Methode einzuordnen ist. 76 ebenda 77 ebenda 254 Hermeneutische Methoden zielen auf Interpretation, Verständnis und Sinnerfassung der Phänomene und Objekte vor einem Kontext. Andererseits geht es um die Beantwortung der Frage, was ein Objekt für das Individuum bedeutet: Was bedeutet das Haus, der Baum, die Stadt, der Brunnen, etc. für mich und andere. Das zu interpretierende Element und der Interpretierende stehen in einem wechselseitigen Beziehungsgefüge. Soziales Handeln ist auf symbolvermittelten Prozessen aufgebaut. Die interagierenden Teilnehmer zeigen sich gegenseitig Bedürfnisse und Erwartungen an, die permanent entschlüsselt werden müssen. Das setzt aber voraus, dass die Teilnehmer die Fähigkeit zur Rollenübernahme und zum Perspektivenwechsel erworben haben. Dieses „Taking the role of the other“ erwirbt der junge Mensch in der Primären Sozialisation, in der Interaktion mit der ersten Botschafterin der Gesellschaft, der Mutter. Ein zur Selbstobjektrepräsentanz internalisiertes Bild der Mutter reduziert die starke Objektbezogenheit des Kindes und ermöglicht dem Individuum Symbolbildung und Abstraktion des Begreifens. Sozialisation bedeutet auch vor dem Hintergrund des Symbolischen Interaktionismus Aneignung und Erfahrung von Umwelt in Form einer Prägung und Entwicklung einer Persönlichkeitsstruktur. Im Sinne des psychoanalytischen Paradigmas bahnt die Sozialisation die Beziehungsgestaltungen zu anderen Menschen und Objekten für das weitere Leben vor. Herbert Blumer erweitert das Interaktionsgeschehen entscheidend auch auf die Beziehungen zu unserer Lebenswelt, die aus einer Vielzahl von Objekten besteht. Menschen sind, „individuell und kollektiv, darauf ausgerichtet auf der Grundlage der Objekte zu handeln, die ihre Welt ausmachen“. Objekte können damit für Individuen aufgrund ihrer ganz spezifischen Lebenserfahrungen grundverschiedene Bedeutungen beinhalten. Unsere Lebenswelten sind aus Sicht der Semiotik durch unsere lebensgeschichtlichen Erfahrungen codifiziert. Das, was uns einen sinnvollen Gebrauch der Objekte ermöglicht, sind ihre Funktion (die Denotation) und die mit ihr verbundenen Bedeutungen. Das Modell von Denotation und Konnotation ermöglicht es uns, die Weiterentwicklung von Begrifflichkeiten zu erklären. So hat sich z. B. die Ursprungssituation des „Behaustseins“ aus der Höhle entwickelt, die die erste Funktion „Schutz“ denotiert. Auf Grund von Erfahrungen im historischen Kontext entfalten sich hieraus eine Reihe von Objekten, die diese beschützende Funktion verkörpern, von den flüchtigen Siedlungen, über Wind- und Wetterschirme, Zelte, etc. bis zu Formen des Sesshaftigkeit wie Baumhäuser, Hütten, Haus, Stadtvilla, Geschosswohnungsbau, etc. Es entsteht eine unendliche Semiose von Konnotationen, die Umberto Eco als die symbolische Funktion bezeichnet. Bei jedem Betrachter eines Hauses schwingen seine persönlichen lebensgeschichtlichen Erfahrungen und affektiven Bezüge, die seine subjektive Sicht der Dinge darstellen, mit. Dieses Faktum veranschaulicht die Phänomenologie nach Aron Gurwitsch mit dem Begriff der Wahrnehmungsabschattung: Sie verweist auf die Einseitigkeit jeder Wahrnehmung, die darin besteht, das das in ihr erfasste Objekt sich in einer ganz bestimmten Abschattung, Erscheinungs- oder Darstellungsweise präsentiert. Wir nehmen einen einzigartigen Standpunkt und Blickwinkel ein, einen unter vielen möglichen. In Folge dessen ist auch die 255 Deutung von Bildern, Zeichen und Symbolen nach Stefan Müller-Doohm immer eine Einzelfallanalyse. So spricht ein Mensch in der westlichen Kultur über Wohnformen, die nicht seinen Vorstellungen entsprechen (Hütten, Zelten etc.), oftmals abwertend und bezeichnet sie als primitiv. Es kommt jedoch auf den Standpunkt an, von dem aus man die Dinge betrachtet. Der Südsee-Häuptling Tuiavii philosophiert über den Weißen und seine Wohn- und Hausformen folgendermaßen: „Der Papalagi (der Weiße, der Fremde) wohnt wie die Seemuschel in einem festen Gehäuse. Er lebt zwischen Steinen, (...). Steine sind rings um ihn, neben ihm und über ihm. Seine Hütte gleicht einer aufrechten Truhe aus Stein. Einer Truhe, die viele Fächer hat und durchlöchert ist. Man kann nur an einer Stelle des Steingehäuses ein- und ausschlüpfen. (...) An dieser Stelle ist ein großer Holzflügel, den man kräftig zurückstoßen muss, ehe man in die Hütte eintreten kann.“78 Wahrnehmung ist ein subjektiver Vorgang und geschieht durch die Aufnahme und Weiterleitung von Sinnesreizen, die wir mit Hilfe kognitiver Funktionen selektieren, speichern und mit neuen Erfahrungen verknüpfen. Unsere Lebenswelt nehmen wir in Bildern in uns auf, die wir strukturieren, indem wir einzelne Figuren (Objekte, Symbole, Zeichen, etc.) vor einem Hintergrund erfassen. Wir erkennen „das Haus“ vor dem Kontext einer Stadtsilhouette, obwohl es nicht vollständig sichtbar ist als solches, weil wir ein ganz persönliches inneres Bild davon haben, wie sich die Ganzheit des Noematischen Systems „Haus“ darstellt. Wir erfassen Objekte noematisch, nehmen den Raum wahr, wie er mehrdimensional aufgrund unserer Gedächtnisleistung aussehen könnte und nicht nur, wie er sich „wirklich“ präsentiert. Auch durch Zeichen und Symbole, wie sie z.B. in Plänen, Karten und Legenden vorhanden sind, werden Objekte ohne physische Präsenz geistig kommunizierbar, mitteilbar. Reizverarbeitung, Deutung und Sinngebung sind durch subjektiv biographische Lebenserfahrungen als individuelle Vorgänge vorstrukturiert. Das chiastische Modell der Blickverschränkung von Jaques Lacan begründet Thesen, warum wir uns durch bestimmte Objekte „angesprochen“ fühlen. Das Subjekt wählt nach seiner Auffassung nicht Bilder, sondern der Blick kommt ihm entgegen. Das Subjekt tritt hierdurch in eine Beziehung zu den Objekten, die seine Blicke durch das Begehren lenken und die ihn damit in eine „signifikante Abhängigkeit“ zurückführen. Das, was das Begehren ausmacht, ist die individuelle innerpsychische Grundstruktur, erworben als Konglomerat psychosozialer Faktoren. Der Betrachter wird durch Objekte und Zeichen angesprochen, die seinem symbolisch- konnotativen Prägungshorizont entsprechen. Nach P. Jüngst und O. Meder erlebt der Mensch Räume als symbolische Bedeutungsträger primärer internalisierter Interaktionserfahrungen. Nach ihrem psychoanalytischen Ansatz sucht das Individuum diese 78 E. Scheuermann: Der Papalagi. Die Reden des Südsee - Häuptlings Tuiavii aus Tiavea, Zürich 1979, S. 33; zitiert in: Biehl, Peter: Symbole geben zu lernen, Einführung in die Symboldidaktik anhand der Symbole Hand, Haus und Weg, Neukirchener Verlag, S. 211 256 immer wieder in seiner Lebenswelt auf; wenn es seinen Lebensraum gestaltet, bildet es seine inneren Lebensentwürfe in der Außenwelt ab. Auch ArchitektInnen, Stadt- und RaumplanerInnen übertragen individuelle Lebensentwürfe und kollektiven Zeitgeist in Planungskonzeptionen. Die Charta von Athen stellt das dominierende zeitgenössische Modell des vergangenen Jahrhunderts dar, das sich auf Basis einer ethisch geprägten Überwertigkeit der Rationalität entwickeln konnte. Doch vor dem Hintergrund fordistischer Gesellschaftsstrukturen verselbständigte sich die Zweckrationalität und gedieh zu einem Trojanischen Pferd, mit dessen Hilfe irrationale Zwecke politisch durchsetzbar wurden. Der Städtebau der Moderne bildet daher in seinen Erscheinungen Wertmaßstäbe ab, die zu den beschriebenen psychogenen Reaktionen und Verhaltensauffälligkeiten führten. Die rational funktionale Struktur lässt kaum emotionale Belegungen der Orte zu, so dass an solchen Orten ein Gefühl von Heimat kaum aufkommen kann. Kevin Lynchs Thesen, dass visuelle Erfassbarkeit, Einprägsamkeit und Orientierung zu einer Identifizierung mit der Heimatstadt führt, werden widerlegt. Es genügt eben nicht, die Einprägsamkeit und Bildprägekraft durch physisch erfassbare Gegenstände zu erhöhen. Denn befragte Personen zeigten auch in „vorbildlich“, klar gestalteten Bereichen deutliche Erinnerungslücken, sog. weiße Flecken. Die Befragten brachten im Gegenteil ihre emotionale Verbundenheit zu kleingliedrigen Bereichen und historischen Winkeln zum Ausdruck und zeigten damit eine positive Belegung, wie sie von zweckrational gestalteten Räumen nie erreicht wurde. Das Sandspiel ist eine auf der Analytischen Psychologie basierende psychotherapeutische Methode, die die innerpsychische Dynamik von Symbolen in einer Miniaturwelt im Kleinen darstellt. Es versteht sich einerseits als ein therapeutisches Angebot, um die beschriebenen psychogenen Reaktionen zu behandeln. Andererseits vermag der symbolschaffende therapeutische Sandspiel- Prozess zwischen Raum und Symbolik zu vermitteln. Er offeriert auch an ArchitektInnen, Stadt- und RaumplanerInnen ein fakultatives Angebot, etwas über die tiefe Bedeutung und den Umgang mit Symbolen zu erfahren, Zugang zu unbewussten Ebenen und eigenen Lebensentwürfen zu finden. 