1 Physik und verwandte Wissenschaften in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. (dmoe) Ein Kommentar. Dissertation von Claus Hoheisel aus Bochum 2 Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde von Jürgen Link in dankenswert geduldiger Weise betreut. Durch seine ständigen Anregungen, Ratschläge und Diskussionen sorgte er dafür, daß die in vielen Einzelfachrichtungen notwendige und zum Teil sehr aufwendige Forschungsarbeit interessant blieb und Freude machte. Auch die Mitarbeiter seines Lehrstuhls sowie die Teilnehmer des sehr hilf- reichen Oberseminars trugen durch Schilderung eigener Erfah- rungen stets zum erfolgreichen Fortgang der Untersuchung bei. Den mit Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik befaßten Teil des Kommentars unterstützte Herr Walter Krämer freundlich durch Erläuterungen, Verbesserungsvorschläge und Literatur- empfehlungen. Frau Doris Runzer besorgte die erstklassige Anfertigung der in der Arbeit gezeigten Abbildungen. 3 Ich bin nicht nur überzeugt, daß das, was ich sage, falsch ist, sondern auch das, was man dagegen sagen wird. Robert Musil (Das hilflose Europa) Abbildung 1 Robert Musil bei einem Faschingsfest in Wien. Von links: Robert Musil, Ea von Allesch, Martha Musil, ein unbekannter Harlekin. Kniend: Franz Blei. Karl Corino Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten. Reinbek bei Hamburg 1988, S. 308 Inhaltsverzeichnis _____________________________________________________________ 4 Inhaltsverzeichnis 1 Einleitendes ..................................................................10 2 Kommentar zum dmoe-Roman .................................20 2.1 Erstes Buch ...................................................................20 2.1.1 Musils Interview ......................................................20 2.1.2 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (1) .......................................................................24 2.1.2.1 Wetter und Wetterkarte .......................................................24 2.1.2.2 Luftfeuchtigkeit und Wolken ..............................................32 2.1.2.3 Astrometeorologischer Bericht............................................37 2.1.2.4 Licht und Farbe ...................................................................43 2.1.2.5 Kritik der Wissenschaft .......................................................50 2.1.2.6 Querschlagende Bewegungen .............................................58 2.1.2.7 Unfallstatistiken...................................................................65 2.1.3 Die Villa des Mannes ohne Eigenschaften (2).........70 2.1.3.1 Palais Salm ..........................................................................70 2.1.3.2 Künstliche Intelligenz und mathematisches Pendel ............73 2.1.4 In einem Zustand von Schwäche zieht sich Ulrich eine neue Geliebte zu (7)......................................................76 2.1.4.1 Eine Rauferei endet mit Schneefall .....................................76 2.1.4.2 Gewitter und Schäfchenwolken...........................................79 2.1.5 Der zweite Versuch. Ansätze zu einer Moral des Mannes ohne Eigenschaften (10) .........................................82 2.1.5.1 Rechenschieber und Fehlergrenzen .....................................82 2.1.6 Der wichtigste Versuch (11) ....................................86 2.1.6.1 Der mathematische Mensch Ulrich .....................................86 2.1.7 Besitz und Bildung; Diotimas Freundschaft mit Graf Leinsdorf und das Amt, berühmte Gäste in Einheit mit der Seele zu bringen (24) ...............................................92 2.1.7.1 Royal Society und Perpetuum Mobile.................................92 Inhaltsverzeichnis _____________________________________________________________ 5 2.1.8 Wesen und Inhalt einer großen Idee (27).................96 2.1.8.1 Idee im Schmelzzustand ......................................................96 2.1.9 Ein Kapitel, das ein jeder überschlagen kann, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine große Meinung hat (28) ................................................................100 2.1.9.1 Zustandsgleichung des Wassers ........................................100 2.1.9.2 Ulrich als Grüblernatur......................................................105 2.1.9.3 Machs Thesen....................................................................107 2.1.9.4 Geschlecht und Charakter..................................................114 2.1.10 Ein heißer Strahl und erkaltete Wände (34)...........118 2.1.10.1 Schwerpunktsbewegung....................................................118 2.1.10.2 Fernglasbeobachtung und Turbulenz.................................120 2.1.10.3 Fliegenpapier und Entropie ...............................................127 2.1.10.4 Eine zoologische Deutung.................................................132 2.1.10.5 Optische Einsamkeit..........................................................140 2.1.11 Bankdirektor Leo Fischel und das Prinzip des unzureichenden Grundes (35) ............................................142 2.1.11.1 Satz vom zureichenden Grund...........................................142 2.1.11.2 Katalysatoren und Enzyme................................................145 2.1.12 Schweigende Begegnung zweier Berggipfel (45) .148 2.1.12.1 Halbkreis der Seele............................................................148 2.1.13 Was alle getrennt sind, ist Arnheim in einer Person (47) .........................................................................154 2.1.13.1 Arnheim (Rathenau) und die Molekularphysik .................154 2.1.14 Ulrich zeigt sich im Gespräch mit Walter und Clarisse reaktionär (54) ......................................................158 2.1.14.1 Reihen und Ringe ..............................................................158 2.1.14.2 Relativitätstheorie..............................................................161 2.1.14.3 Atomphysik und Wissenschaftssucht ................................166 2.1.14.4 Leibnizsches Denkvermögen.............................................170 2.1.15 Die Parallelaktion erregt Bedenken. In der Geschichte der Menschheit gibt es aber kein freiwilliges Zurück (58).........................................................................174 2.1.15.1 Köpfe und Wissenschaftler unter sich...............................174 2.1.16 Das Ideal der drei Abhandlungen oder die Utopie des exakten Lebens (61).....................................................176 2.1.16.1 Element und Verbindung...................................................176 Inhaltsverzeichnis _____________________________________________________________ 6 2.1.17 Auch die Erde, namentlich Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus (62) ...............................................180 2.1.17.1 Ameisensäure und ihre Verbindungs-Möglichkeiten ........180 2.1.17.2 Thermodynamisches Gleichgewicht und Erstarrung.........185 2.1.17.3 Die Frage des rechten Lebens............................................185 2.1.18 Zwischen Ulrich und Arnheim ist einiges nicht in Ordnung (66) ......................................................................188 2.1.18.1 Wolke und Tröpfchen........................................................188 2.1.19 Der Ausschuß zur Fassung eines leitenden Beschlusses in bezug auf das Siebzigjährige Regierungsjubiläum Sr. Majestät beginnt zu tagen (71)....192 2.1.19.1 Gauß, Euler, Maxwell........................................................192 2.1.19.2 Lavoisier, Cardano, Frau von Stein...................................196 2.1.20 Das In den Bart Lächeln der Wissenschaft oder Erste ausführliche Begegnung mit dem Bösen (72)...........200 2.1.20.1 Zeitmessung und wissenschaftliche Forschung.................200 2.1.20.2 Psychologie an Stumpfs Institut ........................................202 2.1.21 General Stumm von Bordwehr betrachtet Besuche bei Diotima als eine schöne Abwechslung in den dienstlichen Obliegenheiten (75).................................206 2.1.21.1 Ordnung, Genauigkeit und Intuition..................................206 2.1.22 Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man nicht Geschichte? (83)................................................210 2.1.22.1 Zustände und Thermodynamik..........................................210 2.1.22.2 Kinetische Gas- u. Geschichtstheorie................................220 2.1.23 General Stumms Bemühungen, Ordnung in den Zivilverstand zu bringen (85).............................................224 2.1.23.1 Planetenbahnen und Gravitation........................................224 2.1.23.2 Denker in Nankinghosen ...................................................229 2.1.23.3 Statistik, Entropie, Ordnung ..............................................231 2.1.24 Moosbrugger tanzt (87)..........................................238 2.1.24.1 Gummibänder und Federkonstanten..................................238 2.1.25 Die Verbindung mit großen Dingen (88)...............242 2.1.25.1 Geistiger Impulssatz u. Regenbogen-Theorie ...................242 2.1.26 Man muß mit der Zeit gehen (89) ..........................248 2.1.26.1 Piloten und Dichter............................................................248 Inhaltsverzeichnis _____________________________________________________________ 7 2.1.27 Von der Halbklugheit und ihrer fruchtbaren anderen Hälfte; von der Ähnlichkeit zweier Zeitalter, von dem liebenswerten Wesen Tante Janes und dem Unfug, den man neue Zeit nennt (99).............................................252 2.1.27.1 Stromstöße, Erinnerungsbilder ..........................................252 2.1.28 Die feindlichen Verwandten (101) ........................256 2.1.28.1 Elastische Bälle und elektrische Stromkreise....................256 2.1.29 Die Versuchung (103)............................................260 2.1.29.1 Nicht Herr im eigenen Haus ..............................................260 2.1.29.2 Hysterie .............................................................................264 2.1.29.3 Wahrscheinlichkeitstheorie, Statistik und Gaußfunktion ..268 2.1.29.4 Gesetz der großen Zahlen, relative Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit ..........................................................................277 2.1.29.5 Kausalität, Statistik und Verteilungen...............................283 2.1.29.6 Kinetische Gastheorie, ideales Gas und molekulare Geschwindigkeits-Verteilung ..........................................................286 2.1.29.7 Boltzmann - Gleichung für das verdünnte Gas .................296 2.1.30 Hohe Liebende haben nichts zu lachen (105)........300 2.1.30.1 Begehrlichkeit, Seele und Verstand...................................300 2.1.31 Glaubt der moderne Mensch an Gott oder an den Chef der Weltfirma? Arnheims Unentschlossenheit (106) 302 2.1.31.1 Identitätssatz, Moral und Ichsucht.....................................302 2.1.32 Moosbruggers Auflösung und Bewahrung (110) ..308 2.1.32.1 Nah- und Fernordnung ......................................................308 2.1.33 Die Verhältnisse spitzen sich zu. Arnheim ist sehr huldvoll zu General Stumm. Diotima trifft Anstalten, sich ins Grenzenlose zu begeben. Ulrich phantasiert von der Möglichkeit, so zu leben, wie man liest (114)............................................................................312 2.1.33.1 Schriftsteller und Bücher...................................................312 2.1.33.2 Billard: Theorie, Praxis und Intuition................................314 2.1.33.3 Hunde, Blätter und physikalische Gesetze ........................318 2.1.34 Die Parallelaktion erregt Aufruhr (120).................322 2.1.34.1 Gleichgewichtszustände und Geister-Seher ......................322 2.1.34.2 Statistische Mechanik, Berechnung der Zustandsgleichung des idealen Gases .............................................................................325 2.1.34.3 Kristallklassen, Wellen und Inversion...............................330 Inhaltsverzeichnis _____________________________________________________________ 8 2.1.35 Heimweg (122) ......................................................334 2.1.35.1 Erinnerungen, Bilder, Klänge............................................334 2.1.35.2 Perspektivische Verkürzungen und Gehirnfunktion..........343 2.1.35.3 Theorie der Narration ........................................................355 2.2 Zweites Buch...............................................................358 2.2.1 Morgen in einem Trauerhaus (3) ...........................358 2.2.1.1 Graphit und Diamant .........................................................358 2.2.1.2 Optische Inversion, Raum und Zeit...................................364 2.2.1.3 Prousts 'mémoire involontaire' ..........................................371 2.2.2 Familie zu zweien (8).............................................374 2.2.2.1 Schicksal und Statistik.......................................................374 2.2.2.2 Normalismus und Zerlegung durch Statistik .....................377 2.2.3 Wirf alles, was du hast, ins Feuer, bis zu den Schuhen (21) ......................................................................382 2.2.3.1 Arsenik und Cyankali ........................................................382 2.2.4 Von der Koniatowski' schen Kritik des Danielli' schen Satzes zum Sündenfall. Vom Sündenfall zum Gefühlsrätsel der Schwester (22) .......................................386 2.2.4.1 Beschränkte Wissenschaftlichkeit .....................................386 2.2.4.2 Seelischer Wirkungsgrad und Fisch-Symbolik .................387 2.2.5 Die Geschwister am nächsten Morgen (41)...........392 2.2.5.1 Gewitterstimmung .............................................................392 2.2.6 Wandel unter Menschen (47).................................396 2.2.6.1 Menschheitsgeschichte des Zufalls ...................................396 2.2.6.2 Durchschnitt, Durchschnittlichkeit, thermodynamisches Paradoxon ........................................................................................400 2.2.7 Eine auf das Bedeutende gerichtete Gesinnung und beginnendes Gespräch darüber. / Gn. v. Stumm über die Genialität. / Genialität als Frage (48-50)......................406 2.2.7.1 Spezialgenie.......................................................................406 2.2.7.2 Genie und Polarisation ......................................................408 2.2.7.3 Psychoanalyse und Alltagsrelativität.................................413 2.2.8 Agathe stößt zu ihrem Mißvergnügen auf einen geschichtlichen Abriß der Gefühlspsychologie (52)..........428 2.2.8.1 Analyse der Gefühle, der Hang zur Einfachheit, DNA- Doppelhelix......................................................................................428 2.2.8.2 Grundelement und Atomismus: Mach und Wittgenstein ..435 Inhaltsverzeichnis _____________________________________________________________ 9 2.2.9 Der Tugut singt (56)...............................................438 2.2.9.1 Reformpädagoge Lindner..................................................438 2.2.9.2 Petroleumlampe u. schwarzer Körper ...............................439 2.2.9.3 Metaphorische Abwege .....................................................447 3 Ergebnisse und Schlußbemerkungen ......................450 4 Literatur .....................................................................464 4.1 Texte Robert Musils...................................................464 4.2 Weitere Primärtexte...................................................466 4.3 Sekundärschriften ......................................................470 4.4 Lehrbücher .................................................................482 4.5 Lexika ..........................................................................486 5 Abbildungs- und Tafelverzeichnis ...........................488 6 Index ...........................................................................500 1 Einleitendes _____________________________________________________________ 10 1 Einleitendes Robert Musils unvollendetes Romanprojekt Der Mann ohne Eigenschaften (dmoe) ist gespickt mit naturwissenschaftlichen Bemerkungen, physikalischen Vergleichen und Fachausdrücken der Physik und Chemie. Der Wert der Naturwissenschaften und Wissenschaften an sich wird im Roman ständig von verschiede- nen Seiten aus diskutiert. Einflüsse seiner viele Jahre vorher geschriebenen Doktorarbeit (1908), in welcher die Lehren Machs vorrangig an Beispielen der Physik kritisch diskutiert wurden, sind an einigen Stellen nachweisbar. Alexander Honold schreibt in diesem Sinne: 'Der Mann ohne Eigenschaften' ist auf widersprüchliche Weise determiniert von literarischen Gattungskonventionen, den historischen Verände- rungen der elementar-ästhetischen und sozialen Erfahrungswelt seiner Zeit und schließlich von den theoretischen Vorgaben, die der Autor selbst aus seinen wissenschaftlichen, philosophischen und poetologischen Arbeiten auf das programmatische Rahmen- konzept des Romans übertrug.1 Musil war gelernter Ingenieur und promovierte später in der Philosophie mit den Nebenfächern Physik und Mathematik. Er besaß deshalb ein gründliches Fachwissen und Fachverständnis auf technischen und naturwissenschaftlichen Gebieten sowie in der Mathematik. Eine belustigende Kostprobe (natürlich nicht für den kritisierten Autor) seiner Fachausbildung in Mathematik bietet Musil in seiner Kritik des Spenglerschen Buches Der Untergang des Abendlandes2. 1 Alexander Honold Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften". Musil - Studien, Bd. 25, München 1995, S. 27 2 Oswald Spengler Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. München 1963 Einleitendes _____________________________________________________________ 11 Musil schreibt in diesem Aufsatz mit dem Titel Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind 3 folgendes: Mathematische Kapitel aber haben vor andren den Vorzug, daß sie diese bei belletristischen Geistern sich auf jedem Wissensgebiet rasch einstellende imitatorische Belesenheit von Sachlichkeit leicht unterscheiden lassen. Spengler schreibt: Irgendetwas "mag in den populären Teilen einer Mathematik weniger hervortreten, aber die Zahlengebilde höherer Ordnung, zu denen jede von ihnen ... alsbald aufsteigt, wie das indische Dezimalsystem, die antiken Gruppen der Kegelschnitte, der Primzahlen und der regelmäßigen Polyeder, im Abendland der Zahlenkörper, die mehrdimensionalen Räume, die höchst transzendenten Gebilde der Transformations- und Mengenlehre, die Gruppe der nichteuklidischen Geometrien ... usw." und das klingt so gewiegt, daß ein Nichtmathematiker sofort durchschaut, so kann nur ein Mathematiker reden. Aber in Wahrheit ist, wie Spengler das Zahlengebilde höherer Ordnung aufzählt, nicht fachkundiger als ob ein Zoologe zu Vierfüßlern die Hunde, Tische und Stühle und Gleichungen vierten Grades zusammenfassen würde! (pr S. 1042-1043) Musil war, wie Gerhard Meisel richtig feststellt, nicht der einzi- ge Schriftsteller, der sich auch auf anderen wissenschaftlichen Gebieten auskannte. Meisel schreibt: Auffällig ist allerdings, daß sich ... Hegels und Nietzsches Prophetien genau umkehren und ab Ende des 19. Jahrhunderts Wissenschaftler zu Dichtern wer- den: dem Neurophysiologen und Psychonovellisten Freud wird der Goethepreis zugesprochen, der Chemiker Elias Canetti arrangiert in seinen literarischen Texten Wahrnehmungsexperi- mente, die sich wissenschaftlich auf der Höhe der Zeit bewegen, Bertolt Brecht schaut "allerhand Leute krumm an, von denen ... bekannt ist, daß sie nicht auf der Höhe der wissenschaftlichen Erkenntnis sind", Hermann Broch und Arno Schmidt waren Ma- thematiker, Gottfried Benn, Alfred Döblin und Arthur Schnitzler Ärzte, und auch Kafka, Rilke und Hofmannsthal waren nie zum 3 Robert Musil Gesammelte Werke. Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik. Adolf Frise (Hg.), Reinbek bei Hamburg 1978. Hier wie im folgenden werden Zitate aus diesem Werk mit 'pr' und nachfolgender Seitenzahl gekennzeichnet. 1 Einleitendes _____________________________________________________________ 12 Wettlauf mit den Wissenschaften angetreten: "sie waren immer schon da". 4 Im Falle der Physik dürfte ganz unzweifelhaft sein, daß sich Mu- sil hier sachkundig wie ein Physiker auskannte. Seine Dissertati- on enthält viele Erörterungen aus den Gebieten der Thermody- namik und Mechanik. Bemerkungen in den Tagebüchern bezeu- gen überdies Musils große Kenntnisse in angrenzenden Wissen- schaften, wie Chemie und Biologie5. Da Musil am psychologi- schen Institut der Universität Berlin seinen Doktorgrad erwarb, verstand es sich von selbst, daß er zusätzlich auch Experte für Psychophysik und bestimmte Gebiete der Psychologie wurde. Corino6 bezeichnet Musil als gelehrtesten Autor seiner Epoche. Ähnlich drückt sich Meisel aus: Der akribischen Editionstätig- keit Adolf Frisés ist ... zu danken, daß Zeugnis abgelegt wird von einer so immensen wie disparaten Belesenheit des poeta doctus Robert Musil (Meisel, S. 119).7 Seinen Protagonisten Ulrich im dmoe-Roman bezeichnet Musil ausdrücklich als Ingenieur und Mathematiker. Ulrich gibt dem- entsprechend über den ganzen Roman verteilt Proben seines gro- ßen theoretischen Fachwissens. Es leuchtet ein, daß Musil seine professionelle Kenntnis der einzelnen Spezialdiskurse für seine eigenwillige Erzählweise im dmoe ausnutzte. Rolf Günter Renner schreibt: ...Überdies spiegelt sich diese be- wußte Dekomposition der klassischen Erzählsituation auch in einem Montageverfahren, das unterschiedliche Diskurse, Fach- sprachen und Ideologien wie Sprachspiele nebeneinander abbil- 4 Gerhard Meisel Liebe im Zeitalter der Wissenschaften vom Menschen. Das Prosawerk Robert Musils. Opladen 1991, S. 26 (Hofmannsthal bei Meisel fehlerhaft gedruckt) 5 Leider müssen in der vorliegenden Erörterung viele der Musilschen Bemerkungen zum Tier- und Pflanzenreich unkommentiert bleiben. Wir weisen aber beispielge- bend auf den folgenden Kommentar Musils in seinen Tagebüchern hin: A: Der Kuckuck hat gerufen. B: Sprich genau. Es gibt einige 40 Kuckucksarten. (Darunter allerdings auch exotische) (tg1 S. 861). Im Tierlexikon Das Urania Tierreich in 18 Bänden Reinbek bei Hamburg 1974, Band 5, S. 247 ff, sind 130 Kuckucksarten angegeben. Der bei uns rufende Kuckuck wird mit dem Fachnamen cuculus canorus bezeichnet. Er ähnelt im Aussehen ungefähr dem Turmfalken oder dem Sperber. Hier wie im folgenden werden mit tg1 bzw. tg2 und Seitenangabe Zitate angezeigt aus: Robert Musil. Tagebücher. (Bd. 1) bzw. Robert Musil. Tagebücher u. Anmer- kungen. (Bd. 2) Adolf Frise (Hg.), Reinbek bei Hamburg 1976 6 Karl Corino Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten Reinbek bei Hamburg 1988, S. 10 7 Es erscheint deshalb nicht sehr wahrscheinlich, daß diesem vielseitigen, ordnungs- liebenden Gelehrten Robert Musil der Roman unter der Vielfalt der Themen und Motive regelrecht entglitt oder daß Musil sich selbst im Abenteuer seines Romans verirrte, wie Martina Wagner-Egelhaaf annimmt (Martina Wagner-Egelhaaf Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1989, S. 136 u. 146). Einleitendes _____________________________________________________________ 13 det: mitunter scheint der Roman eine Diskursgeschichte der mo- dernen Gesellschaft zu liefern.8 In der Musil-Forschung werden die naturwissenschaftlichen Aspekte des Romans zwar sehr häufig herausgestellt und punk- tuell auch in sehr allgemeiner Weise diskutiert9, aber eine genauere Durchleuchtung des Textes scheint bisher von diesem Standpunkt aus nicht stattgefunden zu haben. Meisel ist nach unseren Kenntnissen offenbar der einzige Autor, der Musils enormes physikalisches Verständnis besonders hervorhebt10 und anhand des dmoe-Romans auf physikalische Zusammenhänge eingeht. Bestimmte Begriffe, wie Energie, Entropie, usw. werden auch unter Benutzung von Ergebnissen aus Thermodynamik, Wahrscheinlichkeitstheorie und Informationstheorie zu erklären versucht, leider wird aber versäumt, die notwendigen Grund- lagen dieser physikalisch-mathematischen Diskurse anzugeben und dadurch naheliegende Verbindungen zum Text herzustellen. Meisel läßt es insgesamt an der von Musil so geschätzten Genau- igkeit fehlen. Er diskutiert die zum Verständnis des dmoe-Textes wichtigen Bereiche der Physik in allgemeiner Weise, ohne die Grundlagen des physikalischen Umfelds entsprechend zusam- menhängend darzulegen. Dazu hätte es des Studiums einiger Lehrbücher der Physik, der Physikalischen Chemie und der Ma- thematik bedurft, was aber wohl für Meisel zu weit geführt hätte. Wie notwendig die Befragung der Lehrbücher aber gewesen wä- re, zeigen im besonderen die letzten vier Abschnitte des dritten Kapitels seiner Monographie11, die im Laufe der vorliegenden Arbeit noch genauer besprochen werden. Meisel hat es aber immerhin gewagt, physikalische Aussagen Musils mit Anschauungen 'moderner' Physik zu verknüpfen und dadurch ein übergreifendes Verständnis anzuregen. Doch wird 8 Rolf Günter Renner Die postmoderne Konstellation. Theorie, Text und Kunst im Ausgang der Moderne. Freiburg 1988, S. 125 9 Siehe beispielsweise: Renate von Heydebrand Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften“. Ihr Zusammenhang mit dem zeit- genössischen Denken. Münster 1966; Elisabeth Albertsen Ratio und Mystik im Werk Musils München 1968; Hartmut Böhme Anomie und Entfremdung. Literatursoziolo- gische Untersuchungen zu den Essays Robert Musils und seinem Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" Kronberg 1974; Cornelia Blasberg Verwirrungen eines Ingeni- eurs. Robert Musil in Stuttgart: 1902-1903. Marbach 1989; Hans-Georg Pott (Hg.) Robert Musil. Dichter, Essayist, Wissenschaftler München 1993 10 Meisel, S. 118 ff 11 Abschnitt 12 der Meiselschen Arbeit wird in der vorliegenden Untersuchung nicht berührt. Es gilt aber auch für diesen letzten Abschnitt 12, daß die darin verwendeten Teile der Informationstheorie nur sehr einseitig und unzureichend erklärt und das dazugehörige Lehrbuch-Grundwissen nicht vermittelt wird. Die teilweise angegebe- nen mathematischen Formeln verwirren eher, als daß sie das Verständnis unter- stützen. Infolgedessen kann man die Verknüpfung der Informationstheorie mit der Ausdeutung des Textes gar nicht nachvollziehen. 1 Einleitendes _____________________________________________________________ 14 durch Ungenauigkeiten und Unrichtigkeiten der Blick für die naheliegenden Analogien und Konnotationen des Musilschen Textes in bezug auf die dahinterliegende Physik verstellt. Im Verlaufe dieser Arbeit soll jedoch versucht werden, Meisels Ausführungen richtig zu stellen, soweit die von ihm ins Auge gefaßten Textstellen auch hier untersucht werden. Interessant ist die Dissertation von Jürgen Kaizik aus dem Jahre 1980, welche den Stellenwert mathematischer Äußerungen im dmoe-Text studiert. Zwar wird der Roman nur im Hinblick auf Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie betrachtet12, die Arbeit enthält aber einzelne grundsätzliche Hinweise aus dem Gebiet der Mathematik auf Fragen zur Statistik und Wahrscheinlichkeit, die für die vorliegende Arbeit von Bedeutung sind13. Kaizik wird deshalb hier hauptsächlich zur Erörterung grundlegender mathematischer Fragen der Wahrscheinlichkeitstheorie in bezug auf den Roman herangezogen. Leider ist nur Frisés alte Ausgabe des dmoe-Romans14 von Kaizik zugrunde gelegt worden, obwohl zur Zeit der Anfertigung seiner Dissertation die neuere und fundiertere Ausgabe schon vorlag. So traten Schwierigkeiten bei der Auffindung einiger seiner Textbeispiele auf. Insgesamt erscheint Kaiziks Arbeit für eine generelle mathematische und naturwissenschaftliche Diskussion des Romans zu einseitig15, z.T. auch deshalb, weil Aussagen mit naturwissenschaftlichen oder mathematischen Inhalten im dmoe allgemein zu ernst genommen und dadurch die ironischen Untertöne übersehen (überhört) wurden. Dies wird in der vorliegenden Arbeit an einigen Stellen beispielhaft gezeigt werden können. Ein Kommentar zur Physik und anderen Naturwissenschaften im Rahmen des gesamten Romanfragments fehlt nach unserer Kenntnis bisher. Ein solcher Kommentar dürfte aber notwendig sein, wenn man dem nicht unbeträchtlichen naturwissenschaftli- chen Teil des Romans näher kommen will. Es kann beim dmoe ohnehin nur um das Verständnis von Teilaspekten gehen, denn die Hoffnung auf ein einheitliches Ge- samtbild des Romanwerks - das scheint wohl opinio communis 12 Jürgen Kaizik Die Mathematik im Werk Musils. Zur Rolle des Rationalismus in der Kunst Dissertation, Wien 1980, S. 29-58 13 Wie dem Vorwort zur Dissertation zu entnehmen war, ist der Autor selbst Mathematiker. 14 Robert Musil Der Mann ohne Eigenschaften Adolf Frise (Hg.), Reinbek b. Hamburg 1952 15 Dies ist auch von Meisel so gesehen worden. Er schreibt in Fußnote 272 auf S. 220 seiner Arbeit: Kaiziks Arbeit, die sich als "interdisziplinärer Versuch" versteht, verfährt allerdings zu deskriptiv, um hinter der Integration der statistischen Metho- de in den "Mann ohne Eigenschaften" das darin involvierte "poetische Gesetz" des Romans herauspräparieren zu können. Einleitendes _____________________________________________________________ 15 der Musil-Forschung zu sein - schwindet um so mehr, je weiter das wissenschaftliche Studium der Musil-Texte geführt wird. Honold schreibt dazu exemplarisch: ... Je umfangreicher indes das zur Kenntnis zu nehmende Textkorpus, ganz zu schweigen von den inzwischen ermittelten Quellen, Exzerpten und intertex- tuellen Anspielungen des Werks, dem enorm angewachsenen biographischen Wissen um Person und Geschichte des Autors, desto gewagter erscheint heute eine integrale Vision und Version des Romangefüges.16 In einer neueren Arbeit hat Christoph Hoffmann17 einen unserem Ansatz ähnlichen Versuch bezüglich experimenteller physikali- scher Psychologie unternommen, er beschränkt sich aber in sei- ner Untersuchung, was den dmoe-Roman anbetrifft, im wesentli- chen auf psychotechnische Aspekte. Die betrachteten dmoe- Texte werden überwiegend anhand von Musils psychologisch- physikalischen Grundkenntnissen analysiert, die er wahrschein- lich während seines Studiums der Philosophie am Berliner Insti- tut für experimentelle Psychologie auf den Gebieten optischer und akustischer Wahrnehmung erwarb, und die er später, unter anderem als Berater im Militärwesen, anwandte. Hoffmann weist in mehreren Fällen die psychotechnische Komponente der Ro- mantexte nach, indem er den Werdegang Musils auf dem Gebiet der psychologisch-physikalischen Wissenschaft am Institut für Psychologie der Universität Berlin und seine spätere Tätigkeit als Fachbeirat im 'Bundesministerium für Heereswesen'18 aus- führlich nachzeichnet. Hoffmanns Arbeit liefert wichtiges Hin- tergrundwissen zur Laufbahn Musils als 'physikalischer' Psycho- loge, und setzt es in direkten Zusammenhang mit dem Roman- text und anderer Prosa Musils. Da er den Schwerpunkt seiner Untersuchungen aber vornehmlich auf den psychologisch- technischen Aspekt legt, fallen seine Kommentare zu den ent- sprechenden physikalischen Grundlagen teilweise viel zu kurz aus und können deshalb nur zu ungenügendem Verständnis füh- ren. So werden z.B. einige der erwähnten optischen und akusti- schen wissenschaftlichen Meßgeräte in ihrer physikalischen Funktion nicht grundsätzlich genug erklärt19. Andererseits bildet Hoffmanns Dissertation eine wertvolle Ergänzung zu der hier unternommenen Studie, und alle Betrachtungen Hoffmanns, die 16 Honold Die Stadt und der Krieg S. 13 17 Christoph Hoffmann Der Dichter am Apparat. Medientechnik, Experimentalpsy- chologie und Texte Robert Musils 1899-1942. München 1997 18 Hoffmann, S. 232-233 19 Weder Stroboskop noch Kinematograph noch das von Hoffmann sogar abgebilde- te Stereoskop nach Wheatstone werden im Text befriedigend erklärt. Siehe: Hoff- mann, S. 145-149, S. 183-184 1 Einleitendes _____________________________________________________________ 16 sich mit unseren Überlegungen überschneiden, werden im Laufe der vorliegenden Arbeit hervorgehoben und im einzelnen diskutiert. Alexander Honolds Dissertation20 befaßt sich mit der Raum- und Zeitkonstruktion im dmoe-Roman, der bekanntlich in der Stadt Wien kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 'spielt'. Ob- wohl diese Untersuchung zunächst keine nennenswerten Ge- meinsamkeiten mit dem hier zu bearbeitenden Fragenkomplex zu haben schien, so ließen sich doch viele Querverbindungen zwischen beiden herstellen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Honolds Arbeit vor etwa den gleichen Schwierigkeiten stand, wie die vorliegende. Explizite Äußerungen über die Stadt Wien oder den Ersten Weltkrieg gibt es im dmoe kaum. Erst bei akribisch genauer Durchsicht des Romans und unter Zuhilfe- nahme des gesamten Musilschen Textkorpus' findet man sehr viele deutliche Hinweise darauf. Ganz ähnlich aufwendig stellte sich die Arbeit des vorliegenden Kommentars heraus, wenn für eigentlich unauffällige physikalische Feststellungen im Roman das dazugehörige 'physikalische Grundwissen' transparent gemacht werden sollte. In vielen Fällen konnte dann zur tiefenscharfen Kennzeichnung der im Roman beschriebenen Situation auf die Ausführungen Honolds zurückgegriffen werden, und dadurch ein mehrdimensionales Gesamtbild von Text und Umfeld entworfen werden. Die hier unternommene Forschungsarbeit soll im wesentlichen die Lücke schließen, die sich zwischen den direkten (natur-) wissenschaftlichen Ausführungen oder entsprechenden, nur angedeuteten Erwähnungen im dmoe und dem im Hintergrund vorhandenen physikalischen (naturwissenschaftlichen) Grund- wissen auftut. Dazu sollen Grundlagen der Physik bzw. der angrenzenden Wissenschaften in Form eines Kommentars nachgeliefert und darauf aufbauend die notwendigen Erklärun- gen angegeben werden. In unklaren Fällen sollen mehrere Erklärungsmöglichkeiten angeboten werden. Das Hineinstellen der Musilschen Texte in das Basiswissen der zu seiner Zeit geltenden Physik21 und der benachbarten Wissen- 20 Honold Die Stadt und der Krieg. 21 Die vorliegenden Untersuchungen zeigten, daß sich das grundlegende Verständnis der von Musil angesprochenen physikalischen Bereiche bis heute nur unwesentlich verändert hat. Auf die wenigen Ausnahmefälle, in denen die moderne Physik ein wesentlich anderes Bild liefert als es zu Musils Zeiten möglich war, wird im Kommentar gesondert hingewiesen. Einleitendes _____________________________________________________________ 17 schaften dürfte sicher ein wichtiger weiterer Schlüssel zum Ver- ständnis des Romanfragments sein. Andererseits sollte die Arbeit aber strikt als Kommentar gelesen werden, nicht als Vorschlags- katalog für weitere Interpretationen. Allein das 'naturwissen- schaftliche Umfeld', aus welchem die entsprechenden Texte her- vortreten, und welches Musil selbst vor Augen gehabt haben wird, als er sie verfaßte, soll sichtbar gemacht und erläutert wer- den. Auf die grundsätzlichen Schwierigkeiten, die in der Regel mit Interpretationen des Romans verbunden sind, hat Honold auf- merksam gemacht. Er schreibt: Die meisten Interpretationen, die den "Mann ohne Eigenschaften" im Gesamtzusammenhang zu behandeln versuchten, nahmen denn auch ihre Zuflucht zu einem ebenso einfachen wie erfolgversprechenden Gliederungsprinzip - dem der dramatis personae. Kommt das erste Buch des Romans einem solchen Verfahren der Unterteilung nach Figuren noch entgegen, so ist dies selbst wiederum eine Konsequenz des narrativen Konstruktionsprinzips, das ich als panoramatische Struktur bestimmt habe, als Anlage des Figurenensembles nach Maßgabe seiner sozialen Typik, gleichsam von einer alles überschauenden Totale auf das Gesellschaftsganze aus einge- richtet. Allein ein textanalytisches Vorgehen Figur für Figur ist für die Gesamtanlage des Romans kaum zu leisten und droht zudem die letztlich entscheidende Frage der Positionierung der Figuren - zueinander und zum Gesamtplan - aus dem an Einzelcharaktere sich heftenden Blick zu verlieren. 22 Der von Musil in vielen Fällen gewählte physikalische (mathe- matisch-statistische, chemische, ...) Fachdiskurs im dmoe deutet im allgemeinen für Experten erkennbar auf bestimmte Verbin- dungen mit Grundlagen der Physik (Mathematik, Statistik, Che- mie usw.) hin. In einigen Textbeispielen bleibt dieser Zusam- menhang aber mehrdeutig. In diesen Fällen ist man gezwungen, mehrere in Frage kommende Möglichkeiten der Erläuterung vorzustellen, was im Verlaufe dieser Arbeit auch geschieht. Die Arbeit ist folgendermaßen gegliedert. Nach dem einleitenden ersten Teil, in dem die Perspektiven erläutert werden und die Auswahl der hauptsächlich benutzten Sekundärliteratur getroffen wird, folgt im Hauptteil der Kommentar zu den im dmoe er- scheinenden physikalischen ((natur-)wissenschaftlichen) Bemer- kungen in der Reihenfolge des Romantextes. Dabei werden Mu- 22 Honold Die Stadt und der Krieg S. 332-333 1 Einleitendes _____________________________________________________________ 18 sils Originalüberschriften der Kapitel beibehalten und seine Numerierung wird in Klammern hinzugesetzt. Insgesamt werden über 45 Kapitel des dmoe behandelt. Kommentare und For- schungsergebnisse anderer Autoren zu den hier ausgewählten Textstellen werden in eben dieser Reihenfolge berücksichtigt und auch dann ausführlich diskutiert, wenn sie unrichtig erschei- nen. Im letzten Teil wird zunächst anhand der Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung die Stellung Musils zu Freud und dessen Psychoanalyse bestimmt. Anschließen wird versucht, die Hauptergebnisse der Arbeit nach zwei Gesichtspunkten zu ordnen: (i) Welche wissenschaftlichen Diskurse werden hauptsächlich von Musil verwendet und in welcher Weise erreicht Musil 'Interdiskursivität' des Romanfragments? (ii) Weshalb ist der beträchtliche naturwissenschaft- liche Anteil des Romans entweder nur mangelhaft aufge- nommen oder gänzlich mißverstanden worden? Dazu wird auch ein Vergleich mit Untersuchungen von Sokal und Bricmont über den Gebrauch der Mathematik und der Physik in Texten 'postmoderner Intellektueller' durch- geführt. Nachträglicher Hinweis Nach Fertigstellung der vorliegenden Arbeit erschien die für uns interessante Dissertation von Christian Kassung23, in der ver- sucht wird, in Anlehnung an die Diskurstheorie Foucaults das historische Fundament der 'Geschichte der Entropie' in Physik und Geisteswissenschaften anhand des dmoe-Romans aufzudek- ken. Dabei wird die Diskontinuität der Physik im Entropiedis- kurs verglichen mit den entsprechenden Veränderungen der phy- sikalischen Überlegungen in Musils Roman. Ein Teilergebnis der Arbeit, das auch durch den vorliegenden Kommentar unterstützt wird, besteht darin, daß die naturwissenschaftliche Geschichte 23 Christian Kassung Entropie-Geschichten: Robert Musils "Der Mann ohne Eigenschaften" im Diskurs der modernen Physik München 2001, S. 7-19; S. 112- 114 und S. 470-476 Einleitendes _____________________________________________________________ 19 der Entropie nicht ohne die 'Entropiegeschichte' des dmoe- Romans vollständig sein kann. Da Kassung im Rahmen seiner Arbeit notwendigerweise nur wenige Texte aus dem dmoe im Detail betrachtet und auch nur die im weitesten Sinne zur Entropie gehörige Physik behandelt, gibt es nicht viele Anknüpfungspunkte zum vorliegenden mit anderer Zielsetzung weiter gefaßten Kommentar. Solche Verbin- dungspunkte könnten aber in der Tat eine interessante Diskus- sion eröffnen, zumal - wie es scheint - im einzelnen sehr komple- mentäre Präsentationsweisen der notwendigen physikalischen Grundlagen von Kassung und uns verwendet worden sind. Lei- der erschien Kassungs Untersuchung für uns zu spät, um Ansätze dieser Diskussion, die z.B. die Begriffe 'klassische Physik' und 'moderne Physik' oder die Irreversibilität für Vielteilchensysteme beträfen, mit der nötigen physikalischen Sorgfalt und Genauig- keit darzulegen. 2 Kommentar zum dmoe-Roman _____________________________________________________________ 20 2 Kommentar zum dmoe-Roman 2.1 Erstes Buch Bevor im folgenden mit dem Studium der einzelnen Kapitel des dmoe begonnen wird, soll zur Einstimmung ein weniger beachte- ter, allgemeiner Einblick bzw. Ausblick für den Roman vorange- stellt werden, den Robert Musil selbst im Jahre 1926 bei einem Interview gab24. Die Ankündigung des Erscheinens des ersten Buches des Romans im Jahre 1931 wird in Abbildung 2, S. 22 gezeigt. 2.1.1 Musils Interview Ich setze voraus: Das Jahr 1918 hätte das 70jährige Regierungsjubiläum Franz Josef I. und das 35jährige Wilhelm II. gebracht. Aus diesem künftigen Zusammentreffen entwickelt sich ein Wettlauf der beidseitigen Patrioten, die einander schlagen wollen und die Welt, und im Kladderadatsch von 1914 enden. "Ich habe es nicht gewollt!" Kurz und gut: es entwickelt sich das, was ich die 'Parallelaktion' nenne. Die Schwarzgelben haben die 'österreichische Idee', wie Sie sie aus den Kriegsjahren kennen: Erlösung Österreichs von Preußen - es soll ein Weltösterreich entstehen nach dem Muster des Zusammenlebens der Völker in der Monarchie - der 'Friedenskaiser' an der Spitze. Krönung des Ganzen soll eben das imposante Jubeljahr 1918 bringen. Die Preußen wieder haben die Idee der Macht auf Grund der technischen Vollkommenheit - auch ihr Schlag der Parallelaktion ist für 1918 geplant. (Ich setze diese Umwelt in Bewegung:)25 zuerst, in- dem ich einen jungen Menschen einführe, der am be- sten Wissen seiner Zeit, an Mathematik, Physik, Tech- nik geschult ist. Dieser tritt in das Leben von heute - denn nochmals, mein 'historischer' Roman soll nichts geben, was nicht auch heute Geltung hätte. Der also sieht zu seinem Erstaunen, daß die Wirklichkeit um mindestens 100 Jahre zurück ist hinter dem, was ge- 24 Siehe dazu: Honold Die Stadt und der Krieg S. 75-77 25 Hier wie im folgenden gilt: in Zitaten, die grundsätzlich gesperrt gedruckt er- scheinen, sind Texteinschübe, die vom Verfasser der vorliegenden Arbeit stammen, nicht gesperrt gedruckt! 2.1.1 Musils Interview _____________________________________________________________ 21 dacht wird. Aus diesem Phasenunterschied, der notwendig ist und den ich auch zu begreifen suche, ergibt sich ein Hauptthema: 'Wie soll sich ein geistiger Mensch zur Realität verhalten?' Dem stelle ich eine Gegenfigur gegenüber: den Typus des Mannes größten Formats und oberster Welt. Er verbindet wirtschaftliches Talent und ästhetische Brillanz zu einer sehr merkwürdigen und bezeich- nenden Einheit. Nach Österreich kommt er aus Berlin, um sich zu erholen - in Wahrheit aber, um in aller Stille seinem Konzern die bosnischen Erzlager und Holzschlagungen zu sichern. Im Salon der 'zweiten Diotima', der Gattin eines Präsidialisten, des Repräsentanten der altösterreichischen Weltbeglük- kung stößt er auf diese Frau. Zwischen beiden entwickelt sich nun ein 'Seelenroman', der im Leeren enden muß. Zugleich trifft der junge Mann anläßlich eines Sterbefalles im Haus seiner toten Eltern seine Zwillingsschwester, die er bisher nicht kannte. Die Zwillingsschwester ist biologisch etwas sehr seltenes, aber sie lebt in uns allen als geistige Utopie, als manifestierte Idee unserer selbst. ... Aber Bruder und Zwillingsschwester: das Ich und das Nicht-Ich fühlen den inneren Zwiespalt ihrer Gemeinsamkeit, sie zerfallen mit der Welt, fliehen. ... Ich gebe dazu die Parallele mit dem Paar: Diotima und Wirtschaftsheld. Würde er keine Geschäfte machen, könnte er keine Seele haben; nicht wegen des Geldes, das man braucht, um sich eine leisten zu können, sondern weil das Heilige ohne das Unheilige ein regloser Brei ist. Auch diese Zweiheit ist bedingt und notwendig. Die Erzählung läuft dann weiter, indem ich den Kernkomplex: Liebe und Ekstase von der Wahnsinns- seite her aufrolle durch eine von der Erlösungsidee Besessene. Die Geschehnisse spitzen sich zu einem Kampf zwischen dem Alumnen (Schüler) eines neuen Geistes und dem Wirtschaftsästheten zu. ... Aus Opposition gegen eine Ordnung, in der das Ungeistige die größten Chancen hat, wird mein junger 'Held' Spion. ... Der Mensch ist nicht komplett und kann es nicht sein. Gallertartig nimmt er alle Formen an, ohne das Gefühl der Zufälligkeit seiner Existenz zu verlieren. Auch ihn, wie alle Personen meines Romans, enthebt die Mobilisierung der Entscheidung. Daß Krieg wurde, werden mußte, ist die Summe all der widerstrebenden Strömungen und Einflüsse und Bewegungen, die ich zeige. (pr S. 939-941) 2 Kommentar zum dmoe-Roman _____________________________________________________________ 22 Abbildung 2 Ankündigung des 1. Buches des dmoe- Romans im Jahre 1931. Die Photographie entstammt dem Robert-Musil-Museum in Klagenfurt. Welche Schwierigkeiten Musil jedoch während der enorm lange dauernden Abfassung des dmoe-Manuskriptes durch seine sich selbst auferlegten hohen 'intellektuellen' und wissenschaftlichen Ansprüche und seine Zweifel zu überwinden hatte, zeigt eine in den Tagebüchern aufgezeichnete Selbstbeobachtung. Sie soll im folgenden ebenfalls ganz zitiert werden: Ich schlafe ohne Unruhe. Aber noch beim Erwachen, ehe ich mir sage, daß ja schon alles auf gutem Wege sei: der Schmerz. Nicht genau Schmerz zu nennen, obgleich es eine körperliche Empfindung im Kopf ist. Der beste Aus- druck dafür scheint mir "intellektuelle Verzweiflung" zu sein. Es ist Ohnmacht, gemischt mit einem fürch- terlichen Abscheu (ähnlich dem bei schwerster Ermüdung), wieder an die Sache heran zu müssen. Begreiflich, daß ich es früher für Ermüdungszustände gehalten habe. Ähnliche Situation, wenn ich früher beim Einpacken die Hände niederlegte und mich nicht entschließen konnte, womit ich anfangen solle. Da erscheint es als eine Störung des Wollens. Es ist aber von der intel- lektuellen Funktion her beeinflußbar. Ich sage mir das Gleichnis vom Mauseloch vor. Und nun wird mir klar 2.1.1 Musils Interview _____________________________________________________________ 23 - weshalb ich hauptsächlich das niederschreibe -, daß ein falsches Objektivieren mit im Spiel ist. Ich trachte danach, eine Situation zu schaffen, die außer mir liegt. Alle meine Bemühungen beim fehlerhaften Schreiben richten sich darauf. Ich bin es dann nicht mehr, der spricht, sondern Sätze stehen außer mir, wie ein Material, und ich muß mit ihnen manipulie- ren. Diese Situation suche ich zu schaffen. (tg1 S. 682) Corino kommentiert zutreffend: Die beeindruckende Art der Introspektion und die Analyse des Produktionsprozesses sind vielleicht ein Index für den Rang dieses Schriftstellers, vielleicht auch dafür, daß diese Fähigkeit beim Intellektuellen des 20. Jahrhunderts durch die Verbreitung der psychologischen Kenntnisse generell sehr gestiegen ist.26 Was Musil in den obigen Tagebuchaufzeichnungen mit dem Gleichnis vom Mauseloch meinen könnte, geht aus den folgenden beiden Textstellen des Nachlasses27 hervor: ... die Arbeit hat mich bereits eingefangen. Leider noch nicht ..., denn sie flattert mir bloß vor u. will sich nicht fassen u. ans Papier heften lassen. Stimmung daher wie die einer Katze, die bereits drei Tage lang vor dem Mauseloch sitzt. (nl IV/3/449) Wenn man so eine Arbeit gern fertig hätte u. sie will u. will nicht, so gibt das eine göttliche Stimmung. Und so sitz ich Armer nun schon drei Tage wie die Katze vor dem Mauseloch und warte vergebens auf irgend etwas Kleines, Huschendes, Novellistisches, das da werden soll, weil ich es versprochen habe. (nl IV/3/450) 26 Karl Corino Ödipus oder Orest? Robert Musil und die Psychoanalyse. In: Vom "Törless" zum "Mann ohne Eigenschaften" Uwe Baur und Dietmar Goltschnigg (Hg.), München 1973, S. 200 27 Hier wie im folgenden beziehen wir uns auf den Text der CD-ROM des Musil- schen Nachlasses: Robert Musil. Der literarische Nachlaß. Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl u. Adolf Frise (Hg.), CD-ROM, Reinbek b. Hamburg 1992. Die in Klam- mern gesetzte Abkürzung beginnt stets mit 'nl'. Die römische Ziffer bezeichnet die Mappengruppe, die zweite Zahl die Mappennummer und die dritte die Seitenzahl. 2.1.2 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (1) _____________________________________________________________ 24 2.1.2 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (1) 2.1.2.1 Wetter und Wetterkarte Im ersten Kapitel des Romans gibt Musil ein sehr gutes Beispiel seiner Fachkenntnis der Meteorologie, zeigt aber gleichzeitig seine Vorbehalte gegenüber dieser und jeder anderen Wissen- schaft an. Streng genommen muß im Roman sorgfältig zwischen den Äußerungen des Dichters Musil, denen des auktorialen Erzählers des Romans und des Protagonisten Ulrich unterschieden werden. Von den Möglichkeiten eines auktorialen Erzählers macht ja Musil vielfältigen Gebrauch. Rolf Günter Renner schreibt: Der Text des 'Mann ohne Eigenschaften' verfügt über einen auktorialen Erzähler, der die volle Bandbreite seiner Darstel- lungsmöglichkeiten nutzt, seine Sprache erweist sich dem Berichteten überlegen, dem sie sich beliebig annähert und zu dem sie ebenso schnell auch wieder Distanz wahren kann. Dabei verfügt der Erzähler über unterschiedliche Formen der Abstandnahme: Ironie, Satire, Persiflage und Perspektivismus erzeugen je erneut ein Erzählmedium anstelle einer einlinigen Erzählweise; Metapher, Vergleich und Essay durchsetzen den Text und bestimmen seine Beziehungen zur Erfahrungs- wirklichkeit immer wieder neu.28 Musil selbst machte diese Unterscheidungen aber noch nicht29, wenn man seine eigenen Worte im späten dmoe und den Tagebüchern so verstehen darf: Die Geschichte dieses Romans kommt darauf hinaus, daß die Geschichte, die in ihm erzählt werden sollte, nicht erzählt wird. (S. 1937)30 ... dieses Buch (ist) idealistisch, analytisch ev synthetisch. Es ist keine Satire, sondern eine positive Konstruktion. Es ist kein Bekenntnis, sondern eine Satire. Es ist nicht das Buch eines Psychologen. Es ist nicht das Buch eines Denkers ... (S. 1939) Ich wird in diesem Buche weder den Verfasser31 be- deuten, noch eine von ihm erfundene Person, sondern ein wechselndes Gemisch aus Beidem. (tg1 S. 642) 28 Renner Die postmoderne Konstellation S. 125 29 Siehe dazu aber: Irmgard Honnef-Becker "Ulrich lächelte". Techniken der Relativierung in Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" (Trierer Studien zur Literatur; Bd. 20) Frankfurt a. M. 1991, S. 146 30 Die Angabe nur der Seitenzahl bedeutet hier wie im folgenden, daß es sich um ein Zitat aus dem dmoe handelt: Gesammelte Werke. Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Bd. I. Adolf Frise (Hg.), Reinbek bei Hamburg 1978 2.1.2.1 Wetter und Wetterkarte _____________________________________________________________ 25 Die Bemerkungen aus Meteorologie und Astronomie im ersten Kapitel des dmoe hat Musil besonders vorbereitet, wie sich aus seinen Notizen im Nachlaß entnehmen läßt: Lufttemperatur / Wetterprognosen / Isothermen / Lie- be u Denken nicht auseinanderreißen / Ich bin nicht allein. Es wird eines Tags da sein. Lotterwirtschaft zugrunde gehen. Nichts hilft als neue Menschen. / Luftdruck / Temperatur / Hygrometer / Animograph (wahrscheinlich: Anemograph; gröberes Instrument zur Messung von Strömungsgeschwindigkeiten) / Atmometer (Instrument zur Messung der Verdamp- fungsgeschwindigkeit des Wassers) / Über .. befand sich .. wandernd / die ... taten ihre Schuldigkeit / Überschätzt Liebe / Atlantik Rußland / Da u da / 'Da u da' östlich wandernd / Berücksichtigt man den Ver- lauf der (Monats =) Isothermen und vergleicht mit dem der Isotheren (Linien gleicher mittlerer Sommer- temperatur) / Isotheren (... auf Ort u gleiches Niveau reduzierter Barometerstand) / Die Luftfeuchtigkeit / ... Lufttemperatur: mittlere Jahrestendenz / die .. ent- sprach ... / Temperatur des kältesten u des wärmsten Monats = aperiodische monatliche Temperatur- schwankung / Höchste Spannkraft des Wasserdamp- fes / ... die ... war hoch / die ... war gering / Kleinste Feuchtigkeit ... im Sommer ... / ... Jahre Schalttag? ... / Tagesbestimmung: Auf- u Untergang der Sonne / 'Auf- u Untergang' des Mondes / wahrer Ort am Himmel / Orte der Planeten / Lichtwechsel des Mondes, der Venus u des Saturnringes / Scheinbare Orte der Fixsterne ... / ... für jeden Tag auf einige Jahre hinaus: Astronomische Jahrbücher. / Astronomischer Ort genügt wohl. / Unter Berücksichtigung der Nachtgleichen (Zeiten, an welchen Tag und Nacht die gleiche Länge haben) u Sonnenwenden: Jahreszeit. / Eventuell Untergangs- stimmung. (nl VII/15/183) Der zugehörige Textabschnitt im dmoe zur 'Wetterlage' ist in der Forschung vielfach zitiert und kommentiert, teilweise auch als Grundlage für das gesamte Romanfragment interpretiert worden. Vor letzterem hat Honold aber mit Recht gewarnt: 31 Zur Bedeutung und zum 'historischen Werdegang des Autors': Gerhard Plumpe Kunst und juristischer Diskurs. Mit einer Vorbemerkung zum Diskursbegriff. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft Jürgen Fohrmann und Harro Müller (Hg.), Frankfurt a. M. 1988, S. 330-345 2.1.2 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (1) _____________________________________________________________ 26 ... unvermeidlich, wenn auch mißverständlich, ist die Feststellung, daß viele Interpretationen es der Geschehenskurve und Erzählbewegung des Romans darin gleichtun, sich also einer detaillierten Analyse des Textbeginns widmen, um in ihrer Aufmerksamkeit für das Folgende kontinuierlich an Intensität einzubüßen und sich am Horizont kaum mehr absehbarer Thesen und Resultate zu verlieren.32 Dazu kommt aber die Tatsache, daß diese Einleitung Musils an einzelnen Stellen gänzlich mißverstanden und dadurch eine Reihe falscher Schlußfolgerungen gezogen wurde, wie sich im folgenden herausstellen wird. Es erscheint deshalb lohnend, den Text noch einmal gründlich zu studieren: Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum, es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Iso- thermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Ver- hältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Tempera- tur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturn- ringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsäch- liche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas alt- modisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913. (S. 9) Zunächst glaubt man, eine Art Wetterbericht33 vor sich zu haben, wie Honold zurecht bemerkt. Doch läßt sich bei näherem Hin- sehen unschwer eine Mixtur aus meteorologischen, astronomi- schen und physikalischen Aussagen feststellen. Das barometrische Minimum (Maximum) ist eine ausführlichere Bezeichnung für das uns heute aus den Wetterkarten geläufige Tief (Hoch), ein Gebiet lokalen niedrigen (hohen) Luftdrucks. In der folgenden Abbildung 3 wird ein Beispiel einer Wetterkarte gezeigt, in der verschiedene Hoch- und Tiefdruckgebiete ver- zeichnet sind. Wissenschaftlich nennt man derartige Tiefdruck- gebiete Zyklone, Hochdruckgebiete Antizyklone. Beide Druck- 32 Honold Die Stadt und der Krieg S. 15 33 Honold Die Stadt und der Krieg S. 37 2.1.2.1 Wetter und Wetterkarte _____________________________________________________________ 27 systeme sind durch geschlossene, kreisförmige Isobaren (Ver- bindungslinien gleichen Drucks) gekennzeichnet. Im Zyklon nimmt der Druck vom Zentrum her allseitig nach außen zu, im Antizyklon entsprechend ab. Die Entstehung solcher Drucksy- steme führt z.T. über sehr komplexe Prozesse, welche im Rah- men dieser Monographie nicht beschrieben werden können34. Abbildung 3 Wetterkarte des deutschen Wetterdienstes Essen. Bereiche hohen und tiefen Drucks sind durch H bzw. T kenntlich gemacht. Die Isobaren (Verbindungs- linien gleichen Drucks) sind mit den entsprechenden Druckangaben versehen. Die dick gezeichneten Linien bezeichnen Warm- (dunkle Halbkreise) bzw. Kaltwetter- fronten (dunkle Dreiecke). Der Druck ist in Hektopascal angegeben: 1000 hPa = 1 bar  1 atm. Im Roman wird von der betreffenden Landschaft, bei der es sich bekanntlich um Wien und Umgebung handelt35, gesagt, sie be- fände sich zu der betrachteten Zeit unter einem Hoch, aber ein Tief rücke vom Atlantik her näher. Als meteorologisch laienhaf- ter Rezipient des Textes verbindet man zwar das erwähnte Hochdruckgebiet mit sonnigem und das herannahende Tief- druckgebiet mit regnerischem Wetter36, kann sich aber weder eine genaue Vorstellung vom herrschenden Wetter machen, 34 Zum Studium empfohlen sei z.B. die Monographie: Horst Malberg Meteorologie und Klimatologie. Eine Einführung. Heidelberg 1997, S. 122-178 35 Siehe dazu: Honold Die Stadt und der Krieg S. 25 ff 36 Im Herbst kann es aber bei hohem Luftdruck zu Sprühregen, im Sommer zu Gewittern kommen. Umgekehrt ist auch bei niedrigem Luftdruck längerer Sonnen- schein möglich. Siehe Malberg , S. 8 2.1.2 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (1) _____________________________________________________________ 28 noch weiß man, warum eigentlich ein Tiefdruckgebiet zu Niederschlägen und ein Hochdruckgebiet zu Sonnenschein führt. Die folgenden skizzenhaften Erklärungen sollen ein elementares Verständnis der Vorgänge ermöglichen, für ein genaueres Studium sei aber auf die einschlägige Fachliteratur zur Meteorologie37 verwiesen. Die atmosphärische Luft besteht hauptsächlich aus prozentual festen Anteilen von Stickstoff (N2), etwa 80 %, und Sauerstoff (O2), etwa 20 %, und einem geringen variablen Anteil Wasserdampf, welcher je nach Verdunstungsgrad bis zu 4% der Gesamtgasmenge ausmachen kann. Tabelle 1 gibt genauere Werte an: Tabelle 1 Zusammensetzung der Luft38 Der örtliche Luftdruck stellt die durch das Gewicht der Luftsäu- le ausgeübte Kraft auf die entsprechende Grundfläche der Luft- säule dar. Da Luft im Gegensatz zu Wasser aber kompressibel ist, und folglich darüberliegende Luftschichten darunterliegende zusammenpressen, nimmt der Druck in Abhängigkeit von der Höhe nicht linear, sondern exponentiell ab. Es gilt die barome- trische Höhenformel. Sie lautet in vereinfachter Form: P = P0 exp(-C h/T) , wobei P der gesuchte Druck, P0 der Druck am Boden, C eine Konstante und T die mittlere Temperatur der Luftsäule von der Gesamthöhe h bedeutet39. Welcher aktuelle Druck entsteht, hängt von der Dichte der betrachteten Luftsäule ab. Warme Luft ist dünner als kalte, ein großer Wasserdampfanteil bewirkt noch zusätzlich eine Verkleinerung der Dichte, da Wasserdampf eine geringere Dichte hat als die übrige Luft. 37 Siehe: Hans Häckel Meteorologie Stuttgart 1999, S. 53-143, 259-292; Detlef Schreiber Meteorologie - Klimatologie Bochum 1982, S. 50 ff, S. 84 ff; Malberg, S. 85 ff 38 Malberg, S. 24 39 Vergleiche z.B. Häckel, S. 32 ff. 2.1.2.1 Wetter und Wetterkarte _____________________________________________________________ 29 Ein Tiefdruckgebiet stellt sich dort ein, wo hohe Temperaturen am Boden auftreten und die lokale Verdunstung des Wassers sehr groß wird. Die mit Wasserdampf angereicherte heiße Luft ist dann leichter als die übrige Luft und steigt wie ein Heißluft- ballon auf. Um das Zentrum der am schnellsten aufsteigenden feuchten Luft entsteht dann in trichterförmiger Schichtung das beschriebene Tiefdruckgebiet mit einem nach außen hin ansteigenden typischen Druckprofil. In diesem Tiefdrucktrichter schnell aufsteigender feuchter Luft- massen erfolgt nun adiabatische Abkühlung. D.h. ohne Auf- nahme (oder Abgabe) von Wärme aus der (oder an die) Umge- bung expandieren die plötzlich in großer Höhe befindlichen Luftmassen, weil sich das allgemeine Druckniveau aufgrund der barometrischen Höhenformel weit unter demjenigen der ur- sprünglichen Bodenluft befindet. Durch die schnelle Ausdeh- nung tritt nun rasche Abkühlung dieser heißen Bodenluft ein, denn die verrichtete Expansionsarbeit muß der inneren Energie dieser Luftmassen, also der Wärmebewegungsenergie der Luft- moleküle, entnommen werden. Infolge der Abkühlung kann aber der hohe Wasserdampfgehalt der Bodenluft nicht mehr gehalten werden, Wasser wird in Form kondensierter Tröpfchen ausgeschieden. Allgemein kann das atmosphärische Gas bei gegebener Temperatur nur eine be- stimmte maximale Wasserdampfmenge enthalten. Der dieser größtmöglichen Wasserdampfmenge entsprechende anteilmäßi- ge Dampfdruck (Partialdruck) wird Sättigungsdampfdruck ge- nannt40. Dieser Sättigungsdampfdruck sinkt aber durch die Ab- kühlung der ursprünglichen Bodenluft so stark ab, daß der über- schüssige Wasserdampf kondensiert. Dadurch entsteht starke Wolkenbildung, die schließlich zu gewitterartigen Regenfällen führt. In der Abbildung 4, S. 30 findet sich die Photographie einer Gewitterregenwolke, die sich auf die beschriebene Weise gebildet haben könnte. Allerdings spielt bei der Ausbildung von Wolken noch eine Reihe weiterer Faktoren, wie z.B. Geländebe- schaffenheit, Winde, Nachbartiefdruckgebiete, usw.eine wich- tige Rolle. Deshalb können auch andere Wolkenarten und Wet- terverhältnisse entstehen. Was bisher über den Zusammenhang von Tiefdruckgebiet und Regenwetter gesagt wurde, gilt im umgekehrten Sinne für die Verbindung von Hochdruckgebiet und sonnig-warmem Wetter. Durch örtlich schnelles Absinken kalter Luftmassen entsteht starke adiabatische Kompression in Bodennähe (Barometrische Höhenformel), die ihrerseits starke Erwärmung der trockenen, 40 Siehe Häckel, S. 61 ff 2.1.2 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (1) _____________________________________________________________ 30 ursprünglich kalten Höhenluft zur Folge hat. Die seitlich abfließende und wieder aufsteigende sehr trockene Warmluft führt zur Ausbildung des typischen, 'hügelförmigen' Hochdruck- gebiets41. Solange der Wasseranteil dieser trockenen, warmen Luft den Sättigungsdampfdruck bei den entstehenden Tempe- raturen nicht erreicht, ist Wolkenbildung ausgeschlossen. Erst wenn die Wasserverdunstung am Boden erheblich wird, löst sich allmählich das Hochdruckgebiet auf. Hochdruckgebiete können riesige Ausmaße annehmen und ganze Kontinente überdecken. Abbildung 4 Photographie einer Gewitterwolke, die wissenschaftlich 'Cumulonimbuswolke' genannt wird. Aus Cumulonimbuswolken fallen häufig schwere Regen-, Schnee- und Hagelschauer. Ihr typisches Merkmal ist ein schirmartiges Gebilde an ihrem oberen Rand. Von der Sei- te gesehen hat die Wolke etwa Amboßform. Häckel, S. 105 Der zitierte dmoe-Text sagt zunächst nur, wo sich Hoch- und Tiefdruckgebiet befinden. Weitere zu einem ordnungsgemäßen Wetterbericht gehörende Daten oder Parameterwerte, aus denen wir auf das aktuelle Wetter jenes Tages schließen könnten, erhal- ten wir nicht. Zwar werden Isothermen, welche Orte gleicher mittlerer Temperatur verbinden, wobei die Mittelung42 z.B. über einen Monat oder ein Jahr läuft (s. Musils anfängliches Nachlaß- zitat), im Text erwähnt oder Isotheren, welche ebenfalls Orte gleicher mittlerer Temperatur verbinden, jedoch nur unter Mitte- lung über die Sommermonate. Auch die Lufttemperatur wird genannt. Aber alle Angaben werden lediglich in bestimmte ord- nungsgemäße Verhältnisse zu anderen mittleren Temperaturen 41 Genau genommen sind noch sog. warme und kalte Hochs zu trennen. Siehe dazu aber: Malberg, S. 143-147 42 Gemeint ist hier der arithmetische Mittelwert. Wissenschaftliche Ausführungen dazu folgen noch im weiteren Verlauf der Arbeit. 2.1.2.1 Wetter und Wetterkarte _____________________________________________________________ 31 gesetzt, deren Werte ebenfalls nicht bekannt sind. So ver- schweigt der Erzähler schließlich sämtliche aktuellen Werte der genannten Parameter. Aber selbst bei Nennung der Mittelwerte könnten noch große Diskrepanzen zu den Tageswerten bestehen. Wie sehr sich Kurzzeitmittelwerte von den entsprechenden Langzeitwerten unterscheiden können, veranschaulicht die fol- gende Abbildung 5. Dort ist die bereits gemittelte Sommertem- peratur in Wien für die Jahre 1780-1992 aufgetragen: 1780 1800 1820 1840 1860 1880 1900 1920 1940 1960 1980 Abbildung 5 Entwicklung der Sommertemperaturen Wiens in den Jahren von 1780 bis 1992. Die Zigzag-Linie gibt Einzeljahresmittelwerte (arithmetische) an, die Wel- lenlinie geglättete Werte und die horizontale Linie stellt den Gesamtmittelwert über den betrachteten Zeitraum dar. Alle Angaben in Grad Celsius. Bergmann-Schaefer Lehr- buch der Experimentalphysik. Erde und Planeten. Bd. 7, Berlin 1997, S. 415-419 Aus den Angaben des Erzählers ließe sich nicht einmal auf Sommer- oder Winterwetter schließen, wenn nicht von Isotheren gesprochen worden wäre, welche implizit auf den Sommer hin- weisen. Es fehlen alle Zahlenangaben über Temperaturen, Kälte- oder Wärmefronten, Windrichtungen usw.. Statt dessen wird man davon in Kenntnis gesetzt, daß die betrachteten Größen be- stimmten statistisch definierten Erwartungswerten entsprächen. Die einzige Schlußfolgerung aus dem einführenden 'wissen- schaftlichen' Romantext wäre also: es herrscht kein ungewöhnli- ches Wetter. Im weiteren beschreibt der Text astronomische Erscheinungen, und zwar mit der Pointe, daß diese den Voraussagen astronomi- scher Jahrbücher entsprochen hätten. Falls es solche Jahrbücher überhaupt gegeben haben sollte, so werden daraus nur die trivia- len 'Voraussagen' erwähnt, wie Auf- und Untergang der Sonne und des Mondes und ähnliche bedeutsame Erscheinungen. Ande- re relevantere Daten, wie z.B. die Orte der ferneren Planeten auf ihren Umlaufbahnen, aus denen vielleicht das Datum oder das Jahr des betreffenden Tages hätte bestimmt werden können, er- 2.1.2 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (1) _____________________________________________________________ 32 fährt man jedoch nicht. Die wissenschaftliche Detailinformation des verwendeten meteorologisch-astronomischen Fachdiskurses wird dem Leser vorenthalten. Zwar setzt der Erzähler den wissenschaftlichen Diskurs gleichzeitig mit dem Alltagsdiskurs zur Beschreibung des tatsächlichen Wetters ein, wie Walter Moser richtig gesehen hat, aber die wissenschaftlichen Aussagen enthalten auf ironische Weise absichtlich so wenig Information, daß dadurch die Wiedergabe des 'Tatsächlichen' unmöglich gemacht wird. So kann im Gegensatz zu dem, was Moser sagt, hier gar nicht entschieden werden, ob sich generell die wissen- schaftliche Beschreibung weniger als die umgangssprachliche eignet, 'das Wetter' darzustellen, wer also das ebenbürtigere Abbild des Tatsächlichen 43 liefert. 2.1.2.2 Luftfeuchtigkeit und Wolken Zum Schluß fügt der Erzähler seinen hochwissenschaftlichen Ausführungen, ehe deren Inhalt in einem einzigen 'Alltagssatz' aufgelöst wird, noch hinzu, daß die Luftfeuchtigkeit gering und damit die Spannkraft des Wasserdampfs in der Luft hoch gewe- sen sei. Diese Äußerungen, die lediglich die besonders geringe Luft- feuchtigkeit an jenem Tag hervorheben sollen, sind in der litera- turwissenschaftlichen Forschung offensichtlich nicht verstanden und deshalb völlig mißdeutet worden. Claude David schreibt z.B.: ... "Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu." Oder: "Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering." Listige Beispiele, mit denen sich Musil über seine Leser lustig macht: denn die Wolken bewegen sich nicht von einem Minimum einem Maximum zu, sondern umgekehrt; und wie könnte die Feuchtigkeit gering sein, wenn der Wasser- dampf seine höchste Spannkraft erreicht? 44 Die Luftfeuchtigkeit wird - wie bereits vorher erklärt - durch den gewichtsmäßigen Anteil oder den Partialdruck des Wasser- dampfes in der Luft bestimmt. Die maximal mögliche Luftfeuch- tigkeit, der Sättigungswert also, hängt im wesentlichen von der örtlichen Temperatur ab. Messung der Luftfeuchtigkeit geschieht 43 Walter Moser Zwischen Wissenschaft und Literatur. Zu Robert Musils Essayis- mus. In: Verabschiedung der (Post-)Moderne J. Le Rider und G. Raulet (Hg.), Tübingen 1987, S. 173 44 Claude David Musil und die Stadt Literatur und Kritik, Heft 141 (1980), S. 520. Auch Alexander Honold zitiert diesen Kommentar Davids kritiklos. 2.1.2.2 Luftfeuchtigkeit und Wolken _____________________________________________________________ 33 entweder absolut, etwa durch Bestimmung des Gewichtsanteils Wasserdampf pro Volumenanteil Gesamtluft, oder relativ, indem lediglich der auf den Sättigungsdruck bezogene prozentuale Anteil des Wasserdampfes in Luft bestimmt wird. Zur Feststellung der relativen Luftfeuchtigkeit genügt ein einfa- ches Hygrometer, das die von Musil erwähnte wasserdampf- abhängige Spannkraft eines Haares ausnutzt. Das menschliche Haar verlängert sich bei größerer Luftfeuchtigkeit und verkürzt sich bei kleinerer. Wird folglich ein Frauenhaar in einer bewegli- chen Halterung aufgespannt, so läßt sich aus der Längenände- rung direkt die relative Luftfeuchtigkeit ermitteln. Geringer Was- serdampfanteil in der Luft spannt das Haar, großer Wasser- dampfgehalt entspannt es. Tatsächlich wird die relative Luftfeuchtigkeit auf diese einfache Weise mit einem Haarhygrometer gemessen45. Ein solches Hygrometer zeigt schematisch die folgende Abbildung 6: Abbildung 6 Die Zeichnung stellt schematisch ein Haarhygrometer zur Messung der relativen Luftfeuchtig- keit dar. Ein entfettetes Frauenhaar H ist in einem Metall- rahmen M mit einem Ende an einer Schraube A befestigt. Am unteren Ende läuft es um die Achse B eines Zeigers Z und wird mit einem kleinen Gewicht G belastet. Verändert sich die Haarlänge, so wird dies durch den Zeiger sichtbar gemacht. Zur Eichung bringt man das Gerät in einen mit Wasserdampf gesättigten Raum und stellt nach einiger Zeit den Zeiger durch Regulieren der Schraube A auf den Wert 100 % (Sättigungswert). Siehe: Bergmann-Schaefer, Bd. 1, Berlin 1990, S. 772 45 Bergmann-Schaefer Lehrbuch der Experimentalphysik. Mechanik. Akustik. Wär- me. Bd. 1, Berlin 1990, S. 769 ff; auch: Malberg, S. 10-12 2.1.2 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (1) _____________________________________________________________ 34 Die luftfeuchtigkeitsabhängige Längenveränderung des mensch- lichen Haares erklärt sich wie folgt: das Haar befindet sich in ständigem Wasserdampfaustausch mit der Luft. Bei hoher Luftfeuchtigkeit entnimmt es der Luft einen Teil des Wassers, quillt dabei auf und verlängert sich. Umgekehrt gibt das Haar in trockener Luft Wasser ab, schrumpft dabei und verkürzt sich. Es gibt zwar Materialien, die ähnliche Eigenschaften wie das Haar haben, aber das Frauenhaar zeigt die relative Luftfeuchtigkeit nahezu unabhängig von der Temperatur an46. Auch im ersten Teil seiner Ausführungen, in denen David be- hauptet, Wolken zögen vom Hochdruckgebiet ins Tiefdruckge- biet, irrt er sich völlig. Abgesehen davon, daß sich nach den vorliegenden Untersuchungen nicht eine Textstelle im ganzen dmoe nachweisen läßt, die anzeigt, Musil habe sich über seine Leser lustig gemacht47, läßt sich für den Regelfall sagen: in einem barometrischen Maximum, also einem Hochdruckgebiet, kommen Wolken nicht vor! Wie können sie dann also einem barometrischen Minimum, dem Tiefdruckgebiet zustreben? Musil spricht in seinem Text aber überhaupt nicht von Wolken, sondern nur von einem Tief, welches sich dem Hoch nähert. Dies dürfte in jedem Falle richtig sein, da die Bewegungen der Hochs und Tiefs von der Großwetterlage abhängen, also unter anderem auch davon, wie sich angrenzende Hochs und Tiefs verhalten, welche Windrichtungen vorliegen, welche großräumigen Temperaturgradienten auftreten usw.. Musils Beschreibung der Bewegung des Tiefs in bezug auf das Hoch darf sogar als diejenige eines Experten gelten. Der Meteorologe Horst Malberg schreibt z.B. über ein warmes Hochdruckgebiet: ... kommt es (unter bestimmten Bedingungen) in den mittleren Breiten zur Entstehung eines eigenständigen Hochzentrums und hat dieses die Eigenschaften aller warmen Hochs, ... (so ist es) ... auch quasistationär. Die über dem Atlantik heranziehenden Tiefausläufer finden ihren Weg nach Osten versperrt, durch das Hoch blockiert, und müssen nach Norden oder Süden ausweichen, ... Da in den Bereich des Hochs Tiefausläufer nicht eindringen können, und es selber sich nur langsam verlagert, tritt eine mehrtägige ... Schönwetterperiode auf (Malberg, S. 155). Man vergleiche diesen letzteren Text Malbergs mit Musils erstem und letzten Satz des einleitend zitierten Romantextes. Aber selbst wenn man David einräumt, daß sich Wolken im Hochdruckgebiet befinden, was durchaus vorkommen kann, so 46 Häckel, S. 55 ff u. 367-368; vergleiche auch: Malberg, S. 170 ff 47 Man beachte die späteren Ausführungen in diesem Abschnitt über 'Ironie' 2.1.2.2 Luftfeuchtigkeit und Wolken _____________________________________________________________ 35 wird deren Zugrichtung von der lokalen Windrichtung, von großräumigen Temperaturgradienten, den Kalt- und Warmfron- ten usw. bestimmt. Nur unter ganz speziellen, zufälligen Bedin- gungen wird sich also eine Zugrichtung zum Tiefdruckgebiet hin ergeben. In der Regel lösen sich die Wolken aber innerhalb des Hochdruckgebiets wieder auf. Die Diskussion über die Zugrichtung von Wolken dürfte ohnehin gegenstandslos sein, solange man nicht sagt, welche Wolkenart gemeint ist. Man klassifiziert die Wolken nach der Höhe der Wolkenuntergrenze und ihrem Aussehen und unterscheidet zehn grundsätzlich verschiedene Wolkenarten. Wolken gibt es nur in der Troposphäre, also bis zu einer Höhe von 10-15 km. Das fol- gende Schaubild in Abbildung 7 skizziert zur Orientierung die Gliederung der Atmosphäre bezüglich verschiedener Luftschich- ten: Abbildung 7 Skizze der Schichtung der Atmosphäre. Das 'Wetter' spielt sich nur in der Troposphäre ab. Wolken können bis zur Tropopause auftreten. Die eingezeichnete, um 90 Grad gedrehte 'W-Linie' zeigt, wie die Temperatur zunächst bis zu einer Höhe von ca. 12 km ständig absinkt, dann wieder zunimmt und erneut auf etwa -100 0C abfällt. In der sog. Thermosphäre steigt die Temperatur dann wieder aufgrund der Absorption energiereicher Sonnen- strahlung an. Vergleiche: Malberg, S. 20 ff Zirruswolken (Federwolken) treten bei einer Höhe oberhalb 6 km auf, Altokumuluswolken (Schäfchenwolken) zwischen 2 km und 6 km und Kumuluswolken (Quellwolken) bis 2 km. Das Aussehen der Wolken gibt Auskunft über deren Entstehung. So gehören Kumuluswolken, also Quell- und Haufenwolken, zu den 2.1.2 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (1) _____________________________________________________________ 36 Konvektionswolken, die sich durch starke lokale Aufwärtsströ- mung der Luftmassen bilden. Die sog. Schichtwolken entstehen dagegen durch großflächiges langsames Aufsteigen von (feuch- ter) Luft. Genaueres bei Malberg, S. 94-96. Vermutlich ist David von der grundsätzlich richtigen Überlegung ausgegangen, die Gesamtströmung der Luft verlaufe in Richtung des Druckgefälles, also von hohem zu niedrigem Druck. Aber gerade diese horizontale Strömung der Hochdruckluft in Rich- tung des Tiefdruckgebiets wird infolge der durch die Erdrotation auftretenden sog. Corioliskraft48 verhindert. Die Corioliskraft ist der Druckkraft nahezu entgegengesetzt und sorgt dafür, daß die resultierende Gesamtkraft in Isobarenrichtung zeigt. Infolgedes- sen strömt die Luft in Höhen von etwa 1000 m nicht in Richtung der Druckkraft, sondern abgelenkt, parallel zu den Isobaren. Die folgende Skizze in der Abbildung 8 veranschaulicht dies: Abbildung 8 Skizziert ist die Ablenkung des Luftstroms zwischen einem Hoch- und einem Tiefdruckgebiet durch die Corioliskraft, einer Scheinkraft, die aufgrund der Erd- rotation zustande kommt. Es resultiert eine Strömungsrich- tung (Geostrophischer Wind) senkrecht zu derjenigen der reinen Druckkraft, die durch das Druckgefälle entsteht. Die Abbildung zeigt den nur geringen Druckunterschied zwi- schen einem Hochdruckgebiet und einem Tiefdruckgebiet an. Malberg, S. 60 Erst am Ende der zitierten Einleitung des Romans, nach der Rückwendung des Erzählers zur altmodischen Beschreibung, erhält man eine gute Vorstellung vom Wetter jenes Tages und des geschichtlichen Zeitpunktes: ... es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913. 48 Vergleiche Malberg, S. 55-62 2.1.2.3 Astrometeorologischer Bericht _____________________________________________________________ 37 2.1.2.3 Astrometeorologischer Bericht Die ironische Behandlung der Wissenschaftlichkeit, insbesonde- re im Hinblick auf die Meteorologie und Astronomie, dürfte insgesamt unverkennbar sein. Man beachte aber, daß Musils Ironie im dmoe einen weit grundsätzlicheren Charakter hat als nur rhetorischen. Im späten dmoe gibt Musil selbst eine Art Definition der Ironie, er schreibt: Ironie ist: einen Klerikalen so darstellen, daß neben ihm auch ein Bolschewik getroffen ist. Einen Trottel so darstellen, daß der Autor plötzlich fühlt: das bin ich ja zum Teil selbst. Diese Art Ironie die konstrukti- ve Ironie ist im heutigen Deutschland ziemlich unbe- kannt. Es ist der Zusammenhang der Dinge, aus dem sie nackt hervorgeht. Man hält Ironie für Spott u. Bespötteln. (S. 1939) Ähnliches stellt auch Wagner-Egelhaaf für Musils Romanhelden im Umgang mit den übrigen Romanfiguren fest. Sie schreibt: Die Ironie, die Ulrich den anderen Figuren entgegenbringt, trifft immer zugleich ihn selbst. ... Ulrich ist das Zentrum im Kosmos der übrigen Figuren, deren Aufgabe es ist, zur näheren Bestim- mung des Zentrums beizutragen.49 Folgt man der Zusammenstellung Noltes50, so ist das Haupt- merkmal der rhetorischen Ironie eine Verletzung der Konversati- onsmaxime der Aufrichtigkeit. Etwas wird absichtlich vorder- gründig anders gesagt als gemeint, so daß der Hörer die Aussage durchschaut und hintergründig versteht: eine Simulation der Un- aufrichtigkeit. Charakteristisch ist "das ironische Dementi", die "implizite Distanzierung des Sprechers von der expliziten Aus- sage". Ironie setzt besondere verstandesmäßige Kontrolle der Aussage voraus, der Sprecher möchte unterkühlte Überlegenheit vorführen. Im allgemeinen stellt ironisches Sprechen eine Insze- nierung dar: der Rezipient, die zweite Person, wird vor einem 'Publikum', also einer dritten Person, bloßgestellt. Während auf das 'Publikum' als dritte Person (ist eventuell auch die zweite Person selbst) nicht verzichtet werden kann, muß die zweite Per- son nicht unbedingt anwesend sein. Das ironische Schreiben bei Musil dürfte aber vor allem ein charakteristischer Zug der Texte der Moderne sein. Ordnet man nach Peter Zima den Perioden des Realismus, der Moderne 49 Wagner-Egelhaaf Mystik der Moderne S. 117 50 Theodor Nolte Ironie in der Sangspruchdichtung Walthers von der Vogelweide Poetica 30 (1998), S. 355. Siehe auch: Peter-André Alt Ironie und Krise Frankfurt a. Main 1989, S. 33-46 2.1.2 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (1) _____________________________________________________________ 38 (Modernismus) und der Postmoderne51 die Begriffe Ambigiutät, Ambivalenz und Indifferenz zu, so läßt sich ein übergreifendes Verständnis der Texte der neueren Literatur finden. Im 18. und frühen 19. Jahrhundert kann die in den erzählerischen Werken (Jane Austen, Gottfried Keller, ...) entwickelte Ambiguität in den zugehörigen Kommentaren des Erzählers immer wieder aufgelöst werden. Der Gegensatz zwischen Sein und Schein, Wahr und Falsch, Gut und Böse kann stets wiederhergestellt werden, es bleibt kein unauflösbarer Rest. Die 'Wirklichkeit' erscheint trotz aller Schwierigkeiten erkennbar und beherrschbar. Dem entspricht das Hegelsche Werk, in welchem die Einheit der Gegensätze als Überwindung der Ambiguität in der Synthese höherer Erkenntnis gedacht wird. Die Kunst wird geradezu mit der Auflösung des Scheins und der Darstellung der Wahrheit beauftragt. In der erzählenden Literatur der Spätmoderne (Marcel Proust, Robert Musil, James Joyce, ...) erweist sich aber eine solche Synthese als illusorisch. Die Ambivalenz der Werte, die als Ein- heit der Gegensätze nicht mehr aufgehoben oder aufgelöst wer- den kann, verbindet Sein und Schein, Wahr und Falsch unent- wirrbar miteinander. Zugleich erscheint die erzählerische Kon- struktion der 'Wirklichkeit' als subjektive Setzung52. Der Denker dieser Unauflöslichkeit des Scheins ist Nietzsche, der dem Rationalismus und Hegelianismus eine Absage erteilt, und dessen Kritik am unzeitgemäßen Charakter des Wahrheits- begriffs eine metaphysische Wesenssuche verbietet (Aber damit wird Heraklit ewig Recht behalten, dass das Sein eine leere Fiktion ist. Die 'scheinbare' Welt ist die einzige: die 'wahre Welt' ist nur hinzugelogen ...53). Der zweiwertige Charakter der 'modernen' Welt spielt gerade im dmoe-Roman eine bedeutende Rolle, er spiegelt sich ständig in Musils ironischer Schreibweise54. Im Anblick der sich stets ver- doppelnden Wirklichkeit, in der auch das Ich nicht mehr einwer- tig zu bestimmen ist, wird der Aussagewert des Erzählens grund- sätzlich in Frage gestellt. Die selbstironische Betrachtungsweise des Möglichkeitsmenschen Ulrichs zeigt die Zersetzung der Werte der Wirklichkeitsmenschen. Der Glaube Diotimas an ewi- 51 Peter Zima Moderne - Postmoderne: Gesellschaft, Philosophie, Literatur Tübingen 2001, S. 19-46, S. 160 ff, S. 255 ff, S. 311 ff 52 Peter Zima Kritik der Literatursoziologie Frankfurt a. M. 1978, S. 248 ff 53 Friedrich Nietzsche Die 'Vernunft' in der Philosophie. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA) in 15 Bänden. Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Hg.), Bd. 6, München 1988, S. 75 54 Peter Zima Textsoziologie Stuttgart 1980, S. 125-129 2.1.2.3 Astrometeorologischer Bericht _____________________________________________________________ 39 ge Wahrheiten wird in ein ironisches Licht gestellt. Im Roman liest man z.B. folgendes: Es zeigte sich, daß sie (Diotima) in einer großen Zeit lebte, denn die Zeit war voll von großen Ideen; ... Jedesmal, wenn Diotima sich beinahe schon für eine solche Idee entschieden hatte, mußte sie bemerken, daß es auch etwas Großes wäre, das Gegenteil davon zu verwirklichen. ... aber wie kann sich, dachte Diotima, die Menschheit ohne Gewalt auch nur Brathühner verschaffen? ... Diotima hätte sich ein Leben ohne ewige Wahrheiten niemals vorzustellen vermocht, aber nun bemerkte sie zu ihrer Verwunderung, daß es jede ewige Wahrheit doppelt und mehrfach gibt. (S. 229) Der dmoe-Roman ist in dieser Weise auf allen Ebenen von Ambivalenz durchsetzt (siehe: dmoe S. 1205 u. Abschnitt 2.2.6.1 dieser Arbeit), dadurch wird sein narrativer Ablauf problema- tisch und nur anhand der Paradoxa erkennbar. So erscheint der Roman als eine Art Versuchsreihe - man denke z.B. an die drei verschiedenen Anstrengungen Ulrichs, etwas zu werden -, deren Elemente im wesentlichen paradigmatisch und weniger syntag- matisch miteinander verknüpft werden. Ironisches Schreiben erscheint dabei als wichtigstes Verfahren der Darstellung, welches das konventionelle Erzählschema der erstarrten Wirklichkeit durchbricht und gleichzeitig eine erkennt- nistheoretische Grundhaltung bedeutet: jede Plusvariante enthält gleichzeitig auch eine Minusvariante55. Der propositionale Ge- halt einer Aussage ist nicht mehr feststellbar. Unterschiedliche und unverträgliche Gedanken und Anschauungen werden anein- andergereiht, eine Synthese gibt es nicht. Durch ironisches Lesen allein scheint aber der merkwürdige 'astro-meteorologische' Eingangsbericht des Romans nicht voll- ständig ausgeschöpft. Wolfdietrich Rasch schreibt dazu folgen- des: Der traditionelle Romananfang, der gern Zeit und Ort des Geschehens angibt, wird auf eigentümliche Weise bewahrt und zugleich aufgehoben. In den ersten Sätzen steht nicht die einfa- che Zeitangabe, sondern ein Wetterbericht in der parodierten Sprache der Meteorologen. ... Die ersten Sätze scheinen zu zei- gen, wie ein Roman im wissenschaftlichen Zeitalter beginnen müßte. Der Übergang zur herkömmlichen Zeitangabe ironisiert 55 Honnef-Becker, besonders Kapitel 4 (Konstruktive Ironie), S. 140-146; Helga Honold Die Funktion des Paradoxen bei Musil dargestellt am "Mann ohne Eigen- schaften" Dissertation, Tübingen 1963, S. 41 ff 2.1.2 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (1) _____________________________________________________________ 40 dieses Eindringen der wissenschaftlichen Terminologie in alltäg- liche Mitteilungen. ... Der Gesamttatbestand "schöner Augusttag 1913" läßt sich gar nicht meteorologisch ausdrücken, und das schöne Wetter, das den minder wichtigen Teil des Tatbestandes ausmacht, wäre zwar im Wetterbericht formulierbar, wird aber hier nicht exakt beschrieben, sondern die Beschreibung gleitet in ein parodistisches Spiel mit den Vokabeln der Fachsprache hinüber. ... Die Fachsprache wird teils mißbraucht, teils tritt sie in einem Zusammenhang auf, in den sie gar nicht gehört. Verspottet wird also nicht nur die Vorliebe für wissenschaftliche Bestimmung einfacher Tatbestände, sondern der verständnislose Mißbrauch der Wissenschaftlichkeit und ihre schiefe Anwendung auf ihr nicht gemäße Sachverhalte. 56 Wie Rasch kommentiert, ist widersprüchlich und verwirrend und entspricht nicht ganz dem Musilschen Text, wie sich im folgen- den zeigen wird. Einerseits behauptet Rasch, der Gesamttatbe- stand "schöner Augusttag 1913" sei meteorologisch gar nicht ausdrückbar, andererseits wird später gerade in bezug darauf von einfachen Tatbeständen gesprochen. Was unter verständnislosem Mißbrauch von Wissenschaftlichkeit und ihrer schiefen Anwen- dung auf nicht gemäße Sachverhalte zusammengefaßt werden soll, erscheint im Lichte der vorliegenden Textanalyse ganz falsch. Wie gezeigt wurde, werden die wissenschaftlichen Er- gebnisse richtig beschrieben und korrekt verknüpft, allerdings ohne Angabe der relevanten Daten. Raschs weitere Behauptung, es handele sich um einen Wetterbericht in der parodierten Spra- che der Meteorologen, ist nach unseren vorherigen Ausführun- gen ebenfalls nicht zu bestätigen. Der meteorologische Fachdis- kurs kommt entweder in sehr verkürzter, aber durchaus ernstzu- nehmender Weise vor, oder gar nicht. Ergänzt werden fachlich ebenfalls richtige Zusammenhänge aus der Astronomie, und zwar in expertenmäßiger Form. In diesem Sinne kann von einer parodierten Sprache überhaupt nicht die Rede sein. Zuzustim- men ist Rasch jedoch darin, daß die Aussage Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913 mit wissenschaftlichen Mitteln kaum darzustellen ist, wobei allerdings die Wetterangabe unbedingt einzuschließen ist, welche Rasch unverständlicher Weise aus- schließen möchte. Es soll später noch einmal auf diese Über- legung zurückgegriffen werden. Honold kommt zu ähnlichen Schlußfolgerungen wie Rasch, er schreibt: Wir erhalten keine einfache Zeitangabe, sondern zu- 56 Wolfdietrich Rasch Der Mann ohne Eigenschaften. Eine Interpretation des Romans. In: Wege der Forschung. Robert Musil. Renate Heydebrand (Hg.), Darmstadt 1998, S. 81-82 2.1.2.3 Astrometeorologischer Bericht _____________________________________________________________ 41 nächst eine Art Wetterbericht, dessen wissenschaftliche Seriosi- tät durch die betont anthropomorphe und widersinnige Ausfabu- lierung der zitierten meteorologischen Termini freilich sogleich wieder unterlaufen, durch die lapidare Datumsangabe schließ- lich als ornamentaler Schwulst bloßgestellt wird. ... Nach um- ständlicher Beschreibung der meteorologischen Ausgangslage und der Aufzählung der in den 'astronomischen Jahrbüchern' prognostizierten Konstellationen folgt der knappe Hinweis auf den schönen Augusttag ... (Honold Die Stadt und der Krieg S. 37 u. S. 46). Weder eine betont anthropomorphe noch eine widersinnige Be- nutzung der meteorologischen Fachausdrücke ist im Text zu fin- den. Die von David vorgetragenen angeblichen Widersinnigkei- ten wurden bereits vorher auf dessen eigenes Mißverstehen des Textes zurückgeführt. Was in Musils einleitendem Text wissen- schaftlich ausgesagt wird, ist sinnvoll und fachlich einwandfrei, wie ebenfalls nachgewiesen wurde. Allerdings werden dabei nur wenige weiterführende Zahlenangaben geliefert. Als prononcier- te Anthropomorphisierung kann eigentlich nur der Satz Die Iso- thermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit gelten, welcher aber ohnehin keine brauchbare Aussage enthält. Was Honold mit 'ornamentalem Schwulst' bezeichnet, ist nach den hier vorliegen- den Studien nicht zu verstehen. Falls die nur mit geringfügiger Zahleninformation versehenen wissenschaftlichen Aussagen ge- meint sein sollten, so würde deren Inhalt nicht erst durch die explizite Datumsangabe im letzten Satz des betreffenden Ab- schnitts erkennbar werden. Interessant und wichtig ist aber der sich daran anschließende Kommentar Honolds: Bereits im ersten Satz des Romans wird ein Lagebericht abgesteckt, der keineswegs allein dem meteorologischen Diskurs verpflichtet ist. ... Die Wetterkarte gewinnt sodann, als Modell und geostrategisches Planspiel, einen militärischen Nebensinn: "Lagern" und "Ausweichen" sind, bezogen auf die Turbulenzen der Lüfte, ... auf den Kontext militärischer Operationen übertragbar. Das als einzige politi- sche Größe auf dem geographischen Plan verzeichnete Rußland war im darauffolgenden August der Kriegsgegner der öster- reichischen Armeen, welche ihrerseits "ostwärts wanderten" (Honold Die Stadt und der Krieg S. 80). Honolds Argumentation kann man hier durchaus folgen, zumal der erste Satz des Eingangstextes tatsächlich die einzige inhalt- lich relevante Aussage enthält und das im Text erwähnte "Ver- raten" ebenfalls eine militärische Deutung zuläßt. 2.1.2 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (1) _____________________________________________________________ 42 Ein für das Verständnis der Romaneinleitung wichtiger Gedanke wurde bereits von Meisel geäußert, leider aber ganz unzurei- chend und in falschem Zusammenhang erläutert. Die Überlegung soll im folgenden hervorgehoben und genauer ausgeführt werden. Meisel schreibt: Isothermen, Isotheren und deren Bewegungen, Druck, Temperatur und Volumen sind Parameter aus dem Bereich der Thermodynamik, der die Meteorologie ihre Methode verdankt. Minima, Maxima, mittlere Verhältniszahlen und Prognosen aus Jahrbüchern sind Werte, mit denen Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung operieren. ... Was Musil in den zwölf Zeilen dieses meteorologischen Szenarios als Roman- anfang präsentiert, ist nichts weniger, als den zeitgenössischen Stand naturwissenschaftlicher Erkenntnis mit der ihr eingelager- ten avanciertesten Erkenntnistheorie zu verknüpfen. Kein Satz, in dem nicht sofort die scheinbar exakte Begrifflichkeit der Physik in den Durchschnittswert der Statistik überführt würde, und fast keine Zeile, wo nicht die vermeintlich apodiktischen Aussagen der Wissenschaft sich als nur wahrscheinliche zu erkennen geben. (Meisel, S. 257) Zur Richtigstellung: Isothermen und Isotheren sind in der Meteo- rologie 'Höhenlinien', die Orte gleicher mittlerer Temperatur verbinden. In der Thermodynamik bezeichnen Isothermen Zu- stände einstellbarer, gleicher Temperatur, während Isotheren gar nicht vorkommen. Für die Meteorologie ist die Thermodynamik eine ergänzende elementare Wissenschaft, aus der bestimmte Grundgesetzmäßigkeiten übernommen werden. Die Meßmetho- den der Meteorologie sind andere als diejenigen der Thermody- namik. Wie vorher schon mehrfach betont, enthält Musils frag- würdiger astrometeorologischer Bericht eine äußerst geringe Menge an relevanten meteorologischen Daten. Folglich entbehrt der zweite Teil des zitierten Meiselschen Textes jeglicher Basis. Die weiterhin erwähnte "exakte Begrifflichkeit der Physik" enthält gerade die mathematisch exakt definierten Begriffe der Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik. Meisel spricht dann noch von Wetterprognosen und ähnlichem, im Text Musils ist davon aber nicht die Rede. Was Meisel aber vollkommen richtig gesehen hat, ist die Tat- sache, daß die in der Einleitung benutzten meteorologischen und astronomischen Größen nur durch arithmetische Mittelwerte gegeben sind. Am deutlichsten erscheint dies bei der Erwähnung der Isothermen und Isotheren. Explizit von Mittelwerten spricht der Erzähler bei der Aufzählung der Jahrestemperatur oder der 2.1.2.4 Licht und Farbe _____________________________________________________________ 43 aperiodischen Temperaturschwankung. Musil hat es demnach als wichtig angesehen, schon in seinem einleitenden 'astro- meteorologischen Report' zwei der wissenschaftlichen Haupt- themen des dmoe, die Statistik und die Wahrscheinlichkeitstheo- rie auf diese Weise zu präsentieren. In der Tat beschäftigen sich große Teile des Romans mit diesen wissenschaftlichen Gebieten, wie die vorliegende Untersuchung im weiteren Verlauf zeigen wird. 2.1.2.4 Licht und Farbe Eine weitere, für den gesamten Roman wichtige Fragestellung, die mit einer gewissen ironischen Kritik an aller Wissenschaft- lichkeit verknüpft ist, und auf welche bereits Rasch andeutend hingewiesen hat, wird ebenfalls schon in der Einleitung angeschnitten: auch unter Zuhilfenahme aller wissenschaftlichen Hilfsmittel und mit den größten wissenschaftlichen Anstrengun- gen scheint sich das Tatsächliche, was mit dem Satz Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913 ausgedrückt wird, nicht beschreiben oder erklären zu lassen. Dies kommt auch wenig später zum Ausdruck, als der Erzähler sich um das Begreifen der Farbe Rot bemüht: Es wäre wichtig zu wissen, warum man sich bei einer roten Nase ganz ungenau damit begnügt, sie sei rot und nie danach fragt, welches besondere Rot sie habe, obgleich sich das durch die Wellenlänge auf Mikrometer genau ausdrücken ließe;... (S. 9) Honold diskutiert die Textstelle im Hinblick auf die menschliche Wahrnehmungsperspektive57, scheint aber den direkten Zusam- menhang zwischen der hier angesprochenen 'Verwissenschaftli- chung' der Farben und derjenigen des Wetters in der Eingangs- passage des dmoe übersehen oder für selbstverständlich gehalten zu haben. Das Sonnenlicht läßt sich bekanntlich mit einem einfachen Glasprisma in ein kontinuierliches Farbspektrum zerlegen. Eine etwas aufwendigere Anordnung zur Erzeugung des Lichtspek- trums, die auch zu Demonstrationszwecken taugt, zeigt die folgende Abbildung 9: 57 Siehe Honold Die Stadt und der Krieg S. 43-45. Zu beachten sind auch Honolds Bemerkungen zu Wittgenstein und Bühler auf S. 42. 2.1.2 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (1) _____________________________________________________________ 44 Abbildung 9 Dargestellt ist schematisch eine Strahlenführung, die ein kontinuierliches Lichtspektrum erzeugt. Ausgehend von einer 'weißen' Lichtquelle K (Bogenlampe) wird das Licht mit einer Hilfslinse C und einer Blende gebündelt, dann durch eine Zusatzlinse und das Prisma geschickt. Die Spektralaufspaltung geschieht durch die wellenlängenabhängige Brechung des Lichtes, die Dispersion. Robert Wichard Pohl Einführung in die Physik. Optik und Atomphysik. Bd. 3, Berlin 1963, S. 19 Physikalisch wird das Verhalten des Lichtes wie dasjenige von transversalen Wellen (Querwellen) behandelt werden. Die folgende Abbildung 10 zeigt schematisch die Gestalt der Lichtwelle oder allgemein der elektromagnetischen Welle, und gibt gleichzeitig die Definition der Wellenlänge λ an: Abbildung 10 Lichtwellen entstehen durch elektrische und magnetische Felder, die orthogonal (im rechten Winkel) zueinander und zur Bewegungsrichtung schwin- gen und den leeren Raum mit Lichtgeschwindigkeit durcheilen. Elektromagnetische Wellen sind den Was- serwellen entsprechend sog. Transversalwellen von sinus- förmiger Gestalt. Die dargestellte Skizze zeigt schema- 2.1.2.4 Licht und Farbe _____________________________________________________________ 45 tisch die Lichtwelle. Eingezeichnet ist zusätzlich die Wellenlänge λ. Siehe: Kenneth R. Lang Die Sonne, Stern unserer Erde Berlin 1996, S. 13 Im sichtbaren Bereich des Lichtes kann der Farbe eine Wellen- länge zugeordnet werden. Den roten Farben entsprechen größere Wellenlängen, den violetten kleinere. Auf Grund des atomaren Charakters der Lichtwellen (Photonen) befindet sich die Skala der Wellenlängen im Mikrometerbereich, wie Musil richtig fest- stellt. Sie liegt für den Bereich des sichtbaren Lichts in der Grö- ßenordnung eines Zehntels eines Millionstel Meters, wobei gilt: 10-6 m = 1 m (Mikrometer) = 1  (Mikron, heute nicht mehr gebräuchlich). Farb- und zugeordnete Wellenlängenbereiche sind in der folgenden Tabelle 2 angegeben58: Tabelle 2 Farben und Wellenlängen Farbe Wellenlängenbereich ___________________________________________________ violett 0.400 - 0.440 m blau 0.440 - 0.495 m grün 0.495 - 0.580 m gelb, orange 0.580 - 0.640 m rot 0.640 - 0.750 m Vielleicht kann man sich die atomare Größenordnung der Licht- wellen besser vorstellen, wenn die zugehörigen Frequenzen überschlagsmäßig ausgerechnet werden. Dazu braucht man lediglich die Lichtgeschwindigkeit durch die Wellenlänge zu teilen und erhält die Frequenz von 108/10-6 = 1014 Hz. Die Lichtwelle schwingt folglich noch millionenfach schneller als etwa unsere UKW Radiowellen, die bei ca. 100 MHz (108 Hz) zu empfangen sind. In Abbildung 11 ist der gesamte Frequenz- bereich der elektromagnetischen Wellen zusammengestellt: Abbildung 11 Frequenzbereich elektromagnetischer Wel- len. Die Frequenz ist in der Einheit Hertz (1 Hz = 1 s-1) an- gegeben. Das Gebiet des sichtbaren Lichtes (schraffiert ge- 58 Pohl, Bd. 3, S. 20 2.1.2 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (1) _____________________________________________________________ 46 zeichneter Bereich) macht nur einen kleinen Teil zwischen 1014 Hz und 1015 Hz aus, während sich der Gesamtbereich über 22 Zehnerpotenzen erstreckt. Vergleiche Lang, S. 13 Man kann nun jeder reinen Farbe und jeder Mischfarbe eine ganz bestimmte Wellenlänge zuordnen. Für eine winzige Farbfläche würde diese Kennzeichnung der Farbe durch die Wellenlänge wahrscheinlich auch zufrieden stellen. Die in der folgenden Ab- bildung 12 gezeigten Farbfelder des sog. Farbkreises könnte man folglich mit den entsprechenden Wellenlängenwerten beschrif- ten: Abbildung 12 Farbkreis. Die Felder der komplementären Farben liegen jeweils gegenüber. Komplementäre Farben sind solche, die sich bei Mischung zu grau ergänzen, z.B. ein Grün und ein Rot. Pohl, Bd. 3, S. 349. Siehe auch: Johannes Itten Kunst der Farbe Ravensburg 1961, S. 34 und S. 78 Wirkliche Farbigkeit entsteht aber erst durch den Kontrast zu anderen Farben, durch das gesamte farbliche Umfeld also. Sie hat niemals nur einen einzigen Farbton, ist außerdem von einer bestimmten Materialität und kann deshalb glänzend, stumpf, trocken, naß, rauh, glatt usw. sein. Weiterhin kann ein Farbfeld in Reflexion oder Emission erscheinen, es kann strahlend oder dunkel sein, es kann auf glatten oder rauhen Körpern vorkom- men usw.. Musil weist darauf an mehreren Stellen seines um- fangreichen Nachlasses besonders hin. In Gesprächen zwischen Ulrich und Agathe heißt es im Nachlaß z.B.: Ich (Ulrich) dagegen konnte dieses Grün da sogar messen. Es hat eine bestimmte Wellenlänge, nun, sa- gen wir schätzungsweise von ... oder ... Mikromikron, wie das heißt; u das wäre dann wirklich u ganz allein nur tiefes Grün. (Sozusagen sein Punkt als Farbe!) Habe ich es jetzt? Im gleichen (nächsten) Augenblick 2.1.2.4 Licht und Farbe _____________________________________________________________ 47 ist es mir entsprungen! Denn an seiner Farbe ist ja auch noch etwas ... (nl II/9/2) Wenn ich sage, dieser Rasen ist grün - du lieber Himmel, wieviel Grün gibt es! Da nützt es doch noch eher, wenn ich von einem Grün sagen kann, es sei rasengrün. Oder es sei grün wie Rasen, auf den es eben ein wenig geregnet hat. So würdest du sagen, wenn du von einem Kleiderstoff sprächest. Ich dagegen hülfe mir vielleicht mit dem Mikromikron der Spektralanalyse: Dieses Grün liegt nämlich zwischen ... und ... Wellenlänge. Das ist nun ungeheuer genau ... Millionstel Millimeter! Und doch ist an der Farbe noch etwas Stoffliches daran, ... eben das Grasartige, das anders ist als die gleiche Farbe in Seide oder Wolle. (nl II/9/17) Ulrich erläuterte ... Denn dieses Grün da dürfte ungefähr eine Wellenlänge von Millionstel Milli- metern haben ... Und so verfüge ich über eine ver- blüffende Genauigkeit, und doch ist an der Farbe von Dingen noch etwas Stoffliches, das sich mit einer Farbbezeichnung allein nicht ausdrücken läßt, eben das Grasartige hier, das anders ist als das Wesen des gleichen Grüns in Seide oder Wolle. (nl VII/9/59); siehe auch: (S. 1089) An anderer Stelle seines Nachlasses, wo er ausführliche Über- legungen zur Gefühlspsychologie anstellt, schreibt er: Was wir im gewöhnlichen Leben Gefühl nennen sind komplexe Zustände u Vorgänge. ... Eine direkte No- menklatur existiert nicht, weil keine festen sondern fließende Gegenstände da sind. Gerade auf diese Zo- ne ist aber der Dichter gewiesen. ... Er drückt Farben nicht in den Mikromillimetern der Wellenlänge aus, obgleich das viel genauer ist. Er beschreibt nicht die Verhältnisse eines Gesichts, sondern er sagt: es ist wie ... das abc unseres Innenlebens ist begrenzt, die Kombinatorik unerschöpflich. (nl IV/3/434) In ganz ähnlicher Weise wird unser 'Farbsehen' von Irigaray analysiert. Sie erläutert folgendes dazu: Die Farbe ist im Gegensatz zu manchem anderen An- blick niemals ein 'Film' des Seins ohne eigene Dichte. Die Farbe läßt sich ohne Blickeinstellung nicht ent- ziffern, ohne ihrer Umgebung, der Textur, die sie trägt und in der sie erscheint, Rechnung zu tragen. Ein Rot ist rot in Übereinstimmung mit oder entspre- chend dem sie tragenden Material. Auch ein Begriff des Roten ist nicht möglich, er hat letztlich keinen 2.1.2 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (1) _____________________________________________________________ 48 Sinn. Die Farbe läßt sich nicht von der sie tragenden Materie abstrahieren, aber sie kann auch nicht ohne den Kontrast zu anderen Farben gesehen werden, die sie dominiert oder von denen sie dominiert wird, die sie anzieht oder von der sie angezogen wird, die sie abstößt oder von denen sie abgestoßen wird. Kurz, sie bildet ein Geflecht von Simultanem und Sukzes- sivem. ... Das Rot, die Farbe hat mehr mit der 'Teil- habe' als mit dem einsamen Auftauchen des Begriffs zu tun.59 Im ganzen folgt daraus: die bloß physikalische Kennzeichnung der Farbe durch die Wellenlänge des Lichtes kann nicht mit den Farbangaben konkurrieren, die mit unserer Alltagssprache mög- lich sind, wie rot, hellrot, rosa, blaßrosa, grasgrün, mausgrau usw.. So dürfte der Hinweis im dmoe auf die rote Nase und die Lichtwellenlänge einen ironischen Kern haben, denn das Rot im Zusammenhang mit der Nase liefert eine weit bessere Vorstel- lung von der vorliegenden Farbigkeit als jede Wellenlängen- angabe. In diesem Sinne spricht Musil auch in seinen Tagebü- chern60 ironisch von einem x  Rot ( = 10-12 m). Der schöne sprachliche Klang des 'iks mü mü Rot' wird dabei natürlich nicht 'übersehen'. Musil beschäftigte sich selbst intensiv mit einer geeigneten Dar- stellung von Farbnuancen, wie seine Konstruktion eines Farb- kreisels im damaligen Berliner Institut für Psychologie belegt, in dem er seine Dissertation anfertigte. Bei der Konstruktion dieses Farbkreisels, mit welchem Mischfarben jeden Tons kontinuier- lich hergestellt werden können, kam ihm sein Ingenieursgeschick gelegen. Der Kreisel wird in der folgenden Abbildung 13 ge- zeigt. Die Legende dazu enthält den Originalkommentar Musils: Abbildung 13 Farbkreisel nach Musil: Den hier abgebil- deten Apparat habe ich konstruiert, als ich am Berliner 59 Luce Irigaray Ethik der sexuellen Differenz Xenia Rajewsky (Übersetzung), Frankfurt a. Main 1991, S. 184-185 60 Es heißt dort: Man kann nicht behaupten, daß Sinnenerlebnisse übertragbar seien. Rot von x ist subjektiv gewiß verschieden, aber es ist fixiert. (tg1 S. 646) 2.1.2.4 Licht und Farbe _____________________________________________________________ 49 Psychologischen Institut arbeitete. ... Man verwendet sol- che Farbkreisel zu allen möglichen psychologischen, phy- siologischen und physikalischen Zwecken; es sind Appara- te, welche man statt der teuren und umständlichen Spek- tralapparate benützt, wo es nicht auf feinste Genauigkeit ankommt. Ihr Prinzip ist aus der Schule bekannt. Man schiebt zwei farbige Blätter, von denen eines radial aufge- schlitzt ist, so ineinander, daß die Farbflächen in dem ge- wünschten Größenverhältnis zueinander stehen; dann setzt man den Kreisel in Rotation, und sobald die Umdrehungs- geschwindigkeit groß genug ist, entsteht für das Auge die angestrebte Mischfarbe. ... das Wesen des abgebildeten Apparates besteht eben darin, daß man ... die Änderung während der Rotation durchführen kann und in der Lage ist, in beständigem Fluß jede Farbe vorzuführen, die sich aus zwei gegebenen Farben überhaupt herstellen läßt. (pr S. 944) Auch die psychologische Erforschung der Wahrnehmung von Farbintensitäten scheint Musil stark beschäftigt zu haben, wie man Exzerpten aus Vorlesungsmitschriften seiner Studienzeit entnehmen kann, die sich in den Tagebüchern finden. Er notiert: Wie steht es nun mit der Anwendung auf die Farbgleichungen? Die Einführung des Begriffs Reizwert x, y, z +  , ,  = x+ , y+, z+. D.h. es ist gleich ob durch die Aichwerte x y z definiertes Licht zusammen mit einem durch    definierten wirkt, oder ein solches von den Aichwerten x+ , y+, z+. Das Resultat ist dasselbe, ob x oder  zuerst geboten wird, und man kann aus dem Mischlicht durch Wegnahme des einen wieder das andere erhalten. Hieraus folgert H.61 die Berechnung additiver Verknüpfung. Die Relation in Bezug auf den 'Reizwert' ist in der Helmholtz'schen Gleichung durch die Funktion F ausgedrückt. Also: F(x+ , y+, z+ ) = F(x, y, z) + F( , ,  ) besagt nicht mehr und nicht weniger als: in Bezug auf den Reizwert genügen 3 durch obige Aichwerte definierte Lichter der obigen Gleichung: hieraus folgt aber durch mathematische Entwicklung daß F, die 61 Hermann Helmholtz, 1821-1894, universaler deutscher Naturforscher. Umfassen- de Arbeiten auf Forschungsgebieten der Thermodynamik (Helmholtz - Energie), der Optik (Helmholtzsche Farbtheorie, Helmholtzsche Dispersionsformel) und der Akustik (DTV-Lexikon d. Phys., Bd. 4, S. 106-107). 2.1.2 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (1) _____________________________________________________________ 50 Relation zwischen dem Reizwert und den Aichwerten, nur in der Form einer linearen Funktion der letzteren gegeben sein kann. (tg1 S. 122) 2.1.2.5 Kritik der Wissenschaft Wie Musil generell aber den erkenntnistheoretischen Wert der Wissenschaften einschätzt, zeigt er in den Tagebüchern durch die folgende Textstelle an, die ein Zitat aus der Götzen- Dämmerung Nietzsches62 ist: Wir besitzen heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugnis der Sinne anzunehmen, - als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken lernten. Der Rest ist Mißgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft: will sagen Metaphysik, Theologie, Psychologie, Erkenntnistheorie. Oder Formal-Wissenschaft, Zeichenlehre: wie die Logik und jene angewandte Logik, die Mathematik. In Ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht einmal als Problem; ebensowenig als die Frage, welchen Werth überhaupt eine solche Zeichen- Convention, wie die Logik ist, hat. (tg1 S. 33) Seine Vorbehalte gegenüber jeder Wissenschaft führt Musil auch anhand seiner Kritik am Hauptwerk Spenglers Der Untergang des Abendlandes aus. In dem Essay Geist und Erfahrung. An- merkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind wird zunächst Spenglers (Aber-)Glaube an die Mathematik Zielscheibe seiner ironisch-witzigen Kritik. Zitat: Es gibt zitronengelbe Falter, es gibt zitronengelbe Chinesen; in gewissem Sinn kann man also sagen: Falter ist der mitteleuropäische geflügelte Zwergchi- nese. Falter wie Chinesen sind bekannt als Sinnbilder der Wollust. Zum erstenmal wird hier der Gedanke gefasst an die noch nie beachtete Übereinstimmung des großen Alters der Lepidopterenfauna63 und der chinesischen Kultur. Daß der Falter Flügel hat und der Chinese keine, ist nur ein Oberflächenphänomen. Hätte ein Zoologe je auch nur das Geringste von den letzten und tiefsten Gedanken der Technik verstan- den, müßte nicht erst Ich die Bedeutung der Tatsache erschließen, daß die Falter nicht das Schießpulver 62Nietzsche Götzen-Dämmerung. Die 'Vernunft' in der Philosophie KSA, Bd. 6, München 1988, S. 76 63 Lepidoptera: Schuppenflügler oder Schmetterlinge 2.1.2.5 Kritik der Wissenschaft _____________________________________________________________ 51 erfunden haben; eben weil das schon die Chinesen taten. Die selbstmörderische Vorliebe gewisser Nachtfalterarten für brennendes Licht ist ein dem Tagver-stand schwer zugänglich zu machendes Relikt dieses morphologischen Zusammenhangs mit dem Chinesentum. - Was mit solchen Mitteln bewiesen werden soll, ist ja eigentlich ganz gleich; ich wollte am Beispiel der Mathematik zeigen, von dem Spengler selbst sagt, daß es das einzige sei, an dem sich seine Beweisfüh- rung erhärten lasse, welches Vertrauen sie verdient. (pr S. 1044) Anschließend kommentiert Musil in diesem Sinne auch Speng- lers Betrachtungen zur Physik: Ich übergehe zu den erkenntnistheoretischen Schlüs- sen, die Spengler aus der Betrachtung der Physik zieht. Er behauptet, "daß schon Worte wie Größe, Lage, Prozess, Zustandsänderung spezifisch abendländi- sche Bilder darstellen, die den Charakter der wissen- schaftlichen Tatsachen, die Art des Erkanntwerdens beherrschen, ... ". "Das Experiment, die systemati- sche Handhabung der Erfahrung ist höchst dogma- tisch; ein spezieller Naturaspekt ist schon vorausge- setzt". "... Jeder große Physiker, der als Persönlich- keit seinen Entdeckungen doch immer eine eigene Richtung und Farbe gibt, jede Hypothese, die ohne einen individuellen Beigeschmack ganz unmöglich ist, ... Wer das bestreitet, der ahnt nicht, wie viel Be- dingtes in den absoluten Momenten der Mechanik steckt". Mit solchen Bemerkungen hat Spengler, von einigen Zweideutigkeiten abgesehen, vollkommen recht. Er irrt sich nur darin, daß er sie für neu hält; ihr Inhalt ist jedem, der von den erkenntnistheoretischen Arbei- ten der letzten 50 Jahre etwas weiß, geläufig. (pr S. 1044-1045) Im Nachlaß wird gleichzeitig darauf hingewiesen, wie sehr die Leistungsfähigkeit der Naturwissenschaften, insbesondere die der Physik, überschätzt wurde, und es wird festgestellt, daß Beantwortung praktischer Fragen eher den technischen 'Wissen- schaften' überlassen bleiben solle. Musil schreibt an zwei Stellen im Nachlaß: 2.1.2 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (1) _____________________________________________________________ 52 Oder die alte Spekulation fragte: warum fallen die Körper? Die moderne Physik weiß es bis heute nicht, aber sie fragt auch nur: wie fallen sie? Oder die Physik kommt etwa für hydrodynamische Vorgänge über gewisse komplexe Gleichungen nicht heraus, mit denen praktisch sich nichts anfangen läßt. Die Technik verzichtet auf diese theoretisch richtigen Gleichungen u. stellt sich solche auf, von denen sie weiß, daß sie theoretisch nicht richtig sind, aber mit denen sich arbeiten läßt. Überall ist alles ungefähr u. auf den praktischen Zweck orientiert. (nl II/1/258) Aber ich (Ulrich spricht hier) sehe langsam ein, daß die Wissenschaft anfängt unzeitgemäß zu werden, nachdem sie wahrscheinlich eine Zeit lang in falscher Weise überschätzt. Ich will sie beileibe nicht über- schätzen, das habe ich schon gesagt; im höchsten Sinn ist sie wahrscheinlich nur ein Mittel: aber so zu tun, als ob man den Sinn schon hätte, wenn man von diesem Mittel nichts versteht, das hasse ich. (nl VII/15/186) Zum Verständnis des ersten der beiden Nachlaßzitate muß er- klärt werden, was mit den komplexen Gleichungen für hydro- dynamische Vorgänge gemeint ist. Die Hydrodynamik ist ein Zweig der allgemeinen Strömungs- mechanik und beschreibt die Bewegungsvorgänge in strömenden inkompressiblen Medien, also hauptsächlich Flüssigkeiten. Grundsätzlich werden in der Strömungsmechanik sog. Bilanz- gleichungen für Masse, Impuls und Energie betrachtet. Darin wird z.B. für ein gewähltes Volumenelement der Flüssigkeit be- rechnet, welche Massenänderung erfolgt, wenn bei bestimmter Massendichte und bestimmter Strömungsgeschwindigkeit ein gewisser Massenstrom durch die Oberfläche des Volumenele- ments austritt. Man erhält dadurch die Massenkontinuitäts- gleichung, eine zeitabhängige Differentialgleichung, die den sog. Stokesoperator enthält. Ähnlich verfährt man für die Impuls- und die Energieänderung im Volumenelement, und erhält die Im- pulsbilanzgleichung und die Energiebilanzgleichung. Auch diese letztgenannten Gleichungen stellen zeitabgängige Differential- gleichungen dar, die zusätzlich zum Stokesoperator noch die Ab- leitung des sog. Spannungstensors bzw. des Wärmestromvektors aufweisen. Die genannten drei Gleichungen bilden die funda- mentalen Gleichungen der Strömungsmechanik und sind wegen ihrer Komplexität allgemein nicht lösbar. Unter gewissen ideali- sierenden Voraussetzungen läßt sich der in der zweiten Glei- chung auftretende Spannungstensor, welcher im wesentlichen 2.1.2.5 Kritik der Wissenschaft _____________________________________________________________ 53 die Komponenten des Viskositätswiderstands der Flüssigkeit enthält, in vereinfachter Form schreiben. Setzt man diese Form ein, so erhält man aus der zweiten Gleichung, der Impulsbilanz- gleichung, die Navier-Stokes-Gleichung. Sie ist unter weiteren vereinfachenden Annahmen lösbar, z.B. für laminare (schlichte) Strömung einer Flüssigkeit durch ein Rohr. Unter Voraussetzung bestimmter Viskositätskoeffizienten lassen sich dann Geschwin- digkeitsprofile für diese Art der Strömung berechnen.64 Unter Zuhilfenahme von Großcomputern ist es heute sogar mög- lich, auf der Basis der Navier-Stokes-Gleichung Modellrechnun- gen für einfache Flüssigkeiten durchzuführen und Viskositäts- koeffizienten zu ermitteln, welche mit experimentellen Werten gut übereinstimmen.65 Andererseits hat sich das Gebiet der Hydrodynamik heutzutage stark erweitert, und zwar im Hinblick auf das Studium des 'chao- tischen Verhaltens' von Flüssigkeiten und Fluiden. Wie später noch ausführlicher gezeigt wird (siehe Abschnitt 2.1.10.2), be- schreibt die Navier-Stokes-Gleichung sowohl das berechenbare, schlichte Strömungsverhalten als auch das turbulente, nicht bere- chenbare, chaotische. So kann mit Hilfe geeigneter Gleichungen, die der Navier-Stokes-Gleichung ähneln aber im Aufbau einfa- cher sind, der Übergang von laminarer Strömung zu turbulenten Strömungsphänomenen theoretisch untersucht werden. Im ersten Teil des vorher zitierten Musilschen Nachlaßtextes wird nicht zu Unrecht die Inadäquatheit der allgemeinen natur- wissenschaftlich exakten Strömungsgleichungen bezüglich ihrer Anwendbarkeit auf tatsächliche strömungsmechanische Vorgän- ge in realen Flüssigkeiten bemängelt. Im zweiten Teil des Textes betont Ulrich aber, die Naturwissenschaft sei zwar letztlich nur ein Mittel für das Verständnis gewisser Sinnzusammenhänge, es sei aber notwendig, dieses Mittel zu verstehen, wenn man sich zu diesen Zusammenhängen äußere. An einen besonderen Fall des 'Versagens' der Naturwissenschaf- ten erinnert sich Musil in den Tagbüchern, als das Erscheinen des Halleyschen Kometen 1910 nicht in der Weise stattfand, wie es die Wissenschaftler vorhergesagt hatten: Man erinnert sich, daß einst ein Komet nicht so er- schien, wie er sollte. Die Wissenschaftler haben zwar 64 Donald A. McQuarrie Statistical Mechanics New York 1976, S. 380-395. Ver- gleiche auch: Bergmann-Schaefer Lehrbuch der Experimentalphysik. Mechanik. Relativität. Wärme. Bd. 1, Berlin 1998, S. 477 ff 65 Siehe: Claus Hoheisel Theoretical Treatment of Liquids and Liquid Mixtures Amsterdam 1993, S. 301 ff. 2.1.2 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (1) _____________________________________________________________ 54 nachher behauptet, daß alles in Ordnung war. ... Man behauptet ja, daß das Wesen der Wissenschaft nur darin bestünde, die Tatsachen zu ordnen. ... nun geht eine Tatsache nicht der Länge nach hinein, so vielleicht nach der Quere oder irgendein Winkel wird sich schon finden. Darum behauptet man ja auch, daß sich die Wissenschaft gar nicht täuschen könne. .... Und zweitens behauptet sie, daß alle diese Tatsachen gesetzlich sein müssen, ... fügt sich eine Tatsache dennoch nicht den Gesetzen, so nimmt sie eben an, daß sie noch nicht die richtigen seien oder noch nicht genug bestimmt usw. Und überdies gibt es eine Menge Tatsachen, die sich überhaupt nicht einem Gesetze fügen. Die einfachen Tatsachen sind z.B.  , C u. alle Konstanten – man sieht also, daß jedenfalls die Wissenschaft für sich gesorgt hat u. daß ihr eigentlich gar nichts geschehen kann. (tg1 S. 244) Was ist im vorletzten Satz mit den einfachen Tatsachen, den Konstanten gemeint? Diese Konstanten, sog. Proportionalitätskonstanten, sind univer- sell und kommen in allen grundlegenden physikalischen Geset- zen vor. Das Coulombsche Gesetz z.B. gibt die Kraft an, mit der sich zwei elektrische Ladungen anziehen oder abstoßen. Es lautet: F = (1/(4πε0)) Q1Q2 / r2 , wobei F die Kraft bezeichnet, Q1 bzw. Q2 die Ladung und r den Abstand der Ladungen voneinander bedeutet. Die Proportionali- tätskonstante ist hier ε0. Sie wird die elektrische Feldkonstante genannt und dürfte vermutlich mit der in Musils Text angegeben Konstanten ε identisch sein. Die ebenfalls im Text erscheinende Konstante C wird wahrscheinlich die Kapazität eines Kondensa- tors bezeichnen66. Proportionalitätskonstanten sorgen dafür, daß auf beiden Seiten eines Gesetzes dieselben Einheiten entstehen. Für das Coulombsche Gesetz muß ε0 also gerade diejenigen Ein- heiten tragen, aus denen insgesamt die Einheit der Kraft resul- tiert, die auf der linken Seite der obigen Beziehung steht. Die Größe einer solchen Konstanten kann nur experimentell be- stimmt werden67. Für ε0 ergibt sich der Wert: ε0 = 8,85 10-12 Cb2/(Nm2) (sprich: Coulombquadrat pro Newton Meterquadrat). Derartige 'Konstanten' sind zwar, wie gezeigt, physikalisch 66 Siehe: Detlef Kamke und Wilhelm Walcher Physik für Mediziner Stuttgart 1994, S. 288 67 Vergleiche: Kamke u. Walcher, S. 131-132; auch: Robert Wichard Pohl Einführung in die Physik. Elektrizitätslehre. Bd. 2, Berlin 1964, S. 32 ff bzw. S. 152 2.1.2.5 Kritik der Wissenschaft _____________________________________________________________ 55 einfach und exakt definiert, ihre tiefere Bedeutung aber, auf die Musils Text vermutlich anspielt, dürfte bisher nicht bekannt sein. Der Komet, auf dessen Erscheinen im Jahre 1910 sich Musil im Tagebuchtext bezieht, ist der Halley - Komet. Er befindet sich auf einer elliptischen Umlaufbahn um die Sonne68 und ist von der Erde aus alle 76 Jahre zu sehen. Man kann ihn mit bloßem Auge beobachten. Das erste Mal wurde er 1456 gesichtet und beschrieben. Abbildung 14 enthält eine Darstellung des Kometen aus dem Jahre seiner ersten Beobachtung: Abbildung 14 Bruce Morton schreibt: Rendition of Hal- ley’s Comet (1456) as it appeared in the 'Nuremberg Chronicle'. This Illustration is commonly seen in the litera- ture of Halley’s Comet.69 Seinen Namen erhielt der Komet jedoch erst, nachdem Edmund Halley 1705 beobachtet und berechnet hatte, daß es sich dabei um einen periodisch alle 76 Jahre wiederkehrenden Kometen handelte. In der Zeit vor der zu erwartenden Ankunft des Halley- schen Kometen im Jahre 1910, setzte dann ein gewaltiger wis- senschaftlicher Wettlauf ein, mit dem Ziel, die genauen Daten bezüglich des Erscheinens des Kometen vorauszusagen. Morton schreibt dazu: ... the scientific community had developed a schedule fixation in regard to the comet. The goal became to derive a timetable that would consider speed, path, and time of appearance. Predictability was to be the proof of scientific achievement (Morton, S. 10). 