8.7. Beispiele lebensgeschichtlicher Erfahrungen und symbolischer Übertragungen auf Haus und Wohnen Meine theoretischen Ausführungen über die subjektive Interpretationsbedürftigkeit von Symbolik möchte ich anhand einiger biographischer Beispiele aus Sand-, Bild-, Traum- und Lebenswelten vertiefen. 8.7.1. Häuser im Therapeutischen Sandspiel Die Erfahrung mit einer tiefenpsychologischen Methode zeigt, dass sich das Bild eines Hauses in bestimmten Therapiephasen spontan einsteIlt und geradezu eine Schlüsselstellung im Prozessverlauf einnehmen kann. Die besondere Affinität zum Haus- Motiv überrascht insofern nicht, als das Haus ja ein ausschließlich von Menschen 257 geschaffenes Kulturgut darstellt. So scheint es auch „selbstverständlich“, dass sich der Mensch in Phantasievorstellungen, Träumen, Bildern, Gedichten und Romanen seine Wunsch-Häuser, Erinnerungs-Häuser, Rückzugs-Häuser, etc., gestaltet. Im Sand sind Häuser sehr häufig verwendete Miniaturen. Um ein differenziertes Bild erstellen zu können, biete ich in meiner Sammlung ca. 120 verschiedene Häuser unterschiedlicher Größe, Bauart, Herkunft und Nutzungsart an: Höhle, Zelte, Hütten, Bauernhaus, Fachwerkhaus, Friesenkate, Niedersächsischer Hof, Züricher Stadthäuser, das Einfamilienhaus auf dem Land, moderne Bauten, griechische, arabische und chinesische Häuser, Hütten, Pfahlhäuser, Gasthaus, Hotel, Bahnhof, Fabrik, Kirche, etc. Meines Erachtens ist jedoch auch der Standort des Hauses von herausragender Bedeutung, weil er gestalttheoretisch den symbolischen Kontext in Bezug auf das Objekt ausdifferenziert. Auch hier gibt es, wie in der Realität, beliebte und unbeliebte Standorte, gefährliche und romantisch-heimelige Plätze, die einen Hinweis auf die Verfassung der Persönlichkeit geben könnten. Die folgenden aus der Sandspielpraxis genannten szenischen Bilder sind ausdrücklich nur vor dem persönlichen Kontext verstehbar; kausale Schlussfolgerungen sind hieraus nicht ableitbar: Es kommt z.B. vor, dass sehr ehrgeizige Kinder spontan zwei Sandbilder füllen wollen (oder auch noch um einen dritten Kasten bitten). In einem solchen Fall werden zwei Seiten ihrer psychischen Struktur abgebildet, die das Kind (noch) zu verbinden sucht. So baut ein 10- jähriger Junge einen leeren Hafen, in dem die Schiffe auf dem Land liegen; in dem anderen Kasten entsteht eine Stadt voller Häuser, ohne irgendein lebendes Geschöpf. Ein Haus brennt, und es sind gleich 4 Feuerwehrfahrzeuge und 2 Rettungsschiffe erforderlich, um diesem Brand Einhalt zu gebieten. Dieser Junge hatte aufgrund seiner Sozialisation erhebliche Probleme, stabile Kontakte mit anderen Menschen einzugehen, woran ihn seine Impulsivität und Aggression (Feuer) immer wieder hinderten. Ein anderer Junge, der sich durch aggressive Impulse in seinem Umfeld „überschwemmt“ fühlt, gestaltet im Sand eine Flusslandschaft. Anschließend berichtet er sehr detailliert, dass dieser benachbarte Fluss auch schon mal heftig über die Ufer treten könne. Um die Bewohner des Hauses zu schützen, baut er für sie (d.h. um sich selber zu schützen) ein Pfahlhaus. Ein Mädchen gestaltet eine kleine Insel mit drei Bäumen: „Papabaum, Mamabaum und noch einer“. Einen Zugang zu dieser Insel gibt es nicht. Die Familie lebt sehr isoliert mit wenig persönlichem „Freiraum“ in Haus und Wohnumfeld. Sozialkontakte nimmt die Mutter fast ausschließlich wahr. Häufig findet man auch ein ausgeprägtes Schutzbedürfnis, welches sich durch hohe Wälle, Mauern oder Zäune rund um das Haus äußern kann. Höhlen, die Unterschlupf bieten, können das Bedürfnis nach Zuflucht, einer Regression in den Uterus symbolisieren, oder auch die Geburtsstunde. Dieses Motiv ist nicht nur bei Kindern beliebt. 258 Ein Mädchen möchte gerne (wieder) in einer heilen Welt leben. Das Sandbild zeigt ein idyllisches Einfamilienhausleben auf dem Land mit Teich und Pferden. Das Kind sagt während des Spieles, dass es „in der hässlichsten Industriestadt von (...) aufgewachsen ist“. Ursprünglich wurde sie in den ersten vier Lebensjahren auf dem Lande sozialisiert, bis der Vater „in diese hässliche Stadt“ versetzt wurde. Ob hier die internalisierten Bilder der baulichen Umwelt oder der Wunsch, in diese „unbelastete“ Frühkindheit regredieren zu können, der „Planer“ des Sandbildes war, bleibt dahingestellt (siehe Abb. 16). Im Laufe von Sandspielprozessen ergeben sich aus meiner Erfahrung bei nahezu allen KlientInnen bestimmte Veränderungen im räumlichen Umfeld: Kinder quengeln so lange bei ihren Eltern, bis aus einem dunklen Kinderzimmer ein freundlicher Aufenthaltsort wird. Chaotische Wohnverhältnisse werden strukturiert und aufgeräumt. Mann/Frau zieht um, wechselt den Wohnstandort, gönnt sich mehr Freiraum, richtet sich neu ein. Dabei gehen jeweils die Veränderungen in den innerseelischen Räumen den Veränderungen im Lebensumfeld voraus. Abb. 16: Sandbild eines elfjährigen Mädchens Quelle: eigene Fotografie 8.7.2. Hauszeichnungen Die Psychotherapeutinnen E. Klessmann und H. Eibach haben in „Wo die Seele wohnt. Das imaginäre Haus als Spiegel menschlicher Erfahrungen und Entwicklungen“ einige hundert Bilder von Häusern, meist aus psychotherapeutischen Prozessen, untersucht. Sie stellen fest, „dass sich - wie auch immer gestaltete - imaginäre Behausungen ja nicht nur im 259 Intimraum psychotherapeutischer Begegnungen entfalten. Es gibt sie fast überall: Sie finden sich als Ideogramme und Metaphern in der Literatur, als Sinn-Bilder in der darstellenden Kunst, als Gleichnisse in den Religionen, aber auch als Symbolträger von Ideen in Politik und Gesellschaft.“79 Die Autorinnen untersuchten Häuserbilder in den einzelnen Altersstufen und Lebensphasen auch in Bezug auf geschlechtsspezifische Besonderheiten, Belastungen, Entwicklungsstufen, Loslösungsprozesse von Eltern etc. Auch hier wurde deutlich, dass der jeweils eigene Kontext die Symbolik des Hauses wesentlich ausdifferenzieren kann und sich in diesen Bildern Stimmungen, seelische und körperliche Krankheiten, familiäre Belastungen und Ängste widerspiegeln. Es entstehen Häuser über dem Abgrund, Häuser mit riesigen Zäunen, bzw. Häuser, die sich im Wald verstecken; leere, fensterlose Häuser, Häuser ohne „Gesicht“, Unterwasserhäuser, brennende Häuser. Die Pädagogin Ulrike Unterbrunner hat 1988/89 1100 Kinder und Jugendliche zwischen 13 und 18 Jahren zu Vorstellungen, Wünschen und Ängsten im Hinblick auf die Zukunft befragt. Sie malten ohne spezielle Vorgaben Bilder zu der Thematik. „Sehen wir uns die Ergebnisse dieser Untersuchung an, so müssen wir feststellen, dass mehr als die Hälfte der Kinder eine pessimistische Welt imaginiert hatten. Sie sahen buchstäblich schwarz: Hochhäuser und Fabriken verpesteten mit dicken Rauchwolken die Luft. Neben solchen, zum Teil apokalyptisch anmutenden Zukunftsvorstellungen fanden sich Phantasien von einer idyllisch scheinenden «heilen Welt», nicht selten waren diese gemischten Welten durch einen Weg oder eine Mauer voneinander getrennt. Es zeigte sich, dass die «grüne Idylle» den Wunschvorstellungen der Kinder entsprach, während die andere Seite ihre Ängste (...) repräsentierte.