68 Kometen (Schweifsterne) bewegen sich zumeist auf sehr exzentrischen Ellipsen- Bahnen. Nur wenige kehren periodisch zur Sonne zurück. Von diesen sind nur ein- zelne mit freiem Auge zu sehen. DTV-Lexikon d. Phys., Bd. 5, S. 74-75. Vergleiche auch: Bergmann-Schaefer, Bd. 7, S. 437-440 69 Bruce Morton Halley’s Comet Westport, Connecticut 1985, S. 2. Siehe auch: Bergmann-Schaefer, Bd. 7, S. 438 2.1.2 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (1) _____________________________________________________________ 56 Aber trotz großer wissenschaftlicher Anstrengungen - und darauf will Musil aufmerksam machen - konnte man sich damals unter den Experten nicht darüber einigen, wie nah der Komet der Erde kommen würde70, ob die Erde den Kometenschweif durchlaufen würde und welche stoffliche Zusammensetzung der Schweif habe. Nur wenige Kometen bilden überhaupt einen solchen Schweif aus. Schweifkometen bestehen im wesentlichen aus gefrorenen Gasen und Staubkörnern (Silikaten). Der Schweif entsteht dadurch, daß in Sonnennähe die gefrorenen Gase und mit ihnen die Staubteilchen als leuchtende Moleküle abdampfen. Durch den Strahlungsdruck der Sonne werden die Moleküle vom 'Kopf' des Kometen weggetrieben. Daher ist der Schweif stets von der Sonne abgewandt zu sehen. Bei großen Kometen, wie dem Halleyschen, haben die Schweife eine Ausdehnung von größenordnungsmäßig 108 km. Der 1997 ebenfalls mit bloßem Auge zu beobachtende Hale- Bopp-Komet (erdnächster Abstand am 22. März 1997: 197 Millionen km) ist ein riesiges Exemplar eines Schweifsterns mit einer Schweifausdehnung von 1,48 108 km, allerdings mit einer Umlaufszeit um die Sonne von 4200 Jahren! Während man also den Halley-Komet bereits wieder im Jahre 2062 beobachten kann, ist es erst nach vielen Generationen wieder möglich, den Kometen Hale-Bopp zu beobachten.71 Wissenschaftler hatten damals vorausberechnet, daß die Erde einen Teil des Halleyschen Kometenschweifs durchqueren müs- se. Später aber, nach dem berechneten Durchgang der Erde durch den Kometenschweif, war man sich unter den Naturwis- senschaftlern nicht mehr einig, ob die Erde den Schweif tatsäch- lich passiert hatte. Musil schildert diese Situation ausführlich in einer seiner 'Geschichten, die keine sind' Das Land über dem Südpol (vergleiche auch: tg1 S. 966-967): Man wird sich noch allgemein der Spannung erin- nern, mit der in jenen Maitagen die Begegnung des angekündigten Kometen mit der Erde erwartet wor- den war. - Wenn die bis dahin angestellten Rechnun- gen stimmten, mußte ein direkter Zusammenstoß ge- rade noch knapp vermieden werden können, aber die geringste Unrichtigkeit ... konnte dabei genügt haben um die unvermeidliche Katastrophe bloß zu verschlei- ern. .... nie hatte die Wissenschaft einen solchen mo- 70 Erdnächster Abstand war am 19.05.1910. 71 Vergleiche: Informationsübersicht des Instituts für Astrophysik der Technischen Universität Berlin vom 05. 10. 1998 2.1.2.5 Kritik der Wissenschaft _____________________________________________________________ 57 ralischen Erfolg zu verzeichnen gehabt wie damals. Der Gelehrte rückte zum erstenmal in die Rolle des Priesters; an den kleinen, unverständlichen Zeichen, die sein Bleistift aufs Papier warf, hing eine Welt, man lief in die Observatorien der Astronomen wie in den Beichtstuhl ... Dennoch - trotz der beruhigenden Versicherungen, die von dort kamen - fürchteten ängstliche Seelen, daß plötzlich ein riesiger, glühender Ball auftauchen werde, durch eine siedende Luft zischen und - das weitere ließ sich nur schwer vorstellen, ... Und aus alledem wurde bekanntlich nichts als eine einzige große Enttäuschung. Tausend Operngucker, Feldstecher u. vorsichtshalber geschwärzte Gläser, durchsuchten in jener denkwürdigen Nacht den Himmel, aber nicht nur, daß es zu keiner Katastrophe kam, war von dem angekündigten Störenfried über- haupt nichts zu finden ... was aber die Astronomen betrifft, so hörte man sie nur mehr an ihrem Schwei- gen, dem ein unleugbar deutlicher Charakter von Verlegenheit nicht abzusprechen war. (pr S. 739-740) Zur Begründung dieser unzureichenden, zum Teil irreführenden wissenschaftlichen Vorausberechnung der Annäherung des Kometen an die Erde wurde damals unvollständige Datenlage angegeben. Tatsächlich war ein Großteil der Experten von der Tatsache überrascht worden, daß die Moleküldichte im Kome- tenschweif – verglichen mit derjenigen der Atmosphäre der Erde – viel zu niedrig war, als daß man sie (zumindest 1910) für eine Gasanalyse des Schweifs72 hätte ausnutzen können. Damals war die Öffentlichkeit enttäuscht über die Unfähigkeit der Wissen- schaftler und Wissenschaft, klar zu verstehende, eindeutige Aussagen über die Erscheinungsform des Kometen zu liefern. Einiges von dieser negativen Stimmung scheint sich in dem zitierten Text der erwähnten Rahmenerzählung widerzuspiegeln. Musil ironisiert aber die Geschehnisse (oder besser: Nichtge- schehnisse) und damit seine Kritik an den Wissenschaftlern inso- fern, als er im weiteren Verlauf der Erzählung von einem be- freundeten mathematischen Astronomen berichtet, welcher her- ausgefunden habe, daß man bei den 'Kometenberechnungen' einen zusätzlichen unbekannten Planeten in der Nähe der Erde übersehen habe. Außerdem habe man – so dieser angeblich mit dem Erzähler befreundete Wissenschaftler – eine 'Extramasse' 72 DTV-Lexikon, Bd. 10, S. 225. Siehe dazu auch: Morton, S. 17 2.1.2 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (1) _____________________________________________________________ 58 der Erde, also ein riesiges, noch unentdecktes Gebirge, welches sich nach seinen Schätzungen am Südpol befinden müsse, bei der Festlegung des Schwerpunkts der Erde außer Acht gelassen. Den Namen des besagten astronomischen Gelehrten habe der Erzähler, so berichtet er, dann später in einem Fachblatt für Psychiatrie wiedergefunden, nachdem er diesen an die zuständi- gen Ärzte mit dem Hinweis auf eine schwere Psychose weiter- gegeben hatte. 73 2.1.2.6 Querschlagende Bewegungen Am Ende des ersten Kapitels des Romans schildert Musil einen in der Forschung ebenfalls vielzitierten Verkehrsunfall (s. z.B. Meisel, S. 129) und beschreibt Reaktionen der Hinzukommen- den. Corino74 glaubt, die Schilderung beruhe auf einer Mischung der Beobachtungen eines Unfalls nahe Musils Wiener Wohnung, Ecke Florianigasse und eines anderen im Berlin der zwanziger Jahre, in den die Allgemeine Berliner Omnibus Aktien Gesell- schaft (ABOAG) verwickelt war. Die nächste Abbildung 15 zeigt ein Photo dieses Berliner Unfalls: Abbildung 15 Photo eines Verkehrsunfalls der Allgemei- nen Berliner Omnibus Aktien Gesellschaft (ABOAG) der zwanziger Jahre. Corino schreibt dazu: Wie aus der Erzäh- lung "Der Riese Aboag" hervorgeht, hat Musil einen Un- fall der Aboag, der Allgemeinen Berliner Omnibus Aktien- gesellschaft, verfolgt. (Corino Robert Musil S. 347). Offen- sichtlich ist hier die tatsächliche Überschrift der Musil- schen Erzählung beim Druck verloren gegangen. Sie lautet 73 Vergleiche: (pr S. 740-744). Musil scheint einiges von dieser Geschichte wirklich erlebt zu haben, denn im Tagebuch bemerkt er: Südpol: Den Rahmen autobiogra- phisch und gegenwärtig (tg1 S. 685) 74 Corino Robert Musil S. 347 2.1.2.6 Querschlagende Bewegungen _____________________________________________________________ 59 Der Riese Agoag, und im Text wird auch erklärt, was dies bedeuten könnte: Der Riese hieß Agoag. Das bedeutete vielleicht Allgemein - geschätzte - Omnibus - Athleten - Gesellschaft; denn wer heute noch Märchen erleben will, darf mit der Klugheit nicht ängstlich umgehen. (pr S. 532) Diesen Berliner Verkehrsunfall hat Musil aber getrennt für seine Geschichte Der Riese AGOAG ausgenutzt, wenn darin auch nur kurz über den Unfall berichtet wird. Die Hauptperson dieser sehr verfremdeten Geschichte, ein 'Möchtegernprofisportler', wird Zeuge eines Busunfalls und ändert dadurch sein Leben. Er fährt anschließend nur noch Bus. An der entscheidenden Stelle heißt es in der Erzählung: Da rettete ihn ein großer Omnibus. Er wurde zufällig Zeuge, wie ein riesenhafter Omnibus einen athletisch gebauten jungen Mann überfuhr, und dieser Unfall, so tragisch für das Opfer, gestaltete sich für ihn zum Ausgangspunkt eines neuen Lebens. Der Athlet wurde sozusagen vom Dasein abgeschält wie ein Span oder eine Apfelschale, wogegen der Omnibus bloß peinlich berührt zur Seite wich, stehen blieb und aus vielen Augen zurückglotzte. Es war ein trauriger Anblick, aber unser Mann nahm rasch seine Chance wahr und kletterte in den Sieger hinein. (pr S. 532) Im Gegensatz zur Beschreibung dieses Busunfalls fällt die Unfallbeschreibung im Roman wesentlich ausführlicher aus und könnte sich daher vielleicht auf mehrere Beobachtungen solcher Art gestützt haben. Der Erzähler berichtet im dmoe folgender- maßen: ... Schon einen Augenblick vorher war etwas aus der Reihe gesprungen, eine querschlagende Bewegung; etwas hatte sich gedreht, war seitwärts gerutscht, ein schwerer, jäh gebremster Lastwagen war es, wie sich jetzt zeigte, wo er, mit einem Rad auf der Bord- schwelle, gestrandet dastand. Wie die Bienen um das Flugloch hatten sich im Nu Menschen um einen klei- nen Fleck angesetzt, den sie in ihrer Mitte freiließen. ... Auch die Dame und ihr Begleiter waren herange- treten und hatten ... den Daliegenden betrachtet. ... Die Dame fühlte etwas Unangenehmes in der Herz- Magengrube, das sie berechtigt war für Mitleid zu halten; es war ein unentschlossenes, lähmendes Ge- fühl. Der Herr sagte nach einigem Schweigen zu ihr: "Diese schweren Kraftwagen, wie sie hier verwendet werden, haben einen zu langen Bremsweg." Die Da- me fühlte sich dadurch erleichtert ... sie wußte nicht, 2.1.2 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (1) _____________________________________________________________ 60 was ein Bremsweg sei, und wollte es auch nicht wis- sen; es genügte ihr, daß damit dieser gräßliche Vor- fall in irgend eine Ordnung zu bringen war und zu einem technischen Problem wurde, das sie nicht mehr unmittelbar anging. ... Man ging fast mit dem berech- tigten Eindruck davon, daß sich ein gesetzliches und ordnungsmäßiges Ereignis vollzogen habe. "Nach den amerikanischen Statistiken", so bemerkte der Herr, "werden dort jährlich durch Autos 190000 Per- sonen getötet und 450000 verletzt." "Meinen sie, daß er tot ist?" fragte seine Begleiterin und hatte noch immer das unberechtigte Gefühl, et- was Besonderes erlebt zu haben. (S. 10-11) Zwar finden sich die genannten 'statistischen' Zahlen auch schon in einem früheren Textentwurf (S. 1963) Musils75, doch arbeitet er offenbar mit erfundenen oder wenigstens falsch übernom- menen Zahlen. Weder zur Zeit, in der der Roman spielt noch zur Zeit seiner Entstehung verfügte man über genügend Daten, um eine gesicherte 'Statistik' dieser Art anbieten zu können. Geht man von den Zahlen des Statistischen Bundesamtes für Deutsch- land aus, dann kamen 1996 im Straßenverkehr 8767 Menschen zu Tode. Rechnet man hoch auf die amerikanische Bevölke- rungszahl, so kommt man auf ca. 22000 Verkehrstote für die U.S.A.. Da es 1920 aber wesentlich weniger Kraftfahrzeuge gab als 1996, so ist anzunehmen, daß die Zahl der tödlich verlaufen- den Verkehrsunfälle damals noch erheblich geringer war. Musil dürfte deshalb hier bezüglich seiner Angaben um mindestens eine Zehnerpotenz (bewußt?) fehlgegriffen haben.76 Hoffmann77 bezieht sich im Zusammenhang mit bestimmten Da- tierungsproblemen auch auf die Unfallbeschreibung und behaup- tet dreierlei: erstens sei eine bestimmte Notiz in den Tagebü- chern Musils als wissenschaftlicher Kommentar zu dem im dmoe beschriebenen Verkehrsunfall anzusehen, zweitens habe Musil in diesem Tagebuchtext von Lewins Handlungstheorie Gebrauch gemacht, und drittens werde dies letztere durch einen weiteren Text aus dem Roman bestätigt. Im folgenden soll gezeigt wer- den, daß sich keine seiner nur mit ungenügenden Argumenten 75 Vergleiche auch: Jacques Bouveresse L' homme probable. Robert Musil, le ha- sard, la moyenne et l'escargot de l'histoire Combas 1993, S. 122-125 76 Siehe dazu: tg1 S. 639 und Anm. 513 in tg2 S. 453. Vergleiche auch: Alexander Honold Metropolis aus dem Schützengraben kultuRRevolution 36, (1998), S. 42. Honold ordnet nicht unbegründet den Angaben Musils eher die Zahl der Kriegstoten des ersten Weltkriegs zu (s. Abschnitt 2.1.2.7 der vorliegenden Arbeit). 77 Hoffmann, S. 279-281 2.1.2.6 Querschlagende Bewegungen _____________________________________________________________ 61 belegten Behauptungen halten läßt. Zunächst der betreffende Tagebuchtext, den Hoffmann zitiert: Straßenszene: Abends Kurfürstendamm ein Krach, dumpf sich durchsetzend, aber nicht all zu stark. Die Menschen werden von einer straßenaufwärts sich fortpflanzenden Welle nach und nach aus ihrer Bahn gerissen und laufen (von je weiter, desto schneller?) in fächerförmigen Strahlen hin. Es ist wie ein physikalischer Vorgang. Man sieht, wie schwach ihre "Feldbindung" war. (tg1 S. 821) Musil versah diese Bemerkung außerdem mit einer kleinen Zeichnung, die in der folgenden Abbildung 16 gezeigt wird. Abbildung 16 Musils Zeichnung zum vorher zitierten Text einer Unfallbeschreibung aus seinen Tagebüchern (tg1 S. 821) Allein aus der Tatsache, daß Musil im Tagebuchtext auch von einem Unfall spricht, schließt Hoffmann, es handele sich um den im Roman beschriebenen Verkehrsunfall (S. 10-11). Die Darstel- lung des Menschenauflaufs im Roman ist aber ganz anders als diejenige im Tagebuch. Im Roman kommt das Hinlaufen zum Unfallort in 'fächerförmigen Strahlen' überhaupt nicht vor. Auch von einer 'straßenaufwärts sich fortpflanzenden Welle' ist nicht die Rede. Statt dessen wird bildlich von Bienen78 gesprochen, die sich um das Flugloch setzen, also eher von einer chaotischen, schwärmenden Bewegung der Menschen zum Unfallort hin. Der physikalische Vorgang, von dem Musil vergleichend im Ta- gebuchtext spricht, paßt gar nicht zu der Beschreibung im dmoe. In der wird lediglich angegeben, daß das Erreichen des Unfall- orts sehr schnell geschah: ... hatten sich im Nu Menschen um einen kleinen Fleck angesetzt ... . Musil hat sich sehr wahr- 78 Musil liebt offensichtlich das Bild des Bienenschwarms für die Darstellung 'chao- tischer Zustände'. Im Nachlaß verbildlicht er in dieser Weise z.B. einen ekstatischen Vorgang: ...Vielleicht wie ein gereizter Bienenschwarm. Alle summen durchein- ander. Stoßen zusammen. Rennen mit einem roten Kopf umher. ... (nl III/7/116) 2.1.2 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (1) _____________________________________________________________ 62 scheinlich auf einen anderen Unfallbericht bezogen, der eben- falls im Tagebuch zu finden ist, und in welchem explizit von einer wellenartigen Fortpflanzung die Rede ist. Dort wird der Absturz eines Fahrstuhls geschildert: Der Aufzug. Aufmerksamkeit aus verschiedenen Rich- tungen kommend, lief in Wellen durch die Menge, die den Turm betrachtete, an dem die drei roten Aufzüge (ein Schnellaufzug) hoch u. niederglitten. ... Es ist et- was nicht in Ordnung. In dem Feld der drei roten ... merkwürdig ungleichzeitigen Aufzüge hat sich etwas verändert. ... Das Wort Betriebsstörung bildet sich in den Köpfen; ... In dem Augenblick 'sackt' aber der stehen gebliebene Aufzug ab, einen halben Meter, ei- nen Meter tief, nicht schnell, aber trotz der Kürze des Falls, ist die Wucht zu sehen, mit der die Beschleuni- gung79 zunimmt. ... Dann greifen die Sicherungen ein, und der Fall kommt zum Stehen. Eine Glasscheibe zerklirrt. Der Aufzug hängt jetzt ein wenig schief und eingeklemmt in der Führung. Unglücksfall! Läuft durch die Menge, und es entsteht in ihr Bewegung, Stauung. Herzulaufen von entfern- teren Stellen (als Straßenbild einmal notiert). Zwecklose Rufe aus der Kabine. Aufsichtspersonal von oben, von unten. ... Aufregung u. Schau. Die Vor- stellung Unglücksfall wird durch die Vorstellung Be- triebsunfall ersetzt. ... So wird der ganze Vorfall immer mehr ein Stück der Ordnung mit ihren technischen u. administrativen Begriffen, ... (tg1 S. 770-772) In dieser Aufzugsunfallbeschreibung weist Musil sogar nament- lich auf die Tagebuchnotiz Straßenszene hin. Auch die Skizze Musils (siehe Abb. 16, S. 61) würde durchaus zum Fahrstuhlun- glück stimmen, wie das eingezeichnete schraffierte Viereck deut- lich macht. Hoffmanns Version von der angeblichen wissen- schaftlichen Kommentierung des im Roman beschriebenen Verkehrunfalls durch die Tagebuchnotiz erscheint deshalb sehr unwahrscheinlich. Andererseits hat das im dmoe erzählte Verkehrsunglück im Hin- blick auf ein normales 'Betriebsereignis' vieles gemeinsam mit der Berichterstattung über das Fahrstuhlunglück. Besonders, wenn man noch zusätzlich einen Entwurf der Verkehrsunfalls- szene betrachtet, der im Nachlaß zu finden ist: 79 In dem Moment, in dem die Maschinenwirkung entfällt, wirkt schlagartig allein die Erdbeschleunigung von 9,81 m/s2 auf den Fahrstuhl! 2.1.2.6 Querschlagende Bewegungen _____________________________________________________________ 63 Der kleine Wirbel im Lebensstrom löste sich zögernd auf, bald standen nur noch ein paar Menschen dort, wo sich das Unglück ereignet hatte, so wie Blutla- chen sonst zurückbleiben, und auch in den beiden überraschten Spaziergängern wich der peinliche Ein- druck rasch vor neuen zurück. Man hat keine rechte Antwort auf solche Vorfälle. "Ein Opfer der Straße", sagte Arnheim, der gewohnt war, daß man mit Be- triebsunfällen rechnet. (nl VII/6/351) Auch Honold hebt diese enge Verknüpftheit zwischen Straßen- verkehrs- und Aufzugsunfallschilderung hervor: Die in einem Tagebucheintrag gegebene Skizze eines Fahrstuhldefekts hält den schmalen Moment zwischen dem Außerordentlichen und der wiederhergestellten Normalität am sprachlichen Reflex dieses Übergangs im Bewußtsein seiner Zuschauer fest. Stärker noch als in der Szene des Romanbeginns wird hier die Faszinations- kraft des Unglücks auf die rasch sich bildende "Menge" in den Vordergrund gerückt, welche im öffentlichen Raum intimste Ängste und leibliche Existenzerfahrungen als Spektakel genießt. (Honold Die Stadt und der Krieg S. 90) Hoffmann stellt dann zweitens fest, Musil habe sich in der Tage- buchnotiz Straßenszene auf den vom Berliner Gestaltpsycholo- gen Kurt Lewin eingeführten 'Feldbegriff' bezogen, mit welchem jener die psychischen Aktionen und Reaktionen des 'Handelnden' zu koppeln versucht hat80. Als Begründung nennt Hoffman den letzten Satz der oben zitierten Tagebuchnotiz, in dem Musil von schwacher 'Feldbindung' spricht. Tatsächlich kannte sich Musil in Handlungs- und Feldtheorie sehr gut aus, wie seine Bemer- kungen81 im Nachlaß anzeigen. Dort heißt es z.B.: Handlungsprozesse dürfen prinzipiell nicht als Ursa- che des Geschehens gelten; Bindungen sind nie Ur- sachen von Geschehnissen. Damit sich das Verbun- dene bewege, muß arbeitsfähige Energie freigesetzt werden ... Die Gesamtheit der im psychischen Feld vorhandenen Kräfte, einschließlich des lockenden Reizes, wird die Richtung des Geschehens beherr- schen, usw. nach Gesetzen, die sich im einzelnen fest- stellen lassen. Fundamentalfall ist das Faktum: daß 'Kräfte' den Abfluß eines Geschehens beherrschen. ... Bei jedem Geschehen werden durch das Geschehen selbst zugleich die Kräfte im äußeren u. inneren Um- feld verändert. ... (Bewegung) verschiebt die Lage 80 Literatur dazu wird bei Hoffmann angegeben: S. 274-275 81 Laut Hoffmann (S. 278) handelt es sich um Exzerpte aus Lewins Aufsätzen. 2.1.2 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (1) _____________________________________________________________ 64 der Feldkräfte zum Handelnden ... Das Handlungsge- schehen ist manchmal ein kontinuierliches Fließen z. B. wenn die ihm innewohnenden Kräfte klein sind im Verhältnis zu den Feldkräften. Dann wird das Ge- schehen durch die Feldkräfte gesteuert. (nl VI/1/137) Es fällt aber schwer zu glauben, Musil habe sich in der Tage- buchnotiz auf den Lewinschen Feldbegriff bezogen. Einfacher und plausibler wäre hier die Erklärung, daß Musil den physikali- schen Begriff des Feldes übernommen und übertragen an- gewandt hat, zumal der vorletzte Satz der Notiz lautet: Es ist wie ein physikalischer Vorgang. Das im gleichen Zusammenhang von Hoffmann selbst angeführte Zitat aus dem dmoe: (Ulrich) spürte, daß von einem Menschen ein Netz von Kreuz- und Querlinien ausging, und daß er – an und für sich ein Stück gleichgültigen Korks – einige kleine Magnete trug, von denen einer ihn in diesem Feld von Kraftlinien zu bewegen begann. (S. 1712) widerlegt geradezu sein Verständnis des Textes. Denn das hier erwähnte Feld von Kraftlinien bestätigt den metaphorischen Ge- brauch des physikalischen Feldbegriffs. Kleine Magnete bewe- gen sich eben nur im Magnetfeld, nicht im 'psychischen Feld'. Vergleiche dazu auch Abbildung 58, S. 257 und die weiteren Ausführungen des Abschnitts 2.1.28.1 der vorliegenden Arbeit. Aus den genannten Gründen ist auch die Schlußfolgerung, zu der Hoffmann schließlich auf S. 281 seiner Dissertation kommt, an- hand der von ihm vorgestellten Texte keineswegs nachzuvollzie- hen. Dort heißt es: Der ganze Aspekt psychotechnischer Durch- bildung, der Ulrich in 'Der Mann ohne Eigenschaften' umtreibt, wird so in den größeren Rahmen eines Modells gestellt, welches das Handeln des Einzelnen wie das Handeln von Gruppen als permanenten Kriegsfall definiert. Musils vorher zitierter Tagebuchtext Straßenszene hat aber noch eine weitere interessante Parallelstelle in einem späteren Kapitel des Romans, worauf Frisé in seiner Anmerkung 71 (tg2 S. 606) hinweist. In der Stadt ist es zu einem Aufruhr wegen der Paral- lelaktion gekommen. Auch Walter – Clarissens Ehemann und Ulrichs Bekannter und Freund - macht sich zum Unruhezentrum auf. Sein Eindruck von der Bewegung der Menschen zum Herd des Widerstands wird folgendermaßen geschildert: Gleich ihm selbst strömten aber viele Leute stadtein- wärts, und der Eindruck, den ihre Bewegung machte, war nun ein anderer; er erinnerte an Spreu und Abschnitzel, die ein starker Windstoß hinter sich her- zieht. Er sah auch bald die ersten Gruppen, die sich 2.1.2.7 Unfallstatistiken _____________________________________________________________ 65 aus ihnen bildeten und ... von Unentschlossenheit zu- sammengehalten wurden, ob man dem gewöhnlichen Reiz weiter folgen oder umkehren solle. (S. 626) Das Bild des Papierschnitzel hinter sich herziehenden Windsto- ßes dürfte sowohl zum physikalischen Vorgang einer sich fort- pflanzenden Welle als auch zu den fächerförmigen Strahlen pas- sen, wovon in Musils Tagebuchnotiz 'Straßenszene' gesprochen wird (vergleiche auch mit Abb. 16, S. 61). Vielleicht ist deshalb zu überlegen, ob die Straßenszene-Notiz nicht eher die wissen- schaftliche Erklärung im Sinne Lewins für diesen letzteren dmoe-Text ist, als die von Hoffmann angegebene Verkehrsun- fallbeschreibung im dmoe S. 10. 2.1.2.7 Unfallstatistiken Das erste Kapitel des Romans schließt mit der Feststellung, der Unfall sei als ordnungsgemäßes Ereignis einer entsprechenden Unfallstatistik für Verkehrsunfälle anzusehen. Dazu führt der Erzähler die amerikanischen Unfallstatistiken an, die angeblich bei Verkehrsunfällen eine Rate von 190000 Todesopfern und weiteren 450000 verletzten Personen pro Jahr ausweisen. Schon in diesem einleitenden Kapitel des Romans wird also die Frage gestellt nach der Bedeutung des individuellen besonderen Ereig- nisses und des nur wahrscheinlichen Ereignisses der statistischen Betrachtungsweise. Musil hat sorgfältige Studien und Überlegungen im Zusammen- hang mit Zufall und Wahrscheinlichkeit durchgeführt. Dies kann man z.B. seinen stichwortartigen Notizen zu diesem Thema im Nachlaß entnehmen. An zwei Stellen heißt es dort: ... Was am häufigsten geschieht, bestimmt den Durch- schnitt (der wahrscheinliche Mittelwert wird so be- stimmt) .... die wahrscheinliche größte Häufigkeit ist zugleich wirklich eine Kardinalgegend. (Allgemein: etwas das gesetzlich ist, ist zugleich das Wahrschein- lichste bei Ungesetzlichkeit (Zufallsbedingungen)) ... Es besteht ein Zusammenhang zwischen Wirklichkeit u. Wahrscheinlichkeit bei zufallsähnlichen Bedingun- gen .... - Es handelt sich um das Vor u Zurück, um ein regelloses ... Um ein So oder so, worin sich wohl re- lative Häufigkeiten auszeichnen. ... aber keine syste- matischen Veränderungen. ... Es fehlt die Kenntnis der kausalen Verknüpfung. Verschiedene Definitio- nen des Zufalls. Zufallsverteilung der Geschehnisse ... ursprünglich am ehesten das Schema der Beob- 2.1.2 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (1) _____________________________________________________________ 66 achtungsfehler u. des in seiner Mitte liegenden wah- ren oder wahrscheinlichsten Werts. .... (nl V/5/74) Eine Mischung (durchschnittlicher Wert) wird umso sicherer erkannt, je mehr Proben. Gesetz der großen Zahlen: regellose Schwankungen um einen mittleren Wert ... jedes Jahr: gleiche Zahl von Selbstverstüm- melungen Stellungspflichtiger. Gleiches Geschlechts- verhältnis. ... Es lassen sich verschiedene Möglich- keiten der Verteilung untersuchen, wobei man zu Formeln u Begriffen der Wahrscheinlichkeitsrech- nung gelangt, ohne den Begriff der Wahrscheinlich- keit aufs tiefste erörtern zu müssen. ... Statistische Gesetze beobachtet man an jeder Massenmischung.82 (nl V/5/76) Die hier dem Sinn nach richtig wiedergegebenen Inhalte der Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik müssen im einzelnen schärfer definiert und erläutert werden. Dies wird in dem späte- ren, geeigneteren Abschnitt 2.1.29.3 der vorliegenden Arbeit auch getan, so daß auf weitere Bemerkungen an dieser Stelle verzichtet werden kann. Vom Standpunkt der Statistik aus haben die Beteiligten und Hin- zugetretenen des Verkehrsunfalls also ein gewöhnliches, ord- nungsgemäßes Ereignis miterlebt. Insofern dürfte Honolds Fazit, die prominente Rolle von Unfällen u.ä. im dmoe habe mit der 'Darstellung' des Schocks zu tun, nur die halbe Wahrheit ent- halten. Er schreibt: ... Im Zentrum der Konstruktion (des Romantextes) begegnet immer wieder die Figur des Hohlraums, der leerlau- fenden Kreisbewegung ... mit der Musils Roman dasjenige Mo- ment ... bezeichnet, welches die gewählte narrative Raum- und Zeitordnung aus ihren Angeln hebt: Es ist das Moment des Schocks83 .... Der Schock ist Inbegriff einer fundamentalen dar- stellungstechnischen Herausforderung. Als ausdehnungsloser Punkt entzieht er sich der raumzeitlich gegliederten Abbildung, ... Der Schock ist authentische Erfahrung der Moderne um den Preis einer Deformation der Erfahrung, ... Daher die prominente Rolle, die Zufälle, Unfälle, plötzliche Zusammenstöße und quer- schlagende Bewegungen in Musils Wiener Stadtraum spielen, ... (Honold Die Stadt und der Krieg S. 471-472). 82 Der dann folgende Text stammt von Erwin Schrödinger. Wir behandeln diesen Text näher in Abschnitt 2.1.29.6 der vorliegenden Arbeit. 83 In Honolds Ausführungen scheint überhaupt der Begriff des Schocks doppeldeutig gebraucht zu sein, einmal im Sinne des Traumas, dann wieder im Sinne der Schockwelle selbst. 2.1.2.7 Unfallstatistiken _____________________________________________________________ 67 Im dmoe wird aber gerade bei der Beschreibung von Unfällen, 'Ausschreitungen' usw. auch der Charakter des nach den statisti- schen Gesetzen ordnungsgemäßen Ereignisses hervorgehoben. Vom Standpunkt der Statistik aus existiert folglich das Schock- ereignis gar nicht, es gehört ebenso zu einer Häufigkeitsvertei- lung wie der 'Lottogewinn' zur Wahrscheinlichkeitsverteilung des Zufallsexperiments 'Lottospiel' (Urnenmodell). In der betrachteten Unfallbeschreibung des Romans spricht der Erzähler zunächst davon, daß die erwähnte Dame etwas Unan- genehmes fühle, das sie berechtigt war für Mitleid zu halten. Anschließend nach den entsprechenden Erklärungen der umste- henden 'Fachleute' ging man fast mit dem berechtigten Eindruck davon, daß sich ein gesetzliches und ordnungsgemäßes Ereignis vollzogen habe. Aus der Sicht des Individuums erscheint der Verkehrsunfall zunächst als ein bestimmtes besonderes Erlebnis. Nach den entsprechenden Ausführungen über Unfallstatistiken hält man ihn fast berechtigt für ein gewöhnliches Ereignis, ob- wohl die erwähnte Dame dann noch immer das Gefühl hat - wenn auch jetzt unberechtigt -, ein besonderes Ereignis erlebt zu haben. Bedenkt man jedoch, daß in den U.S.A. ca. 200 Millionen Menschen leben und folglich nach den im Roman angegeben statistischen Daten (in Wahrheit sind es noch wesentlich weni- ger, siehe: Schluß dieses Abschnitts) im Mittel nur jeder Tau- sendste pro Jahr durch einen Verkehrsunfall getötet wird, so könnte vielleicht das unberechtigte Gefühl der Dame doch wie- der berechtigt genannt werden. Man erkennt die doppelsinnige und ironische Erzählweise Musils. Kaizik erwähnt in seiner Dissertation ebenfalls diese Beschrei- bung des Verkehrsunfalls, scheint aber auf die Widersprüchlich- keit der gesamten Schilderung und die Doppelwertigkeit, die im Gebrauch von fast berechtigt bzw. unberechtigt angedeutet wird (zudem tritt berechtigt in ähnlichem Zusammenhang schon 16 Zeilen vorher auf), nicht aufmerksam zu werden und spricht sogar von oberflächlicher Argumentation. Er schreibt: Ein ganz einfaches Beispiel einer quantitativen Ar- gumentation gibt Musil gleich im ersten Kapitel des "Mannes ohne Eigenschaften", wo er das Gefühl der Augenzeugin84 eines Verkehrsunfalls, "etwas Besonders erlebt zu haben", nach dem Hinweis auf Unfallstatistiken ein "unberechtigtes Gefühl" nennt. 84 Nach Musils Beschreibung war die Dame nicht direkt eine Augenzeugin des Un- falls (siehe S. 10 des Romans). Merkwürdigerweise spricht aber auch Honold davon, daß der die Dame begleitende Herr ein "Augenzeuge des Unglücksfalles" gewesen sei. (Honold Metropolis aus dem Schützengraben S. 42) 2.1.2 Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht (1) _____________________________________________________________ 68 Es ist dies sicher eine äußerliche, ja sogar oberflächliche Argu- mentation, aber es ist genau jene, der die moderne Wissenschaft ihre Geburt verdankt. Musil selbst sieht den entscheidenden Un- terschied darin, daß man zu spekulieren aufgehört, und zu zäh- len angefangen hat (Kaizik, S. 41). Offenbar verkennt Kaizik die von Musil bewußt zwiespältig und eigentlich auch paradox geschilderte Unfallsituation und kommt dadurch zu diesen abwegigen Schlußfolgerungen. Walter Moser hat die grundsätzliche 'Figur' des Musilschen nar- rativen Schreibens genauer untersucht. In seinem Aufsatz heißt es dazu: er (Musil) möchte die begriffli- chen Gegensatzpaare anders, d. h. nicht als binäre Opposition behandelt wissen. Nicht Trennung von traditionell als unverein- bar Gesetztem, nicht gegenseitiger Ausschluß von Gegensätzli- chem interessiert ihn, sondern die Erforschung von "Kombina- tionen", ... Der diskursive Gestus des Problematisierens ... be- ruht im wesentlichen auf einer Doppelbewegung von Aussagen: eine Behauptung wird aufgestellt und zugleich - oder kurz darauf - wieder zurückgenommen oder aufgehoben. Dadurch wird der Inhalt dieser Behauptung zum Problem. ... Trotz der Verschie- denheit der angewandten Mittel ... ergibt sich ein systematisches Verfahren, das darauf hinausläuft, Unbestimmtheit zu erzeugen. ... Durch dieses systematische Offenhalten von ... Möglichkeiten des Erzählens wird dem Leser eine Frage übertragen, die schließlich das diskursive Geschehen, seine Elemente ( z. B. die Subjektkonstitution) und seine Gesetzmäßigkeiten selbst betrifft.85 Honold bestimmt schließlich in seinen Überlegungen den be- schriebenen Verkehrsunfall auch als Modellfall für den heran- nahenden Ersten Weltkrieg. Er schreibt: ... Der "gräßliche Vorfall", bei dem ein Passant von einem Lastwagen angefahren wurde, ist lesbar als exemplari- scher Schadensfall, Modell des unerwarteten 'bösen Endes' und, konkreter noch, als Ausdruck von Kriegserfahrung und ihrer theoretischen Verarbeitung ...86 Besonders überzeugend liest sich dabei Honolds Argumentation im Hinblick auf eine Verknüpfung der von Musil angeführten Daten aus einer amerikanischen Unfallstatistik mit der Zahl der 85 Walter Moser Zur Erforschung des modernen Menschen. Die wissenschaftliche Figuration der Metropole in Musils "Der Mann ohne Eigenschaften". In: In der großen Stadt. Die Metropole als kulturtheoretische Kategorie. Thomas Steinfeld und Heidrun Suhr (Hg.), Frankfurt a. M. 1990, S. 115-118. Vergleiche auch mit Abschnitt 2.1.2.3 der vorliegenden Arbeit. 86 Honold Die Stadt und der Krieg S. 84 2.1.2.7 Unfallstatistiken _____________________________________________________________ 69 Toten und Verletzten des Ersten Weltkriegs aus Österreich- Ungarn. In seiner Dissertation heißt es: ... die Entwertung des individuellen, persönlichen Schicksals durch die quantifizierende Erfassung von Verletzungs- und Todesfällen desavouiert auch das bei der Dame des Romananfangs noch vorhandene "unberechtigte Gefühl, etwas Besonderes erlebt zu haben". Nun gehörte allerdings die k.u.k.- Residenz des Jahres 1913 noch nicht zu jenen Orten, wo der Abtransport von Verwundeten durch Männer in Uniform zu einem wiederkehrenden und gewohnten Anblick geworden war. Die in dieser Episode genannten Zahlen von 190000 Verkehrs- toten und 450000 Verletzten sind nicht nur gegenüber den ca. 3700 tatsächlichen Unfallopfern im Amerika des Jahres 1913 maßlos übertrieben, sie haben selbst für Musils Schreibgegen- wart in den zwanziger Jahren keinerlei Plausibilität. Toten- und Verletztenlisten in dieser Größenordnung gab es für Österreich - Ungarn jedoch auf einem anderen Schauplatz zu beklagen, ... Wie die unlängst ... vorgelegte Geschichte der Habsburger Monarchie im Ersten Weltkrieg ausweist, zählte Österreich- Ungarn bis zum kalendarischen Ende des ersten Kriegsjahres rund 490000 Verwundete und 189000 Tote - ... (Honold Die Stadt und der Krieg S. 88) 2.1.3 Die Villa des Mannes ohne Eigenschaften (2) _____________________________________________________________ 70 2.1.3 Die Villa des Mannes ohne Eigenschaften (2) 2.1.3.1 Palais Salm In diesem zweiten Kapitel werden zunächst Lage und Anwesen des Hauses beschrieben, in welchem der Protagonist des Romans Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, wohnt. Anschließend er- fährt der Leser auch einiges über Ulrich selbst. Im Bildband Corinos findet sich eine Photographie des Wiener Palais' Salm, welches Musil als Vorlage für seine Beschreibung des Domizils des Mannes ohne Eigenschaften verwendet haben soll. Das entsprechende Photo ist in der folgenden Abbildung 17 zu sehen: Abbildung 17 Photographie des Palais' Salm. Karl Corino schreibt dazu: Palais Salm, Rasumofskygasse, Wien, auf das Musil aus dem Fenster hinter seinem Schreibtisch sah. Dieses Palais schwebte ihm vor als "Haus und Wohnung des Mannes ohne Eigenschaften". Corino Robert Musil S. 348 Doch sollte man sich vor zu engen Verknüpfungen zwischen der 'Wirklichkeit des Romans' und rein biographischem Material Musils hüten. Honold macht im folgenden darauf aufmerksam: ... Eine Summe seiner autorgeschichtlichen Recherchen, ... legte Corino mit Bildband vor, der allerdings zwischen Romanwelt und dokumentiertem Bildmaterial mitunter allzu kurzschlüssige Entsprechungen herstellt. Das Haus des Mannes ohne Eigen- schaften etwa, behauptet Corino, habe realiter in Gestalt des vis- a-vis seiner Wohnung gelegenen Palais Salm (siehe Abbildung 17) "vorgeschwebt", möglich - jedoch: hat in Musils Roman das Domizil des Protagonisten "einen etwas verwackelten Sinn, so wie übereinander photographierte Bilder", so ist dieser in Corinos ein-eindeutiger Bild - Text - Emblematik getilgt durch ein dingfest gemachtes Urbild, das vom ästhetischen Eigensinn 2.1.3.1 Palais Salm _____________________________________________________________ 71 des selbst noch in seinem Schlößchen unbehausten Mannes ohne Eigenschaften nur ein entzaubertes Denkmal zurückbehält. (Honold Die Stadt und der Krieg S. 113) Ähnlich äußert sich auch Wagner-Egelhaaf: ... In diesem Sinne wird die Photographie in Musils Text auch zum von realen Vorlagen abgelösten metaphorischen Wahrnehmungs- und Beschreibungsverfahren. ... Ulrichs Schloß bewahrt Wissen und Ausdruck verschiedener Jahrhunderte durch mehrere distinkte und identifizierbare Bilder. Sie sind übereinander photogra- phiert, d.h. ihre zeitliche Abfolge ist außer Kraft gesetzt und der photographischen Wahrnehmung des Nebeneinander gewichen. Diese nun verweigert, so eindeutig die einzelnen Bildelemente qualifiziert werden können, den Sinn des gesamten Bildes. Vielmehr entsteht insgesamt der Eindruck eines "verwackelten Sinnes": Genauigkeit im einzelnen verweigert die Synthese des Ganzen.87 Der in besagtem Schlößchen lebende "Mann ohne Eigenschaf- ten", Ulrich, wird von Wagner-Egelhaaf folgendermaßen analy- siert: Jemand, der keine Eigenschaften hat88, erscheint nicht eben als positive Gestalt: er besitzt keinen Charakter, keine Per- sönlichkeit. ... Wo die Verantwortung ihren Schwerpunkt nicht mehr im Menschen hat, sondern in Sachzusammenhängen, ist "eine Welt von Eigenschaften ohne Mann" entstanden. Das Sub- jekt ist damit fragwürdig geworden. Ulrichs vermeintliche "Cha- rakterlosigkeit" ist also nichts anderes als ein gesteigertes Be- wußtsein von den Fiktionen des modernen Selbstverständnisses, eine Hellsichtigkeit, die das, was gemeinhin für "Eigenschaft" gilt, als scheinhaft, im eigentlichen Sinne als "eigenschaftslos" erkennt. Dieses Bewußtsein, das Ulrich von den meisten seiner von ihren Eigenschaften so überzeugten Zeitgenossen unter- scheidet, macht "Eigenschaftslosigkeit" zu einer positiven Quali- tät. Ein Leben im Bewußtsein des Abstandes, der sich zwischen dem Selbst und dem Ich auftut, wobei sich das Selbst als eine 87 Martina Wagner-Egelhaaf "Wirklichkeitserinnerungen". Photographie und Text bei Robert Musil. Poetica 23, (1991), S. 239-240 88 Zumindest eine Eigenschaft scheint er doch zu haben, auch wenn er nicht einmal einen Familiennamen hat: er ist im wesentlichen mit Frauen befreundet, in deren Zentrum er steht. Sein Freund General Stumm scheint eine Ausnahme zu sein, aber auch er hat sehr weibliche Züge. Einer dieser Züge: er weiß in manchen Fällen nicht ganz genau Bescheid, hat aber immer die besten Einfälle! Siehe auch: Honold Die Stadt und der Krieg S. 483. Man vergleiche dazu Musils Metaphorik in einer Tagebuchnotiz: ...Und Frauen sind ein Parfum, das sich in unseren Nerven festnistet. (tg1 S. 4) Wagner-Egelhaaf weist in ihrer Dr.-Arbeit außerdem eine 'philosophiegeschichtliche Entwicklung' des Verhältnisses Ulrichs zu Diotima, zu Agathe und schließlich zu Clarisse nach. (Wagner-Egelhaaf Mystik der Moderne S. 116-136) 2.1.3 Die Villa des Mannes ohne Eigenschaften (2) _____________________________________________________________ 72 Unbekannte darstellt, prädestiniert für eine neue Art von Erfah- rung. (Wagner-Egelhaaf Mystik der Moderne S. 110) Im Roman wird aber auch die Charakterlosigkeit Ulrichs wieder paradox karikiert. Es heißt dort: Und mit einemmal mußte sich Ulrich angesichts die- ser Bedenken lächelnd eingestehn, daß er mit alledem ja doch ein Charakter sei, auch ohne einen zu haben. (S. 150) Dieser Mann also steht am Fenster seiner Wohnung und macht sich Gedanken über den vor ihm ablaufenden Straßenverkehr. Meisel bemerkt dazu: Ulrich - etymologisch niemand anders als der 'Herr im eigenen Hause' - versucht mit dem Blick des Natur- wissenschaftlers und der Uhr in der Hand die Geschwindigkeiten und Kräfte jenseits des Fensters in eine Ordnung des exakten Rechnens und Messens zu überführen. Doch die Berechnung der Relationen psychophysischer Bewe- gungsabläufe und der Anstrengung, "sich im Fluß der Straße aufrecht zu halten", erscheinen als barer 'Unsinn' angesichts jener ungeheuren und inkommensurablen Leistung, "die heute schon ein Mensch vollbringt, der gar nichts tut", oder eines Pferdes, dem von journalistischer Seite Genialität zugesprochen wird. Ulrichs Einsicht, "man kann tun, was man will; ... es kommt in diesem Gefilz von Kräften nicht im geringsten darauf an", läuft darauf hinaus, sich als sozial bestimmtes und agierendes Subjekt durchzustreichen, heißt, die Herrschaft im eigenen Hause - was im Zeitalter Freuds nichts anderes als das Bild eines emanzipier- ten Ich meint - als Preisgabe jeglicher sozialer Identifizierbar- keit zu begreifen.89 Im Roman heißt es im Zusammenhang folgendermaßen: Könnte man die Sprünge der Aufmerksamkeit messen, die Leistungen der Augenmuskeln, die Pendel- bewegungen der Seele und alle die Anstrengungen, die ein Mensch vollbringen muß, um sich im Fluß einer Straße aufrecht zu halten, es käme vermutlich - so hatte er gedacht und spielend das Unmögliche zu berechnen versucht - eine Größe heraus, mit der 89 Meisel, S. 132. Siehe dazu auch die Ergänzungen Honolds. Er schreibt unter ande- rem: Dieses ... Stichwort ... "Idiot im eigenen Hause" ... trifft aber die widersprüch- lichen Anforderungen an das sich selbst begründende Subjekt nur zur Hälfte; denn die "Idiotie ... als Stigma der ins Negative gewendeten Eigentümlichkeit" bewahrt Ulrich nicht vor der Zumutung selbsttätiger Integration in soziale Zusammenhänge - um so mehr führt gerade die prekäre Innenausstattung seiner Persönlichkeit auf das Dilemma einer ganzen Generation. (Honold Die Stadt und der Krieg S. 131-132) 2.1.3.2 Künstliche Intelligenz und mathematisches Pendel _____________________________________________________________ 73 verglichen die Kraft, die Atlas braucht, um die Welt zu stemmen, gering ist, und man könnte ermessen, welche ungeheure Leistung heute schon ein Mensch vollbringt, der gar nichts tut. ... (S. 12) 2.1.3.2 Künstliche Intelligenz und mathematisches Pendel Der Text hat jedoch noch eine andere Dimension als diejenige, die von Meisel angedeutet wird. Musils Romanheld Ulrich ahnt hier wohl voraus, wie schwierig es wäre, einen computer- gesteuerten 'Maschinenmenschen' zu konstruieren90, selbst wenn dieser nichts weiter könnte, als sich im Straßenverkehr zu bewegen oder auch nur stehen zu bleiben. In jüngster Zeit wurden dem Forschungsgebiet der künstlichen Intelligenz91 (KI) große Chancen eingeräumt, die menschlichen (Intelligenz-)Leistungen mit Computern nachahmen zu können und dadurch unter anderem auch wichtige Rückschlüsse auf die Gehirnfunktionen des Menschen zu erhalten. Man sprach sogar von Elektronengehirnen, wenn bloß Computerzentraleinheiten gemeint waren. Als Kriterium für die 'Intelligenzleistung' eines Computers dient heute der sog. Turing-Test92, der wie folgt for- muliert werden kann: ein Computer 'denkt' genau dann, wenn er ununterscheidbar von einer denkenden Person handelt. Vier Forschungsrichtungen der KI wurden bisher eingeschlagen: 1) Entwicklung von Robotern für das Ausführen 'intelligenter' prak- tischer Tätigkeiten in Industrie und Forschung 2) Bildung von sog. Expertensystemen, die das Grundwissen bestimm- ter Fachrichtungen wie Medizin oder Jura in 'intelligenten' Pro- grammen verarbeiten 3) Simulation des menschlichen Gehirns zur Erschließung seiner Funktionsweise und zur Eröffnung eines besseren Verständnisses des menschlichen psychologischen Verhaltens 4) Schaffung 'intelligenter', tief strukturierter Programme zur Lösung komplexer philosophischer Fragen. 90 Zum Thema 'Maschinenmenschen' siehe auch: Künstliche Menschen. Dichtungen und Dokumente über Golems, Homunculi, lebende Statuen und Androiden Klaus Völkel (Hg.), Frankfurt a. M. 1994 91 Die Literatur zur KI ist in den letzten Jahren enorm angewachsen. Als Einführung könnte z. B. Penroses Buch dienen: Roger Penrose Computerdenken. Des Kaisers neue Kleider oder die Debatte um Künstliche Intelligenz, Bewußtsein und die Geset- ze der Physik, übersetzt von Michael Springer, Heidelberg 1994 92 Alan Mathison Turing (1912-1954) war englischer Mathematiker. Ein interessan- tes Lebensbild von ihm hat Enzensberger entworfen: Hans Magnus Enzensberger Mausoleum. Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts. Frankfurt a. M. 1975, S. 113-115. Das benannte Kriterium ist sehr streng; es gibt andere, weit weniger fordernde Kriterien. Siehe Penrose, S. 15-21 2.1.3 Die Villa des Mannes ohne Eigenschaften (2) _____________________________________________________________ 74 Von diesen hochgesteckten Aufgaben sind bisher nur wenige partiell gelöst. Lediglich einige gut schachspielende Computer wurden konstruiert und programmiert, deren (Rechen-)Leistun- gen durchaus mit denen der besten schachspielenden Menschen mithalten93. Die Schwierigkeiten, gewisse Funktionen des menschlichen Ge- hirns durch Binärcodes nachzustellen, sind offenbar so gewaltig, daß inzwischen große Zweifel bestehen, ob dies überhaupt auf einem solchen Wege erreichbar ist. Schon die Teilaufgabe, dem Computerroboter das 'richtige Sehen' beizubringen und ihm an- schließend die daraus folgenden Entscheidungsprozesse zu ver- mitteln, erscheint aus heutiger Sicht nahezu unlösbar.94 Der Romanerzähler drückt die gewaltige menschliche Gehirn- leistung in metaphorischer Weise durch Pendelbewegungen der Seele aus. Die Pendelbewegungen eines sog. mathematischen Pendels sollen in der folgenden Abbildung 18 skizziert werden: Abbildung 18 Skizze eines mathematischen Pendels. Die Pendellage ist in bestimmter Auslenkung (Abstand vom Nulldurchgang) x gezeichnet. Pendellänge und Pendel- masse sind mit L bzw. m benannt. Die auf die Pendelmasse wirkende Tangentialkraft Ft ist durch die Schwerkraft mg und eine entsprechende Winkelfunktion sinα gegeben. Unter diesen Bedingungen läßt sich auf direktem Weg die Differentialgleichung für die Schwingung und daraus die Schwingungsdauer des Pendels berechnen. Bergmann- Schaefer Bd. 1, Berlin 1998, S. 598-600; Kamke et al., S. 392-395 93 In einem kürzlich ausgetragenen Schachvergleichskampf (Mai 1997) des amtie- renden Schachweltmeisters Gary Kasparow unterlag der Weltmeister dem IBM- Schachcomputer 'Deep Blue' mit 2.5 zu 3.5 Punkten. Es war das erste Mal, daß ein Schachweltmeister von einem Computer unter gültigen Wettkampfbedingungen ge- schlagen wurde. Die etwas bösartige, aber entscheidende Frage wäre jedoch: weiß Deep Blue, daß er gewonnen hat? 94 Penrose, S. 11 u. S. 28-64 2.1.3.2 Künstliche Intelligenz und mathematisches Pendel _____________________________________________________________ 75 Das mathematische Pendel stellt ein idealisiertes Fadenpendel dar: Masse punktförmig in der Pendelmasse konzentriert, Faden masselos, keine Reibung. Die Bewegung ist durch die sog. Um- kehrpunkte und den Nulldurchgang gekennzeichnet, d.h. durch die Positionen maximaler Auslenkung und den Ruhelagepunkt. In den Umkehrpunkten verharrt die Pendelmasse kurzzeitig, ihre kinetische Energie ist dort minimal (gleich Null), ihre potentielle Energie aber maximal. Umgekehrt hat die Pendelmasse während des Nulldurchgangs die größte Geschwindigkeit und damit den Maximalwert kinetischer Energie, gleichzeitig aber den Mini- malwert potentieller Energie.95 Überträgt man dies auf das Musilsche Sinnbild, so erhält man eine gute Vorstellung von den Bewegungs- und Ruhezuständen, den sinusartigen Schwingungszuständen der Seele96 und ihrer damit verbundenen Leistungen. Musil redet später in seinen Ta- gebüchern auch von potentieller und kinetischer Energie des Geistes, und zwar als er im Zusammenhang mit den Nazarenern implizite Kritik an den Kunstschaffenden übt: Vielleicht werden sie eines Tages hervortreten und sagen: ... Und ihr alle, ihr geistigen Arbeiter, die ihr Mehrer des Geistes zu sein glaubt, seid nur dessen Verteiler, ihr ändert nichts an der Summe nur an der Teilung in kinetische und potentielle Energie des Geistes. (tg1 S. 70) Die Pointe all dieser Erörterungen im Roman ist schließlich, daß eigentlich nichts getan wird. Dem Romanhelden scheint auch kaum etwas anderes übrig zu bleiben, wie aus seinen resignie- renden Äußerungen am Schluß des Kapitels hervorgeht, in wel- chen die physikalische Vorstellung der vielfach gegeneinander wirkenden Kräfte benutzt wird: "Man kann tun, was man will;" sagte sich der Mann ohne Eigenschaften achselzuckend97 "es kommt in diesem Gefilz von Kräften nicht im geringsten darauf an!" Er wandte sich ab, wie ein Mensch, der verzich- ten gelernt hat, ... (S. 13) 95 Siehe Kamke u. Walcher, S. 152 96 Seele könnte hier als Bewußtsein (Selbstbewußtsein) aufgefaßt werden. Musil gibt im dmoe mehrere Definitionen von Seele (siehe z.B.: S. 103, S. 183). Verglei- che auch mit Abschnitt 2.1.12.1 der vorliegenden Arbeit. 97 Im dmoe verdruckt 2.1.4 In einem Zustand von Schwäche zieht sich Ulrich eine neue Geliebte zu (7) _____________________________________________________________ 76 2.1.4 In einem Zustand von Schwäche zieht sich Ulrich eine neue Geliebte zu (7) 2.1.4.1 Eine Rauferei endet mit Schneefall Die geschilderte Episode ist eine eigenständige Rahmenerzäh- lung. Der Romanheld Ulrich kommt am Morgen zerschunden heim und legt sich zu Bett. Er läßt sein nächtliches Abenteuer in Gedanken vorüberziehen. Von drei Männern ist er tätlich ange- griffen und nach heftiger Gegenwehr bewußtlos geschlagen worden. Eine unbekannte Dame (es ist die von Ulrich später als 'Bonadea' bezeichnete junge Frau) hilft ihm, als er wieder zu Bewußtsein gekommen ist, und befördert ihn im Taxi nach Hau- se, ohne ihm ihren Namen zu nennen: Er konnte nur noch lä- chelnd um die Adresse seiner Retterin bitten, ... aber zu seinem Erstaunen wurde ihm diese Gunst nicht gewährt (S. 30). Ulrich erwacht aus seinen Gedanken, als eben diese Dame in sein Zim- mer tritt, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Es heißt dann abschließend: Zwei Wochen später war Bonadea schon seit vierzehn Tagen seine Geliebte. (S. 30) Die äußere Erzählung gibt Ulrichs aktuelle üble Situation nach einer nächtlichen Schlägerei mit unbekannten Männern wieder. Die Binnenerzählung schildert in Form der Erinnerungsphase den eigentlichen Kampf auf der Straße und die Rettung durch eine mütterliche Schönheit. Äußere Erzählung und Binnenerzählung vollführen etwa die gleiche Bewegung. In der umrahmenden Erzählung fühlt sich Ulrich arg zugerichtet, ist aber froh, durch das Eingreifen seiner Retterin Bonadea noch so gut davongekommen zu sein. Insge- heim bedauert er aber, nicht zu einem Liebesabenteuer mit der schönen Helferin gekommen zu sein, wenngleich er sich einre- det, für solche Abenteuer eigentlich keine Zeit mehr zu haben. Just in dem Augenblick wird ihm aber der Besuch der besagten Dame gemeldet, und es kommt zu der 'gewünschten' Zweisam- keit, wie der oben zitierte Satz aus dem Roman anzeigt. Die Binnenerzählung handelt von der eigentlichen Schlägerei und davon, wie er von einer fremden schönen Helferin gerettet wird, und schließlich von Ulrichs Versuch, trotz allem seiner Retterin so gut wie möglich zu gefallen. Ulrich versucht während seiner Rettung, Bonadea zu imponieren, indem er die Straßen- rauferei als einen normalen Sportwettkampf darstellt. Seine mündlichen Bemühungen scheinen zwar auf Bonadea zu wir- ken, dennoch verschwindet sie am Ende, ohne ihren Namen zu sagen. Doch die Metaphorik des 'weichen Schneefalls', welche 2.1.4.1 Eine Rauferei endet mit Schneefall _____________________________________________________________ 77 gleich zweimal nacheinander während des Gesprächs erscheint, deutet schon Ulrichs gute Chancen auf eine spätere intime Be- kanntschaft mit ihr an: ... und sie füllten die Luft mit der Weich- heit eines Schneefalls ... dennoch war der weiche Schneefall, den sie im Wagen verbreitete, noch dichter geworden. (S. 28, S. 30) Auf die Binnenerzählung, die den wesentlichen Inhalt des Kapi- tels bildet, muß etwas ausführlicher eingegangen werden. Zu- nächst wird darin der vermutliche Grund für den Überfall und dann der Kampf selber geschildert: ... (Ulrich) gab sich dem Gefühl hin, daß da Haß ge- gen ihn zusammengeströmt und zu Gestalten gewor- den war; ... und einen Haß auf ihn entluden ... inzwi- schen hatte ein Hieb von hinten mit einem schweren Gegenstand Ulrichs Kopf beinahe gesprengt. Er brach ins Knie, wurde gefaßt, kam ... noch einmal hoch, schlug in die Wirrnis fremder Körper und wur- de von immer größer werdenden Fäusten nieder- gehämmert. (S. 26) Nach dem Straßenüberfall und seiner Rettung durch Bonadea kommt Ulrich in dem herbeigerufenen Taxiwagen schnell wieder zu sich. Als Universitätsdozent der Philosophie98 stellt er den übel ausgegangenen Straßenkampf - teils als Entschuldigung, teils, um seiner schönen Retterin zu gefallen - als ein gewöhnli- ches sportliches Wettkampfereignis dar, und zwar mit einer ent- sprechenden psychologischen Expertise: ... und erklärte der überraschten mütterlichen Schön- heit an seiner Seite, daß man solche Kampferlebnisse nicht nach dem Erfolg beurteilen dürfe. Ihr Reiz liegt ... darin, daß man ... so viele, verschiedene, kraftvolle und dennoch aufs genaueste einander zugeordnete Bewegungen ausführen muß, daß es ganz unmöglich wird, sie mit dem Bewußtsein zu beaufsichtigen. ... die Muskeln und Nerven springen und fechten mit dem Ich, dieses aber, das Körperganze, die Seele, der Wil- le, diese ganze, zivilrechtlich gegen die Umwelt abge- grenzte Haupt- und Gesamtperson wird von ihnen nur so obenauf mitgenommen, ...wenn ... nur der kleinste Lichtstrahl von Überlegung in dieses Dunkel falle, dann mißlinge regelmäßig das Unternehmen. (S. 28-29) Das Wesentliche dieser psychologischen Ausführungen Ulrichs enthält auch die Erklärung einer Geschichte von Kleist, an die man unwillkürlich erinnert wird. Darin setzt sich ein Bär gegen 98 Vergleiche auch mit der Tagebuchnotiz im Nachlaß (nl Heft 36/19) 2.1.4 In einem Zustand von Schwäche zieht sich Ulrich eine neue Geliebte zu (7) _____________________________________________________________ 78 einen Sportfechter zur Wehr. Die Episode wird am Schluß der Abhandlung Über das Marionettentheater erzählt: ... Der Bär stand ... auf den Hinterfüßen ... die rechte Tatze schlagfertig erhoben, und sah mir ins Auge: ... Ich fiel, da ich mich eine wenig von meinem Erstau- nen erholt hatte, mit dem Rapier auf ihn aus; der Bär machte eine ganz kurze Bewegung mit der Tatze und parierte den Stoß. Ich versuchte ihn durch Finten zu verführen; der Bär rührte sich nicht99. Ich fiel wieder, mit einer augenblicklichen Gewandtheit, auf ihn aus, eines Menschen Brust würde ich ohnfehlbar getroffen haben: der Bär machte eine ganz kurze Bewegung mit der Tatze und parierte den Stoß. ... Der Ernst des Bä- ren kam hinzu, mir die Fassung zu rauben, ... Aug' in Auge , als ob er meine Seele darin lesen könnte, stand er, die Tatze schlagfertig erhoben, und wenn meine Stöße nicht ernsthaft gemeint waren, so rührte er sich nicht. 