“80 Abb. 17: Kuppelhaus als Zukunftsvision Abb. 18: Kahles erleuchtetes Haus mit Fernseher Quelle: Klessmann, Edda; Eibach, Hannelore: Wo die Seele wohnt. Das imaginäre Haus als Spiegel menschlicher Erfahrungen und Entwicklungen. 81 Das Haus eines 17 Jahre alten Jungen verdeutlicht die Umweltangst besonders eindrucksvoll, wobei ich vermute, dass sich hier allgemeine Umweltängste und 79 Klessmann, Edda; Eibach, Hannelore: Wo die Seele wohnt. Das imaginäre Haus als Spiegel menschlicher Erfahrungen und Entwicklungen. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle 1998, S. 9 80 ebenda, S. 36 81 ebenda, S. 36 f. 260 Lebenswelterfahrungen aus seiner Biographie zu einem Knäuel verstrickt haben. Sein Kommentar war: „Das Haus steht nicht nur für sich allein, sondern für eine ganze Stadt. Das Blaue ist eine Kuppel rundherum. Unter der Kuppel ist noch Leben, zwar nicht in Freiheit, aber es lebt noch etwas. Das Rote da an der Kuppel sind Lüftungen, damit saubere (lacht dazu ironisch) Luft hereinkommt. Heraußen ist halt nur Wüste und Tod und so.“82 Dieses Bild könnte meines Erachtens auch eine schizoid-isolierende Persönlichkeitsstruktur darstellen, die oft aus den Sozialisationserfahrungen des „Sich- abgrenzen-Müssens“ resultieren. Der düstere Hintergrund lässt auch depressive Züge vermuten, die aber nur in einem persönlichen Kontakt mit dem Klienten geklärt werden können. Einer Oberschulklasse stellten die Autorinnen die Aufgabe, ein Bild zum Thema „Das Haus als Schutz in Dunkelheit und Kälte“ zu malen, wobei die bergenden und warmen Aspekte betont werden sollten. Die Ergebnisse fielen sehr bedrückend aus: „Das Ergebnis hatten wir so nicht erwartet: Von 8 Bildern zu diesem Thema hatte lediglich ein Mädchen eine anheimelnde Familienszene in einem erleuchteten Haus dargestellt. Die anderen Häuser strahlten weder Geborgenheit noch Wärme aus. Sie wirkten kahl und nüchtern. Die wenigen Menschen darin schienen voneinander isoliert. Wenn sie überhaupt kommunizierten, dann nur mit dem allgegenwärtigen Fernseher, der in keinem Haus fehlte.“83 8.7.3. C. G. Jung’s Traum und Interpretationen zum Thema Haus C. G. Jung beschreibt in seiner Autobiographie sehr lebendig den Traum „seines“ Hauses und seine Erforschungen in ihm: „Ich war in einem mir unbekannten Hause, das zwei Stockwerke hatte. Es war „mein Haus“. Ich befand mich im oberen Stock. Dort war eine Art Wohnzimmer, in welchem schöne alte Möbel im Rokokostil standen. Ich wunderte mich, dass dies mein Haus sein sollte und dachte: Nicht übel! Aber da fiel mir ein, dass ich noch gar nicht wisse, wie es im unteren Stock aussähe. Ich ging die Treppe hinunter und gelangte in das Erdgeschoss. Dort war alles viel älter und ich sah, dass dieser Teil des Hauses etwa aus dem 15. oder 16. Jahrhundert stammte. Die Einrichtung war mittelalterlich, und die Fußböden bestanden aus rotem Backstein. Alles war etwas dunkel. Ich ging von einem Raum in den anderen und dachte: Jetzt muss ich das Haus doch ganz explorieren! Ich kam an eine schwere Tür, die ich öffnete. Dahinter entdeckte ich eine steinerne Treppe, die in den Keller führte. Ich stieg hinunter und befand mich in einem schön gewölbten, sehr altertümlichen Raum. Ich untersuchte die Wände und entdeckte, dass sich zwischen den gewöhnlichen Mauersteinen Lagen von Backsteinen befanden; der Mörtel enthielt Backsteinsplitter. Daran erkannte ich, dass die Mauern aus römischer Zeit stammten. Mein Interesse war nun aufs höchste gestiegen. Ich untersuchte auch den Fußboden, der aus Steinplatten bestand. In einer von ihnen entdeckte ich einen Ring. Als ich daran zog, hob sich die Steinplatte, und wiederum fand sich dort eine Treppe. Es waren schmale Steinstufen, die in die Tiefe führten. Ich stieg hinunter und kam in eine niedrige Felshöhle. Dicker Staub lag am Boden, und darin lagen 82 ebenda, S. 36 83 ebenda, S. 36 f. 261 Knochen und zerbrochene Gefäße wie Überreste einer primitiven Kultur. Ich entdeckte zwei offenbar sehr alte und halb zerfallene Menschenschädel. - Dann erwachte ich.“84 C. G. Jung’s Interpretation dieses Traumes, der damals auf dem Weg war, seine Analytische Psychologie von der Psychoanalyse Sigmund Freuds abzugrenzen, war folgende: „Es war mir deutlich, dass das Haus eine Art Bild der Psyche darstellte, d.h. meiner damaligen Bewusstseinslage mit bis dahin unbewussten Ergänzungen. Das Bewusstsein war durch den Wohnraum charakterisiert. Er hatte eine bewohnte Atmosphäre, trotz des altertümlichen Stils. Im Erdgeschoss begann bereits das Unbewusste. Je tiefer ich kam, desto fremder und dunkler wurde es. In der Höhle entdeckte ich Überreste einer primitiven Kultur, d.h. die Welt des primitiven Menschen in mir, welche vom Bewusstsein kaum mehr erreicht oder erhellt werden kann. Die primitive Seele des Menschen grenzt an das Leben der Tierseele, wie auch die Höhlen der Urzeit meist von Tieren bewohnt wurden, bevor die Menschen sie für sich in Anspruch nahmen. Es wurde mir damals in besonderem Maße bewusst, wie stark ich den Unterschied zwischen Freuds geistiger Einstellung und der meinigen empfand. Ich war in der intensiv historischen Atmosphäre von Basel Ende des vorigen Jahrhunderts aufgewachsen und hatte dank der Lektüre der alten Philosophen eine gewisse Kenntnis der Psychologiegeschichte erworben. Wenn ich über Träume und Inhalte des Unbewussten nachdachte, geschah es nie ohne historischen Vergleich. (...) Zu meiner geschilderten Bewusstseinslage fügte der Traum nunmehr weitere Bewusstseinsschichten hinzu: das längst nicht mehr bewohnte Erdgeschoss im mittelalterlichen Stil, dann den römischen Keller und schließlich die prähistorische Höhle. Sie stellen verflossene Zeiten und überlebte Bewusstseinsstufen dar. Viele Fragen hatten mich an den Vortagen des Traumes brennend beschäftigt: Auf welchen Prämissen beruht die Freudsche Psychologie? Zu welcher Kategorie des menschlichen Denkens gehört sie? In welchem Verhältnis steht ihr fast ausschließlicher Personalismus zu den allgemeinen historischen Voraussetzungen? Mein Traum gab die Antwort. Er ging offenbar zurück bis in die Grundlagen der Kulturgeschichte, einer Geschichte aufeinander folgender Bewusstseinslagen. Er stellte etwas wie ein Strukturdiagramm der menschlichen Seele dar, eine Voraussetzung durchaus unpersönlicher Natur. Diese Idee schlug ein, «it clicked», wie der Engländer sagt; und der Traum wurde mir zu einem Leitbild, das sich in der Folgezeit in einem mir unbekannten Maße bestätigte. Er gab mir die erste Ahnung eines kollektiven a priori der persönlichen Psyche, das ich zunächst als Spuren früherer Funktionsweisen auffasste. Erst später, bei vermehrter Erfahrung und zuverlässigerem Wissen erkannte ich die Funktionsweisen als Instinktformen, als Archetypen.