100 Bonadea scheint aber von Ulrichs intelligenten Erklärungen nicht allzuviel zu halten, denn sie fragt sich nach einer Weile, ob er nicht etwa eine Gehirnerschütterung erlitten habe (S. 29). Ulrich merkt schließlich auch, daß man seine Erläuterungen nicht besonders ernst nimmt. Interessant erscheinen auch Musils eigene Kommentare im Nachlaß zu diesem Kapitel, besonders im Hinblick auf die be- reits erwähnte Metaphorik des weichen Schneefalls: Schlägerei und Bonadea. ... Haß steckt aber auch im Mann ohne Eigenschaften: jederzeit bereit, sich selbst unsympathisch zu finden u. ebenso andere. (Das ist eine Fortsetzung von Abnei- gung aller gegen alle.) Begegnung mit Bonadea: auch mehr auf dieses Unbestimmte zweier junger Menschen stimmen. ... Boxen und Theologie, Ernst oder Spott ist die Unsicherheit der Welt wie der Jugend, die alles zu verbinden erlaubt. Trotzdem rückt man aneinander, weil der Schneefall dichter wird. Und zugleich läuft ein Mechanismus ab. ... Eine gewisse Dankbarkeit bleibt in Anders (Ulrich) von dieser ersten Begegnung her auch im späteren. (nl II/4/44) 99 Man kann dies Experiment leicht mit einer Hauskatze nachmachen, der man spie- lerisch den ausgestreckten Finger in ihr Fell zu stoßen versucht. Das Tier läßt sich überhaupt nicht nasführen, und seine Reaktionszeit ist so gering, daß es längst mit dem Pfötchen da ist, ehe man die Fingerbewegung zu seinem Körper ausgeführt hat. 100 Heinrich von Kleist Sämtliche Werke Wiesbaden 1976, S. 986-987 2.1.4.2 Gewitter und Schäfchenwolken _____________________________________________________________ 79 2.1.4.2 Gewitter und Schäfchenwolken Die Binnenerzählung enthält aber noch weitere Vergleiche und metaphorische Symbole, und zwar aus der Wetterkunde: ... daß es vielleicht gar keine Strolche seien, sondern Bürger wie er, ... , die einen Haß auf ihn entluden, der für ihn und für jeden fremden Menschen stets vorbe- reitet ist wie das Gewitter in der Atmosphäre. .... aber er kannte diesen Zustand einer gewissen atmosphäri- schen Feindseligkeit, ... und wenn sich das einmal plötzlich in drei unbekannten Männern zusammen- zieht, um wie Donner und Blitz auszuschlagen, so ist das fast eine Erleichterung. (S. 26) Bildung von Haß unter Menschen und anschließende Abreaktion in Form von Schlägereien und Kämpfen wird mit dem natürli- chen Prozeß des Zusammenziehens von Gewitterwolken und deren Entladung durch Donner und Blitz verglichen. Dabei über- rascht die Aussage, Gewitter seien ähnlich wie Regenschauer in der Atmosphäre stets vorbereitet. Grundsätzlich ist die Entste- hung von Gewitterwolken in der Atmosphäre ebenso möglich wie die Bildung gewöhnlicher Regenwolken. Die Abb. 7, S. 35 zeigt den starken Temperaturabfall in der Troposphäre bis zu einer Höhe von ca. 12 km. Erlangt eine Regenwolke sehr große vertikale Ausdehnung bis zur Tropopause (ca. 12 km), so be- ginnt am Kopf der Wolke durch die dort herrschenden sehr tiefen Temperaturen die Umwandlung der Wassertröpfchen in Eiskri- stalle. Durch Zerspringen von Eisstückchen und Zerstäubung von Wassertröpfchen setzt dann Ladungstrennung ein, und es kommt schließlich zur elektrischen Entladung, zum Gewitter (s. Abschnitt 2.2.5.1). Zur Veranschaulichung der Entstehung einer solchen Gewitterwolke soll die folgende Abbildung 19 dienen: Abbildung 19 Bildung und Form einer Gewitterwolke (Cumulonimbus; s. auch Abb. 4, S. 30). Bei starker loka- ler Erwärmung des Bodens entstehen kräftige feuchtwarme 2.1.4 In einem Zustand von Schwäche zieht sich Ulrich eine neue Geliebte zu (7) _____________________________________________________________ 80 Aufwinde (Konvektion), die zur tröpfchenartigen Konden- sation führen. Je höher diese feuchtlabile Luftschichtung getrieben wird, desto stärker kühlt sie sich ab. Die Wasser- tröpfchen im oberen Teil der Wolke wandeln sich dadurch teilweise in Eiskristalle um. Durch Aufplatzen der Kristalle und durch Tröpfchenzerstäubung entstehen Ladungstren- nung und schließlich Gewitter. Malberg, S. 99 ff Die folgende metaphorische Symbolik im Romankapitel scheint ebenfalls auf meteorologischen Grundlagen zu basieren. Der Text lautet dort: Er fühlte ... eine zarte Wolke von hilfsbereitem Idealismus, in deren Wärme sich jetzt die kleinen Eiskristalle des Zweifels und der Angst vor einer unüberlegten Handlung zu bilden begannen, ... (S. 28) Die Zusammenhänge lassen sich in diesem Fall allerdings kaum erkennen. Schon mit der Vorstellung zarter Wolken von beson- derer Wärme hat man gewisse Schwierigkeiten. Die Schäfchen- wolken (Altocumulus) z.B., welche sich vielleicht als zarte Wol- ken bezeichnen ließen, treten in größerer Höhe auf und sind deshalb sehr kalt. Die in der "Wolkenwärme" entstehenden Eis- kristalle sind ebenfalls schwer vorstellbar. Eine umständlich her- beigeholte Erklärung wäre vielleicht folgende: durch örtliche Erwärmung der zarten Wolke käme es zur schnellen Verdamp- fung eines lokalen Tröpfchenbereichs und dadurch zur Erzeu- gung von Verdampfungskälte. So könnten stellenweise unter- kühlte Tröpfchen entstehen, welche schließlich zu Eiskristallen gefrören. Auf solche Weise wachsende Eiskristalle zeigen je nach Wachstumsbedingungen vielseitige Formen, welche in der folgenden Abbildung 20 schablonenhaft zusammengestellt sind: Abbildung 20 Schematische Darstellung der Eiskristall- formen, die beim Übergang vom unterkühlten Tröpfchen zum Kristall auftreten. Die Formen entstehen je nach den Bedingungen der Auskristallisation, sie hängen im wesent- lichen von der Keimbildung an vorhandenem Staub und der Geschwindigkeit des Festwerdens ab. Bei 0 0C bis -5 0C sind dünne Plättchen, Nadeln oder Prismen zu erwarten, für tiefere Temperaturen 'Sterne' oder hexagonale Plätt- chen. Siehe Malberg, S. 89-91 oder Häckel, S. 118 2.1.4.2 Gewitter und Schäfchenwolken _____________________________________________________________ 81 Der Grund für die unterschiedlichen Formen der Auskristallisie- rung von Wasser liegt in der großräumigen Anordnung der Was- sermoleküle im Molekülgitter. Im Gegensatz zu anderen Stoffen hat Wasser nahe dem Gefrierpunkt in flüssiger Form eine höhere Dichte als in der Kristallform. Daher haben die H2O-Moleküle in der festen Anordnung viel Raum für die Veränderung ihrer Ori- entierung, d.h. die H-Atome können sich relativ frei in jede Richtung einstellen. In der nachfolgenden Abbildung 21 wird das atomare Gitter des Eises schematisch gezeigt: Abbildung 21 Schematisierte molekulare Struktur des Eiskristalls. Große Kugeln: Sauerstoffatome (O); kleine Kugeln: Wasserstoffatome (H). Jedes Sauerstoffatom ist tetraedrisch von vier Nachbarsauerstoffatomen umgeben. Die Gitterstruktur im Eiskristall basiert im wesentlichen auf der Wasserstoff-Brücken-Bindung101 zwischen den Sauerstoffatomen. Dadurch ergibt sich eine offene Form, die H2O-Moleküle können ihre Orientierung im Gitter weitgehend frei einstellen und dadurch die gezeigten unterschiedlichen Kristallformen ausbilden. Moore, S. 679 101 Die Wasserstoff-Brücken-Bindung ist eine häufig vorkommende Bindungsform. Sie spielt in Flüssigkeiten und Kristallen eine wichtige Rolle. Eine wesentliche Funktion übernimmt sie z.B. in der Doppelhelix der DNS, die in Abschnitt 2.2.8.1 erläutert wird. Siehe Walter J. Moore Physical Chemistry London 1965, S. 550 2.1.5 Der zweite Versuch. Ansätze zu einer Moral des Mannes ohne Eigenschaften (10) _____________________________________________________________ 82 2.1.5 Der zweite Versuch. Ansätze zu einer Moral des Mannes ohne Eigenschaften (10) 2.1.5.1 Rechenschieber und Fehlergrenzen Das berufliche Überwechseln des Protagonisten vom Offizier der Kavallerie zum Ingenieur wird dargestellt. Musil selbst war gelernter Ingenieur, er hebt seine eigene enge Beziehung zur Technik in den Tagebüchern des öfteren hervor. Er schreibt z.B.: 145) Auch im Verhältnis zur techn. Entwicklung hat mein Leben einiges Wichtige berührt. Mein Lehrer Wellner (siehe: Anm. 289, tg2 S. 716-717) mit seinem Segelflugrad u. den dazu gehörenden Studien; heute vergessen, aber es läßt sich nicht ausschließen, daß diese Ideen noch einmal wichtig sein könnten. (Nach- suchen u darstellen.) Die Entwicklung der Turbine, die meinem Vater in Klagenfurt nicht ganz gelang, bis zu ihrer heutigen Wichtigkeit. Ev. meines Vaters letzte Steuerungskonstruktion, die nicht glückte (sie- he: Anm. 290, tg2 S. 717). ... Die Entwicklung der Elektrotechnik fällt fast ganz in diese Zeit. Ebenso die der synthetischen Chemie. (tg1 S. 948) Die neue Ingenieurstätigkeit Ulrichs wird deshalb im Roman entsprechend charakterisiert: ... der Rechenschieber, das ist ein kleines Symbol, das man in der Brusttasche trägt und als einen harten weißen Strich über dem Herzen fühlt: wenn man einen Rechenschieber besitzt, und jemand kommt mit großen Behauptungen oder großen Gefühlen, so sagt man: Bitte einen Augenblick, wir wollen vorerst die Fehler- grenzen und den wahrscheinlichsten Wert von alle- dem berechnen! (S. 37) Der Rechenschieber von damals ist der Taschencomputer von heute für den Physiker und den Ingenieur. Mit dem Rechen- schieber ließen sich schon damals recht komplizierte numerische Rechnungen sehr einfach und schnell erledigen. Dazu gehörte auch die Ausrechnung von arithmetischen Mittelwerten bzw. wahrscheinlichsten Werten und deren mittleren quadratischen Fehlern. Auf modernen Taschenrechnern lassen sich sogar einfa- che Zufallsexperimente simulieren. In den Tagebüchern zeigt Musil anhand eines Beispiels aus der physikalischen Psychologie, wie mit Fehlern und Fehlergrenzen 2.1.5.1 Rechenschieber und Fehlergrenzen _____________________________________________________________ 83 im Bereich der experimentellen Untersuchung von Reizen und Empfindungen umzugehen ist. Wir zitieren zunächst Musils Ausführungen: Methode der richtigen und falschen Fälle oder der konstanten Fehler. _______________________________________________ z. B. 1000 gr102 - 1050 gr d.h. innerhalb dieser Grenzen können wir die Reize variieren, ohne es in der Empfindung zu merken. ± Fehler aus physi- kal. Ursachen ± ' Fehler aus physio- Wir haben also die Reize: log. Ursachen r ± und r + d ± 1 ___________________________________________________ ± Summen beider ± ' wobei d = 50 gr Der Empfindungsunterschied entspricht dem Reizunterschied: r + d , r   = d  , = d   ( = , ) ___________________________________________________ Geht man nun von einem Werte der Schwelle aus, so wird in allen jenen Fällen richtig erkannt, wo  positiv ist, oder negativ, aber kleiner als die Differenz von Ausgangspunkt und Schwellenwert. Nun setzt man voraus, daß + ebenso oft vorkomme wie -. Dann hat man bei gleicher Anzahl richtiger und falscher Urteile die ideale Schwelle. In der Physik stimmt dies und in der Psychologie nach Fechner’s Versuchen103 gleichfalls. Hierzu kommen aber noch psychologische Fehlerquellen z. B. aus der Aufmerksamkeit stammende. Auch sie kann man zu  schlagen. Ebenso falsche Urteilstendenzen, denn 'bei genügend großen Reizunterschieden' werden diese Fehler aufgehoben. Dies ist überhaupt der Gedanke der ganzen Methode. (tg1 S. 126) Die obigen Aufzeichnungen Musils sind allerdings zu knapp, als daß man sie im Detail verstehen könnte. Wahrscheinlich enthält die Abschrift des Originalmanuskripts auch kleinere Fehler in den indizierten Größen der angegebenen Gleichungen. In der letzten Gleichung sind die Kommata sicher als Indizierung zu lesen. Die folgenden Erklärungen erscheinen deshalb notwendig. 102 Bezeichnet einfach 'Größeneinheiten'. 103 Fechners Gesetz: Die Empfindungsgrößen nehmen zu wie die Logarithmen der Reizgröße. Siehe: DTV-Lexikon. d. Phys., Bd. 10, S. 78 2.1.5 Der zweite Versuch. Ansätze zu einer Moral des Mannes ohne Eigenschaften (10) _____________________________________________________________ 84 Besprochen wird von Musil die experimentelle Bestimmung von Schwellwerten. Das sind Reizdifferenzwerte, die gerade ausrei- chen, eine bestimmte Empfindung auszulösen. Man will bei- spielsweise herausfinden, bei welcher Lichtstärkenänderung das menschliche Auge die Farbe Grün eines gesendeten Signals er- kennt. Dazu geht man von einem Ausgangsreiz r0 = r  und dem um den vermuteten Schwellwert d vergrößerten Reiz r1 = r + d 1 aus. Musil setzt hier zunächst willkürlich für d einen Wert von 50 gr (Größeneinheiten) an. Diese Reize sind unter bestimmten Fehlerannahmen zu messen. Der Ausgangsreiz wird mit einem Fehler  physikalischer Natur angesetzt, der Schwell- reiz mit einer Fehlersumme 1, gebildet aus einem Fehler phy- sikalischer Natur und einem weiteren physiologischer Natur. Aus der Differenz  von Schwell- und Ausgangsreiz erhält man dann die gesuchte Schwelle:  = r1  r0 = r + d1  r = d1 = d  . Wobei:  = 1 . Nimmt man nun einen Wert oberhalb der Schwelle für die Experimente, so läßt sich die 'ideale' Schwelle genau bestimmen, wenn vorausgesetzt wird: i)  (Absolutwert)  d ii)   0 im Mittel gleich häufig wie   0. Dies bezeichnet man als die Methode der konstanten Fehler bzw. der richtigen und falschen Fälle104. Sie wird auch im Nachlaß von Musil mehrfach erwähnt (vergleiche z.B. nl VI/1/152). Im anfänglich zitierten Romantext darf jedoch die (Selbst-)Ironie der Betrachtungen dieser Zahlenspiele nicht übersehen werden, zumal sich gut vorstellen läßt, daß auch Musil während seiner Ingenieursausbildung den Rechenschieber stets in seiner Kittel- tasche mit sich führte. Dies scheinen auch Bemerkungen aus dem Nachlaß anzudeuten: ... Glück, darauf zu kommen, daß wir uns in allem, was wir für das Höhere halten, weit altmodischer benehmen, als es unsere Maschinen sind. - Wozu braucht man den Apollon von Belvedere, gut, bös .., 104 Vergleiche dazu auch: Peter R. Hofstätter Psychologie Frankfurt am Main 1972, S. 262 2.1.5.1 Rechenschieber und Fehlergrenzen _____________________________________________________________ 85 wenn man die Formen eines Turbodynamo, Funkti- onswerte usw. vor Augen hat. - Die Welt ist einfach komisch, wenn man sie vom techn. Standpunkt an- sieht. Wer gewohnt ist, seine Angelegenheiten mit dem Rechenschieber zu erledigen, kann die Hälfte al- ler menschlichen Beziehungen nicht ernst nehmen. - Das Zukunftsselbstportrait. Geistiger Globetrotter u Unternehmer. Die Menschen wandeln auf Erden als Weissagungen der Zukunft. Jede Tat kann übertroffen werden. - Die wirklichen Ingenieure. (nl II/4/56) Der zitierte Nachlaßtext steht in engem Zusammenhang mit dem Romantext auf S. 37 und widerlegt Honolds Behauptung105, die im dmoe genannten "Funktionswerte" hätten unmittelbar etwas mit dem Machschen Funktionsbegriff zu tun. Die im dmoe er- wähnten "Konstanten" und "Funktionswerte" sind in dem betref- fenden Zusammenhang ganz eindeutig mathematische bzw. phy- sikalische Begriffe. Eine Konstante wäre z.B. die Erdbeschleuni- gung g, ein Funktionswert z.B. die Fallstrecke s(t0) eines beliebi- gen Massenkörpers, die in Abhängigkeit von der Fallzeit t0 zurückgelegt wird. Das bezeichnete Textstück im dmoe enthält an dieser Stelle nur physikalische, technische und mathematische Überlegungen, so daß es abwegig erscheint, dabei an den Machschen verallgemei- nerten Funktionsbegriff zu denken (siehe dazu auch Abschnitt 2.1.9.3 der vorliegenden Arbeit). 105 Honold Die Stadt und der Krieg S. 394 2.1.6 Der wichtigste Versuch (11) _____________________________________________________________ 86 2.1.6 Der wichtigste Versuch (11) 2.1.6.1 Der mathematische Mensch Ulrich Der Erzähler begründet fadenscheinig, warum Ulrich im dritten und vorerst letzten Versuch seiner Karriere schließlich die 'Königin der Wissenschaften', die Mathematik, wählt. Obwohl Ulrich bekanntlich später als Sekretär der sehr fragwürdigen 'Parallelaktion' arbeitet und es dort eigentlich für ihn nichts zu tun gibt, erst recht nichts für einen Mathematiker, werden hier in ständig wechselnder, hauptsächlich ironischer Ausdrucksweise die großen Vor- und Nachteile dieser Wissenschaft aufgezeigt: ... es ist den meisten Menschen heute ohnehin klar, daß die Mathematik wie ein Dämon in alle Anwendungen unseres Lebens gefahren ist. ... Und so hat es auch schon damals, als Ulrich Mathematiker wurde, Leute gegeben, die den Zusammenbruch der europäischen Kultur voraussagten, weil kein Glaube, keine Liebe, keine Einfalt, keine Güte mehr im Menschen wohne, und bezeichnenderweise sind sie alle in ihrer Jugend- und Schulzeit schlechte Mathematiker gewesen. Damit war später für sie bewiesen, daß die Mathematik, Mutter der exakten Naturwissenschaft, Großmutter der Technik, auch Erzmutter jenes Geistes ist, aus dem schließlich Giftgase und Kampfflieger aufgestiegen sind. In Unkenntnis dieser Gefahren lebten eigentlich nur die Mathematiker selbst und ihre Schüler, die Naturforscher, die von alledem so wenig in ihrer Seele verspürten wie Rennfahrer, die fleißig darauf los treten und nichts in der Welt bemerken als das Hinterrad ihres Vordermanns. ... Wenn man statt wissenschaftlicher Anschauungen Lebensanschauung setzen würde, statt Hypothese Versuch und statt Wahrheit Tat, so gäbe es kein Lebenswerk eines ansehnlichen Naturforschers oder Mathematikers, das an Mut und Umsturzkraft nicht die größten Taten der Geschichte weit übertreffen würde. ... (S. 39-40) Meisel spricht hier von Ulrichs elitärer Koketterie bezüglich der Mathematik und von ignoranter Großartigkeit, die ihn vor dem pervertierten mathematischen Geist schütze. Offensichtlich hat Meisel aber den ironischen Unterton des ganzen Textes nicht zur Kenntnis genommen und übersehen, daß zu Anfang des zi- tierten Textes in verdeckter Form gegen Spengler und dessen 2.1.6.1 Der mathematische Mensch Ulrich _____________________________________________________________ 87 mathematische Fachkenntnis polemisiert wird, die in seinem Werk Der Untergang des Abendlandes zutage tritt106. Am Schluß des Kapitels bleibt aber auch die Selbstironie des Erzählers nicht aus: Trotzdem hatte er (Ulrich) nun aber in diesem dritten Beruf, seit er ihn vor Jahren ergriffen hatte, nach fachmännischem Urteil gar nicht wenig geleistet. (S. 41) Dazu muß man wissen, daß Musil zur Erlangung des Doktorgra- des in der Philosophischen Fakultät als drittes wissenschaftliches Fach Mathematik studierte, darin allerdings im Abschlußexamen nur die Note 'befriedigend' erhielt. Wie außerordentlich kritisch die Mathematik von Musil gesehen wurde, zeigen Bemerkungen, in denen sie als die Wissenschaft mit dem bösen Blick (S. 1979) oder als Wissenschaft, in welcher die Wirklichkeit gar nicht vorkomme (tg1 S. 33), bezeichnet wird. Auch im Nachlaß finden sich entsprechende Kommentare. Dort heißt es z.B.: ... Wissenschaft als die Verwirklichung von Urträu- men. Mathematik als ihre neue, messerkühle Denk- lehre. - Allerdings die Urträume sind anders verwirk- licht worden, als man sich das vorgestellt hat. Man hat Wirklichkeit gewonnen u. Traum verloren. ... Leu- te, welche etwas von der Seele verstehn, bezeugen, daß sie von der Math. ruiniert worden ist. Herr der Erde, Sklave der Maschine. Dürre, Wüste, Verlas- sensein, Herzensgleichgültigkeit, Gewalttätigkeit usw. Schließlich der Krieg. Nur die Mathematiker bemerken nichts davon. - Es ist wahrscheinlicher, daß Anders (Ulrich) die Mathematik um ihrer selbst willen liebte, als daß er ihre Gegner nicht mochte. (nl II/4/56) Im Grundton ähnlich äußert sich Musil auch in seinem Essay Der mathematische Mensch, den er folgendermaßen einleitet: Eine der vielen Unsinnigkeiten, die aus Unkenntnis ihres Wesens über die Mathematik umlaufen, ist, daß 106 Meisel, S. 214. Daß Meisel selbst keine großen Kenntnisse in der Mathematik besitzt, offenbart sich dann auf der nächsten Seite, wo er von "den Gesetzen einer proportionalen Reihe" spricht. Erstens scheint er in dem betreffenden Zusammen- hang eine Folge zu meinen, denn die Reihe ist eine Folge von Partialsummen. Zwei- tens kennt man in der Mathematik keine proportionale Folge oder Reihe. Wahr- scheinlich ist eine monoton wachsende Folge gemeint. Sie wird mathematisch da- durch charakterisiert, daß jedes ihrer Glieder größer als das vorhergehende ist. Siehe: Handbuch der Mathematik W. Gellert, H. Küstner, M. Hellwich, H. Kästner (Hg.), Köln 1972, S. 390 2.1.6 Der wichtigste Versuch (11) _____________________________________________________________ 88 man bedeutende Feldherrn Mathematiker des Schlachtfelds nennt. In Wahrheit darf deren logisches Kalkül nicht über die sichere Einfachheit der vier Spezies hinausreichen, wenn es nicht eine Katastro- phe verschulden soll. Die plötzliche Notwendigkeit ei- nes Schlußprozesses, der auch nur so mäßig umständ- lich und uneinsichtig wäre wie das Auflösen einer ein- fachen Differentialgleichung, würde inzwischen Tau- sende hilflos ihrem Tod überlassen. Das spricht nicht gegen das Feldherrningenium, wohl aber für die eigentümliche Natur der Mathematik. ... (pr S. 1004) Kaizik scheint den Unterton dieses Essays und die ständigen, scheinbar paradoxen Äußerungen darin gar nicht bemerkt zu haben. Er glaubt, "der Essay über die Mathematiker kulminiere in der Verheißung": ... eine Analogie sind sie für den geistigen Menschen, der kommen wird, und rätselt anschließend darüber, was Musil damit wohl gemeint haben könne107. Wie dieser Ne- bensatz Musils einzuschätzen ist, erfährt man aber unmittelbar aus dem Zusammenhang. Der Text lautet dort: Man wende nicht ein, daß Mathematiker außerhalb ihrer Fachs banale oder blöde Köpfe sind, ja daß sie selbst ihre Logik im Stich läßt. Dort ist es nicht ihre Sache und sie tun auf ihrem Gebiet das, was wir auf unsrem tun sollten. Darin besteht die beträchtliche Lehre und Vorbildlichkeit ihrer Existenz; eine Analo- gie sind sie für den geistigen Menschen, der kommen wird. Wenn durch den Spaß, der hier aus ihrem Wesen an- gerichtet wurde, ein wenig dieser Ernst schaut, mögen die folgenden Schlußsätze nicht als unvermittelt emp- funden werden: ... (pr S. 1007) Ganz ähnlich geradeaus und eindimensional versteht Kaizik dann auch Musils ironisch-spaßige Kommentare zu den Grund- festen der Mathematik108 und vergibt damit noch zusätzlich die Chance, den wunderschönen Satz zu Anfang des entsprechenden Textabschnitts zu zitieren. Dieser heißt: Die Mathematik ist Tapferkeitsluxus der reinen Ratio, einer der wenigen, die es heute noch gibt. Auch man- che Philologen treiben Dinge, deren Nutzen sie wohl selbst nicht einsehen, und Briefmarken- oder Krawa- ttensammler noch mehr. Aber das sind harmlose Lau- nen, die sich fern von den ernsten Angelegenheiten 107 Kaizik, S. 21-23 108 Kaizik, S. 24-25 2.1.6.1 Der mathematische Mensch Ulrich _____________________________________________________________ 89 unseres Lebens abspielen, während die Mathematik gerade dort einige der amüsantesten und schärfsten Abenteuer der menschlichen Existenz umschließt. (pr S. 1006) Kaizik übersieht, was Honold später sehr allgemein und prägnant zusammenstellt: mit der drohenden "Auflösung des bürgerlichen Zeitalters" ist jedoch mehr zur Disposition gestellt als das Erbe des humanistischen Curriculums und des deutschen Bildungsro- mans. Sie forderte zur Positionsbestimmung auch im politischen Sinne heraus, zu einem geschichtsphilosophischen Urteil gar, ob die erlebte Zeitwende als apokalyptische oder utopische aufzu- fassen sei. ... Hier kam der literarischen Werkstatt des 'Mannes ohne Eigenschaften' die Funktion einer Ergänzung, ja eines Kor- rektivs zu. Dem Protagonisten des Romans, der damit ein bedeu- tungsvolles Stichwort der Zeit gibt, erscheint diese als "ein Ge- webe von Widersprüchen ohne Dezision" ... so tendiert der Ro- mancier bei der Darstellung dieser Positionen zu einer zwiespäl- tigen Haltung, in der die Neigung zu satirischen Verzeichnungen neben Formen des emphatischen Anverwandelns steht. Diese Ambivalenz leitet sich vom Vorhaben des Autors her, aus den "Ideen von 1914" jene Elemente herauszupräparieren, welche ... paradox genug, den Aufstand der Gefühle gegen die Technik just dort am Werke sahen, wo die Technik in ihrer verheerendsten Form waltete. (Honold Die Stadt und der Krieg S. 216-217) Am Ende des Kapitels wird die spezielle Kritik an der Mathe- matik auf die Wissenschaften im allgemeinen ausgedehnt. Der Erzähler stellt fest: ...aber in der Wissenschaft kommt es alle paar Jahre vor, daß etwas, das bis dahin als Fehler galt, plötzlich alle Anschauungen umkehrt oder daß ein unscheinba- rer und verachteter Gedanke zum Herrscher über ein neues Gedankenreich wird, und solche Vorkommnisse sind dort nicht bloß Umstürze, sondern führen wie die Himmelsleiter in die Höhe109. Es geht in der Wissen- schaft so stark und unbekümmert und herrlich zu wie in einem Märchen. (S. 40-41) Zur Erläuterung der angesprochenen 'Märchenhaftigkeit' ist viel- leicht die 'Kopernikanische Wende' zu nennen, welche eintrat, als der Amateurastronom Nikolaus Kopernikus aus seinen Beob- achtungen schloß, die Sonne sei Mittelpunkt des 'Weltsystems' und nicht die Erde. Der Physiker Galileo Galilei wies später die 109 Siehe dazu auch aus moderner Sicht: Thomas S. Kuhn Die Struktur wissenschaft- licher Revolutionen Frankfurt a. Main 1993, S. 65-146 2.1.6 Der wichtigste Versuch (11) _____________________________________________________________ 90 Gültigkeit des heliozentrischen Weltsystems nach, welches dann das Ptolemäische (geozentrische) gegen den Willen der Kirche ablöste. Galilei selbst mußte noch unter dem Druck der Kirche offiziell das Ptolemäische Weltsystem (siehe Abbildung 22) anerkennen. In der Tat märchenhaft. Abbildung 22 Schematisierte Darstellung des Ptolemäi- schen Welt-Systems. Die Erde steht im Mittelpunkt. Mond, Planeten und Sonne kreisen in gleicher Weise um die Erde. DTV-Lexikon d. Phys., Bd. 10, S. 110 Wir wissen heute, welche absolut untergeordnete Rolle 'unser Sonnensystem' im Weltall einnimmt. 'Unsere Sonne' ist nur ein mittelgroßer Stern von größenordnungsmäßig hundert Milliarden Sternen, die zusammen 'unsere Galaxie', die Milchstraße bilden. Die Milchstraße stellt eine sog. Spiralgalaxie dar, deren Struktur schematisch in der nächsten Abbildung 23 wiedergegeben wird. Abbildung 23 Schematisch gezeichneter Aufbau unserer Milchstraße. Die rechte Darstellung zeigt deren spiralartige Struktur mit einem Durchmesser von 30 kpc. Links ist ein Schnitt senkrecht dazu gezeichnet, aus dem hervorgeht, 2.1.6.1 Der mathematische Mensch Ulrich _____________________________________________________________ 91 daß es sich um eine relativ schmale, spiralförmige Scheibe handelt. Die gezeichneten Punkte symbolisieren sog. Sternhaufen. Der Abstand unserer Sonne vom Kern der Galaxie beträgt 8,5 kpc (1 kpc = 3260 Lichtjahre = 3,086 1016 km). Bergmann-Schaefer Lehrbuch der Experimental- physik. Sterne und Weltraum. Bd. 8, Berlin 1997, S. 59 ff Der Darstellung entsprechend befinden wir uns 'nahe' dem galaktischen Zentrum einer riesigen, rotierenden Scheibe, deren Ausdehnung die unvorstellbare Größenordnung von 1018 km hat. Im ganzen Universum befinden sich insgesamt etwa tausend Milliarden solcher Galaxien, die die unterschiedlichsten Formen haben, jede einzelne jedoch ungefähr so ausgedehnt ist wie unsere Milchstraße110. Der Name Milchstraße wurde übrigens durch die Beobachtung mit bloßem Auge geprägt: die meisten der direkt beobachtbaren Sterne unserer Galaxis sind so weit entfernt, daß ihre Helligkeit gerade ausreicht, sie insgesamt nur als schwaches, diffuses Lichtband wahrzunehmen. Abschließend sei noch auf die Bemerkung im weiter oben zitierten Text des Nachlasses hingewiesen, in welcher die Rede ist von Leuten, die etwas von der Seele verstehn (nl II/4/56). Ob sich Musil selbst zu diesen zählte, dürfte nicht klar zu beantwor- ten sein111. Im Nachlaß schreibt er einmal: Die Seele des Menschen ist eine hauchähnliche Masse (wie schon die Wilden erkannt haben), die sich an festen Berührungsflächen niederschlägt u fest wird. Wir sagen Gewohnheiten. Aber wir würden uns wehren, die Ehre oder die Tugend eine Gewohnheit zu nennen, und doch ist sie es. Halbfest sind also unsere Gefühlseinstellungen. Und noch weiter innen ist etwas ganz Unbestimmtes. Man stellt das immer umgekehrt dar, als ob innen das Feste wäre. (nl II/1/252) 110 Bergmann-Schaefer, Bd. 8, S. 173 ff; S. 439 ff. Vergleiche auch: Roger J. Taylor Galaxien Michael Grewing (Übers.), Braunschweig 1986 111 Siehe dazu auch Abschnitt 2.1.12.1 der vorliegenden Arbeit 2.1.7 Besitz und Bildung; Diotimas Freundschaft mit Graf Leinsdorf und das Amt, berühmte Gäste in Einheit mit der Seele zu bringen (24) _____________________________________________________________ 92 2.1.7 Besitz und Bildung; Diotimas Freundschaft mit Graf Leinsdorf und das Amt, berühmte Gäste in Einheit mit der Seele zu bringen (24) 2.1.7.1 Royal Society und Perpetuum Mobile Ulrichs Kusine Diotima, Gattin des Sektionschefs Tuzzi, führt in ihrem Hause eine Art Salon, in welchem sich hochangesehene Persönlichkeiten und berühmte Menschen treffen. Der Salon be- kommt durch den adeligen ständigen Gast, den Grafen Leins- dorf, der Diotima freundschaftlich verbunden ist, einen beson- deren Ausgewähltheitsgrad. Graf Leinsdorf wird unter anderem folgendermaßen vorgestellt: So religiös Se. Erlaucht war, so wenig verschloß er sich, als ein von Verantwortung durchdrungener Geist, der überdies auf seinen Gütern Fabriken betrieb, der Erkenntnis, daß sich heute der Geist in vielem der Bevormundung durch die Kirche entzogen habe. ... Es gibt etwas wie ein fachliches Gewissen, das unter Umständen dem religiösen widerspricht ... Freilich war Graf Leinsdorf auch jederzeit bereit, dies in öffentlicher Herrenhaussitzung zu bedauern ... Das war, sobald er zu solchen Ausführungen den Mund öffnete, wie wenn man einen Kontaktstöpsel heraus- gezogen hätte, und er floß in einem anderen Strom- kreis. ... aus diesem Grunde war Graf Leinsdorf nicht nur ein religiöser, sondern auch ein leidenschaft- licher ziviler Idealist. (S. 99-100) Graf Leinsdorf wird hier ähnlich beschrieben wie der später ein- geführte Großschriftsteller Paul Arnheim, der in gewisser Weise ein Gegenspieler Ulrichs ist. Arnheim (Heim des Geldes) verfügt wie Leinsdorf über eine große bürgerliche Bildung, ist begütert und hat größte Kontakte zur Industrie. Arnheims charakterliche Züge werden in den Abschnitten 2.1.13.1, 2.1.30.1 und 2.1.33.2 der vorliegenden Arbeit ausführlicher kommentiert. Musil hat diese Ähnlichkeit der beiden Männer beabsichtigt, wie deutlich aus seinen Ideenblättern zu diesem Kapitel hervorgeht. Es heißt dort unter anderem: Fachliches Gewissen. Daß Graf Leinsdorf mit der Wirtschaft verflochten ist, geht später ganz verloren! Den Ausgleich bildet die vertiefte bürgerliche Bildung. Die Breite der Bildung. Zwei Stromkreise: 2.1.7.1 Royal Society und Perpetuum Mobile _____________________________________________________________ 93 anders handeln als man denkt. Graf Leinsdorf hat Ähnlichkeit mit Arnheim. Verbindung von Seele und Geschäft beim Königskaufmann. Leidenschaftlicher Idealist. ... (nl I/2/4) Der in obigem Romantext benutzte Vergleich des Verhaltens des Grafen mit den beiden Stromkreisen erfordert elementares phy- sikalisches Verständnis, obgleich der entsprechende Begleittext sagt, was er zu bedeuten hat. Allein durch Herausziehen eines Kontaktstöpsels soll ein anderer Stromkreis durchlaufen werden. Eine derartige Schaltung könnte erzielt werden, indem man einen Gesamtstromkreis mit zwei parallel geschalteten, sehr unterschiedlich großen Widerständen einrichtete, wobei sich im Teilstromkreis des kleinen Wider- stands ein solcher Kontaktstöpsel befände. Bei nicht gezogenem Kontaktstöpsel würde Strom nur in dem Teilkreis des kleinen Widerstandes fließen; nach Unterbrechung des Kontaktes flösse ausschließlich Strom im Teilkreis des großen Widerstandes.112 Diotimas Salon, der in erster Linie auch durch Graf Leinsdorf ins Leben gerufen worden ist, bildet für die spätere künstliche Kon- stituierung der eigentlich inhaltslosen Parallelaktion einen wich- tigen Ort der Zusammenkunft. Diotima geht es hauptsächlich darum, eine freundliche geistige und vor allem seelisch leben- dige Atmosphäre im Salon zu gewährleisten. Es heißt im dmoe: Und heute, wo die Gotteswissenschaften durch Natio- nalökonomie und Physik verdrängt worden sind und Diotimas Verzeichnis einzuladender Verweser des Geistes auf Erden mit der Zeit an den Catalogue of Scientific Papers der British Royal Society heran- wuchs, bestanden die Laienbrüder und -schwestern dementsprechend aus Bankdirektoren, Technikern, Politikern, Ministerialräten und den Damen wie Herrn der hohen und der ihr angeschlossenen Gesell- schaft. (S. 100) Man muß dazu wissen, daß damals die wissenschaftlich relevan- ten Abhandlungen ('papers') fast ausschließlich in den Fachzeit- schriften der British Royal Society veröffentlicht wurden. Der Katalog der wissenschaftlichen Artikel dieser Zeitungen wurde deshalb als äußerst signifikant angesehen. Es galt als große Ehre für einen Wissenschaftler, wenn er Mitglied dieser Gesellschaft war. Heute nehmen die großen (U.S.-)amerikanischen Fachzeit- 112 Vergleiche: Kamke und Walcher, S. 306-307 2.1.7 Besitz und Bildung; Diotimas Freundschaft mit Graf Leinsdorf und das Amt, berühmte Gäste in Einheit mit der Seele zu bringen (24) _____________________________________________________________ 94 schriften annähernd diese Stellung ein113. Für die Physik sind es z.B. die Zeitschriften Physical Review und Journal of Chemical Physics. An späterer Stelle des Kapitels heißt es dann: Allein das Leben baut nichts auf, wozu es nicht die Steine anderswo ausbricht. Zu Diotimas schmerzli- cher Überraschung war ein sehr kleiner, träumerisch süßer Mandelkern von Phantasie, den ihr Dasein einst einschloß, als es sonst noch gar nichts enthielt, der auch noch dagewesen war, als sie sich den wie ein le- derner Reisekoffer mit zwei dunklen Augen aussehen- den Vizekonsul Tuzzi zu heiraten entschloß, in den Jahren des Erfolgs verschwunden. ... Es ging Diotima mit ihren berühmten Gästen nicht anders als dem Grafen Leinsdorf mit seinen Bankverbindungen; man mochte noch so sehr wünschen, sie in Einheit mit der Seele zu bringen, es gelang nicht. (S. 102) Der einführende Satz dieses Textes - wenn auch hier bildlich im Zusammenhang mit der unverschuldeten seelischen Deformation Diotimas gebraucht (genaueres erfährt man in Kapitel 25 des Romans) - dürfte auch eine originelle metaphorische Formulie- rung des Energieerhaltungssatzes der Physik sein. Energie kann nur umgewandelt, nicht gewonnen werden oder verloren gehen. Sie wird allein dadurch nutzbar, daß aus bestimmten Formen der Energie bestimmte andere Formen hervorgehen, wie es Musils Text auch nahelegt. Eine Version dieses Energieerhaltungssatzes sagt nämlich: Es ist unmöglich ein Perpetuum Mobile erster Art zu konstruieren, d.h. eine Maschine zu bauen, die ohne Energie- zufuhr physikalische Arbeit zu leisten vermag. Im späteren Ver- lauf dieser Arbeit (siehe Abschnitt 2.1.22.1) wird noch ein weite- rer Hauptsatz vorgestellt, derjenige von der Unmöglichkeit eines Perpetuum Mobiles zweiter Art114, wobei im wesentlichen die Richtung der möglichen Umwandlungen festgelegt wird (Entro- piesatz bzw. zweiter Hauptsatz der Thermodynamik). Beide, sowohl der Erhaltungssatz der Energie als auch der Entropiesatz, haben für unser 'modernes Leben' z.T. üble Folgen, 113 Will man sich heutzutage über den Fortschritt auf einem bestimmten physikali- schen Forschungsgebiet informieren, so recherchiert man in den Katalogen der gro- ßen amerikanischen Zeitschriften. Die meisten Literaturangaben irgendeiner veröf- fentlichten physikalischen Arbeit beziehen sich heute auf amerikanische Zeitschrif- ten. 114 Ein Perpetuum Mobile zweiter Art wäre eine Maschine, die nichts weiter tut als einem Wärmereservoir Wärme zu entziehen und dafür die äquivalente mechanische Arbeit zu leisten. 2.1.7.1 Royal Society und Perpetuum Mobile _____________________________________________________________ 95 die man sich im klarmachen sollte: jede Heizung, jede künstliche Beleuchtung, jede Herstellung und Benutzung einer Maschine, eines Werkzeugs, des kleinsten Behältnisses usw. erfordert Energieumwandlung, selbst im Recycling-Prozeß wird Energie umgewandelt. Jede Energieumwandlung produziert ihrerseits aber Abfallstoffe. Infolgedessen ist jeder Prozeß der Umwand- lung von Energie mit weiterer Produktion von Müll verbunden. Dies dürfte sicher eine der möglichen Weiterführungen des zi- tierten Musilschen Anfangssatzes sein. 2.1.8 Wesen und Inhalt einer großen Idee (27) _____________________________________________________________ 96 2.1.8 Wesen und Inhalt einer großen Idee (27) 2.1.8.1 Idee im Schmelzzustand Der Erzähler beschreibt die Charakteristika einer großen Idee, zum Teil aber nur, um später die große Idee der Parallelaktion damit genügend lächerlich zu machen. Entsprechend kennzeichnet auch Meisel (S. 167) die Parallel- aktion: ... die Parallelaktion, ..., eine ihrem Namen spottende "Aktion", die sich verzweifelt um eine Handlung, eine erlösende Tat bemüht und nichts als krude Ideen produziert. Für Corino ist Musils Parallelaktion einer der ingeniösesten Plots, die je von Autoren erfunden wurden115. Wagner-Egelhaaf verquickt die Parallelaktion mit Platons 'Symposium'. Sie schreibt: ... die "Parallelaktion", jenes Unternehmen also, das die sogenannten Eliten aus Besitz und Bildung im Hause des Sektionschefs Tuzzi zur Erarbeitung einer Konzeption für das siebzigjährige Thron- jubiläum des österreichischen Kaisers Franz Joseph zusammen- führt. ... Die Parallelaktion ist nicht nur ein Parallelunterneh- men zum deutschen Kaiserjubiläum und greift nicht nur auf das christliche Mittelalter zurück, sondern läßt sich darüber hinaus auch als "Parallelaktion" zu Platons "Symposium" lesen, worauf der Name hinweist, den Ulrich Frau Hermine Tuzzi gibt - "Dio- tima". ... Die Parallelaktion, die "das Wahre" an den Tag brin- gen soll, sucht verzweifelt nach einer übergreifenden "Idee" für das kaiserliche Jubelfest. Die Reduktion der platonischen geisti- gen Wesenheit auf einen einleitenden Gedanken für ein Jubiläum gipfelt in der Ironie, daß die Parallelaktion eben keine Idee fin- det. Das platonische Erkenntnismodell mündet somit ins Leere, so sehr die an der Parallelaktion Beteiligten als Menschen des 20. Jahrhunderts ihm verhaftet bleiben. ... stellt sie (die Parallel- aktion) doch im wesentlichen eine Folge von Zusammenkünften verschiedener Personen dar, die nichts anderes tun als - eben reden116. Anders als der platonische Dialog führt dieses Reden zu keinem Ergebnis. ... Ulrich ist nun ironischerweise der Sekretär der Parallelaktion; ... So wartet er darauf, schreiben zu können, doch, da keine Idee gefunden wird, gibt es für ihn nichts zu tun. (Wagner-Egelhaaf Mystik der Moderne S. 117-121) Im Romans wird nun folgendes über eine solche große Idee ausgeführt: 115 Corino Robert Musil S. 12 116 Dieses eben reden läßt sich tatsächlich zweifach verstehen! 2.1.8.1 Idee im Schmelzzustand _____________________________________________________________ 97 ... Denn das ist es, was eine ergreifende große Idee von einer gewöhnlichen, vielleicht sogar unbegreiflich gewöhnlichen und verkehrten unterscheidet, daß sie sich in einer Art Schmelzzustand befindet, durch den das Ich in unendliche Weiten gerät und umgekehrt die Weiten der Welten in das Ich eintreten, wobei man nicht mehr erkennen kann, was zum eigenen und was zum Unendlichen gehört. Deshalb bestehen ergreifen- de große Ideen aus einem Leib, welcher wie der des Menschen kompakt, aber hinfällig ist, und aus einer ewigen Seele, die ihre Bedeutung ausmacht, aber nicht kompakt ist, sondern bei jedem Versuch, sie mit kalten Worten anzufassen, sich in nichts auflöst. (S. 110) Zustand und Zustände haben Musils Interesse ständig angezo- gen. Darunter auch die unterschiedlichen Zustände der Materie, wie der feste oder der flüssige Zustand. Er wählt hier den Über- gang vom Feststoff zur Flüssigkeit, um die große Idee zu erklären. Ein Schmelzzustand entspricht physikalisch einem Übergangs- zustand zwischen einer festen, meistens kristallinen und einer flüssigen Form eines Stoffes. Nimmt man z.B. H2O, so stellt die Kristallform das Eis, die flüssige Phase das Wasser dar. Der Schmelzübergang ist nur ein Spezialfall der in Physik und Che- mie bekannten Phasenübergänge. Für reine Stoffe findet man im wesentlichen die Übergänge: Gas-Flüssigkeit, Gas-Feststoff und Flüssigkeit-Feststoff 117. In Mischungen kennt man weitere Übergänge auf Grund der möglichen unterschiedlichen Zusam- mensetzung der Phasen, z.B. die flüssig-flüssig-Entmischung. Ein Übergangszustand wird gewöhnlich durch Erhitzen oder Abkühlen erreicht. Deshalb spricht Musil auch im abschließen- den Satz des zitierten Textes von kalten Worten. Im festen Zustand (Kristallzustand118) hat der zu betrachtende Stoff gewöhnlich eine wohlgeordnete Kristallstruktur mit einer Fernordnung. Die Moleküle (atomare Teilchen) sind hier bis zu großen Entfernungen in immer gleicher Weise angeordnet. Man kann deshalb nach einer bestimmten Vorschrift jedes Molekül an einer fest vorgegebenen Stelle wiederfinden. Eine Kristallstruk- tur kugelförmiger Moleküle ist als zweidimensionales Schema in der folgenden Abbildung 24 zu sehen: 117 Siehe: Robert Wichard Pohl Einführung in die Physik. Mechanik. Akustik und Wärmelehre. Bd. 1, Berlin 1962, S. 282 oder Moore, S. 117 ff. 118 Man unterscheidet für einen Feststoff Kristallzustände und sog. amorphe Zustän- de. Im amorphen Zustand bleiben die Orte der Moleküle zwar fest, es gibt aber keine spezifische Anordnung, keine Fernordnung. Man hat sich diesen Zustand als eine Art unterkühlten Flüssigkeitszustand vorzustellen (Pohl, Bd. 1, S. 283). 2.1.8 Wesen und Inhalt einer großen Idee (27) _____________________________________________________________ 98 Abbildung 24 Zweidimensionales atomares Schema einer Kristallstruktur. Charakteristisch für das Gitter ist die feste Ordnung der Molekülplätze. Man spricht von Fernord- nung. Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 1007 ff Im Übergangszustand (engl.: transition state) zwischen Kristall und Flüssigkeit - z.B. beim Schmelzen von Eis - beginnt sich die Fernordnung des Gitters langsam aufzulösen, die Moleküle kön- nen sich dann teilweise wie eng aneinanderliegende 'Bälle' (beim Wasser eher wie Hanteln) relativ frei bewegen, sie sind nicht mehr an das Kristallgitter gebunden. Nach dem Übergang bleibt schließlich im flüssigen Zustand nur noch eine Nahordnung übrig, die Moleküle bewegen sich in sog. dichter Kugelpackung. Eine schematische Zeichnung der atomaren Flüssigkeitsstruktur findet sich in der nächsten Abbildung 25: Abbildung 25 Zweidimensionale schematische Darstel- lung der molekularen Struktur einer Flüssigkeit. Die Modellatome bilden eine 'dichte Kugelpackung' ohne feste Ordnung. D.h. die Moleküle können sich im Rahmen der vorgegebenen Dichte frei bewegen. Man spricht dabei von Nahordnung. Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 1008 Benachbarte Moleküle können sich im flüssigen Zustand mit der Zeit sehr weit (gemessen in atomaren Einheiten) entfernen, und 2.1.8.1 Idee im Schmelzzustand _____________________________________________________________ 99 später wieder nächste Nachbarn werden, so daß nicht mehr fest- gestellt werden kann, welcher Herkunft eigentlich die Nachbarn eines bestimmten Moleküls sind. Im Übergangszustand des Schmelzens kommen sowohl Flüssigkeits- als auch Gitter- strukturen vor. Kleinere, sich ständig verändernde Kristall- gebiete schwimmen dann in einem schon umgewandelten flüssigen Medium. In einem solchen Phasenübergangsstadium befinden sich nach Musils Metaphorik das Ich und die große Idee. Dazu sind Musils planende und begleitende Aufzeichnungen von besonderem Interesse. Er schreibt im Nachlaß: Große Ideen: zieht sich durchs Ganze. Fängt mit heroischer Auffassung in der Einleitung an. Diotima: Wir müssen, wollen die große Idee verwirklichen. Ende Krieg. Angekündigt als Erregung der poetischen u. idealen Instinkte der Menschen. (nl VII/3/193) Funktion großer Ideen. Eine Abform der unio mystica ist: unter einer Idee stehen. ... Im Gegensatz zur 'wahren' Welt des Grafen Leinsdorf lassen sich große Ideen inhaltlich nicht bezeichnen. ... Das Wesentliche an großen Ideen ist irgendwie eine Richtung, nicht ein Ziel. Aber auch: Man stellt Ziele, Programme, Ideale auf; ... (nl I/1/43) Das Thema der großen Ideen zieht sich in der Tat durch den ge- samten Roman, und zwar nicht nur innerhalb der Parallelaktion selbst. In den späteren Abschnitten 2.1.21.1 und 2.2.7.2 der vor- liegenden Arbeit werden weitere Aspekte dieser Ideen behandelt, z.B. diejenigen der Ordnung. Das von Musil angekündigte (s. Abschnitt 2.1.1) und wahrscheinlich durch die großen Ideen erzeugte Einmünden des Romans in den Kriegszustand erleben wir wegen des fragmentarischen Charakters des Romans nicht. Der Erzähler gibt jedoch schon in diesem Kapitel einen verdeckten Hinweis auf dieses Ende, und zwar anhand der lapidar klingenden Hervorhebung der großen Idee Diotimas: Dies vorausgeschickt, muß gesagt werden, daß Diotimas große Idee in nichts anderem bestand, als daß der Preuße Arnheim die geistige Leitung der großen österreichischen Aktion übernehmen müsse, obgleich diese eine Eifersuchtsspitze gegen Preußen- Deutschland besaß. (S. 110) Ein Jahr später als der Roman spielt, waren Österreicher und Deutsche bereits Kriegsverbündete im Ersten Weltkrieg gegen das restliche Europa. 2.1.9 Ein Kapitel, das ein jeder überschlagen kann, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine große Meinung hat (28) _____________________________________________________________ 100 2.1.9 Ein Kapitel, das ein jeder überschlagen kann, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine große Meinung hat (28) 2.1.9.1 Zustandsgleichung des Wassers Laut eines der 'Ideenblätter' Musils geht es in diesem Kapitel um die echte geistige Schwermut (nl I/2/4). Nach Äußerungen über das Weltwissen der Griechen und dasjenige Newtons wird besonders das Wissen über Wasser reflektiert. Von Ulrich wird berichtet, er habe soeben an einer Zustandsgleichung des Was- sers gearbeitet und mache sich nun Gedanken darüber. Es heißt im Roman: Und natürlich hatte der Mann ohne Eigenschaften auch das neuzeitliche Wissen irgendwo im Bewußt- sein, ob er gerade daran dachte oder nicht. Und da ist nun Wasser eine farblose, nur in dicken Schichten blaue, geruch- und geschmacklose Flüssigkeit, ... ob- gleich physiologisch auch Bakterien, Pflanzenstoffe, Luft, Eisen, schwefelsaurer und doppeltkohlensaurer Kalk119 dazugehören und das Urbild aller Flüssigkei- ten physikalisch im Grunde gar keine Flüssigkeit, sondern je nachdem ein fester Körper, eine Flüssig- keit oder ein Gas ist. Schließlich löst sich das Ganze in Systeme von Formeln auf, die untereinander ir- gendwie zusammenhängen, und es gibt in der weiten Welt nur einige Dutzend Menschen, die selbst von ei- nem so einfachen Ding, wie es Wasser ist, das gleiche denken; alle anderen reden davon in Sprachen, die zwischen heute und einigen tausend Jahren früher ir- gendwo zu Hause sind. Man muß also sagen, daß ein Mensch, wenn er nur ein bißchen nachdenkt, gewis- sermaßen in recht unordentliche Gesellschaft gerät! (S. 113) Wenn man eine scheinbar so simple Flüssigkeit wie Wasser genauer und unter wissenschaftlichen Maßstäben untersucht, so gerät diese wirklich zu einem schwer verstehbaren Medium. Beschränkt man sich zunächst nur auf die reine Flüssigkeit, also reines H2O (flüssig), so findet man ein äußerst ungewöhnliches physikalisches Verhalten. Schon der Vergleich des Siede- und Schmelzpunkts mit denjenigen verwandter Verbindungen, wie 119 Unter schwefelsaurem bzw. doppeltkohlensaurem Kalk ist das Calciumsalz der Schwefelsäure bzw. der Kohlensäure zu verstehen. Diese Verbindungen sind oft im Leitungswasser enthalten und bestimmen dort den Härtegrad des Wassers. Holle- man-Wiberg Lehrbuch der anorganischen Chemie Berlin 1964, S. 409-417 2.1.9.1 Zustandsgleichung des Wassers _____________________________________________________________ 101 Schwefelwasserstoff oder Selenwasserstoff, zeigt erhebliche Un- terschiede, wie die folgende Tabelle 3 belegt: Tabelle 3 Siedepunkte und Schmelzpunkte Stoff Siedepunkt Schmelzpunkt ____________________________________________ H2O 100 oC 0 oC H2S -61 oC -86 oC H2Se -41 oC -66 oC Auch die spezifische Wärmekapazität des Wassers und seine Oberflächenspannung sind ungewöhnlich hoch. Wie bereits angedeutet, hat Wasser seine größte Dichte im flüssigen Zustand bei 4 oC. Beim Gefrieren sinkt also seine Dichte im Gegensatz zu dem Verhalten seiner chemischen Verwandten und vieler ande- rer Stoffe. Denn in der Regel nimmt die Dichte einer Substanz beim Übergang vom flüssigen in den festen Zustand zu, weil die Moleküle im Kristallgitter dichter gepackt sind als in der Flüs- sigkeit. Wasser besitzt zudem eine außergewöhnlich geringe elektrische Leitfähigkeit und die Fähigkeit, Wasserstoffbrücken auszubilden, die für die Flüssigkeitsstruktur und bestimmte che- mische Prozesse von außerordentlicher Bedeutung sind. Der Grund für diese 'Anomalien' des Wassers ist seine besondere Molekülstruktur, welche u.a. auch ein sehr großes Dipolmoment (permanente elektrische Polarisierung) zur Folge hat. In der fol- genden Abbildung 26 wird schematisch der atomare Aufbau ei- nes Wassermoleküls gezeigt, wie er sich aus quantenchemischen Rechnungen und Experimenten ableiten läßt: Abbildung 26 Schematische Zeichnung des Wassermole- küls. Die Größe der H-Atome bzw. des O-Atoms ist durch die schwarzen Kreisfelder angedeutet. Die an der chemi- schen Bindung des Moleküls beteiligten Elektronen sind als umrandete graue 'Elektronenwolke' skizziert. Verbindet 2.1.9 Ein Kapitel, das ein jeder überschlagen kann, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine große Meinung hat (28) _____________________________________________________________ 102 man die Zentren der drei Atome, so schließen die Verbin- dungslinien einen charakteristischen Winkel von 105 Grad ein. Dies liegt im wesentlichen daran, daß die sog. Bin- dungsorbitale (Bindungselektronenbahnen) des O-Atoms Vorzugsrichtungen haben (p-Orbitale), während das Was- serstoffatom nur ein sphärisch symmetrisches s-Orbital ausbildet. Moderne quantenchemische Rechnungen, in welchen die maximale Überlappung aller an der Bindung beteiligter Orbitale bestimmt wird, sind in der Lage, den genannten Bindungswinkel sehr genau zu berechnen. Eine Folge dieser nicht linearen Gestalt des Wassermoleküls ist eine Polarisierung der Gesamtladungsverteilung, aus der ein starkes Dipolmoment resultiert. Häckel, S. 71-74; Moore, S. 534-538 Die Flüssigkeitsstruktur des Wassers ist aber bis heute nicht völlig geklärt, so daß z.B. bestimmte rotatorische Eigenschaften der Wassermoleküle in der Flüssigkeit noch nicht verstanden werden. Man ist auch weit davon entfernt, eine befriedigende Zustandsgleichung des Wassers, von welcher Ulrich auf S. 111 des dmoe sagt, er habe an einer solchen gearbeitet, in geschlos- sener mathematischer Form aufstellen zu können. Zur Erklärung der Beschaffenheit und Funktion einer solchen Zustandsglei- chung wird zunächst ein wesentlicher Bereich des Phasendia- gramms für reines Wasser in Abbildung 27 gezeigt: Abbildung 27 Ausschnitt aus dem experimentell be- stimmten Phasendiagramm des Wassers. Unter dem Tripelpunkt versteht man diejenigen thermodynamischen Bedingungen, unter welchen alle drei Phasen, also Dampf, Flüssigkeit und Feststoff (Eis), gemeinsam auftreten. Als kritischen Punkt bezeichnet man die äußerste Stelle des Gebietes, in welchem die flüssige Phase überhaupt noch 2.1.9.1 Zustandsgleichung des Wassers _____________________________________________________________ 103 möglich ist. Die Druckeinheit kp/cm2 ist heute nicht mehr gebräuchlich, statt dessen benutzt man Pa (Pascal) oder bar. 1 Pa = 10-5 bar = (10-4/9,81) kp/cm2. Pohl , Bd. 1, S. 282 Eine brauchbare Zustandsgleichung müßte nun erlauben, das obige Phasendiagramm genügend genau zu berechnen. D.h. der Druck und die möglichen Phasen, also Dampf, Flüssigkeit u. Eis, sollten in Abhängigkeit von der Temperatur120 mit der experi- mentell erreichbaren Genauigkeit berechenbar sein. Die allgemeinste Form einer Zustandsgleichung lautet für den Reinstoff: P = f (T, ρ, a1, a2, a3, …) , wobei der Druck P als Funktion der Temperatur T, der Dichte ρ und weiterer Konstanten an zu schreiben ist. Die einfachste Zustandsgleichung (keine Phasenübergänge) gilt bekanntlich für das ideale Gas; sie wird in der vorliegenden Arbeit mehrfach besprochen, siehe z.B. die Abschnitte 2.1.22.1 und 2.1.29.6. Eine ebenfalls oft zitierte einfache Modellzustandsgleichung, die Van der Waals-Gleichung121, ist in Lage, Phasenübergange im gas- förmig-flüssigen Bereich darzustellen und gilt deshalb annähernd auch für reale Gase. Sie lautet: P = ρkT/(1-a2) - a1ρ2 . Eine derartige Zustandsgleichung für Wasser gibt es aber bisher nicht. Da das Wassermolekül, wie vorher bereits erklärt, sich weder durch kugel- noch durch hantelartige Modellmoleküle gut genug nachbilden läßt, versagen auch störungstheoretische An- sätze und Computersimulationen für die molekulare Beschrei- bung seines Phasenverhaltens122. Folglich ist man auf reine An- passungsfunktionen angewiesen, die kaum noch einen physika- lisch begründeten theoretischen Hintergrund haben, aber wenig- stens die empirisch gefundenen Daten über Teilgebiete des Phasendiagramms gut wiedergeben. Noch sehr viel unübersichtlicher wird die theoretische Behand- lung, wenn andere Stoffe im Wasser enthalten oder gelöst sind. Dann muß ein mehrkomponentiges Wassergemisch betrachtet 120 Musil selbst gibt im Nachlaß einige Hinweise auf die Eigenschaften von Wasser, hebt allerdings die Sonderstellung von Wasser unter den Flüssigkeiten nicht hervor. Siehe: (nl I/1/61) 121 Siehe dazu z.B.: Frederick Reif Statistische Physik und Theorie der Wärme W. Muschik (Bearb.), Berlin 1987, S. 359-365. Die in der Van der Waals-Gleichung angegebene Konstante k ist die sog. Boltzmannkonstante. Sie hat die Einheit einer Energie pro Kelvin. 122 Vergleiche z.B. Hoheisel, S. 99-116 2.1.9 Ein Kapitel, das ein jeder überschlagen kann, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine große Meinung hat (28) _____________________________________________________________ 104 werden. Musil spricht davon, daß sogar Bakterien, doppeltkoh- lensaurer Kalk oder Luft im Wasser enthalten sein können. In diesem Fall ist nicht mehr von einem homogenen Flüssigkeits- gemisch, sondern von einer Suspension, einer Emulsion oder einem Aerosol auszugehen. Unter diesen sehr allgemeinen Be- dingungen läßt sich eine Zustandgleichung selbst unter sehr ge- ringen Genauigkeitsanforderungen nicht mehr aufstellen oder anpassen. Die Zahl der Variablen ist dann für eine theoretische Behandlung viel zu groß. Dieses aussichtslose Unterfangen der wissenschaftlichen theore- tischen Beschreibung einer mehrkomponentigen Wasserlösung, die zusätzlich mit Feststoffen und Gasen im Gleichgewicht steht, ist wahrscheinlich von Musil im Text angedeutet, wenn er von Systemen von Formeln, die untereinander irgendwie zusammen- hängen spricht. Andererseits kann man die letzten Sätze des vorher angegebenen dmoe-Zitats ohne Zuhilfenahme der zugehörigen 'Ideenblätter' Musils nicht verstehen. Insbesondere fällt es schwer nachzuvoll- ziehen, was mit den Sprachen, die zwischen heute und einigen tausend Jahren früher irgendwo zuhause sind und der recht un- ordentlichen Gesellschaft gerade im Zusammenhang mit Wasser ausgesagt werden soll. Zwei Ideenblätter aus dem Nachlaß Mu- sils geben jedoch Auskunft: ... Aber in der Tat ist Wasser ein sehr merkwürdiger Saft. Das wäre vielleicht noch nicht merkwürdig. ... Für jede höhere Angelegenheit gibt es nur wenige Dutzend Menschen in der Welt, die sie wirklich be- herrschen. Alle anderen haben davon nur Vorurteile; die von heute oder die vor 5000 Jahren entstandenen. Und die Wissenden sind wie grasdünne vorgestreckte Spitzen, da geht es nicht von einem zum andren hin- über. Für Zusammenarbeit ist nur so ungefähr ge- sorgt. (nl I/1/61) Wasserbeispiel. Auflösung in Formelsysteme. Ver- schiedenheit der Sprache selbst in einfachen Dingen. Der objektive Teil des Denkens wird also betont und als recht unordentlich hingestellt. Hygiene der Objek- tivität und Erlebnisverlust ... Angeschnitten: Wo kommen Gedanken hin? Unordnung des Ichs = Unordnung der Welt. (nl I/2/4) Nach Musils Ausführungen gibt es also nur wenige Menschen, die von Wasser so viel verstehen, daß sie sich ein weiterreichen- des Urteil über diesen 'einfachen Stoff' bilden können (Fachdis- 2.1.9.2 Ulrich als Grüblernatur _____________________________________________________________ 105 kurs). Alle anderen haben nur Vorurteile123, die sich vor Tausen- den von Jahren gebildet und bis heute in ständig veränderter Form erhalten haben. Ein gut begründetes und durch langes Nachdenken und Experimentieren erzieltes Urteil bezüglich Wasser befindet sich dann gewissermaßen in der unordentlichen Gesellschaft all jener Vorurteile. Zu den nachdenkenden Men- schen wird zwar auch Ulrich gezählt, jedoch stellt der Erzähler die entsprechende Äußerung zugleich in ein (selbst)ironisches Licht. Es heißt dort unter Verwendung des Wörtchens sozusa- gen, worauf später in Abschnitt 2.2.9.3 noch eingegangen wird: ... Man kann sozusagen, wenn ein Mensch denkt, nicht den Moment zwischen dem Persönlichen und dem Unpersönlichen erwischen, und darum ist offenbar das Denken eine solche Verlegenheit für die Schrift- steller, daß sie es gern vermeiden. Der Mann ohne Eigenschaften dachte aber nun ein- mal nach. ... (S. 112) 2.1.9.2 Ulrich als Grüblernatur Interessant aber zugleich sehr fragwürdig erscheint Corinos124 Kommentar dazu. Corino will in dem erwähnten nachdenkenden Menschen, der in unordentliche Gesellschaft gerät Musil selbst als wissenschaftliche Grüblernatur wiedererkennen. Er stützt sich dabei auf Ergebnisse der Freudschen psychoanalytischen Studie Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci125. Im folgenden sollen zunächst die betreffenden Überlegungen Freuds zusammengefaßt werden. Freud beginnt seine Analyse mit der Beobachtung, Menschen mit überstarkem Forscherdrang könnten auch Teile ihrer sexuel- len Triebkräfte auf diese Forschertätigkeit übertragen. Der Sexu- altrieb eigne sich besonders gut für derartige Übertragungen, da er die 'Sublimierung' zulasse, also die Ersetzung des sexuellen Ziels durch andere, höher bewertete aber nicht sexuelle. Erwie- sen sei eine solche Vertauschung, wenn in der Kindheit ein sehr ausgeprägter Sexualtrieb vorgelegen habe, und im fortgeschritte- nen Alter sich eine Verkümmerung dieses Triebes zeige.126 Es werden dann drei alternative Entwicklungsstufen unterschie- den, die sich für den Forschertrieb ergeben, wenn die infantile 123 Eines dieser Vorurteile ist z.B., Wasser sei ein Element. 124 Corino Ödipus oder Orest S. 140 125 Sigmund Freud Bildende Kunst und Literatur Studienausgabe in 10 Bänden, Frankfurt a. Main 1972, Bd. X, S. 91-159 126 Freud, Studienausgabe Bd. X, S. 104 2.1.9 Ein Kapitel, das ein jeder überschlagen kann, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine große Meinung hat (28) _____________________________________________________________ 106 Periode der sexuellen Erforschung mit erheblicher Sexualver- drängung abgeschlossen worden ist: a) Die Forschung bleibt ähnlich zurück wie die Sexualität. Wissensdurst und ungehindertes Ausspielen der Intelligenz sind damit für immer eingeschränkt, insbesondere für den Fall der zusätzlich einsetzenden "Denkhemmung" durch religiöse Erzie- hung. Dies ist das Bild der neurotischen Hemmung. Die so ent- standene Denkschwachheit kann zu neurotischen Erkrankungen führen. b) Die intellektuelle Entwicklung zeigt sich stark genug, dem Einfluß der Sexualverdrängung entgegenzutreten. Der Intel- lekt ist imstande, die Sexualverdrängung zu umgehen, und die unterdrückte Sexualforschung wandelt sich im Unbewußten in einen "Grübelzwang" um. Dadurch wird das Denken selbst se- xualisiert und mit der Lust und der Angst der Sexualbetätigung vollführt. Dabei wird oft das Gefühl der Ausführung von Gedan- ken an die Stelle der sexuellen Befriedigung gesetzt. Die Paral- lelität zwischen der nicht abgeschlossenen kindlichen Sexualfor- schung und des nicht abschließbaren Vorgangs des Nachdenkens bis zur endgültigen Lösung erscheint deutlich. c) Im dritten Fall kommt es weder zur Denkhemmung noch zum neurotischen Denkzwang. Auch hier wirkt die Sexual- verdrängung, aber sie dringt nicht bis ins Unbewußte, sondern die Libido sublimiert in Wißbegierde und unterstützt dann zu- sätzlich den kräftigen Forschertrieb. Auch in diesem Fall wird das Forschen zur Ersatzhandlung für sexuelle Betätigung. Da aber Sublimierung anstelle von unbewußt Zwanghaftem vorliegt, entsteht keine Neurose. Die Verknüpfung mit dem ursprüngli- chen Komplex der kindlichen Sexualforschung entfällt, der Trieb entwickelt sich ungebunden im Hinblick auf das intellektuelle Interesse. An die ursprüngliche Sexualverdrängung erinnert aber noch, daß einer Beschäftigung mit Themen sexueller Natur ausgewichen wird. Corino glaubt nun, daß Musil dem unter b) genannten Typus zu- zuordnen sei. Die Argumente, die er dafür aufweist, reichen aber nicht aus. Danach ließe sich Musil ebenso dem Typus c) zuord- nen. Corino schreibt anschließend unter Bezugnahme auf den bereits angesprochenen, ganz aus dem Zusammenhang gerisse- nen Satz folgendes: ... es bestürzt fast, wie genau die Freudsche Charakteristik auf den Musil des 'Mann ohne Eigenschaften' zutrifft. ... Und die Verdrängungsmechanismen seines Denkens offenbart Musil unwillkürlich, wenn er gesteht: "Man muß also 2.1.9.3 Machs Thesen _____________________________________________________________ 107 sagen, daß ein Mensch, wenn er nur ein bißchen nachdenkt, gewissermaßen in recht unordentliche Gesellschaft gerät!" 