“85 84 Jaffé, Aniela (Hrsg.): Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung, Olten 1971,S. 163 85 ebenda, S. 164 f. 262 8.7.4. Der Fall „Dahl“: Die Bedeutung einer Wohnung im narrativen Interview Ich möchte abschließend noch eine Fallanalyse Roswitha Breckners86 vorstellen, die sich mit der individuellen Betroffenheit von Bürgern durch städtebauliche Sanierungsvorhaben auseinandergesetzt hat. Auf Grundlage von narrativen Interviews und textanalytisch- rekonstruktiven Auswertungsverfahren zeigt sie mit dieser empirischen Forschungsmethode, wie das Sanierungsgeschehen als komplexes soziales Handlungsfeld in das Alltagsgeschehen von Bewohnern eingreift. Kann der betroffene Bürger in diesem institutionellen Geschehen noch autonom handeln, gibt es Psychodynamiken, die Entscheidungspunkte für einen positiven oder negativen Ablauf setzen? Die Falldarstellung lässt erkennen, wie das Wohnen im Haus X sich mit biographisch- lebensgeschichtlich aufgeladenen Konnotationen zu einem scheinbar kaum entwirrbaren Knäuel von Wohnen und Beziehungsgeschehen verwebt. Der Verlauf städtebaulicher Sanierung von Wohngebäuden ist eng mit der jeweiligen Lebenssituation der einzelnen betroffenen Bürger verbunden. Frühere, in der Bewältigung von Krisensituationen erworbene Erfahrungen, partizipieren als Kompetenzhintergrund hieran ebenso wie z.B. die in die Zukunft gerichteten Erwartungshaltungen und Perspektiven. Die Bewältigung des Sanierungsgeschehens ist oft nicht erklärbar durch eine Bandbreite voneinander trennbarer materieller oder sozialer Faktoren. Im Vordergrund der Fallanalyse steht die Rekonstruktion eines über alle Lebensbereiche hinweg vielfach verwobenen und interaktiv konstituierten Problemzusammenhangs, den Joachim Matthes in Bezug auf das Wohnen so formuliert: „Mit einer gewissen, aber auch nur einer gewissen Übertreibung ließe sich sagen, dass sich die Wohnerfahrung der Ehepartner über weite Strecken des von ihnen gestifteten Familienzyklus hinweg als ein ständiges Bemühen um Stabilisierung der sozialräumlichen Fixierung ihrer Lebenswelt darstellt, - ein Bemühen, das sich gegen vielerlei Widerstände und Belastungen durchzusetzen hat: in der Bewältigung der eigenen Interaktionsprobleme, die mit der Schaffung einer eigenen ehelichen Lebenswelt und deren räumlicher Fixierung auftreten; in der Bewältigung der mit der Sozialisation der Kinder sich stellenden Aufgaben und der von den Kindern zunehmend ausgehenden eigenständigen Interaktionen; in der materiellen Sicherung und ggf. im Ausbau der Familienwohnung.“87 Zum Zeitpunkt des Interviews im Jahr 1988 ist Herr Dahl 32 Jahre alt. Er ist in Moabit/Tiergarten aufgewachsen und hat bis dato immer in dem Bezirk gewohnt. Er kennt „viele Ecken“ im Gebiet, was erstaunlicherweise nicht zu einer emotionalen Bindung an den Ort geführt hat. Dass Herr Dahl bisher im Bezirk wohnen blieb, ist für ihn „Zufall“. Er zeigt weder ein „Kiezbewusstsein“, noch hat er einen großen Freundes– oder Bekanntenkreis in dem Bezirk. Im Gegenteil: Die räumliche Distanz zu alten Freunden und deren Lebenszusammenhängen sei ihm manchmal ganz recht, was nach meiner Erfahrung auf 86 Breckner, Roswitha: „Ich möchte einfach nur meine Ruhe, aber wenn’s nicht mehr zu machen geht, dann kämpfe ich auch.“ Eine Fallanalyse zum Zusammenhang von Sanierungsverlauf und Lebensgeschichte. In: Jahrbuch Stadterneuerung 1997, S. 76 87 Matthes, Joachim: Wohnverhalten. Familienzyklus und Lebenslauf. In: Kohli. M (Hrsg.): Soziologie des Lebenslaufes, Darmstadt / Neuwied, 1978, S. 163 f. Zit. bei: Breckner, R.: a.a.O., S. 76 263 Kontaktschwierigkeiten hinweisen könnte, die nach Fritz Riemann schizoiden Persönlichkeitsstrukturen zuzuordnen wären. Es gibt für Herrn Dahl auch keine markanten Orte oder Treffpunkte, aber Bereiche, die in der Kindheit als „dunkle Ecken“, als Angsträume erfahren wurden: „Aber auch gerade hinten, das war eigentlich irgend wo ’ne ganz finstere Ecke, ich hab mich also da nie wohlgefühlt, so in der Hinsicht, ganz früher, weil es immer ziemlich dunkel war da hinten – dann der Park, unheimlich, als Kind halt. (...) Ich kannte die Markthalle, da bin ich groß geworden, aber da hinten hab ich mich nie so richtig wohlgefühlt.“88 Den Wohnstandort des Bezirkes Tiergarten würde er verlassen, wenn es seine finanziellen Möglichkeiten zulassen würden, er träumt vom Einfamilienhaus in Berlin-Friedenau oder Berlin-Frohnau, was für ihn zum Symbol eines sozialen Aufstiegs wird. Berlin-Kreuzberg stellt für ihn den Gegenpol des Wünschenswerten dar, hier „stört ihn inzwischen weniger das Stadtbild als die Bewohner, die er als „finsteres Volk“ bezeichnet“89. Bei näherer Betrachtung des „Falles“ könnte man von Schattenprojektionen im Sinne der Analytischen Psychologie sprechen. Wenn man einem narrativen Interview nicht beiwohnt, können diagnostische Ansätze aber nur mit größter Vorsicht als Arbeitshypothesen verstanden werden. Mit der Stadt „Berlin“ als Gesamt-Stadt fühlt sich Herr Dahl innerlich sehr stark verbunden, sie will er nicht aufgeben. Diese Aussage wirkt zunächst irrational, da Herr Dahl nur wenige andere Städte kennt. „Die Stadt, was die mir bringt, bringt mir keine andere Stadt. (...) Wenn ich ehrlich bin, ich fühle mich in Berlin am wohlsten. Ich möchte auch nicht mehr raus, ich geh’ auch nicht mehr raus.“ 90 Es stellt sich daher die Frage, welche emotional-symbolischen Inhalte mit dieser Stadt konnotiert werden. Aus Sicht der Analytischen Psychologie verkörpert die Stadt u.a. einen mütterlich-beschützenden Aspekt bzw. Archetypus, von dem sich Herr Dahl offenbar nicht zu lösen vermag. Er scheint „seiner“ Stadt „Berlin“ zutiefst verhaftet zu sein, denn alle Umzüge in Bereiche außerhalb Berlins werden zu schnellen „Rückzügen“ nach Berlin. Während Herr Dahl zu seinem näheren Wohnumfeld eine neutrale sachorientierte Beziehung zu pflegen scheint, so erfüllt seine Wohnung eine ins Extrem gesteigerte Bedeutung. Er setzt sie gleich mit seinem Bemühen, eine stabile eheliche Beziehung und Familie aufzubauen, wobei zeitliche und monetäre Investitionen offenbar keine Rolle spielen. Aus psychoanalytischer Sicht kann man hier eine Idealisierung vermuten, einen Abwehrmechanismus, der durch eine „überwertig gewordene Idee“ von den eigentlichen Themen und Konflikten des Herrn Dahl und seiner Beziehungs(un)fähigkeit ablenken soll. Das idealisierte Objekt „Wohnung der Familie“ ist ein Ausdruck des Begehrens, einer Kompensation, eines Substitutes, das eine sogenannte Plombenfunktion besitzt. (siehe auch Kap. 6) Es muss ein „Loch“ in der entwicklungspsychologischen Historie füllen, das aber 88 Schilderung von Herrn Dahl, zit. bei: Breckner, R.: a.a.O., S. 80 89 Breckner, R.: a.a.O., S. 81 90 Schilderung von Herrn Dahl, zit. bei: Breckner, Roswitha: a.a.O., S. 81 264 durch physische Objekt-Präsenz allein nicht gefüllt werden kann. Es verbergen sich dahinter inhaltliche, symbolische Bedeutungen, die es zu entschlüsseln gilt, um das Handlungskonzept des Herrn Dahl verstehen zu können. Die Wohnung ist ein Objekt, mit dem u.a. Konnotationen wie Heim, Nest, Familie, Schutz, etc. assoziiert werden können, also psychoanalytische Formen einer positiven Mutter-Kind- Beziehung. Als Arbeitshypothese könnte man formulieren, dass diese primäre interaktionelle Mutter-Kind-Dyade nicht hinlänglich erfahren wurde, weshalb das Defizit auf das Wohnungsobjekt als präsentatives Symbol übertragen wird. Das basale „Nachholbedürfnis“ wird durch die später von außen „hereinbrechende“ Sanierung deutlich in Frage gestellt, was die tiefgreifende Erschütterung des Herrn Dahl aus psychoanalytischer Sicht erklärbar macht. Daher dreht sich alles kompensatorisch „um die schöne Wohnung“, für die sich Herr Dahl in jahrelangen, seine Kräfte übersteigenden Arbeiten aufreibt. Chronologie der Geschichte des Herrn Dahl Die erste Wohnung im Haus X – Straße des Sanierungsgebietes bezog Herr Dahl 1983, mehrere Umzüge im Bezirk waren vorausgegangen (Herr Dahl verleugnet möglicherweise seine Affinität zu dem Gebiet). Er lebte in einer 2 ½ Zimmer Wohnung, als er seine Frau kennen lernte. Für die Familienpläne war jedoch die Wohnung zu klein, und als Frau Dahl schwanger wurde, beabsichtigte das Paar, nach Westdeutschland umzuziehen. Während Herr Dahl die Möbel transportierte, bekam seine Frau eine Fehlgeburt, und die Eheleute zogen nach Berlin zurück, weil Herr Dahl sich von seiner Schwiegermutter nicht akzeptiert fühlte (möglicherweise eine Rationalisierung für den „Rückzug“). Sie bezogen übergangsweise in Berlin ein Ein-Zimmer-Apartment, und Herr Dahl fand nach ca. einjähriger Suche eine stark renovierungsbedürftige, verwahrloste, aber noch finanzierbare Wohnung, die er nach einem 3/4 Jahr intensivstem persönlichem Sanierungseinsatz als „fertig“ bezeichnete. Als seine Frau kurz nach dem Einzug erneut schwanger