127 Abgesehen davon, daß es nach den hier vorgelegten Untersu- chungsergebnissen abwegig erscheint, Corinos Verknüpfung anzunehmen, könnte man aber gerade auf den umgedrehten Ge- dankengang kommen: Musil habe diesen Text Freuds über den Forscher und Künstler Leonardo da Vinci genauestens gekannt und deshalb in dem betreffenden Satz versteckt eine Gering- schätzung der Freudschen Psychoanalyse zum Ausdruck ge- bracht. Die Pointe wäre dann, daß die unordentliche Gesell- schaft, in die man geraten könne, eigentlich die der Psychoanaly- tiker (wie z.B. Freud) sei, in welcher schon ein wenig Nachden- ken ausreiche, um mit verdrängten sexuellen Trieben in Zusam- menhang gebracht zu werden! Man hätte dadurch einen weiteren Beleg für die offenkundige Aversion Musils gegenüber Freud und dessen psychoanalytischen Methoden, von der in späteren Abschnitten noch zu sprechen sein wird. 2.1.9.3 Machs Thesen In dem zu Beginn des Abschnitts zitierten Romantextstück (S. 113) dürfte Musil auch an seine Dissertation anknüpfen, in der die Machschen Thesen diskutiert und z.T. widerlegt werden. Eine der Hauptthesen des Positivisten Mach war, einen grund- sätzlichen Erkenntniswert der durch physikalische Zusammen- hänge erklärten Begriffe könne es nicht geben. Die wissenschaft- liche Forschung in der Physik bestehe lediglich darin, die beob- achteten Phänomene mit Hilfe von Formeln und Gleichungen in funktionale Zusammenhänge zu bringen und diese dann in öko- nomischer Weise auszunutzen128. Mach hat gleichzeitig den Ver- such unternommen, eine Synthese zwischen Physik und Psycho- logie im Sinne des Positivismus herzustellen129. Dazu erläutert Honold folgendes: Machs Theorie des psychophysischen Mo- nismus nimmt in jener Umbruchssituation der Jahrhundertwende eine Sonderstellung ein, weil sie beide Wissenschaftskrisen auf- nimmt, sowohl den Gegenstandsbereich der Psychologie wie auch den der Physik neu zu gründen und beide zu verbinden ver- 127 Corino Ödipus oder Orest S. 140-141 128 Robert Musil Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs Dissertation Berlin 1908, S. 203 ff. Im folgenden werden Zitate aus der Dissertation Musils mit 'dr' und der Seitenangabe abgekürzt. 129 Vergleiche: Manfred Frank Auf der Suche nach einem Grund. Über den Um- schlag von Erkenntniskritik in Mythologie bei Musil. In: Mythos und Moderne. Be- griff und Bild einer Rekonstruktion Karl Heinz Bohrer (Hg.), Frankfurt a. M. 1983, S. 324-325 2.1.9 Ein Kapitel, das ein jeder überschlagen kann, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine große Meinung hat (28) _____________________________________________________________ 108 spricht. Mach arbeitet in zweifacher Hinsicht an der Durchläs- sigkeit einer Grenze: primär an der Grenze zwischen Ich und Körperwelt, die, monistisch gesehen, zu einem Komplex von "Elementen" verschmelzen, so daß "die Körper und das Ich sich nicht in bestimmter, für alle Fälle zureichender Weise abgrenzen lassen". ... In einer Metatheorie zu dieser Disziplinenaufteilung versucht Mach, das Verhältnis von psychischen und physischen "Elementen", innerer und äußerer Realität jenseits der erkennt- nistheoretischen Dualismen als eine funktionale Zuordnung zu beschreiben. (Honold Die Stadt und der Krieg S. 143-144) Musils Doktorarbeit ist bekanntlich unter gewissen Schwierig- keiten zustande gekommen. Die von Musil eingereichte erste Fassung, die wahrscheinlich einen anderen Titel trug als die letztlich angenommene Arbeit, ist von seinem Doktorvater Carl Stumpf mit bestimmten Auflagen zurückgegeben worden, unter anderem auch deshalb, weil die Schwerpunkte der Arbeit anders gesetzt werden sollten. Trotzdem ist die Dissertation allem An- schein nach nicht zu dem gewünschten ganz zufriedenstellenden Ergebnis gebracht worden. Die Hintergründe für diesen nicht sehr glücklichen Verlauf der Anfertigung der Arbeit werden in dem Aufsatz von Margret Kaiser-El-Safti130 - soweit das heute überhaupt noch möglich ist - ausführlich diskutiert. Sie sollen hier nicht wiederholt werden. Statt dessen wird im folgenden eine sehr kurze Übersicht über die Musilsche Dissertation gege- ben, was leider in anderen Darstellungen unterblieben ist. In Musils Dissertation werden einleitend sechs Thesen des Philo- sophen und Physikers Ernst Mach aus dessen verschiedenartig- sten Schriften131 zusammengestellt. Musil wörtlich folgend lau- ten diese von Mach vertretenen Thesen: 1. Alle Naturwissenschaft beschreibt bloß das Ge- schehene, statt es zu erklären. Zumal sind Naturgeset- ze nichts weiter als tabellarische Beschreibungen der Tatsachen bzw. mathematische Symbole, die solchen Tabellen äquivalent sind, und naturwissenschaftliche Theorien nichts als Zusammenhänge, in die wir solche Tabellen untereinander setzen; unter dem Gesichts- punkt der Erklärung nichts als umfassendere Unver- ständlichkeiten anstelle speziellerer. Weder das ein- zelne Gesetz noch die Theorie sagt mehr als auch die Kenntnis der zugrundeliegenden Erfahrungen für sich schon sagen würde. 130 Margret Kaiser-El-Safti Robert Musil und die Psychologie seiner Zeit. In: Robert Musil – Dichter, Essayist, Wissenschaftler Hans-Georg Pott (Hg.), München 1993, S. 149 ff 131 Siehe Fußnoten und Abkürzungen in: (dr S. 9 ff) 2.1.9.3 Machs Thesen _____________________________________________________________ 109 2. Wie es überhaupt keine Erklärungen gibt, so gibt es insbesondere keine kausalen. Gäbe es selbst kausale Zusammenhänge, so würde man mit ihrer Hilfe be- stenfalls doch nur die Verkettung der Ereignisse kon- statieren, ohne in die Gründe dieser Verkettung blik- ken zu können. Überdies zeigt aber die exakte Natur- forschung, daß es selbst kausale Zusammenhänge nicht gibt. Das Suchen nach solchen war in früheren Entwicklungsstadien der Naturwissenschaft aufgenö- tigt worden, heute hat sie sich bis auf wertlose und hinderliche Reste davon frei gemacht. Ihr wirkliches Ziel ist die Aufstellung funktionaler Beziehungen, welche nicht eine Tatsache als Ursache einer anderen hinstellen, sondern lediglich die Berechnung einer Tatsache aus einer anderen gestatten, welches Ver- hältnis durchaus umkehrbar ist. 3. Mit der Kausalität fällt auch ein wesentlicher Teil der Bedeutung der Ding- bzw. Substanzbegriffe dahin, und die philosophische Hoffnung, aus Substanzbegrif- fen vermittelst der kausalen Beziehungen zwischen den Dingen die Welt der Erfahrung aufzuklären, wird durch den Wegfall der Kausalrelation gewissermaßen mitten entzwei geschnitten. Aber auch an und für sich sind die Substanzbegriffe der Vernichtung verfallen. Denn was sich von Sub- stanzen aussagen ließe, wäre nur ihr gesetzliches Verhalten; die Gesetze, die dieses ausdrücken sollen, haben sich aber zu lediglich funktionalen Beschrei- bungen entwickelt, zu dem Ausdruck viel allgemeine- rer Beziehungen, aus denen die Substanzbegriffe wie gegenstandslos gewordene Zwischensubstitutionen ausgefallen sind. 4. Indem so die Wissenschaft sich von den früher in ihr gesuchten Zielen abgewendet hat, entbehrt sie doch keineswegs letzter Gesichtspunkte. Alles bisheri- ge wird verständlich und alle falschen Voraussetzun- gen schwinden, sobald man in der Wissenschaft nicht mehr als ein im Kampf ums Dasein notwendig gewordenes Mittel zur Beherrschung der Tatsachen sieht, d. h. sie dem Entwicklungsgedanken unterstellt. Alle ihre Gesetze, Begriffe und Theorien erscheinen dann als ökonomische Hilfsmittel, uns mit unserer Umgebung in ein praktisch hinreichendes Verhältnis zu setzen. Versteht man diesen ihren Zweck, so versteht man alles, was es an ihrer Existenz über- haupt zu verstehen gibt. 2.1.9 Ein Kapitel, das ein jeder überschlagen kann, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine große Meinung hat (28) _____________________________________________________________ 110 5. Diese Auffassung leistet überdies unschätzbare Dienste, indem sie das verzweifelte Problem des Verhältnisses zwischen Psychischem und Physischem als sinnlos ergibt. Die Vorstellungen von einer Welt der Körper und einer geistigen Welt sind instinktiv entstanden und sind für eine primitive Orientierung auch von praktischem Werte. Als wissenschaftliche Vorstellungen darf man sie aber nicht höher bewerten als andere und darf ihren Zweck nur in ihrer Eignung zu ökonomischer Orientierung suchen. Erfüllen sie diesen nicht mehr, wie jetzt, wo sie zu dem Stande der Wissenschaft nicht mehr passen und so zu einer Quel- le der Verwirrungen werden, ist es eine methodische Forderung, sie fallen zu lassen. 6. Dies wird durch die Erkenntnis ermöglicht, daß die funktionalen Beziehungen, die den Gleichungen der Naturwissenschaften zugrunde liegen, ohnedies schon Beziehungen zwischen Empfindungen seien, oder wie Mach dies, um jeden dualistischen Anklang zu vermei- den, nennt, zwischen Elementen. Ein Zusammenhang von Elementen, wie Rot, Grün, Druck, Bewegung, liegt unseren Vorstellungen von Körpern zugrunde, und nur ein anderer, weit präzi- serer und fruchtbarerer, aber zwischen prinzipiell eben solchen Elementen bestehender Zusammenhang ist es, der durch die Naturgesetze ausgedrückt wird. Unsere wissenschaftliche Orientierung in der Außen- welt besteht also in nichts anderem als in dem Aufsu- chen von Gleichungen zwischen Elementen. Dies ist somit das aus der hochentwickelten Physik abstra- hierte Ideal der Erkenntnis. Dann kann aber auch die Psychologie, sofern sie wissenschaftliche Festigkeit anstrebt, nur nach der Aufstellung funktionaler Beziehungen trachten, und ihr Substanzbegriff, das Ich, die Seele, fällt dabei ebenso für die wissenschaftliche Bearbeitung weg, wie es mit dem Begriff einer physischen Substanz geschah. Nun sieht Mach als die psychischen Grundelemente, in deren funktionaler Abhängigkeit voneinander das wissenschaftliche Bild des Seelenlebens erfaßt wird, die Empfindungen an. Empfindungen waren aber auch die Elemente des physischen Geschehens: also zeigt sich, daß die Physik und Psychologie ein und dasselbe Objekt haben. (dr S. 5-8) Musil arbeitet zunächst die vierte der vorgestellten sechs Thesen genauer heraus, indem er diese u.a. anhand physikalischer Bei- spiele (Newtons Gravitationsgesetz, Fouriers Wärmestromge- 2.1.9.3 Machs Thesen _____________________________________________________________ 111 setz; die Diffusionsgesetze usw.) erläutert, die ihrerseits wieder- um von Mach selbst stammen. Er versucht dabei Widersprüche aufzudecken, in welche Mach sich zu verstricken scheint. So kritisiert er beispielsweise, Mach behaupte einerseits, die Ent- wicklung eines wissenschaftlichen Gedankens – sofern sie kon- tinuierlich erfolge – sei auch stets ökonomisch, andererseits sage er, bei gleicher Kontinuität könne man doch zu ganz verschiede- nen Resultaten gelangen, zwischen denen dann erst der notwen- dige Ausgleich geschaffen werden müsse (siehe: dr S. 27). Schließlich kommt Musil am Ende des Abschnitts 2 seiner Dis- sertation zu der Ansicht, die Konsequenzen der Machschen Prin- zipien hätten keine weiterführende Tragweite, sondern reduzier- ten sich auf die gewöhnlichen Anschauungen; hätten also keinen eigenen erkenntnisbegründenden, sondern nur illustrierenden Wert (siehe: dr S. 31). Im Abschnitt 3 seiner Arbeit versucht Musil die Machsche Kritik am Erkenntniswert der einzelnen physikalischen Begriffe, wie Energie, Wärme, Raum, Zeit, usw., durch widersprüchliche Aussagen Machs zu entkräften (siehe z.B. dr S. 52 ff). Musil scheint es anschließend im wichtigsten Abschnitt 4 zu gelingen, Machs Ersetzung des Begriffs der Kau- salität durch den Funktionsbegriff lediglich als anderen Namen für dieselben Zusammenhänge im wissenschaftlichen Weltbild zu entlarven. Es heißt in seiner Doktorarbeit: ... Das soll alles an den funktionalen Gleichungen lie- gen. Aber fragen wir uns, was ist Ihnen denn eigent- lich zu entnehmen? Sie zielen auf die Berechnung ge- wisser Merkmale auseinander132 ... . Aber dies ist eine unvollständige Betrachtungsweise. Denn selbstver- ständlich entspricht auch der in einer funktionalen Gleichung ausgedrückten Verknüpfung eine reale Ab- hängigkeit in der Natur, und wenn es gelingt, die Be- griffe Kraft, Substanz, Kausalität u. dgl. auf Grund solcher funktionalen Gleichungen auszugestalten, so wird für diese Begriffe das gleiche gelten. Dabei tut es gar nichts zur Sache, ob diese Begriffe in den speziel- len historischen Formen, die Mach angreift, unhalt- bar sind oder nicht, denn wir haben es hier nicht mit den Resultaten spezieller Bemühungen zu tun, sondern mit deren Existenzberechtigung überhaupt, .. (dr S. 75-76) Daraus geht hervor, daß Musil sich gegen den reinen Funktiona- lismus in Physik und Psychologie wendet. Die Grundtendenz seiner Dissertation besteht in einer ausdrücklichen Argumentati- on gegen Machs trivial-funktionale Beschreibung der Aufgaben 132 Gemeint ist, daß die Merkmale auseinander berechnet werden können. 2.1.9 Ein Kapitel, das ein jeder überschlagen kann, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine große Meinung hat (28) _____________________________________________________________ 112 der Physik und gegen die Rückführung auf substanzlose 'Ele- mente'. Diese deutliche Argumentation gegen Mach scheint Kai- zik bei seinem Studium der Musilschen Dissertation überlesen zu haben, denn er erwähnt in seiner eigenen Arbeit nur, Musil habe sich mit dem funktionalen Charakter der Naturwissenschaft Machscher Konstruktion auseinandergesetzt. Er schreibt: ... Mu- sil weist darauf hin, daß sie nur noch funktionale Gleichungen liefern kann, die die Natur zwar beschreiben, sie aber nicht mehr erklären wollen ... So werden die funktionalen Formeln von me- taphysischen Spekulationen befreit und das Essentielle kann ab- seits von mechanischen Zwängen auf neue Art ins Bewußtsein der Menschen treten133. Gerade gegen die letzteren Aussagen wehrt sich Musil entschieden. Im Nachlaß erörtert er seine Ge- danken dazu in präziser Form am Beispiel des physikalischen Gesetzes des 'Freien Falls': ... ein bestimmter Zustand wird hier nicht als phäno- typisches Faktum angesehen, sondern als eine varia- ble Größe, deren verschiedenes Verhalten bei ver- schiedenen Situationen angegeben wird. Auch das Gesetz des 'Freien Falls' s = gt2/2 wird i. a. in diesem zweiten Sinne aufgefaßt. In dieser zweiten Form wird es besonders deutlich, daß es sich im wesentlichen gar nicht um eine Beziehung zwischen einer 'Ursa- che' u. einer 'Folge' im Sinne zeitlich verschiedener Ereignisse handelt, sondern daß gewisse charakteri- stische Momente eines Geschehenstypus untereinan- der in funktionelle Abhängigkeiten gebracht werden. Das richtige Gefühl für diesen Sachverhalt dürfte für die Thesen des 'Funktionalismus' wesentlich mitbe- stimmend gewesen sein! Wenn die Formel einen physikalischen Sinn bekom- men soll, ist aber notwendig, daß s und t 'Weg' u 'Zeit' bedeuten u darüber hinaus auf einen ganz bestimmten Geschehenstypus 'Freier Fall' Bezug genommen wird. Die Unterordnung eines konkreten Vorgangs unter dieses Gesetz wäre verfehlt, falls es sich z. B. um ein aufgezwungenes Geschehen handelt, auch wenn zufällig die resultierende Bewegung die gleiche wäre. (nl VI/1/131) Im letzten Abschnitt 5 seiner Dissertation macht Musil den Ver- such, Machs Leugnung der Naturnotwendigkeit, die dieser damit begründet, es bestehe eine Scheinnotwendigkeit nur zwischen den idealisierten Begriffen der physikalischen Phänomene, zu widersprechen, indem er betont, die Idealisierungen in der Phy- 133 J. Kaizik, S. 27 ff 2.1.9.3 Machs Thesen _____________________________________________________________ 113 sik seien ja nicht Fiktionen, sondern aus der Wahrnehmung, der Erfahrung der Natur abgeleitet (vergleiche: dr S. 101 ff). Obwohl der Grundton der Musilschen Arbeit einer deutlichen Kritik an Machs Lehren entspricht, so läßt sich doch an der Aus- führlichkeit, mit der Musil die Aussagen Machs vorstellt, und der Vorsicht, mit der er seine Gegenargumente formuliert, her- aushören, wie sehr seine eigene Auffassung in vielem mit derje- nigen Machs übereinstimmt. Im Nachlaß scheint Musil sogar anzudeuten, daß Machs Ansatz - auf solidere Füße gestellt - eventuell sogar weiter verfolgt werden könne. Es heißt dort: ... Betroffen wurden einerseits die atomistische Spe- kulation der Vorgeneration (Verallgemeinerungen auf zu schmaler Basis) andrerseits die naive Verding- lichung von Begriffen wie Kraft, Energie, Gesetz u. dgl., deren sich auch die Physiker oft unklar bedien- ten. Ergebnis war ungefähr, daß alle diese Begriffe an gesichertem Inhalt nur den abgekürzten Ausdruck von Messungen haben. Es ist dies heute noch er- kenntnistheoretisch sozusagen die Basisformel. Die positive, naturphilosophische Auswertung dieses kri- tischen Teils war schwächer. Z. T. wurde sie gar nicht versucht. Vor allem wurde die Analyse der zugrundeliegenden Daten, welche sowohl psycholo- gisch wie physikalisch sind, meines Wissens gar nicht in Angriff genommen oder Versuche wie Machs Ana- lyse der Empfindungen waren völlig unzureichend. Das ist überhaupt eine Arbeit für die Zukunft. (nl VII/11/164) In den Tagebüchern äußert er sich ähnlich: Mach’s populär wissenschaftliche Vorlesungen fielen mir heute zur rechten Zeit in die Hand, um mir das Vorhandensein einer vorwiegend verstandlichen Exi- stenz von trotzdem hoher Bedeutung zu erweisen. Schließlich habe ich ja nie daran gezweifelt – aber ich erlaube mir – mich hiermit nochmals zur Vorsicht zu erinnern! Meine Abkehr vom Verstande ging davon aus und ent- stand dadurch, daß ich annahm: Mag auch der Inhalt des Verstandes fortschreiten, die Erkenntnis sich ent- wickeln, der Typus Verstandesmensch (Gelehrter, Forscher) ist sich durch die ganze Zeit gleich geblie- ben. Etwa um ein Beispiel zu geben: Das 'Menschli- che' in Mach ist heute noch dasselbe, das es in Galilei war. (tg1 S. 20) Interessanterweise nimmt Musil in seinen Tagebüchern keine direkte Stellung zu den Ergebnissen seiner Dissertation. An eini- 2.1.9 Ein Kapitel, das ein jeder überschlagen kann, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine große Meinung hat (28) _____________________________________________________________ 114 gen wenigen Stellen werden sie aber sichtbar. So heißt es im Zu- sammenhang mit Machs Behauptung, der in der Physik gebildete Substanzbegriff habe keine Entsprechung in der Natur, wie folgt: Atomare Physik...: Atomon, das Unteilbare, gehört als Vorstellung in die Kategorie Ding, widerspricht ihr aber schon im Grunde. Es ist das gleiche, wie daß es der makroskopischen Erfahrung widerspricht. Die Unterscheidung von Atomkern, Proton usw. geht wei- ter in der Dingkategorie, die höchstens eine Annähe- rung sein kann, gewonnen aus dem Makroskopischen. Das Doppelbild der Wellenmechanik ist nichts als dieser Widerspruch. Nicht sowohl gegen die klassi- sche Physik als vielmehr gegen die Bindung der Er- scheinungen an die Dingkategorie. Was nur aus Wel- le, Quantelung u. dgl. zu erklären ist, bedeutet eine andere Bindung der Erscheinungen. Kein Wider- spruch, wenn man nach Mach nicht mehr fordert als irgendeine Bindung. Natürlich darf man dann auch nur mit Vorbehalt von Projektilen sprechen u. dgl. Die Schwierigkeiten entstehen aus dem (berechtigten oder nicht) Suchen nach einem dinglichen Modell. Begriffliche Fassung der kleinsten Teilchen als un- teilbar u teilbar? (tg1 S. 788) 2.1.9.4 Geschlecht und Charakter Kehren wir zum anfänglich zitierten Romantext (S. 113) zurück. Am Schluß dieses Textes behauptet der Erzähler, nur wenige Menschen auf der weiten Welt würden von einem so einfachen Ding, wie es Wasser ist, das gleiche denken. Diese wenigen sind vielleicht am ehesten unter den Naturforschern, die 'Wasser' untersuchen, anzutreffen. Allerdings gibt es heutzutage mehrere ganz unterschiedliche Zweige der wissenschaftlichen Erfor- schung von Wasser134, so daß selbst diese Forscher nicht mehr unbedingt das gleiche bezüglich 'Wasser' denken werden. Für den 'Wasserlaien', der sein 'Wasserbild' im wesentlichen aus den Erfahrungen des täglichen Lebens konstituiert, wird es jedoch sehr schwierig, das gleiche zu denken, wenn man sich z.B. die Bedeutungen von Trinkwasser, Wasserglas135 oder Wasserbett überlegt. 134 Forschungszweige sind: Untersuchung kritischer Erscheinungen; Strukturunter- suchungen mit neuartigen experimentellen Methoden und Computersimulationen; Studium des Transport- und Hochdruckverhaltens von Wasser. 135 'Wasserglas' ist auch eine handelsübliche Bezeichnung für wäßrige Lösungen von Alkalisilikaten, z.B. der chemischen Formel M4SiO4. M steht hier allgemein für Metall, Si für das Element Silicium. Vergleiche: Holleman-Wiberg, S. 330 2.1.9.4 Geschlecht und Charakter _____________________________________________________________ 115 Der Erzähler hielt es vielleicht doch eher mit den Laien, wie aus den anschließenden Gedanken seines Protagonisten Ulrich an Clarisse hervorgehen dürfte: Und nun erinnerte sich Ulrich auch, daß er alles wirklich Clarisse erzählt hatte, und sie war ungebildet wie ein kleines Tier, aber ungeachtet allen Aberglau- bens, aus dem sie bestand, fühlte man undeutlich eine Einheit mit ihr. (S. 113) Eigenartig an diesem Text ist der Vergleich Clarissens mit einem kleinen Tier, der vielleicht abfällig gemeint sein könnte. Mögli- cherweise war Musil von dem 1903 erschienenen Buch Weinin- gers beeinflußt136. Eine der fragwürdigen Grundthesen der Mo- nographie Weiningers besagt, daß jeder Mensch aus soundsoviel männlichen und soundsoviel weiblichen 'Eigenschaften' bestehe. Zitat: Vom Menschen aber gilt ohne Zweifel folgendes: Es gibt unzählige Abstufungen zwischen Mann und Weib‚ 'sexuelle Zwischenformen'. .... So können wir einen idealen Mann M und ein ideales Weib W, die es in Wirklichkeit nicht gibt, aufstellen als sexuelle Typen. Diese Typen können nicht nur, sie müssen konstruiert werden. ... Es gibt nur alle möglichen vermittelnden Stufen zwischen dem vollkommenen Manne und dem vollkommenen Weibe, Annäherungen an beide, die selbst nie von der Anschauung erreicht werden. ... Also Mann und Weib sind wie zwei Substanzen, die in verschiedenem Mischungsverhältnis, ohne daß je der Koeffizient der einen Substanz Null wird, auf die lebenden Individuen verteilt sind. Es gibt in der Erfahrung nicht Mann noch Weib, könnte man sagen, sondern nur männlich und weiblich. Ein Individuum A oder ein Individuum B darf man darum nicht mehr schlechthin als 'Mann' oder 'Weib' bezeichnen, sondern ein jedes ist nach den Bruchteilen zu be- schreiben, die es von beiden hat, etwa: A   M; 1 W  B   W; 1 M . Wobei stets gilt: 0    1 0    1 0  1  1 0  1  1. ... Den umfassendsten Beweis für die hier verfochtene Anschauung liefert aber die große Schwankungsbreite der Zahlen für geschlechtliche Unterschiede, die in- 136 Auch Honold hält es im Zusammenhang mit einer anderen Fragestellung für wahrscheinlich, daß Musil zumindest Weiningers Buch kannte. Vergleiche: Honold Die Stadt und der Krieg S. 152 (einschließlich der Fußnote 40) 2.1.9 Ein Kapitel, das ein jeder überschlagen kann, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine große Meinung hat (28) _____________________________________________________________ 116 nerhalb der einzelnen Arbeiten wie zwischen den ver- schiedenen anthropologischen und anatomischen Un- ternehmungen zur Messung derselben ohne Ausnahme anzutreffen ist, die Tatsache, daß die Zahlen für das weibliche Geschlecht nie dort anfangen, wo jene für das männliche aufhören, sondern stets in der Mitte ein Gebiet liegt, in welchem Männer und Frauen ver- treten sind. 137 Der entscheidende Punkt bei Weiningers Überlegungen, auf den auch Honold (Die Stadt und der Krieg S. 153-154) nicht explizit hinweist, ist doch wohl, woher denn Weininger den Idealwert für M und W nimmt, wie er denn festlegen will, was 'vollkommen Weib' bzw. 'vollkommen Mann' zu nennen ist. Gerade das ist aber der entscheidende Unterschied zu seinem selbst gewählten Beispiel aus der Physik. Er nennt das 'Ideale Gas-Gesetz' 138, damals auch als 'Boyle-Gay-Lussac-Gesetz' bezeichnet, und sagt ganz richtig, daß dieses von keinem wirklichen Gas erfüllt wer- de. Aber anders als in seinem eigenen Ansatz sind die idealen Eigenschaften dieses Gases physikalisch genau definiert und aufzählbar. Weininger müßte aber die Idealwerte für M und W ganz willkürlich aus der Tendenz der einzelnen Anteile extrapo- lieren, und wäre damit wieder am Ursprung seiner ganzen Über- legungen angekommen. Freud macht mit Recht auf die theore- tisch sehr schwierige Unterscheidung von männlich und weiblich aufmerksam. Er schreibt: Es ist unerläßlich, sich klarzumachen, daß die Begriffe 'männlich' und 'weiblich', deren Inhalt der ge- wöhnlichen Meinung so unzweideutig erscheint, in der Wissen- schaft zu den verworrensten gehören und nach mindestens drei Richtungen zu zerlegen sind. Man gebraucht männlich und weib- lich bald im Sinne von 'Aktivität' und 'Passivität', bald im biolo- gischen und dann auch im 'soziologischen' Sinne. ... (Freud, SA, Bd. V, S. 123) Weininger versteigt sich dann im Laufe seiner Dissertation zu Behauptungen, das ideale Weib könne keinen Eigenwert und keine Persönlichkeit besitzen. Einige Zitate dazu folgen: Woher kann nun die weibliche Art der Eitelkeit einzig stammen? Sie fällt zusammen mit dem Mangel des intelligiblen Ich, des stets und absolut positiv Bewer- teten, sie erklärt sich aus dem Fehlen eines Eigen- wertes. Da sie keinen Eigenwert für sich selbst haben, trachten sie Objekt der Wertung anderer zu werden, 137 Otto Weininger Geschlecht und Charakter: eine prinzipielle Untersuchung Wien 1917, S. 9-11 138 Die Zustandsgleichung für das ideale Gas ist gemeint, auf welche im Laufe dieser Arbeit noch mehrfach eingegangen wird. 2.1.9.4 Geschlecht und Charakter _____________________________________________________________ 117 ... Das Weib, das im Grund namenlos ist, ist dies, weil es, seiner Idee nach, keine Persönlichkeit besitzt. Damit hängt endlich noch die wichtige Beobachtung zusammen, ... Wenn in einem Raum, in dem ein Weib sich befindet, ein Mann tritt und sie ihn erblickt, sei- nen Schritt hört oder seine Anwesenheit auch nur ahnt, so wird sie sofort eine ganz andere. ... Seele, Persönlichkeit, Charakter ist aber - hierin liegt eine unendlich tiefe, bleibende Einsicht Schopenhauers - identisch mit dem freien Willen oder es deckt sich wenigstens der Wille mit dem Ich insofern, als dieses in Relation zum Absoluten gedacht ist. Und fehlt den Frauen das Ich, so können sie auch keinen Willen besitzen. ... (Weininger, S. 253, S. 260) Zu Weiningers Werk fügen sich, wenn auch in ganz abge- schwächter Form, die folgenden Bemerkungen Musils in seinen Tagebüchern: Die Intelligenz mancher Frau: Nur eine Erschei- nungsform des Geschlechtstriebs. Verschwindet nach den Wechseljahren. ... Genesis: möchte – kann nicht – projiziert es in das Idealbild des anderen – fixiert ihn. Oder alles enthalten in: die Frau ist zurückhal- tender (weil schwächer)? Oder: der Mann verhehlt angeblich weibliche, die Frau angeblich männliche Eigenschaften? (tg1 S. 744; S. 837) Musil hat aber Weininger nicht persönlich gekannt (Corino, pri- vate Mitteilung 2002). Die im folgenden zitierte Tagebuchbe- merkung bezieht sich auf Richard Weininger, den Bruder Ottos: ... Der Fremde: am ehesten etwas an Weininger erinnernd, aber sympathisch. Er und ich haben ein beherrschtes Verhältnis zueinander ... (tg2 S. 1216) Ulrich fühlte sich andererseits stark mit Clarisse verbunden, und zwar auch in den späteren, schlimmeren Phasen ihres Wahn- sinns, wie Wagner-Egelhaaf beobachtet hat. Sie kennzeichnet das Verhältnis von Ulrich zu Clarisse folgendermaßen: ... Claris- se ist ... für Ulrich ein hermaphroditisches Wesen. ... Für Ulrich läßt sich aus der Attraktion, die Clarisse für ihn darstellt, eine geheime Ausrichtung auf den schöpferischen Augenblick künstle- rischen Schaffens, die Inspiration, lesen. Obwohl er Clarisse als geisteskrank erkennt, stellt er fest, daß ihre Aussprüche "man- chen seiner eigenen bedenklich ähnlich waren", und noch im fortgeschrittenen Stadium ihrer Krankheit fühlt er sich in Claris- sens Gesellschaft wohl "wie schon lange nicht". (Wagner- Egelhaaf Mystik der Moderne S. 136) 2.1.10 Ein heißer Strahl und erkaltete Wände (34) _____________________________________________________________ 118 2.1.10 Ein heißer Strahl und erkaltete Wände (34) 2.1.10.1 Schwerpunktsbewegung Nachdem Ulrich mit seiner hauptsächlich sexuellen Freundschaft zur 'guten Göttin' Bonadea139 gerade Schluß gemacht hatte, fühl- te er eine gewisse Leere um sich. Es heißt im Roman: Alles, was man fühlt und tut, geschieht irgendwie 'in der Richtung des Lebens', und die kleinste Bewegung aus dieser Richtung hinaus ist schwer oder erschrek- kend. Das ist schon genau so, wenn man einfach nur geht: man hebt den Schwerpunkt, schiebt ihn vor und läßt ihn fallen; aber eine Kleinigkeit daran verändert, ein bißchen Scheu vor diesem Sich-in-die-Zukunft- Fallenlassen oder bloß Verwunderung darüber - und man kann nicht mehr aufrecht stehn! Man darf nicht darüber nachdenken. (S. 128) Der Text erinnert an Kleists Aufsatz Über das Marionettenthea- ter, wo unter anderem auch vom Schwerpunkt die Rede ist, den man richtig bewegen müsse, wenn man eine Marionette 'leben- dig' führen wolle. Dieser schwerpunktsbewegende Vorgang müsse so mechanistisch vor sich gehen, daß dem Puppenführer keinerlei Nachdenken dabei erlaubt140 und dadurch ein Höchst- maß an Grazie und Eleganz für die Puppenbewegung gewonnen werde. Der Schwerpunkt eines Körpers ist sein Massenmittelpunkt. Zu jeder Massenverteilung eines Körpers gehört genau ein Schwer- punkt. Seine Bedeutung liegt in folgendem: die Summe aller Schwerkräfte auf die einzelnen Teile des Körpers läßt sich auf eine einzige Kraft zusammenziehen, die dann im Schwerpunkt angreift und die Gesamtgewichtskraft darstellt. Beim Gehen ist vor allem darauf zu achten, den Schwerpunkt des Körpers 'richtig' zu verlagern. Dazu sind zwei Vorgänge wichtig: i) das Anheben und Verlagern des Schwer- punktes nach vorn; 139 Vielleicht hat Musil auch Ea von Allesch, mit welcher er befreundet war, partiell als Vorbild für seine Romanfigur Bonadea gewählt, da EA auch in BONADEA (gute Göttin) vorkommt, und Musil in der Auswahl seiner Namen mindestens so findig war wie etwa Thomas Mann. Vergleiche aber dazu: Corino Robert Musil S. 304-305 140 Heinrich von Kleist Sämtliche Werke. Über das Marionettentheater. S. 980-987 2.1.10.1 Schwerpunktsbewegung _____________________________________________________________ 119 ii) das Sinkenlassen des Schwerpunktes in seine ursprüngliche, aber nach vorn ver- setzte Lage. Die folgende Abbildung 28 veranschaulicht skizzenhaft diese Verlagerung: Abbildung 28 Stark schematisierte Darstellung der Schwerpunktsbewegung beim Gehen. Der Schwerpunkt S ist etwa in Beckenhöhe eingezeichnet, wie es dem mensch- lichen Körper angenähert entspricht. Bei völlig aufrechtem Stand liegt der Schwerpunkt unmittelbar vor dem fünften Lendenwirbel. Vergleiche: Herbert Lippert Lehrbuch Anatomie München 1996, S. 732 Wir erzielen diese Bewegung in natürlicher Weise durch Anhe- ben und Verlagern unseres ganzen Körpers nach vorn, wobei wir - wie Musil richtig feststellt - für einen Moment, nur auf den Ze- hen des einen Fußes (Standbein) stehend, einen Zustand labilen Gleichgewichts einstellen (mittlere Skizze der Abb. 28). An- schließend aber federt der zweite Fuß (Spielbein) die Vorwärts- bewegung, die in ein Hinunterfallen des Körpers mündet, weich genug ab. Für das Zusammenspiel der Bewegungen ist nicht nur die starke Beinmuskulatur notwendig, sondern auch eine mächti- ge Hüftmuskulatur. Beim Gehen werden namentlich die Beuge- und Streckmuskeln der Hüfte abwechselnd angespannt. Zusätz- lich notwendig ist eine seitliche Ausgleichsbewegung des Kör- pers, die erfolgen muß, wenn das Spielbein angehoben wird, und ein Umfallen zur Seite verhindert werden soll. Der Schwerpunkt muß dabei gleichzeitig mit dem Anheben des Spielbeins zur Standbeinseite hin verschoben werden. Allerdings spielt diese Ausgleichsbewegung eine immer geringere Rolle, je schneller die Gehbewegung verläuft. Beim schnellen Gehen wird die Pha- se, in welcher der Spielbeinfuß ohne Bodenkontakt bleibt, sehr 2.1.10 Ein heißer Strahl und erkaltete Wände (34) _____________________________________________________________ 120 klein, so daß der Gesamtbewegungsablauf keine wesentliche Querbewegung mehr erfordert. Beim Laufen ist eine Aus- gleichsbewegung des Körpers nicht mehr nötig. Doch ergeben sich hier durch das kräftige Abstoßen zusätzliche Flugphasen, in denen sich beide Beine in der Luft befinden. Der Schwerpunkt des Körpers bewegt sich deshalb beim Laufen höher über dem Boden als beim Gehen.141 2.1.10.2 Fernglasbeobachtung und Turbulenz Wie detailliert Musil die Dynamik des Gehens studiert hat, zeigt eine seiner 'Unfreundlichen Betrachtungen' Triedere142. Darin beschreibt er Beobachtungen mit dem Prismenfernglas, die er an den verschiedenen, meist sich vorwärtsbewegenden Menschen macht. In der Forschung wird im allgemeinen die voyeuristische Kom- ponente dieser Fernglasbeobachtungen hervorgehoben. Honold schreibt: ... (Dies) wird erst durch die parallele Lektüre des 1926 erschienenen Prosatexts 'Triedere' deutlich, welcher einige der in der Fensterszene des Romans nahezu verwischten Spuren noch sehr viel ausgeprägter erkennen läßt. Akteur ist in dieser Skizze ein namentlich nicht gekennzeichneter männlicher "Beob- achter", der durch ein Trieder, ein Prismen-Fernrohr, einen Platz143 mustert, der unschwer als das Eckhaus Rasumofskygasse 20 zu erkennen ist. ... In der Versuchsanordnung von Triedere wird die Vergrößerung isoliert wahrgenommener Details zum Vehikel einer Bildgewalt der doppelten Enthüllung: die Entblö- ßung der "dem gewöhnlichen Auge" verborgenen "Landschaft der Liebe" offenbart mit den weiblichen Körperformen zugleich die männliche Enthüllungslust. "Überlebensgroß" deutlich scheint bei diesem neocartesianischen Versuch, unter die Ober- fläche von Hüten und Kleidern zu dringen, die subjektive Projek- tion im objektiv Wahrgenommenen auf. (Honold Die Stadt und der Krieg S. 150-151) 141 Herbert Lippert Lehrbuch Anatomie München 1996, S. 695 u. S. 731-732 142 Musils Wort Trieder ist uns nur in wenigen Nachschlagewerken begegnet. Welche Bedeutung ihm im Zusammenhang mit dem Prismenfernglas zukommt, erscheint unklar. Unter einem Tetraeder versteht man einen symmetrischen, pyramidenartigen Körper mit vier gleich großen Flächen. Einen ähnlichen Körper mit nur drei gleichen Flächen kann es aber nicht geben. Wahrscheinlich deutet das Wort aber doch auf eine Verwendung bestimmter Prismen mit drei gleichen optisch aktiven Ebenen hin. 143 Im Originaltext steht den Ausblick auf einen Platz. Da dies aber wohl schwerlich möglich ist, dürfte wahrscheinlich den Ausblick auf nicht herausgestrichen worden sein. 2.1.10.2 Fernglasbeobachtung und Turbulenz _____________________________________________________________ 121 So "schlicht und einfach", wie Honold vermutet144, ist jedoch ein Prismenfernglas (Feldstecher) nicht aufgebaut. Immerhin müssen zur Erzeugung aufrechter Bilder sog. Prismen-Umkehrsysteme verwendet werden. In der folgenden Abbildung 29 wird schema- tisch sowohl der Aufbau eines Prismenfernglases als auch der des Prismen-Umkehrsystems gezeigt: Abbildung 29 Der obere Teil der Abbildung zeigt Aufbau und Strahlengang eines Prismenfernglases (Feldstecher). Das Fernglas besteht im Prinzip aus einem Objektiv, wel- ches ein Zwischenbild auf das Okular wirft. Durch letzte- res wird dann das vergrößerte Zwischenbild betrachtet. Zur räumlichen Verkleinerung des Strahlenganges und zur Er- zeugung eines aufrechten Bildes schaltet man ein sog. Pris- men-Umkehrsystem zwischen Objektiv und Okular. Im un- teren Teil der Abbildung sind System und zugehöriger Strahlengang genauer aufgezeichnet. Die dabei entstehende Versetzung des Strahles ist deutlich zu erkennen. Verglei- che: Bergmann-Schaefer Lehrbuch der Experimentalphy- sik. Optik Bd. 3, Berlin 1993, S. 172-179 Wagner-Egelhaaf145 schreibt zur weiteren Charakterisierung der Triedere-Betrachtung folgendes: Der Erzähler unternimmt den 'Versuch', im doppelten, mit allen wissenschaftlichen Konnota- tionen des Experiments versehenen Wortsinn, die ihm vertraute 144 Alexander Honold Auf dem Fliegenpapier: Robert Musil im Ersten Weltkrieg Literatur für Leser, Bd. 20 (1997), S. 237 145 Wagner-Egelhaaf, Poetica 23 (1991), S. 253-254 2.1.10 Ein heißer Strahl und erkaltete Wände (34) _____________________________________________________________ 122 Umgebung mit einem Fernglas zu betrachten. Der Text parodiert den Ton einer wissenschaftlichen Abhandlung, ... Der Beobach- ter also holt sich verschiedene Gegenstände seiner vertrauten Wahrnehmung vor ... das Fernrohr ... . Er macht dabei überra- schende Entdeckungen, ... Der fokussierende Blick des Triederes vergrößert und verfremdet die Bilder der Wirklichkeit ... (Schließlich) kommt der Erzähler zu dem doppelsinnigen Schluß, daß das Fernglas sowohl zum Verständnis der einzelnen Men- schen als auch zu einer sich vertiefenden Verständnislosigkeit für das Menschsein beitrage. Zum Akt des Gehens stellt Musil im Triedere folgendes fest: ... Ganz anders das Trieder! Unerbittlich hält es darauf zu zeigen, wie lächerlich sich die Beine oben von den Hüften abstoßen und wie täppisch sie unten auf Absatz und Sohle landen; das schwankt nicht nur unmenschlich und kommt mit dem dicken Ende zuerst an, sondern vollführt auch dazwischen meistens noch die aufschlußreichsten persönlichen Grimassen. ... (pr S. 522) Zum Glück weiß man von diesen Teilvorgängen beim Gehen nichts und will es auch nicht wissen. Denn sobald man eine 'Ge- brauchsanweisung' für die Schwerpunktsbewegung tatsächlich bewußt anwenden würde, könnte man - wie Musil sich im dmoe ausdrückt - nicht mehr aufrecht stehn. Eben dies dürfte bei Kleist gemeint sein, wenn er über die lebendige Führung der Marionet- tenpuppen spricht oder das Beispiel des Knaben anführt, der ver- geblich versucht, den anmutigen Anblick seiner Körperhaltung im Spiegel beim Abtrocknen seines auf einen Schemel gestellten Fußes bewußt zu reproduzieren146. Vor dem Hintergrund von Chaos-Ordnungs-Theorien147 und Si- mulationen fraktalen Wachstums148 schildert Enzensberger aus moderner wissenschaftlicher Sicht ironisch ebenfalls den Vor- gang des Gehens in seinem Essay Gangarten. Ein Nachtrag zur Utopie wie folgt: ... Dr. Renner, unser rotblonder Physiklehrer hatte sich ... mit einer Arbeit über die Physik des Gehens habilitiert. Die Wissenschaft, behauptete er, habe bis dahin vor einem Rätsel gestanden, auch er selber ma- ße sich nicht an, eine stichhaltige Erklärung dafür ge- funden zu haben, wie eine derart turbulente Form der 146 Kleist Über das Marionettentheater S. 985 147 Bergmann-Schaefer Mechanik. Relativität. Wärme. Bd. 1, 1998, S. 577-585 u. S. 640-657 148 Helmut Vogel Gerthsen Physik Berlin 1999, S. 993-997 2.1.10.2 Fernglasbeobachtung und Turbulenz _____________________________________________________________ 123 Fortbewegung überhaupt möglich sei. Ganz abgese- hen von den Anforderungen, die der aufrechte Gang an Gleichgewichtssinn und Koordinationsvermögen stelle, ... sei schon die reine Kinetik des Gehens so komplex, daß sie sich nur in ganz grober Annäherung, ausgehend von der Theorie des Kreisels149, berechnen lasse. Eigentlich handele es sich um eine Art von Taumel; der aufrechte sei ein äußerst prekärer, schwankender, stets von Katastrophen bedrohter, ge- wissermaßen schlitternder Gang. Grübelnd verließen wir die Schule, indem wir vorsichtig, ja geradezu un- geschickt, einen Fuß vor den andren setzten; ein Bei- spiel dafür, um mit Kleist zu reden, "welche Unord- nungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewußtsein anrichtet".150 Enzensbergers Einschätzung dieser hochkomplizierten Bewe- gungsform des aufrechten Gangs scheint dabei von derjenigen Musils gar nicht so weit entfernt zu sein. Sie stimmt des weiteren auch gut mit dem überein, was Kleist über den Ablauf solch schwieriger Bewegungen dachte, wie Enzensberger durch sein Kleist-Zitat deutlich macht. Das Zitat entstammt der vorher be- reits genannten Abhandlung Über das Marionettentheater, und steht unmittelbar vor der Geschichte über den anmutigen Jüng- ling. Allerdings dürften die politischen Konnotationen151, deret- wegen Enzensberger sich für diese 'Gangart' hauptsächlich inter- essierte, Musils Intentionen ziemlich fern gelegen haben. Die in Enzensbergers Text erwähnten turbulenten, taumelnden und von Katastrophen bedrohten Bewegungen beim gehen ent- stammen dem Fachdiskurs der 'Chaostheorien'. Die Grundlagen dieser Theorien können im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht befriedigend dargestellt werden. Zur groben Orientierung sollen aber die folgenden ausgewählten theoretischen Erörterun- gen dienen. 149 In der Physik versteht man unter einem Kreisel einen starren Körper beliebiger Form, der in einem Punkt drehbar gelagert ist, und um diesen Punkt Drehbewegun- gen ausführt. Der Kreisel vollführt dabei eine komplizierte kreisende Bewegung unter Ausnutzung der drei möglichen rotatorischen Freiheitsgrade. Kennzeichnend für die Kreiselbewegung ist die Wanderung der momentanen Drehachse, also der Drehimpulsachse. Die Kreiselbewegung wird durch die Eulerschen Kreiselgleichun- gen beschrieben, wobei die Lage des Kreisels im Raum durch die Eulerwinkel ange- geben wird. Die Eulerschen Gleichungen lassen sich nur für Spezialfälle lösen. (Siehe z.B.: DTV-Lexikon d. Physik, Bd. 5, S. 137) 150 Hans Magnus Enzensberger Gangarten. Ein Nachtrag zur Utopie. Kursbuch, Heft 100, 1990, S. 1 151 Siehe dazu: Jürgen Link Versuch über den Normalismus Opladen 1996, S. 44 2.1.10 Ein heißer Strahl und erkaltete Wände (34) _____________________________________________________________ 124 In flüssigkeitsdurchströmten Röhren oder ähnlichen Behältern beobachtet man bei genügend kleinen Strömungsgeschwindig- keiten laminare (glatte) Strömung, bei großen Geschwindigkei- ten turbulente (verwirbelte) Strömung. Diese Phänomene sind jedem bekannt, der den Wasserhahn zunächst nur leicht öffnet und ruhig ausfließendes Wasser beobachtet, dann den Hahn stark aufdreht und einen unregelmäßigen, mit großen Wirbeln durch- setzten Wasserstrahl bekommt. In Abbildung 30 findet man zur Veranschaulichung eine Photographie turbulent strömenden Wassers, das mit Aluminiumpulver gemengt wurde: Abbildung 30 Photographie einer Suspension aus Wasser und Aluminiumpulver. Die Suspension durchströmt turbu- lent einen Glasbehälter. Die Verwirbelungen werden durch die Seitenwand des Gefäßes gezeigt. Der Betrag der Strömungsgeschwindigkeit ist hier 12 cm/s. Bergmann- Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 578 Physikalisch-theoretisch ist der Übergang von laminarem zu tur- bulentem Fließen sehr schwer zu untersuchen und noch schwerer zu verstehen. Maßgeblich für die beiden Strömungsformen ist die Strömungs- geschwindigkeit v(r,t), welche, wie hier formelmäßig angedeutet, von Ort und Zeit abhängt. Von laminarer Strömung spricht man, wenn sich v(r,t) regelmäßig und berechenbar in Abhängigkeit von Ort und Zeit verändert, von turbulenter Strömung, wenn v(r,t) ganz unregelmäßig und unberechenbar wird. Eine grundle- gende Bilanzgleichung, welche (unter bestimmten Bedingungen) die Strömungsgeschwindigkeit zu berechnen gestattet, ist die in der Physik seit langem bekannte Navier-Stokes-Gleichung (s. Abschnitt 2.1.2.5 der vorliegenden Arbeit). In der Vergangenheit wurde diese Gleichung allerdings nur für die laminare Strömung angewandt, für die Turbulenz interessierte man sich weniger. Das Studium des Übergangs vom laminaren (Ordnungszustand) zum turbulenten Fließen (chaotischer Zustand) stellt sich jedoch 2.1.10.2 Fernglasbeobachtung und Turbulenz _____________________________________________________________ 125 aufgrund der sehr komplizierten differentiellen Form dieser Na- vier-Stokes-Gleichung als äußerst schwierig dar. Man kann aber mittels sog. Stabilitätsanalysen unter der Annahme bestimmter Reynolds-Zahlen und geeigneter Randbedingungen herausfinden, ob eine Lösung der Gleichung, also eine errechnete Strömungs- geschwindigkeitsverteilung zu einer laminaren oder turbulenten Strömung gehört. Die Reynolds-Zahl ist dabei eine für die Strö- mungsverhältnisse charakteristische dimensionslose Zahl, die im wesentlichen dem Quotienten aus Strömungsgeschwindigkeit und Zähigkeitskoeffizient der Flüssigkeit entspricht.152 In den letzten Jahren wurden einfacher zu behandelnde Differen- tial- bzw. Differenzengleichungen gefunden, die ebenso wie die Navier-Stokes-Gleichung 'deterministisch' sind, aber gleichzeitig unter bestimmten Randbedingungen chaotische Lösungen be- inhalten. Man hoffte anhand dieser Modellgleichungen zumin- dest teilweise den Übergang vom 'Ordnungszustand' (laminare Strömung) zum 'Chaos' (turbulente Strömung) studieren und ver- stehen zu können. Es handelt sich dabei um das deterministische bzw. raumzeitliche Chaos, welches sich insgesamt einfacher un- tersuchen läßt als die Turbulenz. Eine dieser deterministischen nichtlinearen Gleichungen ist die logistische Funktion: xn+1 = r xn (1 - xn) , wobei xn der Wert der Größe x (im Intervall 0, 1 ) nach n Zeit- schritten ist, und r eine positive Zahl bedeutet. Iteriert man diese Funktion für bestimmte r solange, bis sich am Ergebnis x  = xn (n ) nichts mehr ändert, so erhält man einen Bereich, in dem Bifurkationen (Verzweigungen) der Kurve stattfinden. Der Ver- lauf dieser Funktion findet sich in der folgenden Abbildung 31: Abbildung 31 Bifurkationskaskade der im Text angege- benen logistischen Funktion. Der Wert von xn für n ist entweder ein eindeutiger Grenzwert oder er wechselt bei 152 Vergleiche: Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 514-517 2.1.10 Ein heißer Strahl und erkaltete Wände (34) _____________________________________________________________ 126 jeder Iteration zwischen geraden Iterationszahlen, also 2, 4, 8, 16 usw., oder schwankt ganz unregelmäßig im Bereich: 0  x  1. Wie dem Funktionsschaubild zu entnehmen ist, bleibt der Wert zunächst konstant gleich 0, dann steigt er monoton an, und bei Werten größer oder gleich 3 gibt es Bifurkationen an den Stellen rN. Für größere Werte als r* = 3,569945 stellen sich unendlich viele verschiedene Werte für x  ein, mit Ausnahme bestimmter 'periodischer Fenster' im Bereich r  4. Diese periodischen Fenster stellen einen Übergangszustand dar, der weder ganz regelmäßig noch ganz chaotisch ist. Der Zustand zeigt gewisse geordnete periodische Strukturen. Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 584 Das erstaunliche Verhalten dieser Funktion wurde von Mitchell Feigenbaum weiterführend untersucht. Er fand für gewisse Klas- sen von Gleichungen ein universelles Verhalten in der Form, daß bestimmte Verhältnisse der Funktionswerte immer wieder auf- tauchen. Er konnte schließlich ein graphisches Verfahren ange- ben, mit dessen Hilfe derartige Funktionen direkt zu 'berechnen' bzw. zu zeichnen sind. Diese Ergebnisse lassen sich durch Analogie auf die vorher be- sprochenen Strömungsverhältnisse übertragen. Identifiziert man die Strömungsgeschwindigkeit mit der Größe x  , die 'reduzierte' Reynolds-Zahl mit der Größe r, dann gibt die Bifurkationskaska- de der Abbildung 31 den Übergang vom laminaren zum turbu- lenten Fall qualitativ richtig wieder: laminare Strömung unter- halb von r = 1 (v = 0), teilweise wirbelartige Strömung im Bereich 1  r  3,5 und Turbulenz für größere Werte als 3,57 (s. Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 585). Es sei abschließend noch auf die anfangs erwähnten Fraktale eingegangen, die ebenfalls mit der Erforschung des Übergangs von 'Ordnungszuständen' zu 'Chaoszuständen' zu tun haben153. Die meisten Naturgebilde zeigen selbstähnliche oder skaleninva- riante Formen, d.h. ein vergrößerter Ausschnitt hat im wesentli- chen dieselbe charakteristische Struktur wie das Ganze. Ein Bei- spiel von vielen ist die Form einer Küstenlinie. Je stärker man sie auflöst, also den Maßstab vergrößert, desto mehr Vorsprünge und Buchten sind erkennbar, und dennoch bleibt die Linie bei jeder Vergrößerung sich selbst ähnlich. Unter solcher Selbst- ähnlichkeit steigt die Länge der Linie bei Vergrößerung des Aus- schnitts nicht dem Maßstab entsprechend, sondern nur um einen 153 Siehe: Benoît B. Mandelbrot Die fraktale Geometrie der Natur R. Zähle, U. Zäh- e (Übers.), U. Zähle (Hg.), Basel 1991, S. 37-95; S. 224-295; S. 357-400 2.1.10.3 Fliegenpapier und Entropie _____________________________________________________________ 127 konstanten Faktor. Die Zunahme läßt sich in einem Exponential- term ausdrücken, in dem der Exponent einer sog. Hausdorff- Dimension154 entspricht. Die Hausdorff-Dimension nimmt bei derartigen Gebilden in der Regel den Wert eines Dezimalbruchs an, weshalb man schließlich von Fraktalen spricht. In der fol- genden Abbildung 32 ist das Ergebnis einer Computersimulation fraktalen Wachstums unter verschiedenen Randbedingungen dargestellt. Die Ähnlichkeit der Strukturen erscheint deutlich, wobei hier für die zweidimensionalen Simulationen eine Haus- dorff-Dimension von ca. 1,5 vorliegt. Abbildung 32 Auf einem Rechner simuliertes fraktales Wachstum. Teilchen lagern sich zufällig mit einer be- stimmten Wahrscheinlichkeit an einen Keim an. Die Wahr- scheinlichkeit des Anlagerns wurde für das linke Bild nur um 5% gegenüber derjenigen rechts im Bild geändert. Für die Erzeugung von Fraktalen auf der Ebene des Computer- bildschirms gilt eine Hausdorff-Dimension von ca. 1,5. Vergleiche: H. Vogel, S. 993-997 2.1.10.3 Fliegenpapier und Entropie In dem Romantext (S. 128), der zu Anfang dieses Abschnitts zitiert wurde, vergleicht der Erzähler die Kunst des Gehens auch mit derjenigen der Lebensführung. Auffällig erscheint dabei der Ausdruck in der Richtung des Lebens, der zudem auch in Anfüh- rungsstriche gesetzt ist. Unser Leben hat im Grunde nur eine feststellbare Richtung, diejenige zum Tode. Bei jedem Prozeß einer Lebensäußerung, selbst dem unscheinbarsten, gibt es nichtumkehrbare (irreversible) Anteile. So altern wir ständig und unanhaltbar. Die Gesamtunordnung unseres individuellen 'Le- benssystems' nimmt ständig und irreversibel zu, die Entropie - in der statistischen Mechanik als physikalisches Maß für den Un- ordnungsgrad erklärt - wächst dem zweiten Hauptsatz der Ther- 154 H. Vogel, S. 993 2.1.10 Ein heißer Strahl und erkaltete Wände (34) _____________________________________________________________ 128 modynamik155 entsprechend immer weiter an. Das Leben zersetzt sich selbst. In Musils makaberem 'Bild' Das Fliegenpapier (pr S. 476-477) findet man ähnliche, aber wesentlich erschreckendere Hinweise auf diese verborgene, unabwendbare, allmähliche Auslöschung des Lebens durch sich selbst. Darin wird der zähe Kampf der Stubenfliegen (siehe Abbildung 33, S. 128), die an einem Flie- genpapier haften geblieben sind, gegen ihr langsames Zugrun- degehen bis ins Detail beschrieben. Eben dadurch, daß die Tiere sich mit der ihnen zur Verfügung stehenden ganzen Kraft gegen den Untergang stemmen, beschleunigen sie ihn noch. Abbildung 33 Photographie 'unserer' Stubenfliege (♀). Gut erkennbar ist ein Exemplar des leistungsfähigen Kom- plexaugenpaars. Die Stubenfliege (Musca domestica) gilt als Prototyp der Fliegen überhaupt, gehört zur Familie der Echten Fliegen und der Ordnung der Zweiflügler (Dipte- ra). Im Gegensatz zu anderen Insekten ist das hintere Flü- gelpaar bei den Diptera zu Schwingkölbchen, den sog. Hal- teren, umgebildet. Durch diese Reduzierung auf ein einzel- nes Flügelpaar werden jedoch Flugtüchtigkeit und Manö- vrierfähigkeit der Tiere beträchtlich gesteigert. Die Zwei- flügler werden unter die besten und schnellsten Flieger der Insekten gerechnet (siehe auch Abb. 34). Vergleiche: Ura- nia Tierreich. Insekten 3. Bd. 3, Leipzig 1994, S. 484 ff Mit welch enormer Kraft und Energie sich die Tiere gegen die Haftung am Papier zu wehren versuchen, läßt sich vielleicht da- durch besser begreifen, daß man sich vor Augen hält, wie unge- wöhnlich hoch ihre Flügelschlagfrequenz liegt und wie stark ihre Flugmuskulatur sein muß, die sie einsetzen können, sich vom Papier loszureißen. Im Schaubild der folgenden Abbildung 34 155 Die Entropie und der zweite Hauptsatz der Thermodynamik werden in den Ab- schnitten 2.1.22.1 u. 2.1.23.3 der vorliegenden Arbeit genauer erklärt. 2.1.10.3 Fliegenpapier und Entropie _____________________________________________________________ 129 wird die experimentell gefundene Abhängigkeit der Schlagfre- quenz von der Flügellänge für Insekten und Vögel gezeigt: Abbildung 34 Schaubild experimentell bestimmter Flü- gelschlagfrequenzen in Abhängigkeit von der Flügellänge für Insekten und Vögel. Unter den Insekten haben die Flie- gen (Ordnung: Diptera) die höchsten Werte von einigen hundert Hertz. Zu beachten: doppelt-logarithmische Auf- tragung! Vergleiche: Physiologie der Insekten M. Gewecke (Hg.), Stuttgart 1995, S. 182 Die Schilderung der Qual kleiner Flugtiere, die sich auf leimbe- strichenen Gegenständen niederlassen und haften bleiben, hat eine weit zurückreichende Tradition. Schon Gottfried von Straßburg beschrieb in seinem Fragment Tristan den unglück- lichen Vogel, der sich unachtsam auf eine Leimrute gesetzt hatte und sich anschließend immer mehr im Leim verklebte. Aller- dings ist dieses Bild von Gottfried geschickt auf Isolde über- tragen worden, die sich durch die Wirkung des Liebestranks in der Liebe zu Tristan verstrickt. Es heißt dort: do si den lim erkande der gespenstigen minne und sach wol, daz ir sinne dar in versenket waren, si begunde stades varen, si wolte uz unde dan: so klebete ir ie der lim an; der zoch si wider unde nider. diu schoene strebete allez wider und stuont an iegelichem trite. si volgete ungerne mite; 2.1.10 Ein heißer Strahl und erkaltete Wände (34) _____________________________________________________________ 130 si versuochte ez manegen enden: mit füezen und mit henden nam si vil manege kere und versancte ie mere ir hende unde ir füeze in die blinden süeze des mannes unde der minne.156 Honold schreibt zu Musils grausiger Schilderung folgendes: Die ersten Sätze erklären im nüchternen Duktus einer Gebrauchsan- weisung, worum es geht: Das Fliegenpapier Tangle-foot ist ungefähr sechs- unddreißig Zentimeter lang und einundzwanzig Zen- timeter breit157; es ist mit einem gelben, vergifteten Leim bestrichen und kommt aus Kanada. Wenn sich eine Fliege darauf niederläßt - nicht besonders gie- rig, mehr aus Konvention, weil schon so viele andere da sind - klebt sie zuerst nur mit den äußersten, um- gebogenen Gliedern aller ihrer Beinchen fest. (pr S. 476) Und damit ist auch die Geschichte eigentlich schon vorbei. Denn der Name des Produkts, "tangle-foot", läßt keinen Zweifel daran, was jetzt geschehen wird: Unweigerlich muß sich die Fliege mit ihren Beinchen immer tiefer in der klebrigen Beschichtung ver- fangen, wird mit jeder Bewegung, durch die sie sich gegen ihr Schicksal zu stemmen versucht, mehr von dem giftigen Leim an ihre Härchen bringen. Grausam, die Etappen dieses Fliegentods bis zum bitteren Ende zu erzählen - so verzweifelt und aussichts- los ist der Kampf, den jetzt noch zu führen ein inneres Programm jedes der auf den Leim gegangenen Opfer zwingt.158 Bei Musil heißt es dann weiter: ... Oder sie liegen auf dem Bauch, mit Kopf und Armen voraus, wie im Lauf gefallen, und halten nur noch das Gesicht hoch. Immer aber ist der Feind bloß passiv und gewinnt bloß von ihren verzweifelten, verwirrten Augenblicken. Ein Nichts, ein Es zieht sie hinein. So langsam, daß man dem kaum zu folgen vermag, und meist mit einer jähen Beschleunigung am Ende, wenn der letzte innere Zusammenbruch über sie kommt. ... (pr S. 477) 156 Gottfried von Straßburg Tristan Karl Marold (Hg.), besorgt von Werner Schröder, 2. Auflage, Berlin 1977, S. 167 157 Ein solches Fliegenpapier erscheint für heutige Verhältnisse ungewöhnlich breit. Die heutigen 'gewendelten' Fliegenpapiere dürften erheblich schmaler sein. Offenbar gab es früher regelrechte Fliegenpapierbögen, welche etwa DIN A4 Format hatten. 158 Honold Auf dem Fliegenpapier S. 234 2.1.10.3 Fliegenpapier und Entropie _____________________________________________________________ 131 Renner, besonders auf die zahlreichen Anthropomorphismen des Textes eingehend, schreibt: Gerade so wird die Aufmerksamkeit auf den Ausdruck des "grauenhaft Menschlichen" gelenkt, das mit dem Satz "ein Nichts, ein Es zieht sie hinein", und dem Hin- weis auf die Bedeutung der "seelischen Erschöpfung", eine am- bivalente Bedeutung erhält. Denn der unaufhörliche Prozeß zu Tode, den das Fliegenpapier beschreibt, verbindet Bilder der Angst mit solchen der Lust: Das Sterben der Tiere trägt mitunter orgiastische Züge und die Schilderung des Todes ist mit derjeni- gen vom Weiterleben eines augenähnlichen Organs verbunden. Todesangst und Augenangst weisen auf eine kulturgeschichtliche Konnotation des Unbewußten, die das Auge als Signifikanten der Wahrnehmung mit dem Phallus, dem Signifikanten des Lebens verbindet. Die sinnliche und die erkenntnistheoretische Bedeu- tung dieses Signifikanten ist dabei im Text noch einmal ins Bild gesetzt. Auf die erste deutet jenes phantastische Abbild des Schlusses, das den Körper im Zustand der Dekonstruktion zeigt und ein allein überlebendes Organ schildert, auf die zweite weist die vom Erzähler hinzugefügte Perspektive, welche die Wahr- nehmung des Organs durch das technische Instrument des Vergrößerungsglases schildert.159 Dieses von Musil als 'ein Nichts', 'ein Es' bezeichnete, welches die Fliege hineinzieht, dürfte auch das unwiderrufliche Absinken des Ordnungsgrads, das stete Ansteigen der Entropie konnotie- ren, das ausnahmslos für jede Lebensfunktion gilt. Der Entro- pieanstieg wird eben dadurch noch beschleunigt, daß die Tiere verzweifelt bemüht sind, eine gewisse partielle Ordnung auf- recht zu erhalten. In diesem Sinne dürfte auch das noch lange andauernde Flimmern des von Musil beschriebenen rätselhaften Organs zu begreifen sein, das schließlich, wie Annette Fuchs160 schreibt, auch unmittelbar beim Rezipienten "eine Gleichge- wichtsstörung des Wirklichkeitsbewußtseins auslöst". Der ent- sprechende, oft zitierte Text lautet bei Musil: Und nur an der Seite des Leibs, in der Gegend des Beinansatzes, haben sie irgend ein ganz kleines, flimmerndes Organ, das lebt noch lange. Es geht auf und zu, man kann es ohne Vergrößerungsglas nicht bezeichnen, es sieht wie ein winziges Menschenauge aus, das sich unaufhörlich öffnet und schließt. (pr S. 477) 159 Renner Die postmoderne Konstellation S. 126-127 160 Vergleiche Annette Fuchs 'Augen - Blicke': Zur Kommunikationsstruktur der 'Bilder' in Robert Musils 'Nachlaß zu Lebzeiten' Der Deutschunterricht, Heft 40 (1988) S. 79 2.1.10 Ein heißer Strahl und erkaltete Wände (34) _____________________________________________________________ 132 Nach übergroßer Anstrengung bleibt am Ende noch eine 'mikro- skopisch' kleine Lebenseinheit über längere Zeit erhalten, doch wird auch diese der unabweisliche 'Entropietod' ereilen, das Schließen und Öffnen dieses 'Organs' wird endgültig aufhören (im Text zu beachten: der paradoxe Gebrauch von unaufhörlich). Zwar bleibt diese winzige Lebenseinheit (vielleicht das innere Auge) noch lange in Funktion, doch der passive Feind, die stän- dig anwachsende Entropie, löscht schließlich auch dieses übrig gebliebene Lebenserkennungszeichen. 2.1.10.4 Eine zoologische Deutung Solche Aspekte des Musilschen 'Bildes' werden in van der Knaaps neuerem Aufsatz nicht berücksichtigt. Statt dessen ver- sucht van der Knaap eine wissenschaftlich-biologische Erklärung des flimmernden Organs. Sein Aufsatz beginnt schon mit der sehr zweifelhaften Äußerung: Robert Musils 1913 entstandene Geschichte ... gilt als musterhafte Observierung eines belebten Objektes.161 Davon kann überhaupt nicht die Rede sein. Es wird in Wahrheit nur der lang andauernde Todeskampf einiger am Leimpapier festklebender Fliegen geschildert. Etwas später wird Charles Darwin erwähnt. Zu welchem Zweck bleibt nebulös. Van der Knaap fährt daraufhin fort, in ungenügender Weise das zu beschreiben, was Musil beschreibt. Es heißt bei ihm z.B.: Im dritten Teil ist es nach einem Bild des Geschlechterkampfes ("wie Frauen, die vergeblich ihre Hände aus den Fäusten eines Mannes winden wollen") und nach einem Bild des Pechvogels ("wie im Lauf gefallen"), die Bilderwelt des Futurismus ("ge- stürzte Aeroplane"), die neben dem Tiervergleich ("wie krepierte Pferde") und "Schläfer(n)" überrascht. (Van der Knaap, S. 166) Sieht man sich den Originaltext dazu an: Oder sie sitzen auf der Erde, aufgebäumt, mit ausge- streckten Armen, wie Frauen, die vergeblich ihre Hände aus den Fäusten eines Mannes winden wollen. Oder sie liegen auf dem Bauch, mit Kopf und Armen voraus, wie im Lauf gefallen, und halten nur noch das Gesicht hoch ... So liegen sie da. Wie gestürzte Aeroplane, die mit einem Flügel in die Luft ragen. Oder wie krepierte Pferde. Oder mit unendlichen Gebärden der Verzweif- 161 Ewout van der Knaap Musils filmischer Blick. Notsignale auf dem 'Fliegenpapier' Poetica 30 (1998), S. 165 2.1.10.4 Eine zoologische Deutung _____________________________________________________________ 133 lung. Oder wie Schläfer. Noch am nächsten Tag wacht manchmal eine auf,... (pr S. 477), so dürfte offensichtlich sein, daß hier weder auf den "Geschlech- terkampf" noch auf den "Pechvogel" oder den Futurismus auf- merksam gemacht wird. Im ersten Vergleich kommt es auf die Aussichtslosigkeit des Kampfes an, im zweiten auf die nach dem Sturz entstandene hilflose Körperstellung des Tieres, im dritten auf den Anblick eines schrecklichen Flugzeugunglücks. Beim Tiervergleich soll die Art des Sturzes in Beziehung gesetzt wer- den, nicht die Tiere selbst. Was van der Knaap schließlich mit akribischer Deskription meint, der sich Musil bediene, kann gar nicht eingesehen wer- den. Es gibt kaum einen Satz in Musils 'Bild', welcher als reine Deskription zu bezeichnen wäre. Auf S. 476 kommen zwei Halbsätze vor, die sich als solche ansprechen ließen: klebt sie zuerst nur mit den äußersten, umgebogenen Gliedern aller ihrer Beinchen fest. ... Ihr Kopf ist braun und haarig162,... und auf S. 477 ein ganzer Satz: Noch am nächsten Tag wacht manchmal eine auf, tastet eine Weile mit einem Bein oder schwirrt mit dem Flügel. Abwegig erscheint auch van der Knaaps Bemerkung, daß die Musilsche Beobachtung von außen ... die vergrößerten Fliegen als Pferde163 ... empfinde. Der Vergleich Musils hat gar nichts mit der Größe der Tiere zu tun, sondern nur etwas mit dem 'Gestürztsein'. In ähnlichen Kommentaren geht es weiter. Es läßt sich kaum eine Aussage in van der Knaaps einleitendem Ab- schnitt bestätigen. Wir unterlassen es aber, dies weiter zu ver- folgen. Im wichtigsten Abschnitt 2 seiner Arbeit wundert sich van der Knaap, es sei noch nicht versucht worden, die Musilsche Be- schreibung des bereits vorher angesprochenen ganz kleinen, flimmernden Organs auf zoologischer Basis zu verstehen. Er selbst beginnt diesen Versuch mit einer zoologischen Unterrich- tung des Lesers über 'Fliegen'. Van der Knaap schreibt z.B.: In der Zoologie ist erforscht worden, daß Fliegen fünf Augen besit- zen. Sie sind sehr dunkel. Zwei davon werden für die dimensio- nale Sicht verwendet und drei, am Kopf, unterscheiden zwischen hell und dunkel (van der Knaap, S. 170). Falls diese Information für den Laien einen Wert haben soll, so muß folgendes ergänzt 162 Man vergleiche dies aber mit der in Abbildung 33, S. 128 gezeigten Fotografie der Stubenfliege und man beachte die im Widerspruch zum Festkleben aller Bein- chen stehende spätere Aussage, daß noch mit einem Bein getastet werden könne. 163 Van der Knaap, S. 167 2.1.10 Ein heißer Strahl und erkaltete Wände (34) _____________________________________________________________ 134 werden164: Fliegen haben wie fast alle flugtüchtigen Insekten zwei große, gut sichtbare, sog. Facetten- oder Komplexaugen (siehe auch Abb. 33, S. 128) und drei winzige, mit bloßem Auge kaum zu erkennende Punktaugen, sog. Ocellen. Alle fünf 'Augen' sitzen am Kopf der Tiere, wie die folgende schematische Dar- stellung in Abbildung 35 zeigt: Abbildung 35 Schematische Vorderansicht eines Insek- tenkopfes. Die riesigen Facettenaugen (Fa) sitzen seitlich am Kopf des Tieres, während die Punktaugen (Ocellen) sich auf der Stirn befinden. Gekennzeichnet sind weiterhin: Scheitel (S); Fühler (F); Stirn (St); Wange (W); Kopfschild (Ks); Oberkiefer (Ok); Oberlippe (Ol). Das Urania Tierreich. Insekten 1. Bd. 10, S. 15 Obwohl der Aufbau der Ocellen eine grobe Bilderkennung er- möglichen würde, werden diese nach den Ergebnissen der bis- herigen Forschung nur zur Wahrnehmung der mittleren Hellig- keit genutzt. Alle höheren Sehleistungen, wie Bildsehen, Bewe- gungssehen, Farbunterscheidungsvermögen sowie Diskriminie- rung polarisierten Lichtes obliegen den hochentwickelten Kom- plexaugen165. Es ist also keineswegs so, wie van der Knaap glaubt, daß das Komplexaugenpaar nur für die dimensionale Sicht zur Verfügung stehe. Vergleiche dazu auch den Abschnitt 2.2.7.2 der vorliegenden Arbeit. Van der Knaap setzt dann seinen Versuch mit einer Reihe ganz unbegründeter und wissenschaftlich unhaltbarer Behauptungen fort. Es heißt dort: Besonders wichtig, so hat die neuere Popula- tionsgenetik entdeckt, sind nun zwei pilzförmige Organe, die tatsächlich "in der Gegend des Beinansatzes" zu entdecken sind. Sie dienen zur Kommunikation mit Artgenossen. Fliegen nehmen 164 Kurt Hamdorf Sehen In: Physiologie der Insekten M. Gewecke (Hg.), Stuttgart 1995, S. 251-254 165 Hamdorf, S. 252 2.1.10.4 Eine zoologische Deutung _____________________________________________________________ 135 einander wahr mit fluoreszierendem Licht, was durch Untersu- chungen von Fruchtfliegen, die als repräsentativ für andere Fliegen genommen werden können, nachgewiesen ist ... die In- tensität der Kommunikation durch Fluoreszieren nimmt außer- dem bei zwischengeschlechtlichen Begegnungen zu. Weil Fliegen nur Licht von ultravioletter bis grüner Qualität, mit einem Opti- mum zwischen Blau und Ultraviolett wahrnehmen, reagieren sie auf solche chemischen Lichtsignale. Die pilzförmigen Organe strahlen ein bläuliches Licht, das von anderen Fliegen interpre- tiert wird, aus. Wenn die Lichtfrequenz zunimmt, könnte das als Alarmsignal gelten. Das mit dem Vergrößerungsglas wahrge- nommene Organ ist das Instrument der Fliege, Angst und Panik auszudrücken. Das Flimmern ist in dieser Situation der Bedro- hung nicht als Balzverhalten, sondern als Warnung zu verstehen. (Van der Knaap, S. 170) Von diesen Behauptungen van der Knaaps ist nicht eine wissen- schaftlich nachgewiesen, wie im folgenden dargelegt werden soll: i) Pilzförmige Organe in der Nähe des Beinansatzes von Fliegen, die zur Kommunikation mit Artgenossen dienen, sind in der von van der Knaap eigens dafür zitierten Arbeit166 nicht er- wähnt. In diesem 1981 erschienenen 'paper' wird überhaupt nicht von speziellen Organen gesprochen, die fluoreszieren. Das wäre auch ganz unangebracht, da für die Fluoreszenz bei Insekten be- stimmte Farbstoffe, hauptsächlich sog. Pteridine167 verantwort- lich sind. Die kommen an vielen Stellen der Haut von Insekten vor, und zwar besonders in der Gegend der Gelenke. Kennzeich- nend für die Arbeit van der Knaaps ist auch, daß er aus der ge- nannten Veröffentlichung Thörigs et al. nur einen einzelnen un- vollständigen Satz zitiert168, und dabei verschweigt oder über- sieht, daß die dort erwähnte "communication" sich erstens allein auf die Arterkennung von Drosophila bezieht und zweitens, noch wichtiger, auf Ergebnisse, die aus einer ganz anderen Un- tersuchung Thörigs stammen und ausdrücklich mit "un- published" bezeichnet werden. In der publizierten Arbeit von Thörig et al. werden lediglich drei verschiedene Bereiche des Insektenkörpers aufgezählt, in welchen Fluoreszenzerscheinun- gen bei drei Geschwisterarten der Drosophila - Drosophila me- 166 G.E.W. Thörig, P.W.H. Heinstra, A.J. Klarenberg, K.Th. Eisses, H. van Kooten and W. Scharloo Multiple function of pteridines in Drosophila. I. Specific fluores- cent patterns in three sibling species Genetica 56 (1981), 153-160 167 Die Pteridine sind wasserlösliche gelbe Farbstoffe, die chemisch durch alkoholi- sche und saure Seitenketten vielfältig variiert werden. Siehe Hamdorf, S. 266 168 Van der Knaap, S. 170 2.1.10 Ein heißer Strahl und erkaltete Wände (34) _____________________________________________________________ 136 lanogaster; Drosophila simulans; Drosophila mauritiana - zu beobachten waren. Die Autoren schreiben: Plates I and II show males and females of the three sibling species. We give a short description of the different fluorescent patterns: The region of the proboscis (Saugrüssel) ... The region of the legs. ... The re- gion of the abdomen (Hinterleib).169 (ii) Alle Forschungsergebnisse der Autoren beziehen sich ausschließlich auf Drosophila, also eine ganz bestimmte Art der Tau- oder Essigfliegen. Eine fotografische Darstellung der be- kannten Drosophila melanogaster wird in der nächsten Abbil- dung 36 gezeigt. Die Taufliege als repräsentatives Beispiel für Fluoreszenzphänomene bei Fliegen allgemein zu nennen, ist eine wissenschaftlich völlig unzulässige Verallgemeinerung van der Knaaps. Eher läßt sich die Stubenfliege als Prototyp der Fliegen schlechthin ansehen.170 Abbildung 36 Darstellung der Drosophila melanogaster. Links: ♂, rechts: ♀. Die Größe dieser Taufliegen beträgt ca. 2,5 mm. Weltweit sind etwa 3000 Arten der Taufliegen bekannt. Biologie und Ökologie der Insekten 171 Was mit Recht behauptet werden kann, aber nicht für die Stu- benfliege gilt, ist die Tatsache, daß sehr viele genetische Experi- mente an Drosophila gemacht werden. Drosophila melanogaster ist leicht zu züchten, hat sehr große Fortpflanzungsraten, eine geringe Chromosomenzahl (nur vier Paare; zum Vergleich: der Mensch hat 23 Paare) und eine starke Tendenz zur Ausbildung von Mutationen172. Die Architektur der Chromosomen (Träger 169 Thörig et al., 1981, S. 156 170 Urania Tierreich in 6 Bänden. Insekten. Bd. 3, Leipzig 1994, S. 485 bzw. S. 564 171 Klaus Honomichl (Hg.) Biologie u. Ökologie der Insekten Stuttgart 1998, S. 205 172 Das Urania Tierreich in 18 Bänden. Insekten 3. Bd. 12, Reinbek b. Hamburg 1974, S. 488 ff 2.1.10.4 Eine zoologische Deutung _____________________________________________________________ 137 der Gene) von Drosophila melanogaster ist heute vollständig geklärt. Eine sog. Genkarte dieser Taufliege findet sich in Abbildung 37 (siehe dazu auch Abschnitt 2.2.8.1 der vorliegen- den Arbeit): Abbildung 37 Vereinfachte Genkarte der Drosophila me- lanogaster. Am Kopf der Karte befindet sich das Ideo- gramm der Chromosomen dieser Taufliege: große Chro- mosomen haben lange, kleine kurze Genkarten. Die römi- schen Zahlen kennzeichnen die vier Arten von Chromoso- men, und zwar jeweils für das X-Chromosom. Diese biolo- gischen Genkarten geben Lage und Reihenfolge der Gene (Erbanlagen) auf dem Chromosom an. Die aufgeführten Zahlen bedeuten 'Genkarteneinheiten'. Siehe: Rolf Knip- pers Molekulare Genetik Stuttgart 1997, S. 201. Die von van der Knaap so hervorgehobene Kommunikation zwi- schen Drosophila-Fliegen auf der Grundlage von Fluoreszenz- muster-Erkennung ist in der benannten Publikation also über- haupt nicht untersucht worden. Dort geht es lediglich darum, daß die Tiere bei Bestrahlung mit Licht bestimmte Fluoreszenz- muster zeigen, und dadurch eine grundsätzlich Möglichkeit für die Arterkennung vorhanden sei. Doch ob 'Drosophila' tatsäch- lich von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, wurde weder nahe- 2.1.10 Ein heißer Strahl und erkaltete Wände (34) _____________________________________________________________ 138 gelegt noch erforscht. Dies hätte auch mit der angegebenen expe- rimentellen Ausrüstung gar nicht versucht werden können. Dem- entsprechend ist auch in der Arbeit von anderer Kommunikation als derjenigen der Arterkennung gar nicht die Rede. Zudem haben die dargestellten Ergebnisse nur vorläufigen Charakter, was von den Autoren selbst auch eingeräumt wird. Viele der zusätzlich zu Hilfe genommenen Resultate stammen nur von ihnen selbst und werden eigens als 'unveröffentlichte Resultate' gekennzeichnet. Zur Unterstützung dieser Einschätzung soll einiges aus der discussion der betreffenden Arbeit zitiert werden: We have shown that three sibling species of the Drosophila melanogaster group ... can be distinguished by their fluorescent patterns under U. V. radiation. The question arises, as to whether these different fluorescent patterns have a biological significance. ... Can these differences in fluorescent patterns contribute to species recognition? Although the role of visual stimuli in 'Drosophila' is recognized, it is generally believed that olfactory and acoustical stimuli (love song) play a major role, in particular when mating occurs in dark. The presence of specific fluorescent patterns, however, suggests the possibility of species recognition by visible means. ... It re- mains to be seen whether a function in communication can be found and whether such clues are used by natural enemies e. g. by parasitic insects laying their eggs in eggs or larvae of 'Dro- sophila'.173 Daraus geht eindeutig hervor, daß die Autoren nur die Möglich- keit einer Arterkennung durch Fluoreszenz bei Drosophila nach- gewiesen haben, aber nicht, daß die Tiere diese Möglichkeit auch nutzen. Da in neueren Übersichtsbänden der biologischen Forschung174 von derartigen Arterkennungsmethoden der Insek- ten über Fluoreszenz nicht gesprochen wird, kann davon ausge- gangen werden, daß bis heute, also fast 20 Jahre nach den Expe- rimenten der holländischen Forschergruppe175, keine Hinweise darauf existieren, daß Drosophila Fluoreszenzmuster zur Arter- kennung nutzt. Von anderer 'Kommunikation zwischen Fliegen', so wie sie van der Knaap wünscht, kann ohnehin nicht die Rede sein. 173 Thörig et al., 1981, S. 156-157 174 Private Mitteilung: Kurt Hamdorf, Bochum 1999. Siehe auch: Gewecke, 1995 oder Das Urania Tierreich. Insekten. 1994. 175 Die zusätzlich von van der Knaap aufgeführte Forschungsarbeit: Pieter W.H. Heinstra and George E.W. Thörig Multiple function of pteridines in Drosophila: the fluorescence of the ejaculatory bulb in Drosophila melanogaster J. Insect Physiol. 28 (1982), S. 847-855 befaßt sich nicht mehr mit diesen Fragen. 2.1.10.4 Eine zoologische Deutung _____________________________________________________________ 139 (iii) Aus den Ausführungen unter Punkt (ii) folgt, daß alle weiteren Feststellungen van der Knaaps, keine wissenschaftliche Signifikanz besitzen. Es handelt sich dabei lediglich um seine eigenen Spekulationen. Aber selbst in Bereich der Spekulation unterliegt van der Knaap simplen Irrtümern. Unter Fluoreszenz versteht man die bei festen Körpern, Flüssig- keiten und Gasen vorkommende Erscheinung, auffallendes Licht teilweise zu absorbieren und als Strahlung in der gleichen oder kleineren Frequenz zu emittieren. Die bei der Fluoreszenz auftre- tende Sekundärstrahlung erlischt gleichzeitig mit der Primär- strahlung; im anderen Fall spricht man von Phosphoreszenz (s. DTV-Lexikon d. Physik, Bd. 3, S. 167 ff). Mit anderen Worten: das Fluoreszenzlicht ist unmittelbar abhängig vom Primärlicht. Eine Lichtfrequenzerhöhung, über welche die Tiere Angst und Panik oder Warnung ausdrücken könnten - wie sie van der Knaap vielleicht vorschwebt - wäre also allein durch Frequenz- veränderung der Primärstrahlung möglich. Die sich anschließenden Spekulationen van der Knaaps werden hier nicht weiter kommentiert, da die grundsätzlichen Untersu- chungsergebnisse von Thörig et al. offensichtlich sehr töricht verstanden worden sind. Auch alle Schlußfolgerungen, die van der Knaap aus der willkürlich hinzugefügten Existenz pilzförmi- ger Organe zieht, entbehren jeglicher Grundlage. Statt dessen soll hier eine biologische Erklärung für Musils flimmerndes Organ vorgetragen werden, die zwar letztlich eben- falls eine Spekulation bleibt, jedoch erstens auf akzeptierten bio- logischen Kenntnissen von der Stubenfliege beruht und zweitens eine gewisse Plausibilität beanspruchen kann. Die Idee dazu stammt von Kurt Hamdorf (private Mitteilung, Bochum 1999). Stubenfliegen beginnen ihre Flugbewegung mit einem enormen Startsprung. Dadurch sind sie in der Lage, Angriffen von Fein- den blitzartig zu entfliehen. Jeder weiß, wie schwierig es ist, eine Fliege durch schnelles Zugreifen zu fangen. Dieser gewaltige Startsprung der Fliege wird mit den Hinterbeinen ausgeführt, die über eine äußerst kräftige Muskulatur verfügen. Es ist nun denk- bar, daß diese Hinterbeinmuskulatur der Fliegen im Todeskampf, und noch lange danach, zitterartige Kontraktionen ausführt. Un- ter der Lupe und geeignetem Stubenlicht könnte das tatsächlich als Flimmern irgend eines ganz kleinen Organs in der Nähe des Beinansatzes erscheinen. 2.1.10 Ein heißer Strahl und erkaltete Wände (34) _____________________________________________________________ 140 2.1.10.5 Optische Einsamkeit Fest steht aber, daß es für Musils Beobachtung nach wie vor kei- ne wissenschaftlich-biologische Erklärung gibt und vermutlich auch nie geben wird, weil sie nicht beabsichtigt war. Musil kam es durchaus nicht darauf an, ein ganz bestimmtes Organ zu be- schreiben, wie auch sein Ausdruck zeigt: haben sie irgend ein ganz kleines, flimmerndes Organ. In diesem Sinne trifft Honolds Kommentar genau das Richtige. Er schreibt: ...Zum anderen hat das Verfahren des erzählten Bildes einen Beigeschmack des Präparierten, der demonstrativen Zurückhaltung: etwas soll ge- zeigt werden, nicht gedeutet. Auch dort, wo sich ein Beobachter ... mit Vergleichen oder Vermutungen zu Wort meldet, erhalten die Kommentare ihrerseits bildhafte und vorläufige Form. ... dieses Auge (gemeint ist das "flimmernde Organ", welches Musil auch als "Menschenauge" bezeichnet) ... (ist) nicht anders denn eben als Auge zu verstehen, ... einer Zone besonderer Intensität und Stille. Das Auge der Fliege ist zugleich das Auge des Textes, ... eine Zone der Unbestimmbarkeit, ein Fleck auf der Semantik des Fliegenpapiers ... . ... Was sich in einem Text (oder auf ei- nem Papier) verfängt, ist eben nicht die unmittelbare Präsenz, sondern das Reden 'über', die Vorahnungen und Nachwirkungen 'von' Ereignissen, deren Performanz auf diese Weise nicht dar- zustellen, sondern allenfalls zu umstellen ist. ... es sind fragmen- tierte Details und miniaturhafte Modelle, auf die der Blick des Erzählers sich richtet ... Vom Ganzen aber keine Spur.176 Ein dem Fliegenpapier (... sie liegen auf dem Bauch, mit Kopf und Armen voraus, wie im Lauf gefallen, ...) sehr verwandtes, aber auf einer ganz anderen Zeitskala entstandenes 'Bild' wird später im dmoe-Roman geschildert. Ulrich erzählt es der bereits wahnsinnig reagierenden Clarisse: Man hat in Pompeji - sagte A. (Ulrich) - das Abbild einer Frau gefunden, das die Dämpfe, in die sich ihr Körper im Bruchteil einer Sekunde auflöste, als ihn der furchtbare Feuerstrom einhüllte, wie eine Statue in die versteinernde Lava eingesiegelt hatten. Diese fast nackte Frau, der das Hemd bis zum Rücken hin- aufgerutscht war, als sie, im eiligen Lauf eingeholt, vornüber aufs Gesicht und die vorgehaltenen Arme stürzte, während der kleine Knoten ihrer Haare un- ordentlich aufgesteckt, aber fest im Nacken saß, war nicht schön, nicht häßlich, nicht üppig von Wohl- 176 Honold Auf dem Fliegenpapier S. 235 u. S. 239. Honold spricht hier zutreffend von "Musils Theorie der optischen Einsamkeit". 2.1.10.5 Optische Einsamkeit _____________________________________________________________ 141 leben177, noch abgezehrt von Armut, nicht verrenkt vom Schreck, noch ohne Angst ahnungslos überwäl- tigt, aber gerade wegen all dessen war diese vor vielen Jahrhunderten aus dem Bett gesprungene und auf den Bauch geworfene Frau so unsagbar lebendig geblieben, daß sie in jeder Sekunde wieder aufstehen und weitereilen könnte. - Clarisse verstand ihn aufs Wort. (S. 1742) Honold kommentiert hierzu überzeugend, wenn auch Ulrichs minutiöse Beschreibung der sich in großer Aufregung befindli- chen, Hals über Kopf forteilenden Frau etwas vernachlässigend, wie folgt: Die in ihrem fast feierlichen Eros anrührende Be- schreibung des pompejanischen Frauenkörpers füllt jenen Hohl- raum der Imagination aus, in den die ätzenden Feuerdämpfe den lebendigen Leib verwandelt hatten. Der tote Abdruck des nack- ten Körpers, eingehüllt in versteinerte Lava, die um so stärker die Blöße des Opfers betont und über Jahrhunderte bewahrt - ihm haucht der bewundernde und begehrende Blick neues Leben ein. ... Elementarster Antrieb des Erzählens und sein nie abzu- schüttelndes Manko zugleich ist der Impuls, Abwesendes zu ver- gegenwärtigen und das der Vergänglichkeit Unterworfene still- zustellen. Wo aber Leben in einen Text verwandelt wird, ist es, wie die von Lava umhüllten Gestalten Pompejis, der Zeit entzo- gen ... (Honold Die Stadt und der Krieg S. 271-272) 177 Im dmoe verdruckt 2.1.11 Bankdirektor Leo Fischel und das Prinzip des unzureichenden Grundes (35) _____________________________________________________________ 142 2.1.11 Bankdirektor Leo Fischel und das Prinzip des unzureichenden Grundes (35) 2.1.11.1 Satz vom zureichenden Grund Direktor Leo Fischel, Prokurist bei der Lloyd-Bank, hat Proble- me mit einem Rundschreiben, das er von einem hohen Mitglied der im Gründungsstadium befindlichen 'Parallelaktion', dem Gra- fen Leinsdorf, bekam. Er sucht Rat bei Ulrich, dem späteren Se- kretär der Parallelaktion. Die im Text dargebotene Unterhaltung zwischen Ulrich und Fischel, welche im Grunde nur als 'wech- selseitiges Wortführen' bezeichnet werden kann, ist als ironische Vorführung eines Aneinandervorbeiredens kaum zu übertreffen. Fischel möchte zunächst bloß wissen, was er in besagtem Rund- schreiben unter wahrer Vaterlandsliebe, wahrem Fortschritt, wahrem Österreich zu verstehen habe. Eigentlich wünscht er aber als Banker, gerne die eigentlichen Absichten des Grafen Leinsdorf kennen zu lernen. Ulrich beantwortet anscheinend überhaupt nicht diese Fragen Fischels, sondern bemüht sich, anhand ganz allgemeiner Prinzipien einiges über 'das Wahre' zu erörtern. Es heißt im dmoe: ... (Fischel) setzte ihm nun wie ein Terzerol (Pistole) die drei Fragen vor die Brust, was er sich eigentlich unter "wahrer Vaterlandsliebe", "wahrem Fort- schritt" und "wahrem Österreich" vorstelle? ... "Das Prinzip des unzureichenden Grundes!" wiederholte Ulrich. "Sie sind doch Philosoph und werden wissen, was man unter dem Prinzip des zureichenden Grun- des versteht. ... in unserem wirklichen, ich meine da- mit unserem persönlichen Leben und in unserem öf- fentlich-geschichtlichen geschieht immer das, was ei- gentlich keinen rechten Grund hat." ... darum erwi- derte er (Fischel): "Sie wollen mich nicht verstehn ..." "Gut; wissen Sie, was ein Enzym oder was ein Katalysator ist?" Leo Fischel hob nur abwehrend die Hand. "Das trägt materiell nichts bei, aber es setzt die Ge- schehnisse in Gang. Sie müssen aus der Geschichte wissen, daß es den wahren Glauben, die wahre Sitt- lichkeit, und die wahre Philosophie niemals gegeben hat; ... " ... "Ich schwöre Ihnen," erwiderte Ulrich ernst, "daß weder ich noch irgend jemand weiß, was der, die, das Wahre ist; aber ich kann Ihnen versi- chern, daß es im Begriff steht, verwirklicht zu wer- den!" (S. 134-135) 2.1.11.1 Satz vom zureichenden Grund _____________________________________________________________ 143 Meisel (S. 136-137) will hier erkennen, daß Musil Machs These von der Abwesenheit des Kausalitätsprinzips in der Natur auf den Bereich der Sozietät überträgt. Dagegen spricht aber Musils Widerlegung gerade dieser These Machs in seiner Dissertation (s. Abschnitt 2.1.9.3). Zwar liegt Musils Dissertation zeitlich weit vor der Abfassung des dmoe-Manuskriptes, doch ist nicht anzunehmen, daß Musil seine Auffassung über Machs Arbeiten ganz grundsätzlich änderte. Meisel behauptet weiter, Musil habe die "Eigenschaftslosigkeit" als Aufhebung des Kausalitätsprinzips formuliert und durch das Prinzip der Wahrscheinlichkeit ersetzt. Ein Prinzip der Wahr- scheinlichkeit gibt es nicht (s. Abb. 61, S. 282 dieser Arbeit), und die Wahrscheinlichkeitsrechnung setzt das Kausalitäts- Prinzip keineswegs außer Kraft. Was Meisel vielleicht meint, hängt mit der Bedeutung von Aussagen im Rahmen statistischer Theorie zusammen, welche in den Abschnitten 2.1.29.3 - 2.1.29.5 ausführlich besprochen wird. Dort findet sich auch die Erklärung für die Formulierung Ulrichs, die er im Zusammen- hang mit dem Satz vom unzureichenden Grund wählt: ... ge- schieht immer das, was eigentlich keinen rechten Grund hat (obiges Zitat) ... aber wenn man berechnet, was sozusagen keinen Grund hat, daraus zu entstehen, so ist es gerade das, was wirklich entsteht! (S. 491) In der verneinenden Form178 des 'Satzes vom zureichenden Grund' glaubt Meisel ein für den Roman grundsätzliches Prinzip zu sehen. Er schreibt: ... Dies bedeutet nicht nur eine Absage an den göttlichen Heilsplan, auf den sich nach Hegels Ästhetik bekanntlich das Epos bezieht, sondern auch die Destruierung eines auf Kausalität vertrauenden Sinnzusammenhangs im persönlichen Leben des Subjekts im Erzählrahmen des Romans. (Meisel, S. 136) Unmittelbar führt aber das weiter, was Musil in den Ideenblät- tern des Nachlasses dazu bemerkt: Jeder handelt anders als er denkt und seine Überzeu- gung ist. Denn kein Mensch kann in irgend einer Sache eine wirkliche Überzeugung haben, weil unsre Lebensumstände ihre Bildung gar nicht zulassen. Der Satz vom Fehlen des zureichenden Grundes regiert das Geschehen. Anfangs sträuben sich gewissenhafte- re Menschen, aber sie finden keine Argumente, die so stark wären wie die Aufforderung. (Führt zum Ge- währenlassen, über das vorläufig nichts zu sagen wäre.) (nl VII/10/48) 178 Ergänzende Kommentare dazu: Heydebrand, S. 14 ff. Siehe auch: tg1 S. 964). 2.1.11 Bankdirektor Leo Fischel und das Prinzip des unzureichenden Grundes (35) _____________________________________________________________ 144 Die positive Form des 'Satzes vom Grund', also den Satz vom zureichenden Grund, findet man, wie Ulrich richtig sagt, in der Philosophie mehrfach ausführlich diskutiert. Vielleicht ist er bei Lotze179 besonders verständlich erklärt. In der Lehre vom Urteil sagt Lotze, dieser Satz sei am besten anhand der formalen Beziehung A + B = C zu verstehen, welche sich im Grunde aus dem Identitätssatz nach der Gleichung A = A ableite. Nach Lotze ergibt sich die folgende Argumentation: nennt man die Verbindung von A + B den Grund und C die Folge, so sind die beiden völlig identisch. Anders ausgedrückt: kommt zu A die Bedingung B hinzu, so ist dies der Grund für die Folge C. Unter A + B hat man dabei ein beliebiges Subjekt zusammen mit der Bedingung, der es unterliegt, zu verstehen. C ist kein neues Fol- geprädikat dieses Subjekts, sondern das Subjekt selbst in seiner durch dies Prädikat veränderten Form. Lotzes Beispiel: sei A die Vorstellung des Schießpulvers. Verbindet man mit dieser die Vorstellung B der hinzutretenden hohen Temperatur, z.B. durch einen glühenden Funken, d.h. ersetzt man in A das Merkmal der gewöhnlichen Temperatur durch das der erhöhten Temperatur B, so ergibt dieses A + B, die Vorstellung C des explodierenden Pulvers (die erfolgende blitzartige Umwandlung des Pulvers in Gas), nicht der Explosion überhaupt. Nun kann der Satz vom Grund nicht allein auf dem Identitätssatz beruhen, da vorstellbar ist, daß jede Kombination von A + B niemals einem dritten C äquivalent sein könnte. Die Möglichkeit, Allgemeinbegriffe zu bilden, beruht aber auf der gegebenen Tatsache, daß eben nicht jeder Vorstellungsinhalt ganz unvergleichbar mit jedem anderen ist. Es können eben auch an sich nicht vergleichbare Glieder ver- schiedener Inhaltsreihen in Beziehung zueinander gebracht wer- den.180 Musils Protagonist Ulrich benutzt in seiner 'Rede' nicht diesen Satz vom Grund, sondern eine gewisse Umkehrung davon, wel- che der Satz (bzw. das Prinzip) des unzureichenden Grundes heißt181. Er lautet: Aus unzureichenden Gründen (unter unzurei- chenden Bedingungen) lassen sich keine Folgerungen ziehen. Ulrich bemängelt ganz allgemein ohne eigentlich die Frage Fischels zu beachten, im gewöhnlichen Leben werde leider allzu oft nicht nach dem Satz vom zureichenden Grund verfahren, statt dessen würden in der Regel Folgerungen aus unzureichenden Gründen gezogen: ... in unserem persönlichen Leben und in un- 179 Rudolf Hermann Lotze Logik. Erstes Buch. Vom Denken. (Reine Logik) Gottfried Gabriel (Hg.), Hamburg 1989, S. 87-88 180 Vergleiche: Lotze; S. 90-91 181 Siehe z.B.: N. G. van Kampen Stochastic Processes in Physics and Chemistry Amsterdam 1981, S. 21 2.1.11.2 Katalysatoren und Enzyme _____________________________________________________________ 145 serem öffentlich-geschichtlichen geschieht immer das, was eigentlich keinen rechten Grund hat ... (s.o.). Direktor Fischel ist es nicht zufrieden, er möchte Auskünfte über ... wahre Vater- landsliebe, wahres Österreich und wahren Fortschritt ... haben. 2.1.11.2 Katalysatoren und Enzyme Ulrich beginnt erneut Ausführungen in scheinbar unbekanntem Zusammenhang über wahren Glauben, wahre Sittlichkeit und wahre Philosophie, indem er die Wirkungsweise von Enzymen und Katalysatoren erklärt. Katalysatoren sind heute jedem zu- mindest vom Namen her als chemische Systeme zur Reinigung von Abgasen der Kraftfahrzeuge bekannt. Für das Verständnis von Ulrichs Äußerungen bedarf es aber einiger grundsätzlicher Erklärungen zum Aufbau und zur Funktion von Katalysatoren. Nur wenige chemische Bruttoreaktionen verlaufen 'von selbst' mit der gewünschten Reaktionsgeschwindigkeit und in die ge- wünschte Richtung. Der Gesamtreaktionsverlauf ist im allge- meinen ein sehr komplexer molekularer Vorgang, in welchem mehrere Einzelreaktionen zusammenspielen. Selbst der Ablauf solcher Einzelreaktionen ist in vielen Fällen heute noch unge- klärt. Grundsätzlich laufen Reaktionen stets in Hin- und Rück- richtung ab, und stets bis zu einem stationären Gleichgewicht zwischen Hin- und Rückreaktion. Auf welcher Seite diese Gleichwichte liegen, d.h. ob Ausgangsstoffe oder Endprodukte bevorzugt werden, hängt von den Reaktionsgeschwindigkeiten selbst und den sog. Aktivierungsenergien ab. In Abbildung 38 ist die Bedeutung der Aktivierungsenergie für eine elementare Re- aktion schematisch wiedergegeben: Abbildung 38 Schematische Darstellung der Energiebar- riere, die überwunden werden muß, damit eine elementare Reaktion zwischen reagierenden Molekülen (Reaktanten) 2.1.11 Bankdirektor Leo Fischel und das Prinzip des unzureichenden Grundes (35) _____________________________________________________________ 146 in Gang gesetzt wird. Moore, S. 257; Ulich-Jost Kurzes Lehrbuch der Physikalischen Chemie Darmstadt 1966, S. 288 Die reagierenden Stoffe (Moleküle), die sog. Reaktanten, befin- den sich zunächst in einer Energiemulde und müssen, damit sie eine chemische Reaktion zu den Endprodukten durchlaufen können, einen aktivierten Komplex höherer Energie erreichen. Erst dann ist eine Abreaktion in das weitere Energieminimum der Endprodukte möglich. Ein Katalysator kann diese Energie- schwelle, die Aktivierungsenergie entscheidend verringern und dadurch die Reaktionsgeschwindigkeit in eine gewünschte Rich- tung in Gang setzen. Seine Wirkung beruht entweder auf physi- kalischen Eigenschaften (Dipolwirkung, Oberflächenverände- rung u.ä.) oder auf chemischen. Er kann an Zwischenreaktions- schritten teilnehmen, liegt aber am Schluß der Gesamtreaktion wieder in seiner ursprünglichen Form vor. Der Katalysator182 verändert also die Bruttoreaktionsgeschwindigkeit einer Reak- tion, ohne sich selbst beim Gesamtprozeß zu verändern. Er trägt, wie Ulrich richtig formuliert, zum Gesamtprozeß materiell nichts bei. Man spricht speziell von homogener Katalyse, wenn der Katalysator während der Reaktion wichtige Zwischenprodukte bildet, sich dabei aber selbst wieder regeneriert. Man hat sich dann die Bruttoreaktion A + B AB wie folgt vorzustellen: A + K AK AK + B K + AB. Der Katalysator K reagiert zwar während der Gesamtreaktion zu einem Zwischenprodukt AK, wird dann aber bei Ablauf der Reaktion wieder frei. Es ist also keineswegs so, wie Meisel sagt, daß durch den Einsatz von Katalysatoren vermeintlich Unwahr- scheinliches möglich wird.183 Beruht die Katalysatorwirkung auf physikalischen Eigenschaf- ten, so spricht man von heterogener Katalyse. Dabei werden die Reaktanten z.B. an der Oberfläche des Katalysators adsorbiert und in einen reaktionsbereiten, 'angeregten' Zustand versetzt. Die Adsorptionsbindung darf dabei natürlich nicht zu hoch sein, damit die eigentliche Reaktion anschließend überhaupt noch stattfinden kann. 182 Holleman-Wiberg, S. 111-112 183 Meisel, S. 140. Seine weiterhin gezogene Konsequenz, daß durch Katalysatoren Wirklichkeitssinn in Möglichkeitssinn zu transformieren sei, will nicht einleuchten. 2.1.11.2 Katalysatoren und Enzyme _____________________________________________________________ 147 Trotz aller wissenschaftlichen Anstrengungen ist es aber bisher nicht geglückt, die ungleich viel wirksameren Katalysatoren der Natur im biologischen Bereich, die Enzyme, von denen Ulrich ebenfalls spricht, nachzumachen. Die biologische Katalyse der Proteinherstellung (s. Abschnitt 2.2.8.1) durch Enzyme ist der chemischen Katalyse so weit überlegen, daß bis jetzt keine Aussicht besteht, deren Wirkungsgrade auch nur annähernd zu erreichen. Bestimmte Enzyme sind auch in der Lage die DNS- Makromoleküle, also die Träger der Erbinformationen, nach gewissen Gesetzmäßigkeiten abzubauen. Dadurch entstehen bestimmte Schutzsysteme für die genetische Eigenart184. Über den Mechanismus der Enzymwirkung ist noch sehr wenig bekannt. Er scheint aber auf einer Kombination aus heterogener und homogener Katalyse zu beruhen. Auf diesem Hintergrund lassen sich auch Musils metaphorische bzw. metonymische Übertragungen der Wirkung von Katalysa- toren und Enzymen besser verstehen. Im Nachlaß schreibt er beispielsweise: Große Ideen sind ein Spezialfall der Katalysatoren. (nl I/1/31) ... Enzyme und Katalysatoren hängen eng mit dem Möglichkeitssinn zusammen. (nl I/1/50) ... Katalysatoren und Enzyme. Gleichnisse sind ein Son- derfall davon. Sie tragen nichts zur Wirklichkeit bei, aber sie kurbeln an. ... Das sich Verflüchtigen u. Zer- streuen des Geistes besagt soviel wie, er ist der ober- ste Katalysator seiner Natur nach. Ulrichs Problem, das Eigentliche zu tun, wäre dann ein Versuch, dem Geist eine andere Existenzform abzugewinnen. Fürst des Geistes - Fürst der Katalysatoren. (nl I/1/79) Die Katalysatoren setzen und halten die Bewegung in Gang. - sie haben irgend etwas mit dem ganzen des Lebens zu tun; ... (nl VII/9/118) Ulrichs Schlußbemerkung des anfangs zitierten Romantextes: ... daß es ("das Wahre") im Begriff steht, verwirklicht zu werden ist an sich schon mehrdeutig, könnte aber im Zusammenhang mit den vorhergegangenen Erläuterungen folgendermaßen gelesen werden: der 'wahre Grund' für geschichtliche oder individuelle Vorgänge ist die Überschreitung gewisser 'Barrieren', die durch Katalyse in Gang gesetzt wird. Letztere kann weder berechnet noch vorhergesehen werden, ja sie gehört den Prozessen nicht einmal an. 184 Rolf Knippers Molekulare Genetik Stuttgart 1997, S. 39-43 2.1.12 Schweigende Begegnung zweier Berggipfel (45) _____________________________________________________________ 148 2.1.12 Schweigende Begegnung zweier Berggipfel (45) 2.1.12.1 Halbkreis der Seele Beschrieben wird eine der ersten Liebesbegegnungen zwischen Ulrichs Cousine Diotima und Arnheim. Die Zweisamkeit ergibt sich am Ende einer Sitzung der Parallelaktion, deren Mitglieder sie sind. Während der Unterhaltung der beiden beginnt der Erzähler über den Begriff Seele nachzudenken. Seine ernsthaften Bemühungen, zu einem greifbaren Ergebnis zu kommen, rahmt er erwartungsgemäß in ironische Zwischenkommentare ein. Wie Wagner-Egelhaaf zutreffend feststellt, wird innerhalb der Paral- lelaktion ohnehin viel über die Seele geredet. Sie schreibt: Geredet wird, und zwar häufig und eingehend von der "Seele", die ja auch im "Symposion" (Platons) das im Mittelpunkt des Gesprächs stehende "Organ" ist. Der Diotima, die bei Platon so sicher von der Seele spricht, steht Musils Diotima gegenüber, die zweifelt ... Auf der Ebene des Defizit vermeldenden Wunsches wird "Seele" annäherungsweise mit "etwas Ursprünglichem" identifiziert; wenig später heißt es auch, Diotima fühlte sich "nah einer Ursprungstiefe, die alles heilig macht, was aus ihr aufsteigt".185 Im dmoe steht folgendes: ... aber es gab in diesem Augenblick etwas, das diesen Mann ..., der jede Frau mit Platin aufwiegen konnte, stattdessen gebannt auf Diotima starren ließ, ... Für dieses Etwas muß hier wieder einmal das Wort Seele gebraucht werden. Es ist ein Wort, das schon des öfteren, aber nicht gerade in den klarsten Beziehungen aufgetreten ist. Zum Beispiel als das, was der heutigen Zeit verloren gegangen ist oder sich nicht mit der Zivilisation ver- einbaren läßt; als das, was im Widerstreit mit körper- lichen Trieben und ehelichen Gewohnheiten steht; ... das Wesentliche ist nicht, was man vor sich hat, sieht, hört, will, angreift, bewältigt. Es liegt als Horizont, als Halbkreis voraus; aber die Enden des Halbkreises verbindet eine Sehne, und die Ebene dieser Sehne geht mitten durch die Welt hindurch. Vorn sehen das Gesicht und die Hände aus ihr heraus, laufen die Empfindungen und Bestrebungen vor ihr her, und niemand bezweifelt: was man da tut, ist immer ver- nünftig oder wenigstens leidenschaftlich; ... Aber so vollständig dabei alles verständlich und in sich ge- 185 Wagner-Egelhaaf Mystik der Moderne S. 121 2.1.12.1 Halbkreis der Seele _____________________________________________________________ 149 schlossen erscheint, wird es doch von einem dunklen Gefühl begleitet, daß es bloß etwas Halbes sei. Es fehlt etwas am Gleichgewicht, und der Mensch dringt vor, um nicht zu wanken, wie es ein Seilläufer tut. ... und sein Weg gleicht schließlich dem eines Wurms im Holz, der sich beliebig winden, ja auch zurückwenden kann, aber immer den leeren Raum hinter sich läßt. Und an diesem entsetzlichen Gefühl eines blinden, abgeschnittenen Raums hinter allem Ausgefüllten, an dieser Hälfte, die immer noch fehlt, wenn auch alles schon ein Ganzes ist, bemerkt man schließlich das, was man Seele nennt. (S. 183-184) Das von Musil eingesetzte geometrische Bild für die sinnbildli- che Charakterisierung der Seele läßt sich in etwas anderer Form so beschreiben: es gibt eine Halbkreisebene, die sichtbar vor einem liegt. Durch die hintere Begrenzung des Halbkreises, die Kreishalbierende, die Mittelsehne des (gedachten) ganzen Krei- ses, verläuft eine (unendlich ausgedehnte) Ebene, welche senk- recht zu der Ebene liegt, die durch den Halbkreis festgelegt ist. Musil spricht zwar nicht unmittelbar davon, daß diese Ebene senkrecht zur Halbkreisebene liegt, aus dem darauf folgenden Text geht dies aber hervor. Man selbst durchstößt nun senkrecht diese Ebene, und wird durch sie zweigeteilt, und zwar so, daß Kopf und Hände zum Halbkreis hin zeigen, und deshalb zu sehen sind. Man schaut also aus dieser Ebene, die mitten durch die Welt hindurch geht, wie aus einem Schwimmreifen heraus, wobei der hintere Teil des Körpers im Wasser versunken ist. Die Halbkreisebene liegt dann unterhalb vor einem. Hinter die Ebene, aus der man herausschaut, läßt sich nicht sehen oder greifen. Man merkt aber daran, daß alles vor einem wie ein Halbkreis aussieht und man sich nicht im Gleichgewicht fühlt, daß hinter einem möglicherweise die andere Hälfte dieses angenommenen Kreises liegt. Und daran bemerkt man schließ- lich das, was man Seele nennt. In dem darauffolgenden metaphorischen Symbol des sich durch das Holz fressenden Wurms wird deskriptiv auf den leeren Raum (Fraßspuren) hingewiesen, den der Wurm hinterläßt, während er sich weiter durch das Holz frißt. Er kann diesen leeren Raum hinter sich niemals sehen, wie sehr er sich auch hin- und zu- rückwinden will186. Subskriptiv wird auf den Menschen verwie- sen, der 'durch das Leben dringt' und Gelebtes hinter sich läßt, aber niemals auch nur einen Blick auf den fehlenden Halbkreis 186 Musil verwendet an mehreren Stellen des dmoe bestimmte Bilder zur symboli- schen Darstellung dessen, was wir Seele nennen (z.B. S. 186 ff). Vergleiche auch: Honold Die Stadt und der Krieg S. 362-364 2.1.12 Schweigende Begegnung zweier Berggipfel (45) _____________________________________________________________ 150 hinter sich werfen kann. So sieht er auch nicht, daß nur 'Leere' hinter ihm liegt. Was sich aber auf der vor ihm liegenden Halbkreisebene ereignet bzw. von ihm 'angeschaut' werden kann, hat Kant in seiner transzendentalen Argumentation über das Selbstbewußtsein (das 'Ich denke') vielleicht am tiefsten analysiert. Mit dem Begriff 'Seele' verbindet Kant187 jedoch etwas anderes als Musil hier. Bei Kant heißt es über das Selbstbewußtsein: ... Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine notwendige Beziehung auf das "Ich denke", in dem- selben Subjekt, darin dieses Mannigfaltige angetrof- fen wird. Diese Vorstellung ... kann nicht als zur Sinn- lichkeit gehörig angesehen werden. Ich nenne sie die reine Apperzeption, ... weil sie dasjenige Selbstbe- wußtsein ist, was, indem es die Vorstellung "Ich den- ke" hervorbringt, die alle anderen muß begleiten kön- nen, und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, ... Ich nenne auch die Einheit derselben die transzenden- tale Einheit des Selbstbewußtseins, um die Möglich- keit der Erkenntnis a priori aus ihr zu bezeichnen. ... Synthetische Einheit des Mannigfaltigen der An- schauungen, als a priori gegeben, ist also der Grund der Identität der Apperzeption selbst, die a priori al- lem meinem bestimmten Denken vorhergeht. Verbin- dung liegt aber nicht in den Gegenständen, und kann von ihnen nicht etwa durch Wahrnehmung entlehnt werden und in den Verstand dadurch allererst aufge- nommen werden, sondern ist allein eine Verrichtung des Verstandes, der selbst nichts weiter ist, als das Vermögen, a priori zu verbinden, und das Mannigfal- tige gegebener Vorstellungen unter die Einheit der Apperzeption zu bringen, ... 188 Die Untersuchungsergebnisse der modernen Gehirnforschung unterstützen nicht ganz diese Erkenntnisse Kants, erscheinen aber auf der anderen Seite noch wesentlich radikaler, als diejeni- gen Kants zu seiner Zeit. Gerhard Roth, der einen Physikalismus in der Erforschung des Gehirns vertritt, kommt in seinen Arbeiten zu einer Unterschei- dung zwischen dem realen Gehirn, welches die Wirklichkeit und mich selbst hervorbringt, mir aber ganz unzugänglich ist, und dem wirklichen Gehirn, das ich untersuchen kann. Folglich sind nicht nur die von mir wahrgenommenen Dinge Konstrukte in der Wirklichkeit, sondern ich selbst bin auch ein solches Konstrukt. 187 Siehe z.B.: Immanuel Kant Kritik der reinen Vernunft. Von den Paralogismen der reinen Vernunft. Hamburg 1971, S. 427-429 188 Kant Von der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption S. 140-145 2.1.12.1 Halbkreis der Seele _____________________________________________________________ 151 Das reale Gehirn bringt also eine Wirklichkeit hervor, in welcher etwas mit einem Ich-Bewußtsein existiert, das sich als Subjekt seiner Wahrnehmungen, seiner körperlichen wie mentalen Hand- lungen erlebt. Roth wird zu diesen Überlegungen durch eine Reihe neuerer Ergebnisse der Gehirnforschung geführt, die im folgenden kurz vorgestellt werden sollen189. Bewußtsein ist an die Funktionen des (assoziativen) Cortex ge- bunden, wird aber erst durch Kooperation von Cortex, Gedächt- nissystem und limbischem System (siehe Abbildung 75, S. 351 der vorliegenden Arbeit) hergestellt. Bewußtsein entsteht somit durch Zusammenarbeit der verschiedenen, im gesamten Gehirn verteilten, einzelnen Systeme, wird also nicht allein vom Cortex (Großhirnrinde) erzeugt. Für jede neue unerwartete Situation, welcher der Organismus ausgesetzt ist, wird im Gehirn ein neues Neuronen-Netzwerk angelegt oder ein bestehendes verändert, das dann in der Lage ist, ein der aktuellen Situation angepaßtes Verhalten bzw. einen geeigneten internen Zustand zu erzeugen, der den Organismus in den Stand versetzt, das aktuelle Problem zu lösen. Dies geschieht nicht nur mit den entsprechenden momentanen Sinnesdaten, sondern genauso mit Gedächtnisinhalten, die auf ihre Brauch- barkeit hin geprüft werden. Treten bestimmte Situationen routi- nemäßig auf, so werden die bereits bestehenden Netzwerke au- tomatisch genutzt, das Bewußtsein wird dafür nicht mehr benö- tigt. Bewußtsein tritt also notwendig nur im Zusammenhang mit der Neuverknüpfung von Neuronennetzwerken auf: je mehr Aufwand für eine Neuverknüpfung getrieben werden muß, desto bewußter wird der entsprechende Vorgang. Bewußtsein scheint derjenige Zustand zu sein, in welchem das Gehirn unter Einwir- kung unerwarteter, wichtiger Wahrnehmungsinhalte und ent- sprechend neuer Verhaltensaufgaben neue Nervennetze anlegt. Folglich stellt Bewußtsein eine Art Erkennungszeichen des Gehirns dar, derartige Zustände von anderen zu unterscheiden. Das Zentralnervensystem ist aus schätzungsweise einer Billion (1012) Nervenzellen aufgebaut, die über spezifische Impulse kommunizieren. Es gilt das Prinzip des neutralen neuronalen Codes. Er ist nötig, damit die verschiedenen Sinnessysteme und Verarbeitungsbahnen überhaupt kooperieren und die Resultate in ein bestimmtes Verhalten umsetzen können. Bedeutungserzeu- gung findet durch Zusammenfügen bereits bestehender Informa- tionen statt. Dadurch wird neue Information erzeugt und wieder 189 Gerhard Roth Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Frankfurt a. M. 1997, S. 228-233; S. 248-253; S. 300-303; S. 314-321 2.1.12 Schweigende Begegnung zweier Berggipfel (45) _____________________________________________________________ 152 auf andere informationsverarbeitende Zentren verteilt. Auf corti- caler und teilweise auch auf subcorticaler Ebene werden dabei ständig Informationen aus dem Gedächtnis ausgewertet. Deshalb erscheint unsere Wahrnehmung stets im Lichte schon vorliegen- der Erfahrung. Fähigkeiten des Gehirns wie Kategorisieren, Ab- strahieren, Generalisieren usw. erfordern immer die Zusammen- arbeit vieler gleichzeitig aktiver Neuronennetzwerke. Die auf diese Weise erhaltene Wahrnehmungswelt ist ein Kon- strukt, da die 'Geschehnisse' der Umwelt zunächst in Ele- mentarereignisse zerlegt und anschließend nach bestimmten Re- geln zu bedeutungshaften Wahrnehmungsinhalten wieder neu zusammengesetzt werden. Die Regeln, nach denen zusammenge- setzt wird, entstammen aber nicht der Umwelt, auch wenn sie an ihr überprüft werden. Einerseits blenden unsere Sinnessysteme vieles aus, andererseits wird vieles hinzugefügt, was keinerlei Entsprechung in der Außenwelt hat. Man kann weiterhin davon ausgehen, daß bestimmte neuronale Prozesse dem Auftreten geistiger Zustände entsprechen. In dem Maße, wie dies heutzutage untersucht werden kann, läßt sich auch das Auftreten bestimmter mentaler Zustände voraussagen. Das Gehirn benutzt dabei den Zustand subjektiven Erlebens als Erkennungszeichen für Gehirnprozesse, in denen neue Netzwer- ke angelegt werden. Insofern kann Geist als physikalischer Zu- stand erfaßt werden. Schließlich gelangt Roth - wie einleitend bereits zusammenge- faßt - zur Unterscheidung eines realen vom wirklichen Gehirn. Er schreibt wörtlich: ... wir müssen zwischen einem realen Ge- hirn, welches die Wirklichkeit hervorbringt, und dem wirklichen Gehirn, unterscheiden. ... Dasjenige Gehirn, das mich hervor- bringt, ist mir selbst unzugänglich, genauso wie der reale Kör- per, in dem es steckt, und die reale Welt, in welcher der Körper lebt. ... Nicht nur die von mir wahrgenommenen Dinge sind Kon- strukte in der Wirklichkeit, ich selbst bin ein Konstrukt. Ich komme unabweisbar in dieser Wirklichkeit vor. Dies bedeutet, daß das reale Gehirn eine Wirklichkeit hervorbringt, in der ein Ich existiert, das sich als Subjekt seiner mentalen Akte, Wahr- nehmungen und Handlungen erlebt, einen Körper besitzt und einer Außenwelt gegenübersteht. .... Die Wirklichkeit ist nicht ein Konstrukt meines Ichs, denn ich bin selbst ein Konstrukt. Viel- mehr geht ihre Konstruktion nach Prinzipien vor sich, die teils phylogenetisch (entwicklungsgeschichtlich), teils frühontogene- tisch entstanden sind und ansonsten den Erfahrungen des Ge- hirns mit seiner Umwelt entstammen. Diese Prinzipien sind mei- nem Willen nicht unterworfen. Vielmehr bin ich ihnen unterwor- 2.1.12.1 Halbkreis der Seele _____________________________________________________________ 153 fen. ... Das Ich ist ein Gebilde, das entsteht, während sich das Gehirn und seine Erfahrungswelt entwickeln, und wir haben Grund anzunehmen, daß der Konstitution des Ich dieselben Me- chanismen zugrunde liegen wie der Einheit der Wahrnehmung, ... Der Abschied vom Ich als Autor meiner Handlungen und die Feststellung 'Ich bin ein Konstrukt' bzw. 'das Ich ist ein Kon- strukt' mögen sehr befremdlich klingen. Diese Feststellung mag uns 'den Boden unter unseren Füßen wegziehen', aber sie ist ge- nauso zwingend wie alle anderen Feststellungen über die Kon- struktivität der Wirklichkeit.190 Rainer Werner Fassbinders Film Welt am Draht hat wahrschein- lich schon 1973 einige dieser Erkenntnisse voraussehend umge- setzt191. Im Film wird aber eine idealisierte Form der Konstrukti- on von Wirklichkeit präsentiert. Dort haben die 'gewöhnlichen Sterblichen' eine, wenn auch schwer zu erkundende, Möglich- keit, die Ursprünge der Konstruktion ihrer Wirklichkeit zu unter- suchen, zu verstehen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Es liegt nahe, das im dmoe-Roman gewählte Bild des Holz- wurms tatsächlich auch im Sinne einer 'Aufspaltung' des menschlichen Gehirns verstehen, wenn man nicht soweit gehen möchte, das 'reale Gehirn' mit der Seele zu identifizieren. Die ironischen Überlegungen zum Thema Seele lassen im Ro- man aber nicht auf sich warten. Im Anschluß an das vorher auf- geführte dmoe-Zitat liest man folgendes: Man denkt, ahnt, fühlt sie (die andere Hälfte des Halbkreises) natürlich allezeit hinzu; ... und schließ- lich denken manche Leute sogar über alles hinaus an einen Gott, der das fehlende Stück in der Tasche trägt. Eine besondere Stellung nimmt dabei die Liebe ein; in diesem Ausnahmefall wächst nämlich die zweite Hälf- te zu. ... Die Seelen vereinigen sich sozusagen dos à dos und machen sich dabei überflüssig. ... Weder Dio- tima noch Arnheim hatten geliebt. ... Die geheimnis- vollen Kräfte in Ihnen stießen aufeinander. ... Aus der senkrechten Bügelfalte empor, schien Arnheims Leib in der Gotteseinsamkeit der Bergriesen dazustehn; durch die Welle des Tals mit ihm vereint, stand auf der anderen Seite einsamkeitsüberglänzt Diotima, in ihrem Kleid der damaligen Mode, das an den Ober- armen kleine Puffen bildete, über dem Magen den Busen in eine kunstvoll gefaltete Weite auflöste ... (S. 184-185) 190 Roth Das Gehirn und seine Wirklichkeit S. 330-331 191 Bernd Eckhardt Rainer Werner Fassbinder. In 17 Jahren 42 Filme - Stationen eines Lebens für den deutschen Film München 1982, S. 29 u. S. 134 2.1.13 Was alle getrennt sind, ist Arnheim in einer Person (47) _____________________________________________________________ 154 2.1.13 Was alle getrennt sind, ist Arnheim in einer Person (47) 2.1.13.1 Arnheim (Rathenau) und die Molekularphysik Dr. Paul Arnheim, für den bekanntlich der zu Musils Zeiten agie- rende Schriftsteller, Vorstandsangehörige eines Elektrokonzerns und deutsche Außenminister Walther Rathenau Modell gestan- den hat, wird beschrieben und charakterisiert. Musil kannte die Schriften Rathenaus und veröffentlichte 1914 eine für Rathenau nicht besonders positive Besprechung seines Buches Zur Me- chanik des Geistes. Darin schreibt Musil beispielsweise: ... heißt es von seelenvollen Völkern, es herrschten bei ihnen Glaube, Treue, Krieg, positive Ideale und fern seien ihnen Materielles, Friede, Gelehrsamkeit, Analyse, während man mit vielen heute fühlt, daß es kriegerische Tugenden auch in der Gelehrsamkeit geben könne, weiß, daß Friede und Glaube meist eine Einheit bilden, dafür kämpft, daß Ideale nicht vor die Analyse gesetzt werden, sondern nach ihr erwachsen mögen --: so erkennt man, daß hier trotz aller Modernität die Welt wieder einmal in Himmel und Hölle zerschnitten wird, während zwischen beiden, aus irgendeiner Mischung, gerade aus einer, freilich noch sehr zu untersuchenden Mischung von gut und böse, krank und gesund, egoistisch und hingebend ... die Fragen der Erde blühen. (pr S. 1017)192 Die folgende Textstelle aus Musils Tagebüchern zeigt sehr le- bendig, in welchem Licht Dr. Rathenau Musil erschien: 11. Jänner: Dr. W. Rathenau: Ein wundervoller englischer Anzug. Hellgrau mit dunklen, von kleinen weißen Augen gerahmten, Längsstreifen. Behaglicher warmer Stoff und doch unendlich weich. ... Etwas Negroides im Schädel. Phönikisches. Stirn und vorderes Schädeldach bilden ein Kugelsegment, dann steigt der Schädel – hinter einer kleinen Senkung, ei- nem Stoß – rückwärts empor. Die Linie Kinnspitze – weitestes Hinten des Schädels steht beinahe unter 450 zur Horizontalen, was durch einen kleinen Spitzbart (der kaum als Bart sondern als Kinn wirkt) noch ver- stärkt wird. Kleine kühne gebogene Nase. Auseinan- dergebogene Lippen. Ich weiß nicht wie Hannibal 192 Siehe auch: Anmerkung 124 in (tg2 S. 172-173) 2.1.13.1 Arnheim (Rathenau) und die Molekularphysik _____________________________________________________________ 155 aussah, aber ich dachte an ihn. Er sagt gern: Aber, lieber Doktor und faßt einen freundschaftlich beim Oberarm. Er ist gewohnt, die Diskussion sofort an sich zu reißen. Er ist doktrinär und immer dabei ein großer Herr. Man macht einen Einwand. Gern; ich opfere ihnen diese Voraussetzung ohne weiteres, aber - - Er sagt: ... Nur wenn sie die Intuition haben, erreichen sie im Geschäftsleben etwas über die Menschen; wenn sie visionär sind und nicht an den Zweck denken,... (Was meinen anderen Frechen erschüttern könnte. Das sei auch nötig, frägt er sich. Nicht nur die äußere Präpotenz, sondern auch dieser innere Schwindel? Knacks.) (tg1 S. 295-296) Einiges davon läßt sich auch auf dem Photo Rathenaus wieder- erkennen, das in der folgenden Abbildung 39 zu sehen ist: Abbildung 39 Photographie Walther Rathenaus aus dem Jahre 1915. Vergleiche Corino Robert Musil S. 212. Zu Rathenaus großem 'Integrationscharakter' siehe: Rolf Parr Männer der Geschichte - historische oder semantische 'Größe'? Der Deutschunterricht, II (1995), S. 54-55 Liest man heutzutage Teile des Rathenauschen Werks Zur Me- chanik des Geistes193, in welchem er laut Konversationslexikon 'vom Zwiespalt zwischen Intellekt und Seele ausgeht', so findet man ein schwülstiges Gemisch aus religiösen Allgemeinplätzen und sonstigen Binsenwahrheiten vor, das man niemandem zur Lektüre empfehlen kann. Übel fallen auch seine 'fortschrittlichen Gedanken' in einer seiner Schriften Staat und Judentum. Eine Polemik auf. Darin sind zumindest tendenziell rassistische An- sichten wiederzuerkennen, wenn beispielsweise zu erfahren ist: Es liegt nahe, den Juden anzuraten, durch energische Selbster- 193 Walther Rathenau Zur Mechanik des Geistes. Berlin 1918 2.1.13 Was alle getrennt sind, ist Arnheim in einer Person (47) _____________________________________________________________ 156 ziehung ... alle ablegbaren Seltsamkeiten zu beseitigen. ... Von den Juden erhoffe ich, daß sie auch während der Dauer ihres Minderrechts unablässig an ihrer Selbsterziehung arbeiten, in allen guten Tugenden mit ihren christlichen Landsleuten wetteifern ... 194 Musil scheint dann an den vorher im Zusammenhang mit Rathe- nau erwähnten Knacks anzuknüpfen, und schlägt zur Kennzeich- nung Arnheims im dmoe einen feinen ironischen Ton an: Daß er mit Großindustriellen über die Industrie und mit Bankleuten über die Wirtschaft zu sprechen ver- mochte, war verständlich; aber er war imstande, ebenso unumschränkt über Molekularphysik, Mystik oder Taubenschießen zu plaudern. Er war ein außer- ordentlicher Redner; wenn er einmal angefangen hat- te, hörte er so wenig auf, wie man ein Buch abschlie- ßen kann, ehe darin alles gesagt ist, was zum Wort drängt; ... "Das ist übrigens schon kein Geist mehr," ging Ulrich auf dieses Staunen ein, "das ist ein Phänomen wie ein Regenbogen, den man beim Fuß fas-sen und ganz richtig betasten kann. Er spricht von Liebe und Wirtschaft, von Chemie und Kajakfahrten ..." (S. 189-190) Man kann sich kaum weiter auseinanderliegende Wissensgebiete vorstellen als Musil sie hier genannt hat: Molekularphysik, My- stik, Taubenschießen. Rolf Parr macht hieran anknüpfend auf ein grundlegendes Mu- ster aufmerksam, nach dem die totalisierenden Charaktere 'gro- ßer Männer' literarisch generiert werden, und zeigt Musils Kon- zept, eigentlich Widersprüchliches in den Charaktermerkmalen Arnheims zu integrieren. Er schreibt: (dmoe-)Kapitel 47 führt die aus der Kopplung der beiden Paradigmenketten von Charak- tereigenschaften entspringenden horizontal-sozialen ... wie auch die vertikal-quantitativen Integrationseffekte quer durch die entlegendsten Spezialwissensbereiche ... narrativ vor. Dabei bedient sich Musil des von Roman Jakobson beschriebenen poetischen Grundgesetzes der Abbildung von Paradigmen auf Syntagmen in beiderlei Richtung, ... .195 Die im dmoe-Text erwähnte Molekularphysik soll im folgenden näher bezeichnet werden. Dazu gehören vor allen Dingen die molekularen experimentellen Untersuchungen von Gasen, Flüs- 194 Walther Rathenau Gesammelte Schriften. Mahnung und Warnung 1. Bd., Berlin 1918, S. 186 u. S. 206 195 Parr, S. 56; vergleiche auch: Roman Jakobson Poetik Elmar Holenstein und Tar- cisius Schelbert (Hg.), Frankfurt a. Main 1998, S. 94 ff 2.1.13.1 Arnheim (Rathenau) und die Molekularphysik _____________________________________________________________ 157 sigkeiten und Feststoffen und die korrespondierenden theoreti- schen Behandlungen, wie z.B. die kinetische Gastheorie und die generellen Transporttheorien der statistischen Mechanik (Nicht- gleichgewichtstheorien). Das Gebiet umfaßt weiterhin die Mole- kularstrahl-Streuexperimente, welche die Bestimmung der Wir- kungsquerschnitte von Molekülen und Atomen erlauben196. Die von Musil des öfteren erwähnte kinetische Gastheorie wurde durch Boltzmann zu großem Erfolg geführt. Sie wird im Laufe der vorliegenden Arbeit mehrfach vorgestellt. Transporttheorien für dichte Gase und Flüssigkeiten sind sehr komplexe For- schungsbereiche der molekularen theoretischen Physik, welche erst in jüngster Zeit durch den Einsatz von Großrechnern größere Erfolge hatten (McQuarrie, S. 455-456). Das 'Plaudern über Molekularphysik' dürfte folglich selbst für "die semantische Größe", den Herrn der Spezialdiskurse Arn- heim nicht über das Aufzählen von Allgemeinplätzen hinausge- gangen und die gewünschte Ironie unverkennbar sein. Musil hat Arnheim im dmoe auch des öfteren einen 'Großschriftsteller' ge- nannt. Was damit gemeint war, deutet er in Tagebuchbemerkun- gen an: Der 'Großschriftsteller' könnte ein Bändchen umfas- sen. Die Weltflachheit, die amerikanisch = englische. .... Man ist heute Großschriftsteller ohne die schrift- stellerische Größe. (tg1 S. 973-974) Diese und ähnliche Bemerkungen in den Tagebüchern werden in der Forschung z.T. so ausgelegt, als habe Musil damit auf Thomas Mann angespielt, ihn sozusagen als Inkarnation des Großschriftstellers gesehen197. Musil hatte zu Thomas Mann in der Tat ein sehr ambivalentes Verhältnis. Ob man allerdings in der Auswertung seiner Tagebuchnotizen soweit gehen darf, erscheint zweifelhaft. Schließlich dürfte Arnheims 'Plaudern über Mystik' kaum mehr als Konversation gewesen sein. Musil selbst war dagegen ein Kenner der Mystik, angefangen bei derjenigen des Hohen Mittelalters198 bis zum Mystikverständnis Martin Bubers. 