wurde, stellte sich erneut die Frage der Unterbringung des Kindes, da sich der Wohnungszuschnitt als ungünstig erwies. Zufällig wurde die Drei-Zimmer–Nachbarwohnung frei und Herr Dahl renovierte auch diese mit großem Zeit- und Kraftaufwand (ca. 4 Jahre), was die Kräfte aller Familienmitglieder überstieg. Phasen der Erholung, der materiellen Sorglosigkeit und der Freizeit ohne Druck des Fertig-Werden-Müssens gab es, auch für den Arbeitlosen Herrn Dahl kaum, das alles sollte „später“ kommen. Zudem ging Herr Dahl vertraglich die Verpflichtung ein, bei Auszug alles in den ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen oder auf seine Investitionskosten zu verzichten (und seine Arbeitszeit: 4 Jahre!). Vor diesem Hintergrund erscheint der Sanierungsbeschluss für das Wohngebiet als ein heftiger Schicksalsschlag, denn für Herrn Dahl hatte sich die Lage der Familiengründungsphase noch nicht stabilisiert. Eine „schöne Wohnung“ zu erarbeiten, bildet seinen individuellen Motivationsschwerpunkt. Vor diesem Hintergrund muss die Sanierung zwangsläufig als Störfaktor angesehen werden. Sie erscheint als ein nicht steuerbares Eindringen von Außen, das in seine heile Welt plötzlich hineinbricht. „Liest man diese Darstellung des Verlaufes der Dinge mit Hilfe des Konzeptes biographischer Verlaufskurven von Fritz Schütze (vgl. Schütze. 1981), fällt auf, dass die Sanierung als 265 „Ding“ eingeführt wird, das eine sehr positiv erlebte und dargestellte Entwicklung jäh unterbricht und auf dessen Eintreffen Herr Dahl keinen Einfluss hat. Es „kommt einfach“ von außerhalb und bedroht sein eigenes „inneres“ Familienglück. Es ist zu erwarten, dass mit der Sanierung, dem Ding, eine Kette von Ereignissen eingeleitet wird, die der vorher geschilderten diametral entgegengesetzt ist. Mit anderen Worten, eine negative Verlaufkurve scheint einzusetzen.“91 Die Sanierungsankündigung schlägt 1986 wie eine Bombe in die Lebenspläne des Herrn Dahl ein. Die Ereignisse überstürzen sich, in der Ehe nimmt der Streit, wie man dieser Sanierung begegnen sollte, Überhand. Herr Dahl war entschlossen, sein „Heim“ zu verteidigen, während seine Frau keine Möglichkeit sah, in dem Wohnungsbestand zu bleiben. „Weil ich jetzt erfahren habe, dass det modernisiert wird, das Haus. Ja, nun natürlich meine Frau, die ist aus allen Wolken gefallen, dann gab’s Zank, der Streit ging denn los. Da hab ich jetzt das ganze Geld ringesteckt, jetzt kommt das Modernisierungsobjekt. Ich sagte, Mensch Marianne, mach dir nicht verrückt, wir werden erst mal sehen, was passiert. Aber wie gesagt, die Unruhe war da. Dann kam der Laden auch zwischenzeitig noch dazu und der ausschlaggebende Punkt war aber mehr oder weniger die Wohnung (...).“ 92 Aus Psychoanalytischer Sicht stellt die Sanierung einen Aktualkonflikt dar, der einen frühen Konflikt, welcher sich über die Symbolik Wohnung, Haus und „Mütterlich-umsorgt-Werden- Wollen“ abbildet. Es ist nachvollziehbar, dass Herr Dahl in dieser Konfliktsituation seinen Wunschtraum eines glücklichen Heims seiner Frau zuschreibt, d.h., er projiziert seine eigene Erwartungen auf seine Frau. Frau Dahl aber entzieht sich der verfahrenen Situation, indem sie sich scheiden lässt und nach Westdeutschland umzieht. Herr Dahl dagegen meint, in der Sanierung den Grund für sein persönliches Scheitern zu erkennen; m. a. W. die tieferliegende Problematik bleibt verdrängt, wird auf ein anderes Objekt verschoben: „Da kann die beste Ehe nicht funktionieren. Gerade bei so’nem Ärger mit den Wohnungen. Wenn Sie ein gemütliches Zuhause haben, dann geht alles, bloß wenn Sie Ihre Felle wegschwimmen sehen. (...) Alles Geld weg, Wohnung weg, sie haben bloß noch ihre Möbel, da spielt keine Frau mit, weil die Spannungen dermaßen groß sind. Das war nachher so, wir haben uns nur noch irgendwo im Clinch gelegen und wir haben nur gegrübelt, nur gegrübelt. Also sie nun abgehauen, ich konnte das gar nicht fassen.“ 93 Die Wohnung wird „funktionalisiert“ zum Garanten des ehelich-familiären Glücks, d.h., es ist zu vermuten, dass nur noch wenig „Gemeinsames und Beziehung“ zwischen den Partnern besteht. Die Wohnung wird zu einem „Ablenkungsmanöver“, das von der Bearbeitungsnotwendigkeit essentieller psychischer Problemstellungen und interaktioneller Konflikte ablenken soll. Als Herr Dahl nun in zwei großen Wohnungen, die ihre Bedeutung als Familienort verloren hatten, alleine wohnt, ist der Gipfelpunkt der Krise erreicht. Er zieht überstürzt aus, was wie 91 Breckner, R.: a.a.O., S. 81 92 Schilderung von Herrn Dahl, zit. bei: Breckner, R.: a.a.O., S. 84 93 Schilderung von Herrn Dahl, zit. bei: Breckner, R.: a.a.O., S. 85 266 eine Flucht vor der gescheiterten Familiensituation anmutet: „Die Wohnungen repräsentierten die Hoffnung auf einen „glücklichen“ Familienalltag, der zwar noch nicht eingekehrt, aber auf den hin die ganze Lebensplanung orientiert war. Sobald diese durch den drohenden Verlust des Ortes, an dem sein „Glück“ Gestalt annehmen sollte, durch den Auszug und die Scheidung zusammenbrach, wurden die Wohnungen nur noch zum emotionalen wie materiellen Ballast.“94 Für Herrn Dahl hat sich die handlungsleitende symbolische Bedeutung grundlegend gewandelt. Im Frühjahr 1988 ändert sich die Lage jedoch erneut. Die Eheleute Dahl versöhnen sich und schmieden Pläne, wieder zusammenzuziehen. Für Herrn Dahl ergibt sich wieder eine Perspektive zur Fortsetzung des Ehe- und Familienlebens, so dass er zum Zeitpunkt des Interviews retrospektiv seine Lebenssituation als bewältigte Krise darstellt. Zu Beginn der „Sanierungsbedrohung“ hatte Herr Dahl offenbar noch keine Wissensbestände über Sanierungsverfahren, so dass sich seine Handlungskompetenz auf eine Entweder-Oder / Schwarz-Weiß Sicht erstreckte: Entweder wohnen im Bestand und Vermeidung der Sanierung oder er würde alles verlieren. Diese innere Haltung wurde begleitet von einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber allen, die irgendwie mit dem Sanierungsvorhaben zu tun hatten. Der „Modernisierungsapparat da oben“, Mieterberatungsgesellschaft und Bezirksverwaltungen wurden recht pauschal zu seinen „Hauptgegnern“ erklärt, was seine grundlegende Unsicherheit, Misstrauen und mangelhafte Handlungskompetenz unterstreicht. Er vertraute Niemandem, „alle stecken unter einer Decke“. Man könnte vermuten, dass sich hinter diesem Symptomkomplex eine Persönlichkeitsstruktur verbirgt, die der Psychoanalytiker Fritz Riemann als „schizoide Grundstruktur“95 bezeichnete. Besonders stark fällt das ubiquitäre Misstrauen auf, ein Indiz für Konflikte in der primären Sozialisation, in der Interaktion mit der Mutter: Statt eines positiven Urvertrauens entwickelte sich ein Urmisstrauen als Grundeinstellung zur Welt. Seine Einstellung änderte sich erst als er - völlig ratlos - mit einer Sachbearbeiterin der Sanierungsverwaltungsstelle Kontakt aufnahm, weil er seine Entschädigungsansprüche gegenüber dem Sanierungsträger und der Wohnungsverwaltung nicht mehr alleine regeln konnte. Er konnte die juristische Durchsetzungsfähigkeit seiner Rechte nicht einschätzen, suchte Hilfe und arbeitete sich in die komplexe Materie ein. Dennoch verblieb letztendlich eine Unsicherheit und Unzufriedenheit, das Gefühl, um seinen Einsatz, seine Arbeitszeit und sein Engagement betrogen worden zu sein: „Und keiner sagt Ihnen konkret, um was es überhaupt geht. Sie kommen sich dermaßen schlecht vor, ich, ich müsste, also, manchmal kommt es mir vor, als wenn ich das absolute Schwein bin, obwohl ich gar nichts gemacht habe. Habe einfach nur meine Wohnung schön gemacht, ganz normal gerechnet: Hab ’ne billige Wohnung, die bau ich mir aus, steck das rein, weil ich weiß, ich krieg ja nun schon gar nichts dazu, obwohl das gar nicht meins ist, ich zahle trotzdem nur meine Miete. Wenn ich mir’n Haus gekauft hätte, dann wäre das alles noch meins. (...) Ich nehm es noch hin, damit ich bloß ’n bisschen was kriege. Warum nehme ich nicht alles, was mir wirklich zusteht. Ich habe Rechnungen bergeweise voll. Und meine 94 Breckner, R.: a.a.O., S. 85 95 Riemann, Fritz: Grundformen der Angst. Eine tiefenpsychologische Studie. München, Basel 1987 267 Arbeitskraft, mir tut der Buckel weh, ich hab also die Bohlen hochgeschleppt und den Zement und den Kies – warum? Mir gehört es doch gar nicht, nur damit ich ’ne preiswerte Wohnung habe und mich wohlfühle“.96 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Leben des Herrn Dahl durch das Sanierungsvorhaben deutlich aus den Fugen gerät. Es wird erkennbar, dass nicht das Sanierungsvorhaben oder seine Abwicklung an sich das Problem darstellt. Das Sanierungsvorhaben trifft „oberflächlich betrachtet“ in das „Zentrum des Zusammenlebens“ der Familie Dahl, psychoanalytisch gesehen jedoch in einen latent schwelenden Konflikt. Der Aktualkonflikt bewirkt die Reaktivierung eines unbewussten Konfliktes, der in der Frühgenese des Herrn Dahl entstanden war. Dieser unbewusste, zeitlich überdauernde, chronisch abgewehrte und strukturell verfestigte Konflikt ist ein wesentlicher Bestandteil der Psychodynamik, die sich, wie in dem oben geschilderten Fall, zu einem Selbstläufer mit Eigendynamik entwickelt. Der Aktualkonflikt trifft in eine seelisch schlecht verheilte Wunde, eine strukturelle Schwachstelle der Psyche. Die Analytischen Psychologie liefert ein weiteres Erklärungsmodell für die unbewusste Steuerung des Geschehens über die Komplexstruktur. Der zunächst scheinbare Verlust der Wohnung aktualisiert einen tieferliegenden Verlust aus der Frühgenese, dessen „Wucht“ und emotionale Aufladung dann ein differenziertes, bewusstes Handeln unmöglich macht. Jemand handelt „aus dem Komplex heraus“ oder wie C. G. Jung sagte: „Nicht wir haben die Komplexe, sondern die Komplexe haben uns.“ Der unbewusste Komplex steigt in das Bewusstsein auf und überschwemmt es mit unbewussten, verdrängten Inhalten. Grundkonflikte oder Komplexe sind eingekapselte bzw. abgespaltene psychische Anteile, die dann das Prozessgeschehen steuern. Der Mensch ist dann „plötzlich nicht mehr Herr im eigenen Haus“. Die Wohnung erfährt bei Herrn Dahl eine Idealisierung als Lebenszentrum, so dass eine differenzierte Sichtweise und Beurteilung der Sachlage kaum mehr möglich ist. Die Traum- Wohnung wird zur Projektionsfläche innerer Konflikte und früher Interaktionserfahrungen. Mangelnde Fähigkeiten zur Rollenübernahme, zum Perspektivenwechsel und ein geringes Differenzierungs- und Abstraktionsvermögen des Herrn Dahl bewirken, dass er nur seine eigene Sicht der Dinge entwickelt und das Gesamtkonzept nicht wahrnehmen kann. Seine Vorurteile bewirken letztendlich eine selektive Wahrnehmung der Ereignisse und Objekte seiner Umwelt. Er versucht, sie so zu interpretieren, dass sie mit seinen Formen des Wissens in Einklang zu bringen sind und seine Vorurteile bestätigen. Daher entwickelt er bis dahin kaum das Bedürfnis eigene Handlungskompetenz zu erwerben. Dieser Fall zeigt aber auch, dass städtebauliche Planungen bei den Bürgern immer auf subjektive Betroffenheiten aus lebensgeschichtlichen Vorerfahrungen stoßen. Komplizierte Reaktionszusammenhänge können nur mit verhältnismäßig hohem Untersuchungsaufwand rekonstruiert werden. Die Beteiligung von Planungsbetroffenen erfordert daher auch von PlanerInnen Empathie, Geduld und sinnvollerweise auch sozialpsychologische Grundkenntnisse. 96 Schilderung von Herrn Dahl, zit. bei: Breckner, R.: a.a.O., S. 90 268 8.8. Zusammenfassung der Symbolaspekte des Hauses Die vorangegangenen Ausführungen zeigen das Haus als ein sehr komplexes und vielschichtiges Symbol. Für das Verständnis der Symbolsprache ist es wichtig, nicht nur „eine richtige Deutung“ anzustreben, sondern die persönliche Bezogenheit als einen Interpretationsbedarf vor dem biographischen Kontext ernst zu nehmen und zu erforschen. So kann das Haus als Symbol stehen für: • die psychische Ganzheit, • Schutz, Sicherheit und Geborgenheit, eine feste Burg des Mutes, • Familien und Beziehungszentrum, • die Persönlichkeit, die Identität, die Individualität, • die individuelle Lebensart eines Menschen oder einer Gruppe, • einen Ort der Gemeinschaft, eine Sozialisationsinstanz, • die bewohnbare Welt, • das Zuhause, den eigene Mikrokosmos, • die Freiheit des eigenen Raumes, • den menschlichen Körper, • die letzte Wohnstatt des Menschen (Grab), • die Abbildung des Tempels, des Kosmos, der himmlischen Stadt, • den Mittelpunkt der Welt, • ein Weltenzentrum, • ein Statussymbol, • den schützenden Aspekt der großen Mutter, den Mutterschoß, • die Kultursensibilität der Hausbewohner, • Immobilität und Unbeweglichkeit, • das „Gefängnis“, • das (Ein-)Gefangensein oder die Umschließung. Das Haus in Bildern, Träumen, Sandspiel und Realität kann den Ort andeuten, wo sich die Persönlichkeit seelisch befindet. Es stellt sich die Frage, was die jeweils einmalige „Befindlichkeit“ eines Hauses im räumlichen Kontext an innerer Struktur und Psychodynamik offenbart. Folgende Fragen könnten zur Klärung der Fragestellung beitragen: • Ist es ein Ein- oder Mehrfamilienhaus? • Welcher Haustyp wurde gewählt? • Welcher Baustil wurde gewählt (traditionell, klassisch oder modern)? • Welche Informationen gibt uns die Umgebung (Stadt, Land, Berg, Flußtal, Gewässer, Industriebereiche, etc.)? • Liegt es im gewohnten Lebens- und Kulturraum seines Bewohners? • Wirkt das Haus fremdartig oder „unpassend“ am Standort? 269 • Ist der „Bewohner“ von einem exotischen Haus fasziniert? • In welchem baulichen Zustand befindet sich das Haus? • Ist das Haus bewohnt oder leer? • Wie wurde die Fassade gestaltet? • Macht es einen einladenden Eindruck? • Die Seele eines Hauses scheint durch die Fenster, so heißt es: Sind die Fenster und Türen abweisend, verschlossen, stehen sie „einladend“ offen? Sind sie neu, sauber, verschmutzt, schadhaft, benutzbar oder unbenutzbar? • Ist der Eingang verriegelt oder zugänglich? Es entbindet aber nicht von der Fragestellung: Was bedeutet mein Haus für mich? Die Architektin und Psychotherapeutin Ruth Ammann hat ein einprägsames Bild des Symbols Haus geschaffen. Als Seelenhaus oder Persönlichkeitsgebäude ist es wie das seelische Leben des Menschen von Wandlungen, Bewegungen und Entwicklungen geprägt: „Es gibt Zeiten, in denen wir unruhig suchend sind, wo die Steine unseres Persönlichkeitsgebäudes nicht mehr wohlgefügt aufeinander stehen, wo unsere Wertvorstellungen wanken, sich wandeln. Dann sind wir innerlich oder äußerlich unbehaust, alles ist in Bewegung, wir sind dann auf der Wanderschaft. Nach diesen Phasen der Unruhe beginnen sich die Dinge aber wieder zu ordnen, unser Seelenhaus wird neu aufgebaut, vielleicht mit neuen Steinen, vielleicht aber auch mit den alten, die neu aufeinandergefügt werden.“97 Die innere selbstregulierende psychische Instanz des Individuums kann mit dem Architekten und der Psychotherapeut mit einem Bauführer, der die Pläne der inneren Instanz des Klienten verstehen muss, verglichen werden. Ruth Ammann berichtet von dem Sandspielprozess einer schwer depressiven Frau, deren Seelengehäuse neu aufgebaut werden musste: „Bildlich ausgedrückt musste unter Evas wackeligem, vom Auseinanderfallen bedrohten Seelenhaus ein starkes, stabiles Fundament gebaut werden, um auf diesem ein neues Haus bauen zu können. Das heißt nicht, dass das Fundament von außen, etwa vom Analytiker gebaut werden musste. Es musste von innen heraus, aus Evas unbewusster Seele entstehen. Ich als Analytikerin war lediglich so etwas wie ein Bauführer, der darüber wachte, dass die Anordnungen von Evas innerem Baumeister richtig ausgeführt wurden. Erst als im neuen Haus bewohnbare Räume vorhanden waren, konnte das alte, schwache Haus abgebaut werden. Während dieser Zeit des Fundamentbaus reichte die Energie nur gerade aus, um das alte Haus einigermaßen zusammenzuhalten, nicht für den Neubau.