196 J. Schöttler, J.P. Toennies Experimental evidence for spectator mechanism in the dissociation of H2 by single collisions with Li+ Chem. Phys. Lett. 12 (1972), 615 ff 197 Vergleiche Corino Robert Musil S. 256 198 Mechthild von Magdeburg Das fließende Licht der Gottheit H. Neumann, G. Vollmann-Profe (Hg.), Bd. I, München 1990; Wagner-Egelhaaf Mystik der Moderne 2.1.14 Ulrich zeigt sich im Gespräch mit Walter und Clarisse reaktionär (54) _____________________________________________________________ 158 2.1.14 Ulrich zeigt sich im Gespräch mit Walter und Clarisse reaktionär (54) 2.1.14.1 Reihen und Ringe Ulrich ist mit Walter und Walters Ehefrau Clarisse seit langem befreundet. Zwischen Clarisse und Ulrich hat sich ein besonders freundschaftliches Verhältnis entwickelt, während seine Freund- schaft zu Walter allmählich abnimmt. Bei einem Besuch Ulrichs kommt es auf einem Spaziergang zu einer angeregten Unterhal- tung, in der Ulrich u.a. die Werke Arnheims nicht ohne Ironie zu erklären versucht: ... und Ulrich mußte ihr ... die Schriften Arnheims erklären. Es war darin von algebraischen Reihen die Rede und von Benzolringen, von der materialisti- schen Geschichtsauffassung und der universalisti- schen, von Brückenträgern, der Entwicklung der Mu- sik, dem Geist des Kraftwagens, Hata 606, der Rela- tivitätstheorie, der Bohrschen Atomistik, dem autoge- nen Schweißverfahren199, der Flora des Himalaja, der Psychoanalyse, der Individualpsychologie, der Experimentalpsychologie, der physiologischen Psy- chologie, der Sozialpsychologie und allen anderen Errungenschaften, die eine an ihnen reich gewordene Zeit verhindern, gute, ganze und einheitliche Men- schen hervorzubringen. ..."Viele behaupten heute etwas Ähnliches," erläuterte Ulrich, "aber Arnheim glaubt man es, weil man sich ihn als einen großen, reichen Mann vorstellen darf, der bestimmt alles genau kennt, wovon er spricht, selbst am Himalaja war, Kraftwagen besitzt und Benzolringe trägt, so viele er will!" Clarisse wollte wissen, wie Benzolringe aussehen; eine unklare Erinnerung an Karneolringe leitete sie. "Du bist trotzdem reizend, Clarisse!" meinte Ulrich. "Gott sei Dank, braucht sie nicht jeden chemischen Unsinn zu verstehn!" verteidigte sie Walter; ... (S. 213-214) 199 Autogenes Schweißen beruht darauf, daß die zu verschweißenden Metalle punk- tuell sehr heiß gemacht und gegebenenfalls mit einem Bindemittel an den vorgese- henen Stellen 'verschmolzen' werden. Dazu bedarf es einer sehr feinen Stichflamme, die mit einem geeigneten Brenner erzeugt wird. Meistens wird als Heizgas ein Ge- misch aus Azetylen (chemisch: C2H2; der Kohlenstoff geht dabei eine Dreifachbin- dung ein) und Sauerstoff genommen. Heute kennt man eine Vielzahl elektrischer Schweißmethoden, die wesentlich effektiver als die autogene Schweißtechnik sind. Vergleiche: H. Appold, K. Feiler, A. Reinhard, P. Schmidt Technologie Metall für maschinentechnische Berufe Hamburg 1982, S. 234-244 2.1.14.1 Reihen und Ringe _____________________________________________________________ 159 Die meisten der in dem Kettensatz des Erzählers angesprochenen Fachbegriffe sind uns heute nicht (mehr) fremd, wenn man von Hata 606 absieht200. Einige müssen aber genauer erklärt werden. Unter einer (algebraischen) Reihe versteht man die Aufsummie- rung der Glieder einer unendlichen Zahlenfolge, wobei die Glie- der der Folge nach einer bestimmten Rechenvorschrift gebildet werden. Besonders interessant sind die sog. konvergenten Rei- hen, die einem endlichen Grenzwert zustreben201. Ein berühmt gewordenes Beispiel aus dem Altertum ist der Wettlauf zwischen Achilles und einer Schildkröte, der man einen gewissen anfäng- lichen Vorsprung eingeräumt hat. Nach antiken Überlegungen war es rein theoretisch dem Achilles trotz seiner zwölfmal höhe- ren Geschwindigkeit nicht möglich, die Schildkröte einzuholen. Nimmt man den Vorsprung als Einheit, so läßt sich der von Achilles zurückgelegte Weg S bis zu dem Punkt, wo er die Schildkröte erreicht, in der folgenden Reihe darstellen: S = 1 + 1/12 + 1/122 + 1/123 + ... . Damals glaubte man, S werde unendlich groß, und Achilles kön- ne deshalb die Schildkröte (auf dem Papier!) nicht einholen202. In Wahrheit handelt es sich hier um eine geometrische Reihe, eine konvergente Reihe, deren Grenzwert endlich ist und 12/11 be- trägt. Mit anderen Worten, das zweite Glied und alle weiteren tragen insgesamt nur 1/11 zum Gesamtbetrag der Reihe bei. Die chemische Summenformel der organischen, bei Zimmer- temperatur farblosen Flüssigkeit Benzol, die im zweiten Teil des zitierten Romantextes erwähnt wird, lautet C6H6 und entspricht einer ringförmigen Struktur. Es hat die Chemiker jedoch große Mühe gekostet, die Ringstruktur dieser Kohlenwasserstoffver- bindung aufzuklären203. Die Besonderheit der Ringverbindung liegt darin, daß je ein Kohlenstoffatom (C-Atom) nur ein Was- serstoffatom (H-Atom) bindet, weil die C-Atome abwechselnd in eine sog. Doppelbindung eintreten. Die 4-Wertigkeit (4 Bin- dungsmöglichkeiten) des Kohlenstoffatoms bleibt dadurch erhal- ten. In der folgenden Abbildung 40 werden die Bindungsverhält- nisse im Benzolmolekül schematisch verdeutlicht: 200 Syphilispräparat des japanischen Bakteriologen S. Hata (Meyers Enzyklopädi- sches Lexikon Mannheim 1971, Bd. 11, S. 500). Musil war bekanntlich an Syphilis erkrankt und es ist nicht sicher, ob er geheilt werden konnte (Corino Robert Musil S. 74 und S. 118; siehe auch: Corinos demnächst erscheinende Musil-Biographie). 201 Handbuch d. Math., S. 387 ff 202 Vergleiche J. Kaizik, S. 10 (Fußnote 4) 203 Holleman-Wiberg, S. 303 ff 2.1.14 Ulrich zeigt sich im Gespräch mit Walter und Clarisse reaktionär (54) _____________________________________________________________ 160 Abbildung 40 Schematische Darstellung der Benzol- ringstruktur. Zwischen den C-Atomen herrscht abwech- selnd Doppel- oder Einfachbindung, man spricht von Resonanzbindungsstrukturen. Die Doppelbindung ist durch zwei Striche gekennzeichnet. Nur diese Ringstruktur ist sinnvoll mit der Summenformel des Benzols und der Vierwertigkeit des Kohlenstoffatoms zu vereinbaren. Siehe: Moore, S. 538-544 oder Roberts et al.204 Ringstrukturen finden sich in vielen organischen Substanzen, z.B. dem Farbstoff Anilin. Meistens sind mehrere solcher Ringe miteinander verbunden, z.T. auch die Wasserstoffatome durch andere Verbindungen ersetzt. Der ironisch erwähnte Karneol ist eine natürlich vorkommende, rötliche, faserige, kryptokristalline Form des Quarzes. Chemisch stellt Quarz das Siliziumdioxyd SiO2 dar. Es kommt als Kristall in hexagonaler Gitterstruktur vor. Abbildung 41 zeigt den Aufbau des atomaren Gitters und das Aussehen des Kristalls205: Abbildung 41 Schematische Darstellung des Quarzkri- stalls (SiO2). Links: atomare Struktur des Gitters. Rechts: 204 Die Bindungsverhältnisse im Benzolring sind wesentlich komplizierter als hier dargestellt werden konnte. Dazu: Moore, S. 538 ff; John D. Roberts, Ross Stewart, Marjorie C. Caserio Organic Chemistry: Methane to Macromolecules Menlo Park 1972, S. 127 ff 205 Rudolf Jubelt Mineralien. Sammeln. Bestimmen. Vorkommen. Merkmale. Stuttgart 1978, S. 206-208; Gunter Steinbach (Hg.) Mineralien München 1982, S. 106-110 2.1.14.2 Relativitätstheorie _____________________________________________________________ 161 Aussehen des Quarzkristalls. In der linken Zeichnung be- deuten die dunklen, bzw. schattierten Kreise Siliziumato- me, die leeren Kreise Sauerstoffatome. Siehe: Jubelt, S. 207; Steinbach, S. 9-10 Karneol ist wegen seiner Farbe nach der Kornelkirsche benannt. Die feinsten Sorten des Karneols kommen in Indien vor. Durch Sonneneinstrahlung kann der Ton des Steins noch rötlicher ge- macht werden. In Abbildung 42 findet sich eine Photographie des Steins in Rohform und bearbeitet: Abbildung 42 Abgebildet ist Karneol in Rohform (2) und in der für die Schmuckherstellung bearbeiteten Form (3: sieben Stücke). Die meisten der heute auf dem Markt angebotenen 'Karneole' sind jedoch rötlich gefärbte Achate (ebenfalls Quarze). Siehe: Walter Schumann Edelsteine und Schmucksteine München 1981, S. 116-126 Karneole sind auch gut geeignet für die Herstellung von schönen Fingerringen. Die Verwechslung von Benzol und Karneol wird etwas abwertend gerade Clarisse zugemutet. Vielleicht hat Wei- ningers Buch doch einen gewissen Einfluß auf Musil ausgeübt (s. Abschnitt 2.1.9.4 der vorliegenden Arbeit). Offenbar hat Mu- sil aber mehrfach an der entsprechenden Formulierung im dmoe laboriert, denn im Nachlaß klingt die betreffende Stelle deutlich anders: Clarisse erkundigte sich danach, was Benzolringe seien. Walter erläuterte, das sei ein chemischer Un- sinn Ulrichs, und war ärgerlich über Ulrich, der Clarisse hineingelegt hatte. (nl VII/15/194) 2.1.14.2 Relativitätstheorie Die Erklärung der im anfänglichen Romanzitat erwähnten Rela- tivitätstheorie erfordert einige grundsätzliche Vorbemerkungen. Man darf zunächst annehmen, daß Ulrich die spezielle Relativi- 2.1.14 Ulrich zeigt sich im Gespräch mit Walter und Clarisse reaktionär (54) _____________________________________________________________ 162 tätstheorie gemeint hat. Dafür sprechen Musils Notizen in den Tagebüchern. Darin heißt es: Die entscheidenden Geschehnisse für das Menschen- innere vollziehen sich unbemerkt in der Physik. An handgreiflichen Analogien zwischen Makro- und Mi- krokosmos wird schließlich selbst das bürgerliche Leben nicht vorübersehen können. ... Durch Lorentz Zeit u. Raum relativiert worden. Konsequenz aus der Vergeblichkeit in der klass. Mechanik absoluten Raum und absolute Zeit physikalisch zu fixieren. Zu- nächst also aus der Not eine Tugend gemacht. Dann durch Relativitätstheorie erweitert. (tg2 S. 1253) Die allgemeine Relativitätstheorie206, welche mit einer allgemei- nen Feldtheorie zusammenzunehmen wäre, wobei Ursprung und Form der Massenanziehung (Gravitation) neu formuliert werden müßten, gibt es in befriedigender Form bis heute nicht. Zwar hat man inzwischen Ansätze, alle bekannten Wechselwirkungen als Eigenschaften eines höher dimensionalen Raums zu beschreiben, eine Quantentheorie der Gravitation existiert aber noch nicht.207 Nur die wesentlichen Züge der speziellen Relativitätstheorie208 sollen im folgenden besprochen werden (siehe auch Abschnitt 2.2.7.3 der vorliegenden Arbeit). Auszugehen ist von zwei grundsätzlichen Postulaten: (i) Die physikalischen Gesetze und Prinzipien gelten in derselben Form für alle Inertialsysteme209, d.h. für alle Bezugssysteme, die sich nur darin unterscheiden, daß sie sich relativ zueinander mit konstanter Geschwindigkeit bewegen. (ii) Die Lichtgeschwindigkeit ist für alle Inertialsysteme gleich. Beide Voraussetzungen sind empirisch soweit bestätigt worden, wie dies meßtechnisch möglich ist. Der berühmt gewordene Mi- chelson-Morley-Versuch210 hat keine Veränderung der Lichtge- schwindigkeit für unterschiedliche Inertialsysteme angezeigt. Die beiden Postulate haben weitreichende Konsequenzen für die Transformationsgleichungen, wenn vom einen zum anderen Be- 206 Siehe: Albert Einstein und Leopold Infeld Die Evolution der Physik Hamburg 1958, S.141-164 oder Robert Bruce Lindsay and Henry Margenau Foundations of Physics New York 1957, S. 356-377 207 Bergmann-Schaefer Lehrbuch der Experimentalphysik. Teilchen. Bd. 4, Berlin 1992, S. 611-612; Bergmann-Schaefer, Bd. 8, S. 382 ff 208 Einstein und Infeld, S. 86-141. Ausführliches in moderner Sicht findet sich in: Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 877- 960 209 Vergleiche: DTV-Lexikon d. Phys., Bd. 4, S.187 210 Einstein und Infeld, S. 118; Pohl, Bd. 2, S. 237-238; Bergmann-Schaefer Lehrbuch der Experimentalphysik. Optik. Bd. 3, Berlin 1993, S. 1154-1158 2.1.14.2 Relativitätstheorie _____________________________________________________________ 163 zugssystem übergegangen wird. Im Gegensatz zu den klassi- schen Galilei-Transformationsgleichungen müssen die neuen relativistischen Gleichungen, die sog. Lorentz-Einstein-Transfor- mationsgleichungen211, auch eine Veränderung der Zeitkoordina- te enthalten. Dies bewirkt für ein Inertialsystem, welches sich mit einer Geschwindigkeit von der Größenordnung der Lichtge- schwindigkeit bewegt, erhebliche Änderungen in Zeit, Länge usw.212 relativ zu einem ruhenden System. Im folgenden werden die klassischen Galilei-Transformationsgleichungen den relativi- stischen Lorentz-Einstein-Gleichungen gegenübergestellt: ____________________________________________________________ GALILEI S  S' S'  S ____________________________________________________________ x' = x - ut x = x' + ut y' = y y = y' z' = z z = z' t' = t t = t' ____________________________________________________________ LORENTZ - EINSTEIN ____________________________________________________________ x' = (x - ut) x = (x' + ut') y' = y y = y' z' = z z = z' t' = (t - (u/c)(x/c)) t = (t' + (u/c)(x'/c)) ____________________________________________________________ S bezeichnet dabei das ruhende System mit den Raum- und Zeitkoordinaten x, y, z, t; S' stellt das mit der Geschwindigkeit u gleichmäßig bewegte System in den Raum- und Zeitkoordinaten x', y', z', t' dar und c bedeutet die Lichtgeschwindigkeit. Der Faktor  ist dabei wie folgt abgekürzt:  = 1/[1 - (u/c)(u/c)]1/2. Aus dem Vergleich der beiden Transformationsarten geht un- mittelbar hervor, daß bei kleinen Geschwindigkeiten, u « c, der Unterschied zwischen beiden Transformationen entfällt. Das Einsteinsche Prinzip der Relativität hat grundsätzliche Aus- wirkungen auf unser Verständnis von Raum und Zeit. Zwar sind die Zeiten im bewegten und ruhenden Bezugssystem untereinan- der völlig gleichberechtigt, sie unterscheiden sich aber relativ zueinander. Relativiert ist auch der Begriff der Gleichzeitigkeit. 211 Hendrik Antoon Lorentz, holländischer Physiker (1853-1929), arbeitete vor allem an der Entwicklung der elektromagnetischen Lichttheorie. Nach ihm ist die lineare Transformation der kartesischen Raum- und Zeitkoordinaten in andere Koordinaten benannt, wobei das transformierte Koordinatensystem sich geradlinig gleichförmig gegenüber dem ursprünglichen bewegt, und in beiden Systemen dasselbe Gesetz der Lichtausbreitung gilt. DTV-Lexikon d. Phys., Bd. 6, S. 24-31. Vergleiche auch: Lindsay u. Margenau, S. 334-342. 212 Lindsay u. Margenau, S. 335-342 sowie S. 347-355; Pohl, Bd. 2, S. 237-238; Bergmann - Schaefer, Bd. 3, S. 1158 ff 2.1.14 Ulrich zeigt sich im Gespräch mit Walter und Clarisse reaktionär (54) _____________________________________________________________ 164 Absolute Gleichzeitigkeit für zwei Ereignisse ist nicht mehr fest- stellbar. Es läßt sich aber eine vom Bewegungszustand des Be- obachters abhängige, sog. relative Gleichzeitigkeit bezeichnen. Da es gleichgültig ist, welches von zwei Systemen als ruhend oder bewegt anzusehen ist, erscheinen einem ruhenden Beobach- ter die Längen eines mit der Geschwindigkeit u bewegten Kör- pers in Richtung der Bewegung um den Faktor 1/ verkürzt. In analoger Weise gilt dies für die Zeit: eine Zeitdifferenz erscheint vom bewegten System aus um den Faktor  vergrößert oder dem bewegten Beobachter scheint eine ruhende Uhr langsamer zu gehen. Dasselbe gilt für die Ablesung einer bewegten Uhr durch einen ruhenden Beobachter. Die Zeit ist deshalb aus relativi- stischer Sicht kein absolut fester Parameter mehr, sondern jeder Beobachter hat neben seinen eigenen Raumkoordinaten r = (x, y, z) auch seine dazugehörige Beobachterzeit t. Raum und Zeit sind daher als völlig gleichwertige Parameter anzusehen, und die Längenkoordinate ct kann sogar als unabhängige vierte Koordi- nate zur Beschreibung des sog. Raumzeit-Kontinuums dienen. Der Ereignisvektor s = {ct, r} spielt dabei eine zentrale Rolle. Hermann Minkowski hat eine interessante Geometrie dieser vierdimensionalen Beschreibung von Raum und Zeit eingeführt, welche ein tieferes Verständnis der Relativitätstheorie auf einfa- che Weise ermöglicht. Im folgenden wird mit Hilfe der Abbil- dung 43 eine kurze Beschreibung der Minkowskischen Geome- trie des vierdimensionalen Raumzeit-Kontinuums vorgestellt: Abbildung 43 Klassifizierung des Ereignisabstands im Minkowski-Raum (die Raumkoordinate in z-Richtung kann hier natürlich nicht eingezeichnet werden). Die einge- teilten Bereiche sind definiert durch die Möglichkeit, kausal mit dem Raum-Nullpunkt {ct0, x = 0, y = 0, z = 0} verbundene Ereignisse zu enthalten. Es bedeuten die Berei- 2.1.14.2 Relativitätstheorie _____________________________________________________________ 165 che I + und I - 'absolute Zukunft' bzw. 'absolute Vergangen- heit', der Bereich II 'Lichtkegel' und der Bereich III 'absolute Ferne'. Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 952 Um die in Abbildung 43 dargestellte Figur zu verstehen, ist die Einführung von Ereignisabständen unter Benutzung der Defini- tion des Ereignisses s = {ct, r} nötig. Der Abstand zwischen zwei Ereignissen s und s' = {c(t+dt), r+dr} ist folgendermaßen mit dem Raumzeit-Abstand verknüpft (ds)2 = (s' - s)2 = (cdt)2 - (dr)2 = (dt)2(c2 - u2) . Das Vorzeichen des Ereignisabstandes ds2 erlaubt nun eine inva- riante Klassifizierung der möglichen Relationen zwischen zwei Ereignissen. Messen wir alle Ereignisabstände vom Ursprung der Raumkoordinate s = {ct0, 0} aus, so erhalten wir gerade die Figur der obigen Abbildung 43. Es können im einzelnen fol- gende Raumzeit-Bereiche unterschieden werden: I Zeitartiger Bereich In I + und I - ist dr2 = (dr)2 größer Null, also dr2 kleiner c2dt2 = c2(dt)2. Deshalb werden die Abstände in diesen Bereichen 'zeitartig' genannt. Innerhalb dieser zeitartigen Bereiche sind alle Er-eignisse durch sog. Weltlinien mit dem Ursprung verbunden, für welche u < c gilt. Derartig verbundene Ereignisse können aufeinander wirken, sie sind kausal miteinander verknüpfbar. Folglich ist I+ der Bereich absoluter Zukunft, in welchem alle Er- eignisse möglich sind, die ihre Ursache im Ursprung haben. Der Bereich I- ist derjenige der absoluten Vergangenheit, welcher diejenigen möglichen Ereignisse umfaßt, die im Nullpunkt wirksam werden können. Dabei bezeichnet t0 den Zeitpunkt der mathematischen Gegenwart. II Nullabstandsbereich Für II gilt: ds2 = 0 und u2 = c2 . Dieser Bereich II ist durch den Lichtkegel gegeben, welcher in drei Raumdimensionen in eine Lichtkugel übergeht. Photonen und alle anderen masselosen Teilchen haben hier ihre Ereignisfläche. Für diese Teilchen gibt es kein Ruhesystem, sie können sich nur mit u = c fortbewegen. Alle Ereignisse sind über die Lichtgeschwindigkeit c mit dem Nullpunkt verbunden, der Kegel trennt die Bereiche absoluter Zukunft und Vergangenheit vom äußeren Bereich III, in welchem keine kausalen Verknüpfungen möglich sind. 2.1.14 Ulrich zeigt sich im Gespräch mit Walter und Clarisse reaktionär (54) _____________________________________________________________ 166 III Raumartiger Bereich Für diesen Bereich III ist der Ereignisabstand stets kleiner Null. D.h. die dort möglichen Ereignisse sind nur durch Geschwindig- keiten größer als die Lichtgeschwindigkeit, u2 › c2, miteinander zu verbinden, also nicht mehr kausal. Man nennt diesen Bereich auch absolute Ferne. Das bisher Gesagte bezieht sich auf die Annahme, daß der Ursprungspunkt zeitlich fest bleibt (siehe Abb. 43, S. 164). Der räumliche Koordinatenanfangspunkt wandert aber entlang der Zeitachse. So können beispielsweise zwei bestimmte Ereignisse im Bereich III, die zunächst nicht miteinander verknüpfbar sind, zu einem späteren Zeitpunkt, wenn der Ursprung entsprechend gewandert ist, durchaus verknüpfbar sein. Abschließend sei noch auf folgendes aufmerksam gemacht: in den heute sehr verbreiteten 'science-fiction'-Darstellungen kom- men oft 'Raumschiffe' vor, welche sich mit lichtähnlicher Ge- schwindigkeit auf andere Sonnensysteme zubewegen, und für deren Besatzung die Zeit wesentlich langsamer vergeht als für die Erdbewohner. Es gibt aber bisher keine Möglichkeit, - und es wird eine solche in absehbarer Zukunft auch nicht geben - Raumschiffen mit oder ohne Besatzung auch nur annähernd Lichtgeschwindigkeit (300000 km/s) zu verleihen. Die Ge- schwindigkeiten der schnellsten modernen Raketenprojektile sind noch mehrere Größenordnungen kleiner als die Lichtge- schwindigkeit, so daß relativistische Effekte überhaupt keine Rolle spielen (siehe auch Abschnitt 2.2.7.3 der vorliegenden Arbeit). 2.1.14.3 Atomphysik und Wissenschaftssucht Die ebenfalls im dmoe-Zitat erwähnte Bohrsche Atomistik weist auf die Anfänge der Quantenmechanik der Physik hin. Der dänische Physiker Niels Bohr legte damals als erster ein einfaches quantentheoretisches Modell für das Wasserstoffatom vor213. Damit ließen sich viele Ergebnisse optischer Experimente (im wesentlichen spektralanalytische Lichtabsorptions- bzw. Lichtemissionsexperimente) an Wasserstoff erklären. Das Wasserstoffatom (H) besteht aus einem positiv geladenen Kern, dem Proton, und einem negativ geladenen Elektron. Bohr 213 Pohl, Bd 3, S. 226-229; Moore, S. 471-477; Kamke u. Walcher, S. 135-136 2.1.14.3 Atomphysik und Wissenschaftssucht _____________________________________________________________ 167 behandelte deshalb dieses elektrische System nach dem Planetenmodell. Musil erklärt dazu im Nachlaß: Atom: Um den + (positiven) Kern kreisen in Kepler- schen Bahnen negative Elektrizitätsatome (Elektro- nen). Unter äußeren Anlässen übergehen die Elektro- nen aus einer Ellipsenbahn in eine andre u. dann wieder zurück, wobei sie aufgenommene Energie wieder abgeben. Dauerzustand entsprechen nur Bah- nen deren Bestimmungsstrecke mit h (Plancksches Wirkungsquantum) zusammenhängen. Die Elektro- nen können nur Energie aufnehmen oder abgeben, die der Differenz der Energiewerte der Bahnen entsprechen. (nl IV/3/173) Bohr berechnete die stabile Bahn eines den Kern umkreisenden Elektrons, die sich einerseits aus der elektrischen Anziehung zwischen Kern und Elektron und andererseits aus der entstehen- den Zentrifugalkraft ergibt. Der errechnete Bahnradius wird heu- te noch als Bohrscher Radius bezeichnet. Dieses Bohrsche Atommodell enthält aber zunächst einen Widerspruch. Denn ein sich in dieser Weise bewegendes Elektron strahlt dauernd elek- trische Energie ab, und würde deshalb keine stabile Umlaufbahn einnehmen können, sondern in kurzer Zeit auf den Kern (das Proton) prallen. Bohr machte aber aus der Not eine Tugend, und postulierte, im atomaren Bereich müsse für bestimmte Umlauf- bahnen Stationarität gelten, mir anderen Worten auf diesen Um- laufbahnen könne sich das Elektron strahlungsfrei bewegen. Die Umlaufbahnen konnte Bohr dann durch die sog. Hauptquanten- zahlen n (positive ganze Zahlen) festlegen. Für n=1 ergab sich der eben erwähnte kleinste Radius, für n=2 der nächst größere stabile Radius, usw.. Das Wasserstoffatom befindet sich demge- mäß im Grundzustand, wenn das Elektron die Bahn mit dem kleinsten Radius einnimmt, in einem angeregten Zustand, wenn es eine Bahn mit größerer Quantenzahl als eins, also mit größe- rem Radius durchläuft. Beim Bahnwechsel von einer größeren zu einer kleineren Umlaufbahn verliert das Elektron Energie, die als Lichtstrahlung ausgesandt wird, und gemessen werden kann. Umgekehrt nimmt das Atom eine bestimmte Energie auf, wenn es vom Grundzustand in einen angeregten übergeht. Die Expe- rimente ergaben, daß die Strahlungsenergie tatsächlich nur gequantelt auftritt und mit guter Genauigkeit den Energiewerten entspricht, die Bohr vorausberechnete. Aber bereits beim Heliumatom (doppelt geladener Atomkern, zwei Elektronen) versagte das Bohrsche Atommodell völlig. Die beobachtete Lichtstrahlung des Heliumatoms konnte nicht nach 2.1.14 Ulrich zeigt sich im Gespräch mit Walter und Clarisse reaktionär (54) _____________________________________________________________ 168 der Bohrschen Berechnungsmethode bestimmt werden. Man konnte am Bohrschen Modell nicht mehr festhalten. Es zeigte sich später, daß die Elektronbewegung als Welle bzw. als Line- arkombination von Wellen zu behandeln ist, die bestimmten Rand- und Stationaritätsbedingungen zu gehorchen hat. In der modernen Quantenmechanik wird das Verhalten der Elektronen im Atom anhand bestimmter Wellenfunktionen studiert, welche Lösungen der Schrödinger-Gleichung sind. Die Observablen, also die meßbaren Größen, werden schließlich aus geeigneten Eigenschaften dieser Wellenfunktionen (Wahrscheinlichkeits- amplituden) berechnet. Die zu erfüllende Wellengleichung ent- hält bereits das quantenhafte Verhalten atomarer Systeme, und sie behält ihre Gültigkeit auch für weitaus kompliziertere Atome als das Wasserstoffatom214. Musil fand sehr großes Interesse an Entwicklung und Fortschritt der Atomtheorien, wie ein Absatz im Nachlaß belegt, in wel- chem er das Plancksche215 Strahlungsgesetz und dessen Bedeu- tung für die Quantentheorie in groben Zügen darlegt. Der Text soll hier ohne Formeln wiedergegeben werden: Planck'sche Quantentheorie ... Wärmestrahlung ... Hypothetisch angenommen: Oszillatoren, kleine, schwingungsfähige Systeme, elektrische u. chemische Atome im Innern des Körpers. Aufgabe in zwei Teile zerlegt. 1. Beziehung zwischen Intensität und mittle- rer Schwingungsweite der Oszillatoren bestimmter Schwingungszahl. Ließ sich auf Grund der vorgele- genen Theorie lösen. 2. Beziehung zw. dieser Schwingungsweite und Temperatur. Eine Lösung von 2) ergab sich nur unter der Annahme ganz bestimm- ter Schwingungsweiten der Oszillatoren, also be- stimmter Energiewerte. (Die ja proportional den Quadraten d. Schwingungsweiten sind). Und zwar unterscheiden sich diese Energiewerte voneinander um ganze Vielfache eines gewissen kleinsten Ener- giequantums oder Energieelements. ... Größe des Energieelements gleich Schwingungszahl des Oszilla- 214 Eine kurze Einführung dazu bietet das Lehrbuch von B. Diu, C. Guthmann, D. Lederer, B. Roulet Grundlagen der Statistischen Physik Berlin 1994, S. 1336-1347. Ausführlichere Darstellungen sind: Albert Messiah Quantenmechanik Joachim Streubel (Übers.), Originaltitel: Méchanique Quantique Bd. 1, Berlin 1991, S. 62- 75, S. 264-285, S. 367-382; Torsten Fließbach Quantenmechanik Bd. 3, Heidelberg, S. 1-37, S. 77-127, S. 187-228. Vergleiche auch mit Abschnitt 2.1.29.6 der vorlie- genden Arbeit. 215 Max Planck, deutscher Physiker (1858-1947), entwickelte die Quantentheorie durch seine Interpretation des Strahlungsgesetzes und die Einführung eines funda- mentalen Wirkungsquantums h. Vergleiche: DTV-Lexikon d. Phys., Bd. 7, S. 85 ff 2.1.14.3 Atomphysik und Wissenschaftssucht _____________________________________________________________ 169 tors mal Planck'sches Wirkungsquantum (h). ... Weitere Forschungen haben gezeigt, daß h den Charakter einer universellen Konstanten hat. Atome, Elektronen, Oszillatoren bevorzugen gewisse Bahnen u. diese stehen in Beziehung zu h. (Quantenbahnen). Eine Vorstellung von der Bedeutung h's hat man noch nicht. (nl IV/3/173) Es geht hier um das Verständnis der Strahlung schwarzer Körper (siehe Abschnitt 2.2.9.2 der vorliegenden Arbeit). Max Planck war der erste, dem es gelang, eine geschlossene formelmäßige Darstellung des gesuchten Strahlungsgesetzes zu finden, für das es bereits gültige Formeln bezüglich bestimmter Teilbereiche gab. Grundsätzlich neu an Plancks Überlegungen war, daß Strah- lung, im allgemeinsten Sinne Energie, in einem gewissen Be- reich nicht mehr kontinuierlich sondern nur noch diskret, also gequantelt abgegeben bzw. aufgenommen werden kann. Dazu postulierte er eine universelle Konstante, das Plancksche Wir- kungsquantum h, und formulierte die heute zum 'Physikeralltag' gehörende Energiegleichung: ε = h  , wobei  eine Frequenz bedeutet. Planck eröffnete dadurch den Weg zur modernen Atomphysik und Quantentheorie. Im obigen Nachlaßtext skizziert Musil eine Herleitung dieser allgemeingültigen Strahlungsformel216. Die dabei erwähnte "vorgelegene Theorie" ist diejenige des harmoni- schen Oszillators, eine Standardmodellbeschreibung der theoreti- schen Physik217, deren Ausführung hier unterbleiben soll. Für den Fall des quantenmechanischen harmonischen Oszillators (bestimmte atomare Randbedingungen) erhält man das von Mu- sil unter Punkt 2 angesprochene Ergebnis, daß nur diskrete Schwingungszustände bzw. Energiezustände eingenommen wer- den können. Aus heutiger Sicht läßt sich eine sehr einfache Herleitung des Planckschen Gesetzes vorführen, allerdings benötigt man dazu Grundkenntnisse der statistischen Mechanik, welche erst in Ab- schnitt 2.1.34.2 gegeben werden. Eine Ableitung des Planck- schen Gesetzes, die parallel zu derjenigen verläuft, welche Musil in dem obigen Text skizziert, soll im folgenden kurz behandelt werden. Man betrachtet eine Gruppe von Teilchen, die den 216 Interessenten der vierzigjährigen Geschichte der Entstehung der Strahlungsfor- mel seien auf die Lehrbücher von Pohl, Bd. 3, S. 280 ff und McQuarrie, S. 177 ff sowie das DTV-Lexikon d. Phys., Bd. 8, S. 306 ff verwiesen. 217 Siehe z.B.: Fließbach, S. 97-112; S. 261-269; Messiah, S. 385-402; McQuarrie, S. 3-13 2.1.14 Ulrich zeigt sich im Gespräch mit Walter und Clarisse reaktionär (54) _____________________________________________________________ 170 schwarzen Körper konstituieren und Strahlung der Frequenz  aufnehmen bzw. abgeben können. Teilchen mit der Energie E0 müssen dann z.B. einen Mindestenergiebetrag von ε = h auf- nehmen, um in den nächsthöheren angeregten Zustand zu gelan- gen. Bezeichnet man die Teilchenzahldichte der Teilchen im nichtangeregten Zustand mit n, diejenige des angeregten Zustan- des mit n*, so läßt sich für den thermodynamischen Gleichge- wichtszustand die Wahrscheinlichkeit, mit der die energiereichen Teilchen relativ zu den energieärmeren vorkommen, durch die Boltzmann-Verteilung218 angeben: n*/n = e-h/(kT), wobei k die Boltzmannkonstante und T die Temperatur bezeichnet. Folgende Möglichkeiten des Energieaustausches sind zu berücksichtigen: (i) Teilchen absorbieren Strahlung des Betrags h. (ii) Teilchen emittieren Strahlung des Betrags h (spontane Emission). (iii) Teilchen unterliegen der erzwungenen Emission, d.h. es ge- schieht die direkte Umkehrung des Absorptionsprozesses. Stellt man diese Möglichkeiten zusammen und wichtet sie mit den entsprechenden Boltzmannschen Wahrscheinlichkeiten ihres anzahlmäßigen Auftretens, so führt dies unmittelbar zur mathe- matischen Form des Planckschen Strahlungsgesetzes219. 2.1.14.4 Leibnizsches Denkvermögen Ulrich sagt später im Anschluß an den zu Beginn des Abschnitts zitierten Romantext, warum ihm dieser Arnheim und dessen enorme 'wissenschaftliche' Allgemeinbildung keineswegs beson- ders gefällt: "Der wissenschaftliche Mensch ist heute eine ganz unvermeidliche Sache; man kann nicht nicht wissen wollen! ... " ... "Die Fachleute ... vermögen sich die Vollendung ihrer Tätigkeit überhaupt nicht auszu- denken. ... Kann man sich zum Beispiel vorstellen, daß der Mensch noch eine Seele haben wird, sobald 218 Die Boltzmannsche Verteilungsfunktion bzw. der Boltzmann-Faktor wird in Abschnitt 2.1.34.2 dieser Arbeit in größerem Rahmen diskutiert, so daß hier weitere Bemerkungen dazu unterbleiben können. 219 Eine ausführliche Ableitung findet sich im Lehrbuch von H. Vogel, S. 572-575. Die Formel des Planck-Gesetzes soll hier angegeben werden. Für die Strahlungs- dichte (,T) im Frequenzbereich zwischen  und v+d gilt: (,T) d = 8h(/c)3 d / (eh/(kT) - 1) , wobei  die Strahlungsfrequenz, T die Temperatur, h das Plancksche Wirkungsquan- tum und c die Lichtgeschwindigkeit bezeichnet. Vergleiche auch mit Abschnitt 2.2.9.2 der vorliegenden Untersuchung. 2.1.14.4 Leibnizsches Denkvermögen _____________________________________________________________ 171 er sie biologisch und psychologisch völlig zu be- greifen und behandeln gelernt hat? ..." (S. 214-215) Musils Vorbehalte gegen den Wissenschaftszentrismus entstehen aus der Furcht, jegliche geistige und gefühlsmäßige Betätigung, das Organische, der lebendige Mensch, könne verlorengehen (s. dmoe: S. 1989). Im Nachlaß äußert er folgendes: Die Wissenschaft hat nicht die leiseste Kompetenz, die innere Gewißheit des Menschen von seiner geisti- gen Herkunft zu negieren. Über den letzten Ursprung des geistigen Lebens kann die Wissenschaft nichts aussagen. Die wahre Einsicht in unsere geistige Na- tur erhalten wir durch Selbsterkenntnis und Selbst- vervollkommnung. Setzt gegen die Erforscher des äu- ßeren Kosmos den Consensus sapientium, derer, die nicht bloß gedacht, sondern tief erlebt und gelitten haben. (nl VII/7/43) Er macht des weiteren darauf aufmerksam, daß Verwissenschaft- lichung lediglich auf Denkgewohnheiten beruht220, deren Vor- aussetzungen sehr zweifelhaft erscheinen. Im Nachlaß heißt es: So sehr hatte also eine Denkgewohnheit um sich ge- griffen, ... Ihre Herkunft beruht aber, woran nun Ul- rich auch nicht vorbeisehen konnte, auf zwei ver- schiedenen Grundvoraussetzungen, die keinem unbe- kannt sind, der je mit Wissensfragen zu tun gehabt hat. Die eine ist gleichbedeutend mit der Vorausset- zung einer theoretischen Einheit der Wissenschaft überhaupt, daß alle Wissenschaften Stücke einer noch nicht vollendeten einen Wissenschaft seien, die entge- genstehende andere ist die Forderung der theoreti- schen Reinheit dieser einzelnen Wissenschaften, von denen jede ein besonderes Sachgebiet darstellt und als eine begriffliche Einheit behandelt wird. Diese beiden Postulate, Voraussetzungen, ... beeinflussen nicht nur den jeweiligen Verlauf des Denkens, son- dern gehören erst auch zum Grundgefüge des objekti- ven Geistes. (nl V/5/20) Abschließend sei noch auf Kaiziks Sicht dieses Kapitels einge- gangen. In seiner Dissertation will Kaizik unter anderem zeigen, 220 Hier befindet er sich in starkem Gegensatz zu Brecht. Brecht glaubte an die Wissenschaften. Dies geht z.B. aus den Texten Der kaukasische Kreidekreis Bd. 5, S. 2004-2005 und Me-ti/Buch der Wendungen Bd. 12, S. 568 hervor (Bertolt Brecht Gesammelte Werke in 20 Bänden Elisabeth Hauptmann (Hg.), Frankfurt a. Main 1973). 2.1.14 Ulrich zeigt sich im Gespräch mit Walter und Clarisse reaktionär (54) _____________________________________________________________ 172 daß Musil die Statistik (bzw. Wahrscheinlichkeitstheorie) im Roman in drei Stufen verwende: (i) als ein Mittel, die Welt in ihrer Gesamtheit und Vielfalt exakter darstellen zu können - also hauptsächlich als deskriptive Methode (ii) als Methode, die Beziehungen und Verhältnisse des Individuums zur Welt neu zu beschreiben und dann Möglichkeiten zu ihrer Neugestaltung anzugeben (iii) als konstruktiver Beitrag zur Neuformulierung von Gegenständen der 'höheren Humanität'.221 Er versucht anhand verschiedener dmoe-Texte diese sehr fragli- che Einteilung nachzuweisen. Die Argumente und Interpretatio- nen, die er für die einzelnen 'Nachweise' vorbringt, sind aber nicht nachvollziehbar. Seine Argumentation soll im ganzen hier nicht behandelt werden. Statt dessen wird stellvertretend am Beispiel des zu Beginn des Abschnitts zitierten Romantextes (S. 214) seine unzureichende Interpretationsweise aufgezeigt. Kaizik möchte den zitierten Romantext als Beleg für die Gruppe (i) seiner oben angeführten Einteilung verwenden. Er schreibt: ... kommt es zwischen Ulrich und Walter zu einer Auseinanderset- zung über die Schriften Arnheims, die als typisches Beispiel für den Versuch gelten können, dem beunruhigend vielfältigen Fort- schritt von Wissenschaft und Technik ein von Würde, Einfachheit und Ganzheit bestimmtes Menschenbild entgegen zu halten. ... Auf der einen Seite steht also ein durch keinerlei Erfahrung ge- stützter allgemeiner Ganzheitsbegriff, der dazu dienen soll, alt- gewohnte Vorstellungen von Seele zu retten, und auf der anderen Seite ein vielleicht 'unerlaubtes Verhalten', das bedingungslos dem Wissen sein Rechte gibt. (Kaizik, S. 40) Übersehen werden aber die ironischen und ganz widersinnigen Komponenten in Musils Darstellung. Denn auf derselben Seite des Romans heißt es auch: Das Endergebnis für alle waren nasse Füße, ein ge- reiztes Gehirn, als ob die dünnen, in der Wintersonne glänzenden nackten Baumäste als Splitter in der Netzhaut stecken geblieben wären, der gemeine Wunsch nach heißem Kaffee und das Gefühl mensch- licher Verlorenheit. ... "Der wissenschaftliche Mensch ist heute eine ganz unvermeidliche Sache; man kann nicht nicht wissen wollen! ... (S. 214) Aus dem dann etwas später folgenden Romantext Ulrich sah die Beine über Walters Schuhen an, sie staken in schwarzen Strümpfen aus Baumwolle und 221 Wörtlich übernommen aus Kaiziks Arbeit, S. 40 2.1.14.4 Leibnizsches Denkvermögen _____________________________________________________________ 173 hatten die unschöne Form weicher Mädchenbeine. "Man muß es schätzen, wenn ein Mann heute noch das Bestreben hat, etwas Ganzes zu sein", sagte Walter. (S. 217) schneidet Kaizik lediglich die wörtliche Rede Walters heraus, um diese dann als ein Zurücksehnen nach Ganzheit zu interpre- tieren. Der vorausgehende Satz dürfte aber klar machen, mit wieviel Vorbehalt diese Rede Walters zu beurteilen ist. Das ist auch von Honold (Die Stadt und der Krieg S. 305) genauso ver- standen worden, der Walter an dieser Stelle des Romans als "hoffnungslosen Vertreter eines überholten Bildungsideals" ge- zeichnet sieht. Das Romankapitel wird dann folgendermaßen fortgesetzt: "Das gibt es nicht mehr", meinte Ulrich. "Du brauchst bloß in eine Zeitung hineinzusehen. Sie ist von einer unermeßlichen Undurchsichtigkeit erfüllt. Da ist die Rede von so vielen Dingen, daß es das Denkvermögen eines Leibniz überschritte. Aber man merkt es nicht einmal; man ist anders geworden. Es steht nicht mehr ein ganzer Mensch einer ganzen Welt gegenüber, sondern ein menschliches Etwas bewegt sich in einer allgemeinen Nährflüssigkeit". (S. 217) Kaizik bezieht sich nur auf den letzten Satz und meint, Ulrich konstatiere damit einfach Tatsachen. Im Text wird aber von einer "unermeßlichen Undurchsichtigkeit" gesprochen und ironisch mehrdeutig hinzugesetzt, es sei von so vielen Dingen die Rede, daß sogar das Denkvermögen des Leibniz überschritten würde. Schließlich spricht Ulrich zum Schluß metaphorisch von einem menschlichen Etwas in einer allgemeinen Nährflüssigkeit. Was sich hinter dieser Metaphorik 'verbirgt', bleibt leider auch von Kaizik ganz unerklärt. Wie sehr sich Kaizik mit seiner Einschätzung der Bedeutung der Statistik für den dmoe-Roman im Widerspruch zu den Ergeb- nissen der hier vorliegenden Untersuchungen befindet, kann in Abschnitt 2.2.2.2 nachgelesen werden, wo Agathes 'statistischer Ausspruch': aber wäre es denn nicht wunderbar, wenn man von der Statistik aufgelöst würde (S. 720) ausführlich kommentiert wird. Kaizik glaubt jedenfalls in Agathes Äußerung "ein ironi- sches sich in das Schicksal Fügen" zu erkennen (Kaizik, S. 43). 2.1.15 Die Parallelaktion erregt Bedenken. In der Geschichte der Menschheit gibt es aber kein freiwilliges Zurück (58) _____________________________________________________________ 174 2.1.15 Die Parallelaktion erregt Bedenken. In der Geschichte der Menschheit gibt es aber kein freiwilliges Zurück (58) 2.1.15.1 Köpfe und Wissenschaftler unter sich Einer der Hauptvertreter der Parallelaktion Graf Leinsdorf und der 'Aktionssekretär' Ulrich unterhalten sich über Aufgaben und Fortgang dieser kürzlich ins Leben gerufenen 'Institution'. Ulrich berichtet zunächst, wie die großen Köpfe aus Wissen- schaft und Kunst, die zur Parallelaktion hinzugezogen werden sollen, sich gegenseitig bezichtigen, ihre eigenen Höchstleistun- gen nicht erreichen zu können, weil ihnen in den entsprechend anderen Disziplinen nicht zugearbeitet werde. Im dmoe-Text lautet das wie folgt: "Sehr richtig!" nahm Ulrich seine Darlegung wieder auf. "Ganz bestimmt glauben die Chirurgen, daß die Chirurgie seit den Tagen Billroths Fortschritte ge- macht hat; sie sagen bloß, daß die übrige Medizin und die ganze Naturforschung der Chirurgie zu wenig nützt. Ich möchte sogar behaupten, wenn Erlaucht es mir gestatten, daß auch die Theologen überzeugt sind, die Theologie sei heute irgendwie weiter als zu Christi Zeit -" "... Die Chirurgen, habe ich gesagt, behaupten, daß die Naturforschung nicht ganz das hält, was man von ihr verlangen müßte. Spricht man dagegen mit einem Naturforscher über die Gegenwart, so klagt er dar- über, daß er im allgemeinen gern seinen Blick ein bißchen erheben möchte, sich aber im Theater lang- weilt und keinen Roman findet, der ihn unterhält oder anregt. ..." (S. 232) Der erwähnte Chirurg Theodor Billroth galt um 1860 als führend in der Durchführung neuartiger Operationen (Magen, Kehlkopf, usw.), wenngleich man die damalige Ausführung solcher Opera- tionen als 'primitiv' einstufen würde im Vergleich zu heutigen operativen Arbeitsweisen mit Röntgenstrahl-, Laserstrahl- und Ultraschalltechnik sowie zusätzlicher Computerauswertung. Eine Tagebuchnotiz Musils aus dem Jahre 1930 scheint sogar dafür zu sprechen, daß selbst zu dieser späteren Zeit die Operationstech- nik noch nicht sehr weit fortgeschritten war. Musil, der sich einer Kieferhöhlenoperation in Wien unterziehen mußte, schreibt fol- gendes: 2.1.15.1 Köpfe und Wissenschaftler unter sich _____________________________________________________________ 175 "Der Herr sind zur 'Operation' bestellt?" Ein kleiner Ruck. ... Kleiner, ganz moderner Operationssaal; ich konnte schon im Flur hinein sehen. Die Herren wa- schen an zwei nebeneinander befindlichen Waschein- richtungen endlos lang mit unendlichen Seifenmengen die Hände bis zum Ellbogen ...Die Schwester legt Zangen, Meißel, Messer, Spritzen usw. aus dem kochenden Bad auf die sterile Serviette. Ich sehe ihr zu und beneide die Ärzte. ... Dann werde ich in ein Operationsfeld verwandelt. Schürze aus Billrothbattist oder dergleichen, die Arme durch sie fixiert. "Es wird zwar nicht weh tun, aber damit Sie nicht doch mit der Hand hochfahren können" oder so ähnlich sagt die Schwester. Tuch über Kopf und Teile des Gesichts. Ich habe vorher Kragen und Krawatte abgelegt. (tg1 S. 720) In dem weiteren Gespräch zwischen dem Exponenten der Paral- lelaktion Graf Leinsdorf und Ulrich, in welchem Widersprüch- lichkeit und Ziellosigkeit dieser 'Aktion' zum Vorschein kom- men, über die Ulrich sich natürlich schon längst im klaren ist, heißt es dann in amüsierend ironischem Ton: "Ich habe übrigens" fuhr Ulrich fort "schon zwei Mappen voll schriftlicher Anträge allgemeiner Natur, die Ew. Erlaucht zurückzustellen ich noch nicht Gele- genheit fand. Ich habe eine davon mit der Überschrift 'Zurück zu ...!' versehen. Merkwürdig viele Menschen teilen uns nämlich mit, daß die Welt in früheren Zei- ten auf einem besseren Punkt gewesen sei als jetzt, zu dem sie die Parallelaktion bloß zurückzuführen brauchte. ... aber wie soll man antworten? ... Mit In- teresse gelesen, bitten wir Sie um detaillierte Be- kanntgabe Ihrer Wünsche für Wiedereinrichtung der Welt in Barock, Gotik, und so weiter ?" ... Ulrich nahm noch eine zweite Mappe zur Hand und benützte die Pause, um beide Mappen Sr. Erlaucht zu übergeben. "Der zweiten habe ich die Überschrift 'Vorwärts zu ...!' geben müssen" begann er zu erläu- tern, aber Se. Erlaucht fuhr auf und fand, daß seine Zeit schon abgelaufen sei. Er bat dringend, die Fort- setzung für ein andermal zu lassen, wenn mehr Zeit zum Nachdenken bleibe. (S. 233-234) Was in Mappe zwei zu finden ist, kann offenbar mit Graf Leins- dorf nicht mehr diskutiert werden. Statt dessen wird mit feinem Witz darauf hingewiesen, daß im Zusammenhang mit zukunfts- weisenden Ideen und Projekten die Zeit Graf Leinsdorfs eigent- lich schon abgelaufen sei. 2.1.16 Das Ideal der drei Abhandlungen oder die Utopie des exakten Lebens (61) _____________________________________________________________ 176 2.1.16 Das Ideal der drei Abhandlungen oder die Utopie des exakten Lebens (61) 2.1.16.1 Element und Verbindung In dieser 'Abhandlung' über das Wesen der Utopie gibt der Er- zähler wichtige Hinweise zur Klärung des Verhältnisses von Möglichkeit und Wirklichkeit, welches im dmoe-Roman immer wieder aufscheint. Wagner-Egelhaaf führt dazu folgendes aus: Die sogenannte Wirklichkeit ist auch zentrales Thema im "Mann ohne Eigen- schaften": Ulrich war als realitätszugewandter Mensch angetre- ten, sich in der Wirklichkeit zu bewähren, ... Die der Genauigkeit verpflichtete Einstellung auf die Wirklichkeit läßt Ulrich eben diese Wirklichkeit als unwirklich erscheinen. Der Standpunkt und Gegenbegriff zur 'Wirklichkeit', der aus dieser Einsicht re- sultiert, heißt 'Möglichkeit'. .. Das Denken des Möglichen bleibt also an die Kategorie der Wirklichkeit gebunden, ... Die Mög- lichkeiten bezeichnen also einen nicht verwirklichten und - wie die Utopien im "Mann ohne Eigenschaften" zeigen - nicht ver- wirklichbaren Zustand der Wahrnehmung des Denkens. Wirk- lichkeit figuriert also im "Mann ohne Eigenschaften" als sich in der Einstellung auf sie entziehende, negative Kategorie, in die- sem Sinne als 'Wirklichkeitserinnerung', wobei 'Erinnerung' nicht ein Bewußtsein erfüllter Innerlichkeit meint, sondern ein sich augenblickshaft einstellendes und sich zugleich wieder auf- hebendes Referenzverhältnis, ... 222 In teilweise ironisch gemeinten Äußerungen und unter Zuhilfe- nahme der Ergebnisse der Psychoanalyse wird im dmoe zunächst festgestellt, was unter exaktem Leben zu verstehen sei: Man dachte damals daran ... , daß man vielleicht ex- akt leben könnte. Man wird heute fragen, was das heiße? Die Antwort wäre wohl die, daß man sich ein Lebenswerk ebensogut wie aus drei Abhandlungen auch aus drei Gedichten oder Handlungen bestehend denken kann, in denen die persönliche Leistungs- fähigkeit auf das Äußerste gesteigert ist. Es hieße also ungefähr soviel wie schweigen, wo man nichts zu sa- gen hat; nur das Nötige tun, wo man nichts Besonde- res zu bestellen hat; und was das Wichtigste ist, gefühllos bleiben, wo man nicht das unbeschreibliche Gefühl hat, die Arme auszubreiten und von einer Wel- le der Schöpfung gehoben zu werden! Man wird be- merken, daß damit der größere Teil unseres seeli- 222 Martina Wagner-Egelhaaf "Wirklichkeitserinnerungen" Poetica 23 (1991), S. 222-223 2.1.16.1 Element und Verbindung _____________________________________________________________ 177 schen Lebens aufhören müßte, aber das wäre ja vielleicht auch kein so schmerzlicher Schaden. Die These, daß der große Umsatz an Seife von großer Reinlichkeit zeugt, braucht nicht für die Moral zu gelten, wo der neuere Satz richtiger ist, daß ein ausgeprägter Waschzwang auf nicht ganz saubere innere Verhältnisse hindeutet. (S. 245-246) Wie gut sich das Bild des Waschzwangs auch im psychologi- schen Detail auf den Bereich der Moral übertragen läßt, erkennt man erst, wenn man die 'Hintergründe' dieses Zwangs studiert. In der Psychoanalyse, also in der Erforschung des unbewußten An- teils am individuellen Seelenleben, stellt sich die Waschzwangs- handlung als Spezialfall der Zwangshandlungen allgemein dar. Letztere erscheinen als Folge der Zwangsverbote223. Das neuroti- sche Zeremoniell des Zwangs und der Verbote besteht in kleinen Verrichtungen, Einschränkungen und Anordnungen, die im All- tag in immer ähnlicher Weise vollzogen werden. Der Kranke selbst sieht diese Tätigkeiten als unbedeutende Formalitäten an, ist aber unfähig, sie zu unterlassen. Jeder Abweichung vom Tä- tigkeitsmuster folgt sofort unerträgliche Angst, die zur nachträg- lichen Ausführung des Unterlassenen zwingt. Die Zwangsverbo- te sind irgendeinmal aufgetreten und müssen dann infolge großer Angst eingehalten werden. Äußere Strafandrohung ist unnötig, weil eine innere Weisung besteht, eine Übertretung werde zu Unheil führen. Den Mechanismus der Zwangsneurose versteht man anhand der Verdrängung einer Triebregung, einer Komponente des Sexual- triebes. Im Kindesalter konnte sich zunächst diese Triebregung äußern, wurde dann aber durch entsprechende Verbote unter- drückt. Der Einfluß des verdrängten Triebes stellt eine ständige Versuchung dar. Beim Verdrängungsprozeß selbst entsteht die Angst, die als Erwartungsangst in die Zukunft wirkt. Es werden immer neue Anstrengungen notwendig, um das Andrängen des Triebes zu kompensieren. Zwangshandlungen treten also teils zur Abwehr der Versuchung, teils zum Schutze gegen erwartetes Unheil auf. Die Zwangsverbote bringen großen Verzicht und starke Einschränkungen des Lebens mit sich. Aber sie können zumindest teilweise durch das Ausführen gewisser Zwangshand- lungen aufgehoben, abgebüßt oder gesühnt werden. Eine der üb- lichen Zwangshandlungen ist eben das Abwaschen mit Wasser, der oben bezeichnete Waschzwang. Freud gibt folgendes Bei- spiel (Freud, Bd. IX, S. 322-323): in ganz früher Kindheit tritt 223 Wir folgen hier Sigmund Freud Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. SA, Bd. IX, S. 318-323 und Zwang, Paranoia und Perversion SA, Bd. VII, S. 13-21 2.1.16 Das Ideal der drei Abhandlungen oder die Utopie des exakten Lebens (61) _____________________________________________________________ 178 eine Berührungslust der eigenen Genitalien auf. Dieser Lust wird von außen ein entsprechendes Verbot entgegengestellt. Das Ver- bot wird akzeptiert und ist stärker als der Trieb. Dem Kind ge- lingt es nicht, den Trieb infolge des Verbots aufzuheben. Statt dessen wird der Trieb der Berührungslust verdrängt und ins Un- bewußte versenkt. Dadurch bleiben Verbot und Trieb auch spä- terhin erhalten. Es entsteht ein fortlaufender Konflikt von Verbot und Trieb, aus dem sich alles weitere herleitet. Die Trieblust ver- schiebt sich ständig in Richtung auf Ersatzobjekte, Ersatzhand- lungen, um dem Druck des Verbots zu entgehen. Es ist ein Gesetz der neurotischen Erkrankung, daß die Zwangshandlungen immer mehr dem Trieb folgen und sich dadurch der ursprünglich verbotenen Handlung annähern. Wie läßt sich aber verstehen, daß Zwangshandlungen und Zwangsverbote sich an kleinsten Handlungen des täglichen Le- bens in Form nutzloser Vorschriften und Einschränkungen zei- gen? Die Erklärung liefert die bei der Traumbildung beobachtete Verschiebung. Sie beherrscht auch die seelischen Vorgänge der Zwangsneurose (Freud, Bd. VII, S. 20). Das eigentlich Bedeut- same wird verschoben auf etwas Nebensächliches, was es erset- zen soll. Dadurch kommt es zu der eigenartigen Symbolik und zum kleinlichen Detail der Ausführung. Scheinbar Geringfügiges wird zum Wichtigen. Im Roman wird nachfolgend das Verhältnis von Utopie, Mög- lichkeit und Wirklichkeit zueinander unter Vermittlung eines chemischen Vergleichs reflektiert: Utopien bedeuten ungefähr soviel wie Möglichkeiten; darin, daß eine Möglichkeit nicht Wirklichkeit ist, drückt sich nichts anderes aus, als daß die Umstände, mit denen sie gegenwärtig verflochten ist, sie daran hindern, denn andernfalls wäre sie ja nur eine Un- möglichkeit; löst man sie nun aus ihrer Bindung und gewährt ihr Entwicklung, so entsteht die Utopie. Es ist ein ähnlicher Vorgang, wie wenn ein Forscher die Veränderung eines Elements in einer zusammenge- setzten Erscheinung betrachtet und daraus seine Fol- gerungen zieht; Utopie bedeutet das Experiment, wor- in die mögliche Veränderung eines Elements und die Wirkungen beobachtet werden, die sie in jener zu- sammengesetzten Erscheinung hervorrufen würde, die wir Leben nennen. Ist nun das beobachtete Element die Exaktheit selbst, hebt man es heraus und läßt es sich entwickeln, betrachtet man es als Denkgewohn- heit und Lebenshaltung und läßt es seine beispielge- bende Kraft auf alles auswirken, was mit ihm in Be- 2.1.16.1 Element und Verbindung _____________________________________________________________ 179 rührung kommt, so wird man zu einem Menschen geführt, in dem eine paradoxe Verbindung von Genauigkeit und Unbestimmtheit stattfindet. (S. 246) Das Experiment der Utopie (mit dem Element: Exaktheit) wird hier anhand chemischer Experimente veranschaulicht, in denen Verbindungen eines bestimmten Elements in andere Verbindun- gen umgewandelt werden (beide Begriffe Element und Verbin- dung erscheinen im Text). In der anorganischen Chemie untersucht man im allgemeinen Reaktionen, in denen ein in einer bestimmten Verbindung vorkommendes Element, z.B. Eisen (Fe), entweder herausgelöst (dargestellt) oder wieder in eine neue Verbindung überführt wird. Dadurch kann man das Bindungsverhalten (auch dieser Begriff fällt im obigen Text) des Elements in unterschiedlicher chemischer Umgebung systematisch studieren. So läßt sich bei- spielsweise aus dem Eisenerz 'Brauneisenstein' in der Reaktion (Holleman-Wiberg, S. 544-551): Fe2O3 + 3 CO 2 Fe + 3 CO2 reines Eisen gewinnen (Fe ist hier 3-wertig). Oder man unter- sucht die Umwandlung von Eisencarbonat FeCO3 (2-wertiges Fe) unter Einwirkung von kohlendioxydhaltigem Wasser zu Eisenhydrogencarbonat Fe(HCO3)2 , was z.B. in Mineralwässern vorkommt. Solche Reaktionen, in denen Eisenverbindungen wieder in andere Eisenverbindungen übergehen, gibt es in großer Zahl, und dadurch lassen sich die 'Bindungseigenschaften' des Eisens und seine 'Affinität' zu anderen Elementen erforschen. So können neue Verbindungsmöglichkeiten und deren Realisierung gefunden werden. Umwandlungen dieser Art werden im Text angesprochen, wenn von der Veränderung eines Elements in einer zusammengesetz- ten Erscheinung die Rede ist. Ganz ähnlich wie die beschriebe- nen chemischen Experimente, so meint Musil, verlaufe auch das Utopieexperiment bezüglich einer möglichen Veränderung des Elements "Exaktheit", allerdings in einer äußerst komplizierten Verbindungsform, der des Lebens. Nicht ganz aber scheint sich in dieses 'chemische Bild' einzufü- gen, was der Erzähler mit hebt man es heraus und läßt es sich entwickeln bezeichnet. Ein Element hat unabänderliche Eigen- schaften, kann sich also nicht mehr entwickeln. Vielleicht ist aber eine Verbindung gemeint, aus der sich das Element erst nach geraumer Zeit z.B. mit Hilfe eines geeigneten Katalysators herauslösen läßt. 2.1.17 Auch die Erde, namentlich Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus (62) _____________________________________________________________ 180 2.1.17 Auch die Erde, namentlich Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus (62) 2.1.17.1 Ameisensäure und ihre Verbindungs- Möglichkeiten Der Zimmermann Moosbrugger, der in seiner Jugend nur negati- ve Erfahrungen mit Frauen hat, befindet sich wegen eines grau- sig begangenen Prostituiertenmordes in Untersuchungshaft. Wagner-Egelhaaf schreibt: Man erinnert sich: Moosbrugger hat- te "eine Prostituierte ... in grauenerregender Weise getötet", in- dem er ihr eine größere Anzahl von Stichen und Schnitten zuge- fügt hatte. Er hatte sich von ihr bedrängt gefühlt und so lange auf sie eingestochen, "bis er sie ganz von sich losgetrennt hatte". Moosbrugger wird ... zur Chiffre von Musils photographischem Beschreibungsverfahren, was einmal mehr die Faszination Ulrichs durch Moosbrugger erklärte. Das sezierende Beschrei- bungsverfahren richtet sich gegen die erotisch konnotierte Unmittelbarkeit, die es freilich erst zurichtet, um sie hernach in den toten Zustand des Bildes zu überführen. 