“98 97 Ammann, Ruth: Heilende Bilder der Seele: Das Sandspiel, München 1989, S. 24 98 ebenda, S. 92 270 9. Ausblick In dieser Arbeit habe ich dargestellt und analysiert, wie der Städtebau der Moderne als Folge einer historisch-epochalen Entwicklungslinie in einer Zweckrationalität mündet, die dem Bürger nur wenige emotionale Verknüpfungen mit seiner Lebenswelt ermöglicht. In interaktiven Prozessen werden Bilder der Umwelt internalisiert. Spiegelt die Lebenswelt aber nicht die sozial- und entwicklungspsychologischen Bedürfnisse der Menschen, so werden häufig psychogene Reaktionen ausgelöst, die nur mit großer Anstrengung in therapeutischen Prozessen wieder behandelt und bearbeitet werden können. Hier versteht sich das Therapeutische Sandspiel neben anderen Therapieformen als ein Angebot. Wichtiger als die Linderung und Heilung der seelische Erkrankung erscheint mir aber der Gedanke der Prophylaxe, also einer Vorsorgestrategie gegen psychopathogene Beeinflussungen aus der bebauten und unbebauten Lebenswelt. Dazu möchte ich einige Anregungen geben, die sich in drei Punkten bündeln lassen. 1. Integration entwicklungspsychologischer Grundlagen Die städtische Lebenswelt der Moderne hat durch die Überwertigkeit von Rationalität und Funktionalität wesentliche Bedürfnisse der Menschen oft nicht mehr erfüllt und räumlich verortet. Die so vorgefundenen Lebenswelten haben den Menschen vielfach von seiner Umwelt entfremdet. ArchitektInnen, Stadt- und RaumplanerInnen sollten nach meiner Auffassung bereits in ihrer Ausbildung die Gelegenheit erhalten, vertiefte entwicklungs- und sozialpsychologische Kenntnisse zu erwerben. Dies würde sie gut darauf vorbereiten, sich in die Bedürfnisse der unterschiedlichen Altersgruppen empathisch hineinzuversetzen. ArchitektInnen, Stadt- und RaumplanerInnen können mit ihrer Arbeit dazu beitragen, dass in der Kindheit bestimmte Entwicklungsschritte besser gelingen. Um die hierfür wichtigen Voraussetzungen zu schaffen, müsste die spezifischen Anforderungen jedoch bekannt sein und sich als Leitgedanken auch politisch umsetzen lassen. Es nützt nach meiner Auffassung nichts, die „schlechten“ Pisaergebnisse zu beklagen, wenn auf der anderen Seite in dieser oft sehr kinderfeindlichen Gesellschaft in vielen Städten den Kindern die basalen Freiraumerfahrungen verwehrt werden. Es geht hierbei um die „Schaffung unerlässlicher Lebensvoraussetzungen für Menschen, deren ganzes Leben im städtischen Raum sich abspielt“.1 Die Akzeptanz der psychosozialen Entwicklungsbedürfnisse und deren Umsetzungsnotwendigkeit muss sich in den Köpfen unserer Gesellschaft und der Planungsverantwortlichen ändern. Solange jedoch in den Städten die Projektentwicklung diverser Nutzungen mehr Gewicht erhält als die Bedürfnisse der nächsten heranwachsenden Generation und die Prioritäten eindeutig zugunsten ökonomischer Erfordernisse gesetzt werden, ist eine Änderung wohl kaum zu erwarten. Doch dieser Blickwinkel ist kurzsichtig. 1 Mitscherlich, Alexander (1965): a.a.O., S. 92 f. 271 Durch die verstärkte Integration entwicklungspsychologischer Bedürfnisse könnten staatliche Sozialkosten für die Folgen „seelischer Schäden“ gesenkt werden. Seit Jahren klagen Jugend- und Sozialämter über permanent steigende, rechtlich verbindliche Zahlungsleistungen nach dem Kinder- und Jugendhilfe Gesetz (KJHG). Kinder und Jugendliche benötigen Freiräume, Räume des Zweckfreien, undefinierte Räume2 des Nicht-vorgegebenen-Handelns, Bereiche wie sie z.B. die Abenteuerspielplätze bieten, die jedoch mangels finanzieller Mittel (Prioritäten) immer weniger werden. Also werden die letzten „wilden“ Baulücken für Kinder zu einem Eldorado des Spielens, Bauens und kreativen Werkelns, in denen wichtige Natur- und Körpererfahrungen noch möglich werden. Wie soll ein Erwachsener die von ihm in Berufs- und Arbeitswelt geforderte Kreativität erbringen, wenn er als Kind keine Phantasie in schöpferischem Gestalten ausleben konnte? Die Reduktion von Freiräumen und Einengung von Lebensverhältnissen kann aber auch für die Erwachsenen mit Auswirkungen auf die innerpsychische Lebenswelt verbunden sein, weil sie in den städtischen Agglomerationen kaum Ausgleichsräume vorfinden, in denen sich Kreativität und Phantasie entfalten könnten: „Es versteht sich von selbst, dass nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene leere Räume jeder Art brauchen, um ihre Phantasie fließen zu lassen und zu gestalten. (...) Die Enge und Überfülltheit unserer Lebensräume, die keine Veränderung und Neugestaltung zulassen, sind Feinde der Phantasie und des Lebensprozesses. Das gilt nicht nur in der Außenwelt, sondern auch im übertragenen Sinn für die seelischen Lebensräume, die keine Veränderung und Neugestaltung zulassen.“3 Zum Themenkomplex von Entwicklungs- und Sozialpsychologie gehört auch die Problemstellung der Nutzungs- und Funktionstrennung, die vielfach ein familiäres Interaktionsgeschehen erschwert. Ein Lösungsansatz darin bestehen, Planungskonzepte zu entwickeln, die wieder eine stärkere Durchmischung von Wohnen und Arbeiten zulassen. Das Arbeiten „um die Ecke“ sollte wieder angestrebt werden: Derartige Konzeptionen fördern nicht nur ein Mehr an Beziehungsfreizeit, sondern bewirken als „Nebeneffekt“ mehr Umweltschutz durch geringeren Verkehrswegeaufwand. Mit der Gestaltungs- und Nutzungsvielfalt eines Gebietes steigt in der Regel auch die Attraktivität und Aufenthaltsqualität. 2. Aufenthaltsqualität und Symbolik Unsere bebaute und unbebaute Lebenswelt wirkt permanent auf uns ein, wir gleichen die äußere Umwelt mit dem inneren Muster unserer eingeprägten Vorerfahrungen ab. Wenn uns die symbolische Belegung des Raumes unbewusst anspricht, fühlen wir uns zum Verweilen eingeladen. Daher stellt sich die Frage, wie die Aufenthaltsqualität von Räumen gestaltet und 2 Reisch, L.: Stadt und „Lebensstil“. In: Hauff, V. (Hrsg.): Stadt und Lebensstil. Weinheim 1988, S. 33: „Und es geht auch an der einen oder anderen Stelle darum, undefinierte Räume undefiniert zu lassen und sie dem Gestaltungswillen der Menschen anzuvertrauen.“ 3 Ammann, Ruth: Traumbild Haus - Von den Lebensräumen der Seele. Olten 1991, S. 48 272 mit Symbolen angereichert werden kann, damit diese Orte von vielen Bürgern akzeptiert und als Lebenswelt angenommen werden. Um für Planungskonzepte eine große Akzeptanz zu erreichen, müssten sich Architektur, Städtebau und Raumplanung symbolischer Ausdrucksformen bedienen, die aus einem kollektiven Formenkreis stammen und damit über die subjektiven Konnotationen hinausgehen. Diese Symbolik kann die Bedürfnisse und Bilder einer Vielzahl von Individuen positiv widerspiegeln. Demnach wäre es wichtig zu wissen, welches interaktive primäre Beziehungsgeschehen in welchen Symbolen zum Ausdruck kommt und wie es dabei eine Bedeutungen umschließt, die vielen Individuen gleichermaßen inhärent sind. Es gilt herauszufinden, welche Objekte und Symbole einen überwiegend positiven Aspekt für die Mehrzahl der Menschen konnotieren. Gibt es positive und negative Symbole? Grundsätzlich beinhaltet jedes Symbol, wie am Beispiel Haus dargestellt, positive und negative Konnotationen. Aber es gibt auch Symbolik, die nur geringfügig durch Ängste und andere Problemstellungen besetzt sind. Hierzu ein Beispiel: In der Psychoanalyse sind z.B. Spinnenphobien ein weitverbreitetes Phänomen. Sofern keine realen negativen Vorerfahrungen mit größeren Spinnen vorausgingen, könnten Ängste aus frühkindlichen Interaktionen vorliegen, die auf Objekte verschoben werden. Die Angst vor der Spinne ist das Symptom, aber nicht die Ursache. Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass mit der Spinne oft ein negativer Mutterarchetypus oder eine negativ-einengende Mutterbeziehung angezeigt werden kann. Im Gegensatz hierzu gibt es Symbole, die nicht phobisch belegt sind: Es sind z.B. bis heute keine Schafphobien bekannt geworden, wohl aber Hundephobien, Schlangenphobien, Klaustrophobien, etc. In städtischen Räumen sind - und dies ist schon seit der Antike bekannt - Wasserelemente wie Bäche, Kanäle, Flüsse, Zisternen und Brunnen vorwiegend positiv belegt. Auch in der heutigen Zeit, in der die Brunnen ihre denotative Funktion der Wasserversorgung nicht mehr ausüben, machen sie einen ganz besonderen Reiz in der Stadt aus. Wasserstandorte profitieren von den meist positiven Konnotationen des Reinigenden, Erneuernden, Fließenden und Unbewussten und Unformbaren. Das Bild des Baumes dient oft zur Symbolisierung des Kosmos, des Selbst, des Wachstums, er symbolisiert exemplarisch den Archetyp der Vegetation und kann „auch ein Ausdruck für Leben, Jugend, Unsterblichkeit und Weisheit [sein]. Neben kosmischen Bäumen wie die Esche Yggdrasil der germanischen Mythologie kennt die Religionsgeschichte Lebensbäume, Bäume der Unsterblichkeit, der Jugend usw.“4 Ob Symbole jedoch einen gemeinschaftsverbindenden Charakter entwickeln können, muss empirisch überprüft werden. Alle Objekte können potentiell Symbolkraft enthalten, 4 Eliade, Mircea: a.a.O., S. 130 f. 273 symbolische Wirkung durch die persönliche und kollektive Bedeutung für uns entwickeln.5 Dies veranschaulicht der Schweizer Psychoanalytiker Allan Guggenbühl an einem interessanten Beispiel: „Eine Gestalt oder ein Objekt erhält Bedeutung, dynamisiert uns, ohne dass wir es realisieren oder wollen. In Großbritannien erregte die Entfernung der alten, roten Telefonkabinen großen Unmut. Viele Personen fühlten sich verunsichert. Die heftigen Reaktionen waren nur wegen der symbolischen Aussage der Kabinen verständlich. Sie waren nicht nur Häuschen, die private Gespräche ermöglichten und Schutz vor Wind und Regen garantierten, sondern auch ein Symbol der nationalen Identität. Die Briten fühlten sich in ihren Heimatgefühlen verletzt, da man den roten Kabinen etwas antat.“6 Architektur, Städtebau und Raumplanung begleiten die Identifikation des Bürgers mit seiner Stadt positiv, indem sie empirisch überprüfte Gemeinsamkeiten in Form präsentativer Symbolik zur Darstellung bringen. Dies führt zu einer Verklammerung von Orten, Menschen und Symbolen und leistet damit einen entscheidenden Beitrag zur Integration der Stadt. 3. Symbolerfahrung im Therapeutischen Sandspiel: Ein Angebot für PlanerInnen und ArchitektInnen Einen wichtigen Bestandteil der Psychotherapeutischen Ausbildung stellt nach meiner Auffassung die Selbsterfahrung dar. Dies ist notwenig, um die Wirkungsweise von Methoden einschätzen zu können, bevor man selber damit arbeiten kann. Sie verhilft, die im Kap. 7 beschrieben Veränderungen und Konstellationen in einem Therapeutischen Prozess zu erkennen sowie Übertragungen und Gegenübertragungen zu differenzieren. ArchitektInnen, Stadt- und RaumplanerInnen können in ihren städtebaulichen Entwürfen eigene interaktive Prägungen und Lebensentwürfe auf Räume übertragen. Mit ihrer symbolischen Gestaltung wirken sie auf die Lebenswelten, das physische und psychische Wohlbefinden von Menschen ein. Die bei der Umsetzung von Architektur und Stadtplanung verwendete präsentative Symbolik übt auf der tiefenpsychologischen Ebene Einflüsse auf die kollektive und individuelle Psychodynamik aus. Diese Aufgabe verlangt angesichts der enormen Tragweite einen verantwortungsvollen Umgang mit den unbewussten Inhalten von Symbolik. Nach meiner Auffassung kann sich daher auch für PlanerInnen die Institution einer wie auch immer zu gestaltenden Selbsterfahrungskomponente vorteilhaft auswirken. Dies könnte zu der praktischen Erkenntnis führen, dass „mein“ planerisches Handeln auch über die symbolische Ebene Tragweite und Konsequenzen hat. 5 Guggenbühl, Allan: a.a.O., S. 113: Bei Symbolen dürfen wir jedoch nicht nur an Mandalas, Kreise, Kreuze und allenfalls Schlangen denken, sondern jedes Objekt kann auch Symbolkraft enthalten. Die Welt bietet uns ein immenses Arsenal an Bildern und Gestalten, die zu einem persönlichen oder kollektiven Symbol mutieren können. Wie wir von Träumen wissen, kann auch das banalste Objekt etwas in uns berühren und uns mit einer inner-seelischen Thematik verbinden. Welches Symbol was ausdrückt, können wir nicht bewusst entscheiden. Sie können auch nicht konstruiert werden, sondern die Seele erschafft und wählt sich ihre Symbole selber.“ 6 Guggenbühl, Allan: a.a.O., S.113 274 Das Therapeutische Sandspiel bietet als Selbsterfahrungsprozess an, etwas über seine eigenen inneren Symbolwelten (und deren Wirkung auf andere) zu erfahren. Es verhilft, (wieder) einen Zugang zu tieferen Symbolebenen zu erfahren, neue Symbolwelten kennen zu lernen und Antworten auf Fragen wie diese zu finden: • Welche Symbole sind mir als PlanerIn wichtig? • Welche biographischen Erfahrungen von Interaktions- und Beziehungsgeschehen spiegeln sich hierin wider? • Welche Lebensentwürfe und daraus resultierende Wertmaßstäbe übertrage ich in meine Plankonzepte und damit auf die künftigen Lebenswelten anderer Menschen? Martin Grotjahn formulierte Bedeutung des Symbolverständnisses folgendermaßen: „Die Psychoanalyse ist weder eine neue Philosophie, noch ist sie eine exakte Wissenschaft. Sie hat eher mit Kunst und Bildung zu tun und weckt im Individuum das Symbolverständnis. Die Psychoanalyse soll die kreative Symbolintegration wiederherstellen, beziehungsweise auslösen, damit der Mensch die einzige Forderung, die das Leben an ihn hat, und die einzige Pflicht, die er gegenüber dem Leben hat, erfüllen kann: nämlich, alle seine Möglichkeiten auszuschöpfen, das Leben mutig zu leben, sich nicht gegen das Lebensgefühl zu wehren, klug zu werden im Sinne von selbstkritisch und das Unbewusste in den Verstand zu integrieren. Um das zu können, braucht er alle Energie, die er jetzt noch an unnötige Verdrängung verschwendet.“7 Symbolverständnis und Kenntnisse der Psychodynamik von Prozessen könnten bei ArchitektInnen, Stadt- und RaumplanerInnen auch die empathischen Fähigkeiten stärken. Der Fall Dahl zeigt nachdrücklich, wie unbewusste Prozesse handlungsleitend werden und so das Entscheidungsgeschehen steuern. Ich möchte schließen mit einem Zitat von Jörg Rasche. Er sagt: „Der menschliche „Psychotop“ ist nicht weniger empfindlich als der Biotop. Die Belastungen der Zukunft werden vielfältige sein, und auch das Schicksal unserer Demokratie ist von der psychischen Gesundheit unserer Kinder nicht zu trennen.“8 7 Grotjahn, Martin: Die Sprache des Symbols. Der Zugang zum Unbewussten. München 1977, S. 227 8 Rasche, Jörg: a.a.O., S. 238 275 10. Literaturverzeichnis Abels, Heinz; Stenger, Horst Gesellschaft lernen. Einführung in die Soziologie. Leske und Budrich, Opladen 1989 Aeppli, Ernst Der Traum und seine Bedeutung. München 1987 Ammann, Ruth Heilende Bilder der Seele: Das Sandspiel. München 1989 Ammann, Ruth Traumbild Haus - Von den Lebensräumen der Seele. Olten 1991 Ammann, Ruth Der Zauber des Gartens und was er unserer Seele schenkt. München 1999 Asanger, R.; Handwörterbuch der Psychologie. Weinheim 1994 Wenniger, G. (Hrsg.) Bachelard, Gaston Poetik des Raumes. 1957, Presses Universitaires de France, Frankfurt, Fischer 1997 Bächtold-Stäubli, H. (Hrsg.) Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. 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Jungs 200 Abb. 9: Die Bewusstseinsfunktionen 204 Abb. 10: Strukturmodell der Psyche 206 Abb. 11: Sandkasten und Figurensammlung 216 Abb. 12: Modell eines „psychischen Stammbaumes“ zur kollektiven Symbolik 231 Abb. 13: Die Entwicklungsreihe des „Archetypus des Weiblichen“ 232 Abb. 14: Monotoner Wohnkomplex und Individualität durch Farbgebung 249 Abb. 15: Unterschiedliche Formen des Wohnens 250 Abb. 16: Sandbild eines elfjährigen Mädchens 258 Abb. 17: Kuppelhaus als Zukunftsvision 259 Abb. 18: Kahles erleuchtetes Haus mit Fernseher 259 Tab. 1: Diagramm der psychosozialen Entwicklung 164 Tab. 2: Bevorzugte Baustile „des Wunschhauses“ 251