224 Die vielschichtige Romanfigur Moosbruggers läßt sich im Rah- men dieser Arbeit nicht adäquat darstellen (s. aber die Abschnitte 2.1.24 u. 2.1.32). Ob Moosbrugger Gewalttäter der Gesellschaft oder Opfer der Gesellschaft ist, erscheint im dmoe stets in einem anderen Licht. Während seiner Haft geben juristischer, medizini- scher und psychiatrischer Diskurs ständig einander widerspre- chende Auskünfte darüber, wie Moosbrugger einzuschätzen sei. Auch er selbst scheint ein ambivalentes Verhältnis zu seiner eigenen Person und der Umwelt zu haben. Anläßlich der möglichen psychiatrischen und juristischen Verur- teilung Moosbruggers gibt der Romanerzähler in einer allge- meinen Erörterung über Geisteshaltungen nun folgendes zu be- denken: Es gibt also in Wirklichkeit zwei Geistesverfassungen, ... Die eine begnügt sich damit, genau zu sein, und hält sich an die Tatsachen; die andere begnügt sich nicht damit, sondern schaut immer auf das Ganze und leitet ihre Erkenntnisse von sogenannten ewigen und großen Wahrheiten her. ... Es ist klar, daß ein Pessi- mist auch sagen könnte, die Ergebnisse der einen sei- en nichts wert und die der anderen nicht wahr. Denn was fängt man am Jüngsten Tag, wenn die menschli- chen Werke gewogen werden, mit drei Abhandlungen 224 Wagner-Egelhaaf "Wirklichkeitserinnerungen" Poetica 23 (1991), S. 238 2.1.17.1 Ameisensäure und ihre Verbindungs-Möglichkeiten _____________________________________________________________ 181 über die Ameisensäure an, und wenn es ihrer dreißig wären?! Andererseits, was weiß man vom Jüngsten Tag, wenn man nicht einmal weiß, was alles bis dahin aus der Ameisensäure werden kann?! (S. 248) Dazu sollte man wissen, was Ameisensäure ist und was mögli- cherweise aus ihr werden kann225. Bekannter als die Ameisen- säure ist gewöhnlich die Essigsäure. Beide gehören zu den orga- nischen Säuren, welche von den anorganischen Säuren, bei- spielsweise der Salzsäure HCl, zu unterscheiden sind. Letztere sind meistens sehr starke Säuren. Ameisensäure stellt nun das erste Glied der homologen Folge der Carbonsäuren226 dar, wel- che formelmäßig folgendermaßen zusammengefaßt werden kön- nen: CnH2n+1COOH (n = 0, 1, 2, ...) , wobei der CnH2n+1-Teil, die Carbonylgruppe, die mit ansteigen- dem n immer länger werdende 'Kohlenwasserstoffkette' bezeich- net und der COOH-Teil die unveränderliche Hydroxylgruppe. Das erste Glied dieser Folge (n = 0) ist, wie bereits gesagt, die Ameisensäure mit der Formel HCOOH, das zweite (n = 1) die Essigsäure CH3COOH. Die Ameisensäure nimmt in der Folge der Homologen insofern eine besondere Stellung ein, als sie erheblich stärker ist als alle anderen Glieder dieser Folge. Sie ist eine hautreizende, stechend riechende Flüssigkeit, die in bestimmten Ameisen und in Bren- nesseln vorkommt. Da sie sich ähnlich wie Formaldehyd verhält, zeigt sie eine starke bakterizide Wirkung und wird deshalb zur Desinfektion und Konservierung verwandt. Aufgrund ihrer be- reits erwähnten Stärke wird sie vielfach in der Kautschuk-, Le- der- und Textilindustrie verwandt. Wegen ihres Aldehydcharak- ters läßt sie sich leicht zu anderen Verbindungen oxydieren. Ein häufig verwendetes Derivat der Ameisensäure ist der angenehm riechende und fruchtartig schmeckende Äthylester. Der Amei- sensäure kommt also insgesamt ein sehr breites Anwendungsge- biet zu. Wenig später heißt es im dmoe über Ulrich, der sich Gedanken über den Essay macht: Der Wert einer Handlung oder einer Eigenschaft, ja sogar deren Wesen und Natur erschienen ihm abhän- gig von den Umständen, die sie umgaben, von den Zielen, denen sie dienten, mit einem Wort, von dem 225 Siehe auch: Hans-Georg Pott in Robert Musil. Dichter, Essayist, Wissenschaftler. H. Pott (Hg.), München 1993, S. 15 226 Siehe: Louis F. Fieser und Mary Fieser Lehrbuch der organischen Chemie Weinheim 1960, S. 176 ff oder Roberts, Stewart, Caserio, S. 329 ff 2.1.17 Auch die Erde, namentlich Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus (62) _____________________________________________________________ 182 bald so, bald anders beschaffenen Ganzen, dem sie angehörten. Das ist übrigens nur die einfache Beschreibung der Tatsache, daß uns ein Mord als ein Verbrechen oder als eine heroische Tat erscheinen kann ... Aber Ulrich verallgemeinerte sie. Dann fanden alle moralischen Ereignisse in einem Kraftfeld statt, dessen Konstellation sie mit Sinn belud, und sie enthielten das Gute und das Böse wie ein Atom chemi- sche Verbindungsmöglichkeiten enthält. (S. 250) Auch hier greift Musil auf das Bild der chemischen Verbindung zurück. Eine Atomart, ein chemisches Element, verfügt im allgemeinen über viele Möglichkeiten, sich mit anderen Atomen (Atomgruppen) zu verbinden. Die jeweils entstehende Verbin- dung hat in Abhängigkeit vom gewählten anderen Atom bzw. von der Atomgruppe sehr unterschiedliche Eigenschaften. Als Beispiel sei das Element Chlor (Cl) gewählt. In der Verbindung mit Wasserstoff (H) ergibt sich z.B. die Salzsäure, deren verhee- rende Eigenschaften jedem bekannt sein dürften. In Verbindung mit Natrium (Na) erhält man jedoch unser gebräuchliches, in kristalliner Form vorkommendes Kochsalz. Die atomare Gitter- struktur dieser letzteren Verbindung ist in der folgenden Ab- bildung 44 zu sehen: Abbildung 44 Atomares, kubisch flächenzentriertes Git- ter des Natriumchlorids NaCl (Kochsalz). Zu beachten ist der Größenunterschied zwischen den Chlor- und Natrium- atomen (schraffierte Kreise: Chloratome). Moore, S. 660 Im anschließenden Romantext wird ein weiterer naturwissen- schaftlicher Vergleich zur Charakterisierung von 'Moral' 227 verwendet: 227 Musil spricht in Tagebuchnotizen auch von schöpferischer Moral, die noch durch den Rhythmus zu ergänzen sei, auf den Robert Müller aufmerksam gemacht habe (siehe: tg2 S. 1100-1101). Was unter Rhythmus bei Müller zu verstehen ist, läßt sich am besten anhand seines Romans 'Tropen' herausfinden: Robert Müller Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs. Stuttgart 1993 2.1.17.1 Ameisensäure und ihre Verbindungs-Möglichkeiten _____________________________________________________________ 183 ...Im Grunde fühlte sich Ulrich nach dieser Anschau- ung jeder Tugend und jeder Schlechtigkeit fähig, und daß Tugenden wie Laster in einer ausgeglichenen Ge- sellschaftsordnung allgemein, wenn auch uneinge- standen, als gleich lästig empfunden werden, bewies ihm gerade das, was in der Natur allenthalben ge- schieht, daß jedes Kräftespiel mit der Zeit einem Mit- telwert und Mittelzustand, einem Ausgleich und einer Erstarrung zustrebt. Die Moral im gewöhnlichen Sinn war für Ulrich nicht mehr als die Altersform eines Kräftesystems, das nicht ohne Verlust an ethischer Kraft mit ihr verwechselt werden darf. (S. 251) Wahrscheinlich werden hier vier verschiedene Arten von Gleich- gewichtsherstellung in der Natur angesprochen, welche im fol- genden näher betrachtet werden sollen. 'Mittelzustand' und 'Mit- telwert' dürften sich auf die statistisch-mechanische Betrach- tungsweise thermodynamischer Vorgänge beziehen, während 'Ausgleich' und 'Erstarrung' eher auf mechanische Bewegungen und Phasenübergänge hinweisen. Bei thermodynamischen Vorgängen, also etwa beim Aufheizen von Wasser oder Luft, ist das 'natürliche' Streben zu einem mitt- leren Zustand phänomenologisch leicht zu untersuchen. Stellt man einen mit kaltem Wasser gefüllten Kessel auf eine abge- schaltete, aber noch heiße Herdplatte, so erwartet man, daß nach gewisser Zeit Ofenplatte, Kessel und der gesamte Wasserinhalt eine einheitliche Temperatur haben, und zwar eine gewisse 'mitt- lere' Temperatur, welche niedriger liegt als die der ursprünglich heißen Ofenplatte, aber höher als die des kalten Wassers. Ähnli- ches ist zu erwarten, wenn in einem kalten Raum die Heizkörper der Zentralheizung nur kurz eingeschaltet werden. Nach gewis- ser Zeit werden Raumluft und Heizkörper eine bestimmte mittle- re Temperatur einnehmen, die höher liegt als die anfängliche Raumtemperatur, zugleich aber merklich niedriger als die Heiz- körpertemperatur beim Aufheizen228. Aus phänomenologischer physikalischer Sicht basiert die Annä- herung an den thermodynamischen Gleichgewichtszustand auf dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Man kann ihn auf ganz verschiedene Weise formulieren (vergleiche Abschnitt 2.1.22.1 der vorliegenden Arbeit). Eine Formulierung ist eben die, daß alle natürlich verlaufenden Vorgänge, die ein abge- 228 Tatsächlich sind die Beispiele viel zu grob gewählt, als daß man sie durch rein thermodynamische Überlegungen erklären könnte. Im Gegenteil: der Temperatur- ausgleich findet in diesen Beispielen im wesentlichen durch Konvektion, also durch die sich ausbildenden Strömungen statt. Die Vorgänge der Thermodynamik haben dabei aber eine grundsätzliche, in Gang setzende Funktion. Der rein thermodyna- misch bedingte Wärmetransport trägt jedoch nur zu einem geringen Anteil bei. 2.1.17 Auch die Erde, namentlich Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus (62) _____________________________________________________________ 184 schlossenes thermodynamisches System betreffen, nur in eine Richtung verlaufen, nämlich derjenigen der Annäherung an den Gleichgewichtszustand. Im Gleichgewichtszustand hat dann die zugehörige charakteristische Zustandsgröße, die Entropie, wel- che grob gesprochen einer durch die Temperatur reduzierten Wärmemenge entspricht, ihren Maximalwert erreicht. Mit ande- ren Worten, bei allen 'von selbst' verlaufenden natürlichen Pro- zessen nimmt die Zustandsgröße Entropie im abgeschlossenen System ständig zu, und zwar so lange bis alle Ausgleichsvorgän- ge stattgefunden haben, alle maßgeblichen Gradienten ver- schwunden sind, das thermodynamische Gleichgewicht einge- stellt ist. Im Gleichgewicht selbst bleibt die Entropie maximal und konstant. In der statistisch-mechanischen Betrachtungsweise wird das abgeschlossene thermodynamische System als molekulares Viel- teilchensystem (N-Teilchensystem mit N~1020) angesehen. Der zweite Hauptsatzes wird dann anhand statistischer Überlegungen und durch Anwendung der Wahrscheinlichkeitstheorie neu for- muliert: er erhält eine statistische Interpretation. Diese Behand- lung wird in grundsätzlichen Zügen im Abschnitt 2.1.34.2 im Zusammenhang mit der kinetischen Gastheorie vorgestellt (ver- gleiche auch mit den Abschnitten 2.1.23.3 u. 2.1.29.6-2.1.29.7). Ein wichtiges Ergebnis dieser Betrachtungen lautet z.B., daß Verteilungs- und Bewegungsprozesse allgemeiner Art in mole- kularen Vielteilchensystemen um viele Größenordnungen wahr- scheinlicher sind, wenn sie in Richtung des Gleichgewichtszu- stands verlaufen als umgekehrt. Bezogen auf die obigen Beispiele des Temperaturausgleichs heißt dies: im 'statistischen Mittel' verlieren die Moleküle mit höherer Geschwindigkeit (höhere Temperatur bedeutet höhere kinetische Energie und folglich höhere Geschwindigkeit) durch Wechselwirkung stets an Geschwindigkeit, während Moleküle mit kleineren Geschwindigkeiten im Durchschnitt stets an Ge- schwindigkeit gewinnen. Als Konsequenz müssen sich die mitt- leren Molekülgeschwindigkeiten nach gewisser Zeit angleichen. Der Gleichgewichtswert wird dann schließlich zwischen dem höheren und dem tieferen Mittelwert der Anfangsphase liegen. Von einem etwas allgemeinerem Standpunkt aus läßt sich sagen, daß der Unordnungsgrad des Vielteilchensystems solange an- steigt bis der mögliche Maximalwert erreicht ist. Während also im gewählten Beispiel zunächst noch Molekülschwärme sehr hoher mittlerer Geschwindigkeit von solchen sehr niedriger mitt- lerer Geschwindigkeit zu unterscheiden waren (höherer Ord- nungsgrad), so läßt sich nach Ausgleich der Molekülgeschwin- 2.1.17.2 Thermodynamisches Gleichgewicht und Erstarrung _____________________________________________________________ 185 digkeiten nur noch ein Mittelwert bestimmen (geringerer Ord- nungsgrad). Die Zustandsgröße, welche diesen Unordnungsgrad eines (abgeschlossenen) thermodynamischen Systems anzeigt, ist die erwähnte Entropie. 2.1.17.2 Thermodynamisches Gleichgewicht und Erstarrung Ausgleich und Erstarrung lassen sich gut verständlich am Bei- spiel eines Fadenpendels (s. Abschnitt 2.1.3.2: mathematisches Pendel) erläutern. Stößt man das Pendel einmal an, so vollführt es seine Schwingungen mit gewisser Amplitude um den Ruhela- gepunkt. Durch den Reibungswiderstand der Pendelaufhängung und der Luft wird mit der Zeit die Schwingungsweite immer kleiner, bis schließlich das Pendel bewegungslos am Ruhepunkt verharrt. Die ständig von außen einwirkenden Reibungskräfte haben die Schwingungsenergie des Pendels in Wärmeenergie umgewandelt, Erstarrung ist eingetreten. Ein weiteres Beispiel ist die flüssig-fest-Umwandlung. Flüssiges Kohlendioxyd (CO2) läßt sich unter geeignetem Druck und Ab- kühlung in Trockeneis (festes CO2) überführen229. Die Molekül- bewegung der CO2-Moleküle in der Flüssigkeit wird durch höhe- ren Druck und tiefere Temperatur stark eingeschränkt. Dadurch vergrößert sich die 'innere Reibung' zwischen den Teilchen (Vis- kosität) und deren räumliche Beweglichkeit wird erheblich be- hindert. Schließlich müssen die Moleküle feste Plätze einneh- men. Es entsteht eine Erstarrung in Form einer Gitterstruktur (Moore, S. 146 ff). Diese Erstarrung hat man sich nicht so vorzu- stellen wie im Fall des Pendels, denn die Moleküle führen im Festkörper noch eine Art Zitterbewegung um den Mittelpunkt ihres idealen Gitterplatzes aus230. Erst am absoluten Nullpunkt der Temperatur (T = -273,15 0C = 0 K) würde auch diese Bewe- gung aufhören. 2.1.17.3 Die Frage des rechten Lebens Im gleichen Kapitel äußert sich der Erzähler auch über die mög- lichen Lebensziele und Lebensaufgaben Ulrichs. Dabei wird die Beschäftigung mit Philosophie und mathematisch-naturwissen- schaftlichen Disziplinen z.T. satirisch beleuchtet: 229 Holleman-Wiberg, S. 305 230 Bestimmt man spezifische Wärmen von Festkörpern, so lassen sich die durch lokale Restoszillation der Moleküle bedingten Anteile ermitteln (Moore, S. 695 ff). 2.1.17 Auch die Erde, namentlich Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus (62) _____________________________________________________________ 186 (Ulrich) war kein Philosoph. Philosophen sind Gewalttäter, die keine Armee zur Verfügung haben und sich deshalb die Welt in der Weise unterwerfen, daß sie sie in ein System sperren. Wahrscheinlich ist das auch der Grund dafür, daß es in den Zeiten der Tyrannis große philosophische Naturen gegeben hat, ... (S. 253) ... Wann immer man ihn (Ulrich) bei der Abfassung mathematischer und mathematisch-logischer Ab- handlungen oder bei der Beschäftigung mit den Naturwissenschaften gefragt hätte, welches Ziel ihm vorschwebe, so würde er geantwortet haben, daß nur eine Frage das Denken wirklich lohne, und das sei die des rechten Lebens. ... Man darf nicht vergessen, daß die exakte Geistesverfassung im Grunde gottgläubiger ist als die schöngeistige; denn sie unterwürfe sich 'Ihm', sobald er geruht, sich ihr unter den Bedingun- gen zu zeigen, die sie für die Anerkennung seiner Tatsächlichkeit vorschreibt, wogegen unsere schönen Geister, wenn Er sich äußerte, nur fänden, daß sein Talent nicht ursprünglich und sein Weltbild nicht verständlich genug seien, um ihn auf eine Stufe mit wirklich gottbegnadeten Begabungen zu stellen. (S. 255-256) Ulrich erscheinen die Wissenschaften nicht besonders geeignet, wenn es darum geht, die einzig nachforschenswerte Frage, näm- lich die des rechten Lebens zu beantworten. Was mit der Frage des rechten Lebens im einzelnen gemeint sein könnte, darüber wird in diesem Kapitel keine Auskunft gegeben. An anderer Stelle erhält man dazu jedoch ganz paradoxe Angaben. Bei- spielsweise bei der Büchersuche General Stumms in der öster- reichischen Staatsbibliothek (S. 459-465), welche darin gipfelt, daß eigentlich nur derjenige ein gesuchtes Buch finden kann, der überhaupt keine Bücher liest. Honold schreibt: ... sein zweiter Versuch ... gilt dem Archiv der österreichischen Hofbibliothek. "General Stumm dringt in die Staatsbibliothek ein" - das von Musil bevorzugt für Lesungen ausgewählte Kapitel ist ein Glanz- stück pointierter Situationskomik innerhalb des Romans. Zwei für sich genommen schon satirisch gezeichnete Welten treffen zusammen: Stumms ungebrochener Ansturm auf den noch un- entdeckten "schönsten Gedanken der Welt" - und die 'Festung' Bibliothek, in der er ihn vermutet, eine Allegorie auf die Ord- nung selbst. ... (Honold Die Stadt und der Krieg S. 349) Musil selbst kommentiert seine Bibliotheksepisode im Nachlaß erwartungsgemäß mit 'aufschlußreicher' Hintergründigkeit: 2.1.17.3 Die Frage des rechten Lebens _____________________________________________________________ 187 Der Glaube vor 100 Jahren. Seine Umkehrung. Hun- derte von Ordnungen, aber keine Ordnung. Abermals Beschreibung der Unordnung. Ihre moralischen Fol- gen. Bibliothekswissenschaft als höchste Geistesord- nung. Beispiel einer grauen, vertrockneten Ordnung. Ordnung, wenn man nicht liest. Oder durch prakti- sche Tricks (Diener). Keine Leser, nur noch Schrift- steller. (nl II/4/21) Ähnlich, wenn auch ohne Musils hellsichtige Pointen, kommen- tiert Meisel: Es ist General Stumm, der in dem Vorsatz, Erfah- rungen über die "geistige Ordnung" zu sammeln, in der Staats- bibliothek statt der erhofften "Zusammenstellung aller großen Menschheitsgedanken" hinter das stupende Geheimnis dieser Ordnung kommt. Seinen Wunsch nach Büchern ... kann der Pri- vatdozent für Bibliothekswissenschaften nicht erfüllen - wohl aber mit einer verbindlichen Systematik dienen: "Sie wollen wis- sen, wieso ich jedes Buch kenne? Das kann ich Ihnen nun aller- dings sagen: Weil ich keines lese!" ... "Wer sich auf den Inhalt einläßt, ist als Bibliothekar verloren!" ... "Er wird niemals einen Überblick gewinnen!" (dmoe, S. 462). Substituiert man legi- timerweise 'Bücher' durch 'Wissen', erhält man die gleiche Regel: nur weil sie sich auf keinen Inhalt und keine Wertungen, sondern auf das Katalogisieren von Katalogen und Signieren von Archiven einläßt, kann eine Metaordnung des Wissens existieren. (Meisel, S. 155) Was Musil im zweiten Teil des oben zitierten dmoe-Textes aus- drücken will, dürfte mehrfach zu verstehen sein. Vielleicht erhält man eine Variante, indem man sich z.B. den damals gott- ähnlichen Ruf Newtons und die 'Gottgläubigkeit' der Natur- forscher bezüglich der Newtonschen Physik vorstellt. Newton vertrat zu seiner Zeit bekanntlich die Korpuskulartheorie des Lichtes und lehnte die von Huygens (1629-1695) favorisierte Wellentheorie ab. Auf Grund dieser 'Gottgläubigkeit' folgte die naturwissenschaftliche Fachwelt über lange Zeit der Korpus- kulartheorie und desavouierte die Gegenargumente des Huygens für die Wellentheorie. In den Geisteswissenschaften dürfte weniger dogmatisch und divergierender verfahren werden, unter anderem auch deshalb, weil wissenschaftlicher Konsens bezüglich Textinterpretation oder Literaturtheorie allgemein kaum erreichbar ist. Es gibt aber auch hier Fälle, in denen angesehene Philologen für lange Zeit neuartige Wege der Texterforschung231 verstellten. 231 Siehe dazu z.B.: Matthias Nix Untersuchungen zur Funktion der politischen Spruchdichtung Walthers von der Vogelweide Göppingen 1993, S. 50 ff. 2.1.18 Zwischen Ulrich und Arnheim ist einiges nicht in Ordnung (66) _____________________________________________________________ 188 2.1.18 Zwischen Ulrich und Arnheim ist einiges nicht in Ordnung (66) 2.1.18.1 Wolke und Tröpfchen In seiner Eigenschaft als Sekretär der Parallelaktion besucht der Mann ohne Eigenschaften Ulrich seine Chefin und Cousine Dio- tima und legt ihr die Mappen vor, in welchen er die von der Be- völkerung eingesandten Verbesserungsvorschläge für die Paral- lelaktion gesammelt hat (vergleiche auch mit Abschnitt 2.1.15.1 der vorliegenden Arbeit). Ulrichs freundlich-witzige Anfangs- bemerkung zu dieser Sammlung gibt dem Erzähler die Möglich- keit zu begleitenden zeitkritischen Ausführungen. Es heißt im Roman: "Ich habe hier Aufforderungen, die von 'Los von Rom' bis 'Vorwärts zur Gemüsekultur' reichen. Wofür wollen Sie sich entscheiden?" ... zwei Gruppen hoben sich aus den Zuschriften durch ihren Umfang hervor. Die eine machte für den Mißstand der Zeit eine bestimmte Einzelheit verant- wortlich und verlangte ihre Beseitigung, und solche Einzelheiten waren nichts Geringeres als die Juden oder die römische Kirche, der Sozialismus oder der Kapitalismus, die mechanistische Denkweise oder die Vernachlässigung der technischen Entwicklung, die Rassenmischung oder die Rassenentmischung, der Großgrundbesitz oder die Großstädte, die Intellektua- lisierung oder der ungenügende Volksunterricht. Die andere Gruppe dagegen bezeichnete ein vorauslie- gendes Ziel, das zu erreichen vollkommen genügen würde, und sie unterschieden sich, diese erstrebens- werten Ziele der zweiten, von den zerstörungswerten Einzelheiten der ersten Gruppe gewöhnlich durch nichts als durch das Gefühlsvorzeichen des Aus- drucks, ... (S. 271-272) Mit einer gewissen Selbstironie gibt der Erzähler noch eine Ein- zelheit der Wünsche der zweiten Gruppe preis: ... So ließen denn die Zuschriften der zweiten Gruppe etwa mit freudiger Verneinung verlauten, daß man mit dem lächerlichen Kultus der Künste endlich brechen möge, weil das Leben ein größerer Dichter sei als alle Skribenten, und forderten Sammlungen von Gerichts- saalberichten und Reisebeschreibungen zu allgemei- nem Gebrauch; ... (S. 272) 2.1.18.1 Wolke und Tröpfchen _____________________________________________________________ 189 In bezug auf die Gerichtssaalberichte hätte den Erzähler sicher interessiert, daß heutzutage sogar intime Gerichtsprotokolle von Staatsmännern im Internet nachzulesen sind. Ulrichs Unterredung mit Diotima erhält dann ein mehr privates philosophisches Niveau. Es kommt zu folgenden Ausführungen: "Aus sehr naheliegenden Gründen behandelt jede Generation das Leben, das sie vorfindet, als fest gegeben, bis auf das wenige, an dessen Veränderung sie interessiert ist. Das ist nützlich, aber falsch. Die Welt könnte ja in jedem Augenblick auch nach allen Richtungen verändert werden oder doch nach jeder beliebigen; ... Es wäre darum eine eigenartige Weise zu leben, wenn man einmal versuchen würde, sich nicht so zu benehmen wie ein bestimmter Mensch in einer bestimmten Welt, in der, möchte ich sagen, nur ein paar Knöpfe zu verschieben sind, was man Entwicklung nennt; sondern von vornherein so wie ein zum Verändern geborener Mensch, der von einer zum Verändern geschaffenen Welt eingeschlossen wird, also ungefähr so wie ein Wassertröpfchen in einer Wolke." (S. 273) Der Vergleich des Wassertröpfchens in einer Wolke, den Ulrich hier verwendet, erscheint mehrdeutig. Vielleicht ist er ironisch gemeint, denn ein einzelnes Wassertröpfchen in einer aus zig Millionen Tröpfchen bestehenden Wolke könnte wohl kaum durch eigene Veränderung die gesamte Wolke umbilden. Ande- rerseits ließe sich aber der Fall denken, daß ein einzelnes Tröpf- chen die Keimbildung für das Wachsen vieler Tröpfchen in Gang setzt und dadurch partielles Abregnen einer Wolke erzielt. Dieser Vorgang wäre dann vergleichbar mit dem früher bereits erwähnten Flügelschlageffekt, der in der Atmosphäre schließlich gigantische Wirbelstürme auslöst. Er entspricht einem plötz- lichen Übergang von einem geordneten in einen chaotischen Zu- stand (s. Turbulenz im Abschnitt 2.1.10.2 der vorliegenden Ar- beit). In der Regel führt aber erst die Änderung der lokalen thermody- namischen Bedingen dazu, daß sich ein größerer Teil der Tröpf- chen und dadurch die gesamte Wolke umbildet. Vielleicht sollte in dem Tröpfchenvergleich gerade auf diese 'normale' Situation der ständigen Veränderung des Zustands der Wolke hingewiesen werden. Zum besseren Verständnis der atmosphärischen Vor- gänge bei der Bildung und Umbildung von Tröpfchen in Wolken werden im folgenden einige Grundlagen erläutert. 2.1.18 Zwischen Ulrich und Arnheim ist einiges nicht in Ordnung (66) _____________________________________________________________ 190 Wolken bestehen gewöhnlich aus Wassertröpfchen, deren Durchmesser im Bereich von 0,02 mm bis 0,1 mm liegen (s. nächste Tabelle 4). Zur Ausbildung dieser Tröpfchengrößen kommt es folgendermaßen: die stets in der Luft enthaltenen Staubteilchen stellen sog. Kondensationskeime dar, an denen sich atmosphärischer Wasserdampf unter bestimmten thermody- namischen Bedingungen niederschlägt und zunächst sehr kleine Tröpfchen bildet. Diese Tröpfchen unterliegen dann zwei einan- der entgegenwirkenden physikalischen Einflüssen. Die Ober- flächenspannung der Tröpfchen verursacht eine Dampfdruck- erhöhung mit der Tendenz zur Verkleinerung bzw. Auflösung der Wassertröpfchen. Der in den Tröpfchen gelöste Staubanteil hat aber andererseits eine Dampfdruckerniedrigung zur Folge, mit der Tendenz, die Tröpfchen zu vergrößern. Beide Effekte sind etwa gleich groß mit einem kleinen Übergewicht der Ten- denz zum Weiterwachsen. Dadurch können die Tröpfchen in der Regel maximal einen Durchmesser von ca. 0,1 mm erreichen232. Zur Ausbildung der größeren Regentropfen (s. Tabelle 4, S. 190) bedarf es der Eisbildung und Sublimation. Geraten Teile einer Wolke in größere Höhen, so gefriert ein bestimmter Anteil der Tröpfchen aufgrund des starken Temperaturabfalls (s. Abbildung 7, S. 35 der vorliegenden Arbeit). An diesen Eisteilchen der Wolke kann sich dann vorhandener Wasserdampf direkt durch Sublimation niederschlagen. Die so entstehende Mischwolke wandelt sich dann unter großem Wachstum der Eisteilchen in eine Eiswolke um233. Haben die Eiskristalle ein Gewicht erreicht, mit welchem sie nicht mehr in der Schwebe gehalten werden können, so beginnen sie zu sinken. In Temperaturbereichen über Null Grad Celsius schmelzen sie schließlich, und es kommt zu großtropfigem Regen. Tabelle 4 Eigenschaften von Hydrometeoren 232 Vergleiche Malberg, S. 87-88 u. S. 90 233 Es handelt sich hier nur um eine grobe Charakterisierung dieser Vorgänge. Ge- naueres findet man bei Malberg, S. 89-93 2.1.18.1 Wolke und Tröpfchen _____________________________________________________________ 191 In der weiteren Unterhaltung zwischen Ulrich und Diotima wird auch über Arnheim gesprochen, allerdings nur in der Wiederga- be von Gesprächen, die zwischen Ulrich und Arnheim geführt wurden. Ulrich berichtet Diotima dabei folgendes über seine Zu- sammenkunft mit dem von ihm nicht sehr geschätzten Arnheim: "Er (Arnheim) hat mir dafür mitgeteilt, wie ich ihm vorkomme, wenn ich die Tatkraft verleugne um ir- gendeiner ausständigen gedanklichen Generalrege- lung willen. Wollen Sie es hören? Wie ein Mann, der sich neben ein für ihn bereitetes Bett legt. Es sei Energievergeudung, also selbst etwas physikalisch Unmoralisches, hat er persönlich für mich hinzuge- fügt. Er hat mir zugesetzt, doch zu verstehen, daß geistige Ziele von großem Ausmaß nur mit Benützung der heute bestehenden wirtschaftlichen, politischen und nicht zuletzt geistigen Machtverhältnisse zu erreichen seien. ... " (S. 275) Der Satz, in dem von Energievergeudung und Moralischem die Rede ist, gibt in zweifacher Hinsicht zu denken. Erstens kennt man in der Physik keine Moral, zweitens sollte man aus wissenschaftlicher Sicht besser nicht von Energievergeudung sprechen. Setzt man zum besseren Verständnis des betreffenden Satzes das Wort physikalisch vor das Wort etwas, und ersetzt Energievergeudung durch Arbeitsverrichtung sowie Unmorali- sches durch 'von verschwindend kleinem Wirkungsgrad', so ergäbe sich der folgende knappe Sinn: schon von der Physik her sei stets ein hoher Wirkungsgrad erwünscht. Vielleicht sollte aber auf diese Weise wieder einmal Arnheims Halbwissen in den Naturwissenschaften ironisch hervorgekehrt werden234. Denn dem Energieerhaltungssatz entsprechend kann Energie niemals verloren gehen, verbraucht oder vergeudet wer- den. Es lassen sich lediglich bestimmte Formen der Energie in bestimmte andere Formen der Energie überführen. Welche Pfade der Energieumwandlung dabei ausgeschlossen sind, bestimmt dann der zweite Hauptsatz der Thermodynamik (siehe Abschnitt 2.1.17.2 der vorliegenden Arbeit). 234 Vergleiche auch z. B.: dmoe: S. 281-282 oder S. 290 2.1.19 Der Ausschuß zur Fassung eines leitenden Beschlusses in bezug auf das Siebzigjährige Regierungsjubiläum Sr. Majestät beginnt zu tagen (71) _____________________________________________________________ 192 2.1.19 Der Ausschuß zur Fassung eines leitenden Beschlusses in bezug auf das Siebzigjährige Regierungsjubiläum Sr. Majestät beginnt zu tagen (71) 2.1.19.1 Gauß, Euler, Maxwell Die an der Parallelaktion beteiligten herausragenden Persönlich- keiten aus Kunst, Literatur und Wissenschaft werden zu einer großen Versammlung mit kaltem Buffet eingeladen. Die Konfe- renz findet in Diotimas Räumen statt, wo Beschlüsse zu einer gemeinsamen Vorgehensweise gefaßt werden sollen. In nahezu zynischer Weise werden nun vom Erzähler einige Details des Ablaufes der Konferenz geschildert: Die wundervolle Schlacke dieses Feuereifers bildete eine große Bibliothek, die aus den Mitteln angeschafft worden, die Graf Leinsdorf für den Anfang der Paral- lelaktion ausgeworfen hatte, ... jeder der Geladenen steuerte, nachdem er Diotimas huldvolle Begrüßung in Empfang genommen, unschlüssig durch die Zimmer und wurde dabei unfehlbar von der am Ende befind- lichen Bücherwand angezogen, ... und wenn die Ursa- che auch nur jene edle Neugier war, die jeder Schaf- fende für Büchersammlungen hegt, so drang doch süße Befriedigung ins Mark, wenn der Schauende endlich seine eigenen Werke entdeckte, ... (S. 297) Denn man konnte gleich bei diesem ersten Zusammen- treffen den Eindruck gewinnen, daß sich jeder große Geist in einer äußerst unsicheren Lage fühle, sobald er den Schutz seines Gipfelhorstes verläßt und sich auf gemeinem Boden verständigen soll. ... Wir haben in unserer Geschichte große Männer gehabt und betrachten das als eine zu uns gehörende Einrichtung, ... man muß, wenn sie da ist, auch jemand hinein- stecken. Also nimmt man, mit einem gewissen Automatismus ... immer den dazu, der gerade an der Reihe ist, ... Aber diese Verehrung ist nicht ganz reell; auf ihrem Grunde gähnt die allgemein bekannte Überzeugung, daß eigentlich doch kein einziger sie verdient, und es läßt sich schwer unterscheiden, ob sich der Mund aus Begeisterung oder zum Gähnen öffnet. (S. 298-299) In dem darauffolgenden Vergleich zwischen den 'schönen Gei- stern' einerseits und den Naturwissenschaftlern und Mathema- tikern andererseits scheinen zumindest an dieser Stelle des Ro- mans die letzteren eindeutig bevorzugt zu werden. Es heißt dort: 2.1.19.1 Gauß, Euler, Maxwell _____________________________________________________________ 193 Es muß jedoch betont werden, daß bis hierher von den sogenannten schönen Geistern gesprochen worden ist, denn es gibt in den Beziehungen des Geistes zur Welt einen sehr bemerkenswerten Unterschied. Während der schöne Geist in der gleichen Weise wie Goethe und Michelangelo, Napoleon und Luther bewundert sein will, weiß heute kaum noch irgendwer den Na- men des Mannes, der den Menschen den unsagbaren Segen der Narkose geschenkt hat, niemand forscht im Leben von Gauß, Euler oder Maxwell nach einer Frau von Stein, und die wenigsten kümmert es, wo Lavoisier und Cardanus geboren wurden und gestor- ben sind. Statt dessen lernt man, wie ihre Gedanken und Erfindungen durch die Gedanken und Erfindun- gen anderer, ebenso uninteressanter Personen weiter entwickelt worden sind, und beschäftigt sich unausge- setzt mit ihrer Leistung, die in anderen weiterlebt, nachdem das kurze Feuer der Person längst schon abgebrannt ist. (S. 299) Obwohl man als 'moderner Mensch' sicher mehrfach mit medizi- nischen Betäubungsmethoden in Berührung kommt, ist einem der 'Erfinder' der Narkose tatsächlich nicht geläufig. Die erste zahnmedizinische Operation unter Äthernarkose führte der amerikanische Zahnarzt William Morton im Jahre 1846 aus. Die Namen Gauß und Euler verbinden wir zwar mit 'genialen' Mathematikern, und von Maxwell können wir vielleicht gerade noch sagen, er sei ein großer Physiker gewesen, es fiele uns aber schwer, detailliert zu benennen, welche mathematischen bzw. physikalischen Großtaten diese Herren auszeichnen. Carl Fried- rich Gauß (1777-1855) war sowohl Mathematiker als auch Phy- siker. Als Mathematiker bewies er z.B. den Fundamentalsatz der Algebra, fand die Gaußsche Verteilung (Normalverteilung) und erkannte das sog. Fehlerfortpflanzungsgesetz. Es würde natürlich den Rahmen des vorliegenden Kommentars sprengen, diese Be- weise oder Gesetzmäßigkeiten genauer vorzustellen. Sie sollen aber kurz umrissen werden, damit hier mehr als bloßes Lexi- konwissen geboten wird. Der Fundamentalsatz der Algebra sagt, daß jede Gleichung n-ten Grades wenigstens eine Lösung im Bereich der komplexen Zahlen hat (Handbuch d. Math., S. 115 ff). In der Statistik gelingt die numerische Behandlung von Zu- fallsvariablen (siehe Abschnitt 2.1.29.3 dieser Arbeit) anhand von Verteilungen. Eine der wichtigsten ist die Gaußverteilung oder Standard-Normalverteilung, eine Exponentialfunktion mit quadratischem Exponenten (Gaußsche Glockenkurve, siehe Ab- 2.1.19 Der Ausschuß zur Fassung eines leitenden Beschlusses in bezug auf das Siebzigjährige Regierungsjubiläum Sr. Majestät beginnt zu tagen (71) _____________________________________________________________ 194 bildung 59, S. 276). Die Normalverteilung ist dabei vollständig durch Erwartungswert und Varianz bestimmt. Das sog. Fehler- fortpflanzungsgesetz gibt an, wie groß der Fehler für eine aus Beobachtungswerten zu schätzende Funktion ist, wenn man nur die Werte der die Funktion bestimmenden Beobachtungsgrößen und deren Fehler kennt (Handbuch d. Math., S. 631 ff). Ein Beispiel wäre die Bestimmung der Erdbeschleunigung g aus der Messung der Fallstrecke s eines geeigneten Massenkörpers und der zugehörigen Zeit t nach der Gleichung: g = 2s / t2. Als Physiker und Astronom berechnete Gauß 1801 die Umlauf- bahn des Asteroiden Ceres. Der Asteroidengürtel teilt das Plane- tensystem in zwei Bereiche, einen inneren, der die terrestrischen Planeten enthält und einen äußeren, der die Riesen- und Subrie- senplaneten enthält. Dieser Asteroidengürtel235 besteht aus einer Vielzahl unregelmäßig geformter, steinerner 'Kleinkörper'. Zwei der größeren Asteroiden heißen Ceres und Gaspra. Ceres hat einen Durchmesser von 933 km. In der folgenden Abbildung 45 sind die mittleren Bahnradien der Planeten unseres Planeten- systems aufgetragen: Abbildung 45 Mittlerer Bahnradius unserer Planeten. Die Asteroiden sind hier als Planeten symbolisiert. Der Abstand von einem Planeten zum nächstäußeren ist etwa doppelt so groß wie der zum nächstinneren. Vorsicht: logarithmische Skala. 1 AE = 1,496 108 km. Bergmann- Schaefer, Bd. 7, S. 434. Siehe dazu auch: Walter Krämer u. Götz Trenkler Das Beste aus dem Lexikon der populären Irrtümer Frankfurt a. Main 2000, S. 260-261 235 Vergleiche Bergmann-Schaefer, Bd. 7, S. 441 ff u. S. 700 2.1.19.1 Gauß, Euler, Maxwell _____________________________________________________________ 195 Leonhard Euler (1707-1783) war Schweizer Mathematiker und Physiker236. Zahlreiche von ihm entwickelte mathematische For- meln und Beziehungen haben heute in den Naturwissenschaften ihren festen Platz. Es sollen nur einige erwähnt werden237: (i) Euler entwickelte als einer der ersten die Lehre von den kom- plexen Zahlen und alle zugehörigen grundlegenden Relationen. (ii) Die Winkelfunktionen lassen sich nach Euler durch komplexe Ex- ponentialfunktionen darstellen. (iii) Bestimmte partielle Differentialgleichungen kann man elegant durch sog. Eulersche Multiplikatoren lösen. Welches Interesse Musil an mathematischen Methoden und Problemen hatte, geht aus seinen Tagebuchnotizen hervor. Dort sind ganze Abschnitte der komplexen Algebra aufgeschrieben und mit entsprechenden kleinen Zeichnungen versehen. Dabei ist auch der sog. Quaternionen-Formalismus erwähnt. Leider sind dazu nicht alle Aufzeichnungen Musils erhalten geblieben238. Auch im Nachlaß finden sich nur Anmerkungen zu diesem Re- chenschema (nl IV/2/174). Der Quaternionen-Formalismus ist in der modernen Computerphysik zu Bedeutung gekommen, und zwar im Zusammenhang mit Modellrechnungen für Flüssig- keiten (Molekulardynamik), welche die Berechnung thermody- namischer und dynamischer Eigenschaften von Flüssigkeiten gestatten, die aus mehratomigen Molekülen aufgebaut sind.239 Euler beschäftigte sich zusätzlich als Physiker mit Strömungs- mechanik und Himmelsmechanik. Ein strömendes Medium be- schreibt man physikalisch durch gewisse Grundgleichungen, die Euler bereits in der heutigen Form lieferte240. Euler benutzte da- 236 DTV-Lexikon d. Phys., Bd. 3, S. 64-65 237 Die Eulersche Schreibweise der Winkelfunktionen, in welcher sie als Exponenti- alfunktionen mit komplexen Exponenten erscheinen, läßt sich einschlägigen Ma- thematik- bzw. Physikbüchern entnehmen (siehe: z.B. Handbuch d. Math., S. 155- 156). Einen kurzen Überblick über die Theorie der komplexen Zahlen bietet das Handbuch d. Math., S. 86-88. 238 Siehe tg1 S. 299-301 und Anm. 20, tg2 S. 176 239 Der Quaternionen-Formalismus stellt einen alternativen Ansatz zur Beschreibung der Lage eines Körpers im Raum mit Hilfe der sog. Euler-Winkel dar. Dabei werden die drei Euler-Winkel , ,  durch vier sog. Quaternionenparameter: =sin ((-)/2)sin(/2), =cos ((-)/2)sin(/2); =sin((+)/2)cos(/2); =cos((+)/2)cos(/2) ersetzt. Auf diesem Formalismus läßt sich z.B. ein Computeralgorithmus für mole- kulare Modellrechnungen aufbauen. Siehe: Franz Vesely Computerexperimente an Flüssigkeitsmodellen Weinheim 1978, S. 206 bzw. S. 58 ff. 240 McQuarrie, S. 380-389; auch: Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 482-485 2.1.19 Der Ausschuß zur Fassung eines leitenden Beschlusses in bezug auf das Siebzigjährige Regierungsjubiläum Sr. Majestät beginnt zu tagen (71) _____________________________________________________________ 196 bei schon die Vektorrechnung241, welche erst später in der end- gültigen Form ausgearbeitet wurde. Wichtig für die Feldtheorie der modernen Physik (relativistische Quantentheorie) ist auch der von Euler formulierte Variationsansatz. Dabei wird ein vier- dimensionales Wirkungsintegral der Stationaritätsbedingung un- terworfen242. Der englische Physiker James Clerk Maxwell (1831-1879) for- mulierte die Feldgleichungen der elektrischen und magnetischen Felder in übersichtlicher und konsistenter Form243 und sagte die elektromagnetische Welle voraus. Er brachte 1861 die elektri- schen Erscheinungen mit dem Phänomen des Lichtes in Verbin- dung und begründete die elektromagnetische Lichttheorie244. Außerdem fand er das molekulare Geschwindigkeitsverteilungs- gesetz innerhalb der kinetischen Gastheorie (siehe Abschnitt 2.1.29.6 der vorliegenden Arbeit). 2.1.19.2 Lavoisier, Cardano, Frau von Stein Antoine Laurent Lavoisier (1743-1794, französischer Chemiker) kann als Begründer der neuzeitlichen Chemie und physikali- schen Chemie gelten. Zusammen mit Laplace245 gab Lavoisier ein sehr genau arbeitendes Kalorimeter an, mit dem anhand der bekannten Schmelzwärme von Eis die Reaktionswärme von chemischen Reaktionen oder die Wärmetönung bei Phasenum- wandlungen gemessen werden konnte. Lavoisier war auch der erste, dem es zusammen mit zwei weiteren Mitarbeitern gelang, unter Benutzung seines Kalorimeters zu beweisen, daß die Luft im wesentlichen ein Gasgemenge aus Stickstoff und Sauerstoff ist. Aufbau und Funktion des adiabatischen Kalorimeters246 sind in der folgenden Abbildung 46 und der zugehörigen Legende angegeben: 241 Handbuch d. Math. S. 537-550 242 DTV-Lexikon d. Phys., Bd. 5, S. 242-243 243Wilhelm Macke Elektromagnetische Felder. Ein Lehrbuch der Theoretischen Physik. Leipzig 1963, S. 239-241 244 Siehe z. B.: Bergmann-Schaefer, Bd. 3, S. 12 ff 245 Pierre Simon Laplace (1749-1827), französischer Mathematiker, Physiker und Astronom, ist heute z.B. durch den nach ihm benannten Laplace-Operator bekannt. Siehe: Handbuch d. Math., S. 550 246 Genaueres über adiabatische Kalorimeter findet man in Rudolf Brdicka Grund- lagen der physikalischen Chemie Berlin 1984, S. 383-385 2.1.19.2 Lavoisier, Cardano, Frau von Stein _____________________________________________________________ 197 Abbildung 46 Skizze des von Lavoisier und Laplace 1780 angegebenen Eiskalorimeters. Der äußere, isolierende Teil des Kalorimeters (Bereich a) wird mit Eis angefüllt. Der Mantel der eigentlichen Reaktionskammer (Bereich b) wird ebenfalls mit Eis versehen. Die zu untersuchende Umsetzung erfolgt in der Reaktionskammer f, und das ge- schmolzene Eis sammelt sich im Trichterbereich d. Durch die während der betreffenden Umsetzung entstehende Wärmemenge kommt es anstelle einer Temperaturerhö- hung zum Abschmelzen des Eises aus Zone b bei konstan- ter Temperatur. Nach dem Experiment wird die Masse des Schmelzwassers bestimmt und daraus mit Hilfe der be- kannten Schmelzwärme von Eis die Reaktionswärme der untersuchten Umsetzung errechnet. Durch den äußeren Eismantel verhindert man, daß während der Reaktion von außen Wärme ins Kalorimeter dringt. Es handelt sich also um ein adiabatisches Kalorimeter. Moore, S. 54 ff. 2.1.19 Der Ausschuß zur Fassung eines leitenden Beschlusses in bezug auf das Siebzigjährige Regierungsjubiläum Sr. Majestät beginnt zu tagen (71) _____________________________________________________________ 198 Das adiabatische Eiskalorimeter ist später von dem deutschen Chemiker Robert Bunsen weiter entwickelt worden247. Heute benutzt man ausschließlich Kalorimeter, in welchen die durch die Reaktion erzeugte Temperaturerhöhung sehr genau gemessen wird. Durch Zuführung elektrischer Energie wird dann diejenige Wärmemenge bestimmt, welche dem gemessenen Temperatur- anstieg entspricht. Da heutzutage sowohl die Temperaturmes- sung als auch die Bestimmung der zugeführten elektrischen Energie mit hoher Präzision erfolgen kann, erzielt man außeror- dentlich hohe Meßgenauigkeiten für Reaktionswärmen. Derartig hohe Meßgenauigkeit ist aber z.B. für die Bestimmung der Ver- brennungsenergien unterschiedlicher Kohlenwasserstoffe unbe- dingt erforderlich, da sich viele Kohlenwasserstoffe nur wenig in diesen Energien unterscheiden (s. Moore, S. 55-57). Geronimo Cardano, italienischer Arzt, Philosoph und Mathema- tiker (1501-1576), hat weder zur Gleichungslehre noch zur Kon- struktion von Kompassen oder Uhren Bedeutendes beigetragen. Zwar sind die Lösungen der kubischen Gleichung nach ihm be- nannt (Cardanische Formeln) und eine bestimmte Kompaß- bzw. Uhrenaufhängung ist als Cardanische Aufhängung bekannt, doch wurden Cardano diese Erfindungen zu Unrecht zugeschrieben. In Wahrheit erhielt Cardano die Lösungsformel für die kubische Gleichung von dem italienischen Rechenmeister Nicolo Tartaglia. Auch die 'Cardanische Aufhängung' war lange vor Cardano in Gebrauch.248 Die hier von Musil genannten Forscher und deren wissenschaft- liche Ergebnisse sind unter Umständen auch Experten nicht mehr bekannt. Wie Musil zurecht sagt, wird das naturwissenschaftli- che und mathematische Werk ständig fortgeführt, und die frühe- ren tatkräftigen Forscher und ihre Werke geraten in Vergessen- heit. Oft ist nur die letzte großartige Forschungstat mit einem bekannten großen Namen verbunden. So versteht man zwar ohne Zögern den metonymischen Aus- druck ich lese Goethe, würde aber die entsprechende 'naturwis- senschaftliche' Wendung ich lese Maxwell eher merkwürdig fin- den. Folglich wird auch im Leben maßgeblicher Naturwissen- schaftler und Mathematiker nicht nach einer 'Frau von Stein' gesucht. 247 Lexikon der Phys., Bd. 2, S. 228 248 Vergleiche: Handbuch d. Math., S. 108-112 2.1.19.2 Lavoisier, Cardano, Frau von Stein _____________________________________________________________ 199 Manchmal gibt es aber auch im naturwissenschaftlichen Bereich interessante Anekdoten. So berichtet man sich beispielsweise unter Physikern, daß die Mathematiker allein deshalb nicht mit dem Nobelpreis ausgestattet werden, weil ein bekannter Mathe- matiker damals mit der Ehefrau Alfred Nobels durchgebrannt sei. Für die Wahrheit dieser Geschichte kann aber hier nicht eingestanden werden! 2.1.20 Das In den Bart Lächeln der Wissenschaft oder Erste ausführliche Begegnung mit dem Bösen (72) _____________________________________________________________ 200 2.1.20 Das In den Bart Lächeln der Wissenschaft oder Erste ausführliche Begegnung mit dem Bösen (72) 2.1.20.1 Zeitmessung und wissenschaftliche Forschung Innerhalb der Institution der 'Parallelaktion' hat Diotima ausge- suchte Gelehrte zu den Vorträgen von Künstlern und anderen Schöngeistern eingeladen. Während der Erzähler die lächelnden gelehrten Zuhörer beobachtet, denkt er wie schon öfter über die derzeitige Form und den Wert der Wissenschaft nach: Fragt man sich unbefangen, wie die Wissenschaft ihre heutige Gestalt bekommen hat ..., so erhält man schon ein anderes Bild. Nach glaubwürdigen Überlieferun- gen hat das im sechzehnten Jahrhundert ... damit be- gonnen, daß man nicht länger, wie es bis dahin durch zwei Jahrtausende religiöser und philosophischer Spekulation geschehen war, in die Geheimnisse der Natur einzudringen versuchte, sondern sich ... mit der Erforschung ihrer Oberfläche begnügte. Der große Galileo Galilei ... räumte zum Beispiel mit der Frage auf, aus welchem in ihrem Wesen liegenden Grund die Natur eine Scheu vor leeren Räumen habe, ... : er er- gründete einfach, wie schnell ein ... Körper fällt, wel- che Wege er zurücklegt, Zeiten verbraucht und welche Geschwindigkeitszuwüchse er erfährt. Die katholische Kirche hat einen schweren Fehler begangen, indem sie diesen Mann ... zum Widerruf zwang, statt ihn ohne viel Federlesens umzubringen; denn aus seiner und seiner Geistesverwandten Art, die Dinge anzusehen, sind danach ... die Eisenbahnfahrpläne, die Arbeitsmaschinen, die physiologische Psychologie und die moralische Verderbnis der Gegenwart entstanden ... Sie hat diesen Fehler wahrscheinlich aus zu großer Klugheit begangen, denn Galilei war ja nicht nur der Entdecker des Fallgesetzes und der Erdbewegung, sondern auch ein Erfinder, für den sich, wie man heute sagen würde, das Großkapital interessierte, ... (S. 301-302) Der italienische Physiker Galileo Galilei (1564-1642) war der erste, der systematisch die Erdbeschleunigung untersuchte und die Fall-, Wurf- und Pendelgesetze aufstellte. Zur Bestimmung 2.1.20.1 Zeitmessung und wissenschaftliche Forschung _____________________________________________________________ 201 der Fallgesetze untersuchte er die Bewegung auf der schiefen Ebene mit einer Wasseruhr249. Grundsätzlich gilt, daß ein in Erdnähe frei fallender Körper eine konstante (Erd-)Beschleunigung von g = 9,81 m/s2, erfährt. Der von diesem Körper zurückgelegte Weg s läßt sich dabei unter idealisierten Bedingungen (keine Reibungskräfte) durch die Formel: s = g t2 / 2 berechnen, wobei die Fallzeit t gemessen wird. Mit Hilfe dieser Formel kann man z.B. in grober Näherung die Tiefe eines Brunnens bestimmen. Dazu läßt man einen mit- telgroßen Stein in den betreffenden Brunnen fallen, und mißt die Zeit bis zum Aufschlagen des Steins auf die Wasseroberfläche. Die 'Zeitmessung' wird durch einfaches Zählen ausgeführt. Hat man bis drei zählen können, so ergibt sich eine Tiefe von s = 10 x 9/2 = 45 m. Dieser Wert stellt nur eine ganz grobe Näherung dar, da die Fallzeit quadratisch in der Formel auftritt und sich dadurch Fehler in der Zeitmessung stark auf das Ergebnis auswirken. Galilei fand in seinen astronomischen Untersuchungen den Ring des Saturns und die vier hellsten Monde des Jupiters250. Er legte die Nachweise für die Gültigkeit des Kopernikanischen Weltsy- stems vor (siehe Abschnitt 2.1.6.1 dieser Arbeit) und geriet da- durch in Widerspruch zum geltenden Dogma der katholischen Kirche, war schließlich der Inquisition ausgesetzt. Er mußte sei- ne bewiesene Ansicht, die Sonne und nicht die Erde stehe im Mittelpunkt des Weltsystems, widerrufen. Tatsächlich scheint Galilei das Rad der wissenschaftlichen Er- forschung von Natur und Mensch in Gang gesetzt zu haben. Ein wichtiges Hilfsmittel dazu war die genaue Zeitmessung. Exakte Zeitmessung dürfte auch heute eine der wichtigsten Grundlagen für unser 'modernes Leben' sein, insbesondere für alle Ferti- gungs- und Arbeitsprozesse251. So erscheint es verständlich, daß Musil die Arbeiten Galileis schon im Zusammenhang mit dem Großkapital gesehen hat. Im Anschluß an den zitierten Romantext wird dann deutliche Kritik an Wissenschaft und Wissenschaftlern geübt. Es heißt es wenig später im gleichen Kapitel: Sieht man andererseits zu, welche Eigenschaften es sind, die zu Entdeckungen führen, so gewahrt man 249 Siehe Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1990, S. 45-46. Wasseruhr: aus einem Behälter tropft gleichmäßig Wasser in einen zweiten, dessen Wasserstand gemessen wird. 250 Vergleiche: Bergmann-Schaefer, Bd. 7, S. 699-700 251 Erst die genaue Zeitbestimmung bei den einzelnen Arbeitsgängen eines Herstel- lungsprozesses führte zur Normierung, Automation, Akkordarbeit usw.. Siehe dazu z.B. Link Versuch über den Normalismus S. 270 ff. 2.1.20 Das In den Bart Lächeln der Wissenschaft oder Erste ausführliche Begegnung mit dem Bösen (72) _____________________________________________________________ 202 Freiheit von übernommener Rücksicht und Hemmung, Mut, ebensoviel Unternehmungs- wie Zerstörungslust, Ausschluß moralischer Überlegungen, geduldiges Feilschen um den kleinsten Vorteil, zähes Warten auf dem Weg zum Ziel, falls es sein muß, und eine Verehrung für Maß und Zahl ... ; mit anderen Worten, man erblickt nichts anderes als eben die alten Jäger-, Soldaten- und Händlerlaster, die hier bloß ins Geistige übertragen und in Tugenden umgedeutet worden sind. (S. 303) Der vom Erzähler genannte Jäger- und Händlercharakter (Jäger-, Soldaten- und Händlerlaster) der Naturwissenschaftler zeigt sich heute in einer unschönen Variante, nämlich in dem teilweise rücksichtslos geführten Wettstreit der verschiedenen internatio- nalen wissenschaftlichen Arbeitsgruppen um die begehrten Nobelpreise. In bekannt gewordenen Fällen wurden bestimmte Forschungsergebnisse den anderen Forschern abgehandelt, damit die fremden Ergebnisse dann in die eigenen Arbeiten ein- gegliedert und so der Wettlauf um den angestrebten Preis ge- wonnen werden konnte. Es wurde auch schon versucht, Ergebnisse anderer Mitbeteiligter als die eigenen auszugeben oder einem unerwünschten Konkurrenten das entsprechende Untersuchungsmaterial vorzuenthalten. Ganz zu schweigen von solchen Fällen, in denen die eigenen Resultate 'frisiert' wurden, um ihre Relevanz zu verstärken. Marie Curie (1867-1934) dürfte aber wahrscheinlich frei von solchen Praktiken gewesen sein. Sie erhielt als einzige Forscherin aller Naturwissenschaftler und Naturwissenschaftlerinnen sowohl den Nobelpreis für Chemie als auch den für Physik.252 2.1.20.2 Psychologie an Stumpfs Institut Sehr auffällig und zunächst unverständlich an dem zu Beginn des Abschnitts zitierten Romantext ist die Tatsache, daß Musil die physiologische Psychologie zusammen mit der moralischen Verderbnis der Gegenwart nennt. Die physiologische Psycholo- gie stellte eine Richtung der Gestaltpsychologie dar, deren Ziel es war, die schon im Altertum bekannte These, das Ganze sei mehr als die Summe ihrer Teile, wissenschaftlich zu untermau- 252 Sie bekam 1903 den Nobelpreis für Physik zusammen mit P. Curie und A. Becquerel für die Entdeckung der Radioaktivität des Thoriums und die Deutung dieser u. ähnlicher Strahlungsphänomene. 1911 wurde ihr dann der Nobelpreis für Chemie zugesprochen aufgrund der Entdeckung des Radiums und des Poloniums sowie der chemischen Verbindungen des Radiums. Vergleiche: DTV-Lexikon der Phys., Bd. 2, S. 45 2.1.20.2 Psychologie an Stumpfs Institut _____________________________________________________________ 203 ern. Musil selbst schrieb, wie wir wissen, seine Doktorarbeit am Lehrstuhl des Psychologen und Philosophen Carl Stumpf in Ber- lin. Stumpf vertrat eine Richtung der Gestaltpsychologie253, wel- che derjenigen der physiologischen Psychologie (damals vertre- ten durch W. Wundt in Leipzig) entgegengesetzt war. Während die Berliner glaubten, daß Gestalten im Erlebnis primär und un- mittelbar gegeben seien, und erst nachträglich in analytischer Einstellung in Elemente gegliedert werden könne, wurde in der Leipziger Schule angenommen, daß die Elemente die Gestalt ergeben, also beispielsweise eine Linie zur Wahrnehmung zuerst in punktuelle Einzelempfindungen aufgelöst werden müsse. Mu- sil spricht im Nachlaß von Apperzeptionstheorie und Funktions- psychologie. Er schreibt: ... Bewegungsvorstellungen haben die Tendenz, in Bewegungen überzugehen. ... In Wundts Apperzepti- onstheorie tritt der Wille als eigener Faktor hinzu. In Stumpfs Funktionspsychologie ist das System der As- soziationspsychologie der eine Teil, dem ein Gebäude psychischer Funktionen - Bemerken, Zusammenfas- sen, Urteilen usw. - übergeordnet wird. (nl VI/1/151) Musil war Schüler des Stumpfschen Instituts und stellte sich selbst auch für fundamentale Experimente zur Aufklärung sinn- licher Phänomene, beispielsweise für stroboskopische Versuche, zur Verfügung. Mit Stroboskopen254 bestimmt man z.B. die Frequenz bzw. Drehzahl von mechanischen Systemen (z.B. Motoren). Dabei beleuchtet man ein solches System mit 'zerhacktem' Licht einer bestimmten Unterbrechungsfrequenz. Stimmen Drehzahl des Systems und Frequenz überein, so erscheint das mechanische System im Ruhezustand. Ein sich drehendes Rad scheint dann still zu stehen. Auf der stroboskopischen Scheinbewegung beruht auch die in Spielfilmen vorgeführte Bewegung. Dabei müssen die einzelnen Bilder in Zeitintervallen von 0,04 s projiziert werden, damit kontinuierliche Bewegung erscheint. Es lassen sich aber solche Scheinbewegungsphänomene auch durch einzelne Vorlagen er- zielen. Anhand der in der folgenden Abbildung 47 dargestellten Figur kann man ein derartiges Bewegungsphänomen selbst überprüfen: 253 Hofstätter, S. 155-166. Eine recht ausführliche Zusammenstellung der Entwick- lungen in der Psychologie zur Zeit Musils findet sich im Aufsatz von Kaiser-El- Safti, S. 130-141. Siehe auch Hoffmann, S. 61-88, S. 139 ff 254 DTV-Lexikon der Physik, Bd. 9, S. 29 2.1.20 Das In den Bart Lächeln der Wissenschaft oder Erste ausführliche Begegnung mit dem Bösen (72) _____________________________________________________________ 204 Abbildung 47 Figur aus konzentrischen Kreisen zum Nachweis von Scheinbewegungen. Bewegt man entweder die Abbildung oder den Kopf hin und her, so stellt man das Wandern zweier diametral durch die Figur laufender Sektoren fest. Es treten manchmal auch Farbeindrücke (gelb, rot oder blau) auf. Vergleiche: Hofstätter, S. 158-159 In seinen Tagebüchern schreibt Musil zu den Experimenten mit ihm selbst als Probanden folgendes: Die Psychologen unterscheiden mehrere Typen des Gedächtnisses; zu meiner Studienzeit war es der vi- suelle, der auditive und der motorische. Von diesen dreien paßte keiner auf mich, obgleich ich in den gewöhnlichen Experimenten motorisch reagierte. (tg1 S. 314) Da Musil selbst also aktiv an den Experimenten in Berlin teil- nahm, erscheint es naheliegend, daß er die physiologische Psy- chologie der Leipziger Schule für den falschen Weg hielt und sie deshalb im Roman ironisch für die moralische Verderbnis der Gegenwart verantwortlich macht. Wie er die wissenschaftliche Atmosphäre im Stumpfschen Insti- tut einschätzte, kann man der folgenden Tagebucheintragung entnehmen: 48) Beim Anhören eines Assistenten von weil. Schlick über 'Physikalismus' in Anwendung auf Psychologie: Wieviel genauer ist es doch in der Stumpfschule zuge- gangen. Diese nüchterne u. wissenschaftliche Atmo- sphäre war doch ein Verdienst dieses Lehrers, der wohl nicht bloß durch Zufall die bedeutendsten Schüler hatte. (tg1 S. 925) 2.1.20.2 Psychologie an Stumpfs Institut _____________________________________________________________ 205 Musil hielt es für selbstverständlich, auch physikalische Meßme- thoden für Untersuchungen in der Psychologie zu verwenden, so wie es am Stumpfschen Institut der Fall war. Davon zeugt auch der folgende Kommentar in seinem Nachlaß: ... Trotzdem kann ein Gedanke, der einem bestimmten Sachgebiet angehört, natürlich auch auf anderen Gebieten seine Ergänzung finden. Es können Verän- derungen der Physik die Folge eines mathematischen Gedankens sein. Ein geometrischer kann durch eine physikalische Einsicht ein neues Gesicht bekommen. Ja, ein auf das verschiedenste angewandter Vorgang wie das Messen ist in seinem Begriff überall Wand- lungen ausgesetzt und schickt eine seiner Wurzeln sogar in das weit entfernte Gebiet der Psychologie. Diese Beobachtung, daß die Sachgebiete zusammen- hängen, ist so gewöhnlich, daß sie kaum der Rede wert wäre ... (nl V/5/23) Andererseits liest man in den Tagebüchern eine Bemerkung, die man durchaus auch ironisch gegen Stumpf auslegen kann: 156) ... Berlin 1914. Die stumpfen Gesichter der Studenten und das Psychologische Institut. (tg1 S. 953) 2.1.21 General Stumm von Bordwehr betrachtet Besuche bei Diotima als eine schöne Abwechslung in den dienstlichen Obliegenheiten (75) _____________________________________________________________ 206 2.1.21 General Stumm von Bordwehr betrachtet Besuche bei Diotima als eine schöne Abwechslung in den dienstlichen Obliegenheiten (75) 2.1.21.1 Ordnung, Genauigkeit und Intuition General Stumm macht sich Hoffnung, an der Parallelaktion teil- nehmen und dieser durch sein Ordnungsbestreben besonders nützlich sein zu können. Honold erklärt dazu: Die Parallelaktion trachtet einzig nach der Verwirklichung eines Plans in der Weltgeschichte, die doch zu- gleich als planlos und zufällig erlebt wird. Das Ordnungsbegeh- ren General Stumm von Bordwehrs verficht, was der Roman im ganzen sich versagen muß - die Feldherrenperspektive des Überblicks im Zeitalter der Unübersichtlichkeit. Ulrich schließ- lich reagiert auf die hochspezialisierten Beschränkungen des von der Kommission versammelten Sachverstands mit dem grenz- überschreitenden Vorschlag, die Exaktheit der modernen Natur- wissenschaften zu einer systematischen Neuordnung auch des 'geistig-sittlichen' Terrains zu nutzen und ein "Erdensekretariat der Genauigkeit der Seele" (S. 597) zu gründen. Neben den mar- kanten Schauplätzen wie Diotimas Salon oder Moosbruggers Gefängniszelle sind es vornehmlich diese Systematiker und Quergänger, welche der Orientierung in der Textwelt des "Man- nes ohne Eigenschaften" Anhaltspunkte geben. 255 Stumm trifft öfter mit der 'Vorsitzenden' der Parallelaktion Dio- tima zusammen und versucht mit ihr ins Gespräch zu kommen. Im Laufe einer solchen Unterredung setzt ihr Stumm ausein- ander, was unter wissenschaftlichem Ordnen zu verstehen sei, und trägt schließlich zu einem der Spezialthemen des Romans, dem Thema 'Ordnung', folgendes vor: "Es gibt ja viele Menschen, die gar nicht wissen, wie wenig Ordnung der Geist hat!" ... "Ich bin sogar, wenn Exzellenz gestatten, überzeugt, daß die meisten Menschen glauben, täglich einen Fortschritt der allgemeinen Ordnung zu erleben. Sie sehen alles voll von Ordnung; die Fabriken, die Büros, die Eisen- bahnfahrpläne und Unterrichtsanstalten, - ich darf da wohl auch mit Stolz unsere Kasernen erwähnen, die mit bescheidenen Mitteln geradezu an die Disziplin eines guten Musikorchesters erinnern -, und man kann hinschaun, wo man will, so sieht man eine Ordnung, 255 Honold Die Stadt und der Krieg S. 336-337 2.1.21.1 Ordnung, Genauigkeit und Intuition _____________________________________________________________ 207 eine Geh-, Fahr-, Steuer-, Kirchen-, Geschäfts-, Rang-, Ball-, Sittenordnung und so weiter. Also bin ich überzeugt, daß fast jeder Mensch heute unser Zeitalter für das geordnetste hält, was es je gegeben hat. ... Also ... habe ich sofort das Gefühl, daß der Geist der Neuzeit eben in dieser größeren Ordnung liegt und daß die Reiche von Ninive und Rom an ir- gendeiner Schlamperei zugrunde gegangen sein müssen. ..." (S. 321) Wie sehr man sich allerdings auf die beschworene Ordnung ver- lassen kann, und 'wie wenig Geist die Ordnung' hat, erfährt Ge- neral Stumm später höchst persönlich, als er in der Staatsbiblio- thek nicht eines der von ihm gesuchten Bücher finden kann. Die entsprechende Begebenheit ist bereits in Abschnitt 2.1.17.3 die- ser Arbeit ausführlicher behandelt worden. Auch Diotima wider- spricht dem General vehement und setzt statt dessen auf Intuition und Dichtung. Es heißt dort: "Herr General: Niemals wird man durch Ordnung, durch nüchternes Abwägen, Vergleichen und Prüfen ans Ziel kommen; die Lösung muß ein Blitz, ein Feuer, eine Intuition, eine Synthese sein! Wenn man die Geschichte der Menschheit betrachtet, so ist sie keine logische Entwicklung, wohl aber erinnert sie mit ihren plötzlichen Eingebungen, deren Sinn sich erst nachträglich herausstellt, an eine Dichtung!" (S. 321-322) Das anscheinend so klare Votum gegen (natur-)wissenschaftlich genaues Arbeiten und für Intuition und Dichtung im Zusammen- hang mit 'wichtigen Fragen des Lebens' wird aber gleich wieder durch die merkwürdige Antwort Stumms in ein ironisches Licht gestellt: "Halten zugute, Exzellenz," erwiderte der General, "der Soldat versteht wenig von Dichtung; aber wenn jemand einer Bewegung Blitz und Feuer schenken kann, so sind es Exzellenz, das versteht ein alter Offizier!" (S. 322) Diese Ironie scheint in mehrfacher Weise nötig, denn das Ro- manfragment stellt im Grunde ein mustergültiges Beispiel für akribische Genauigkeit und äußerst durchdachte und kenntnisrei- che Argumentation dar, welche Musil offenbar seinem Roman- 2.1.21 General Stumm von Bordwehr betrachtet Besuche bei Diotima als eine schöne Abwechslung in den dienstlichen Obliegenheiten (75) _____________________________________________________________ 208 werk ständig abverlangt hat. Ingeborg Bachmann schreibt in einem ihrer Radio-Essays Der Mann ohne Eigenschaften256: 1. SPRECHER ... So werden wir darauf verzichten müssen, auf den äußeren Handlungskomplex einzuge- hen, der für jeden Leser zum primär Reizvollsten des ganzen Werkes gehört, mit seinen hinreißenden Mi- lieuportraits und Menschenschilderungen, seinem schwarzen Humor und seiner bitteren Komik. Denn er ist nur Anlaß für den Dichter - Anlaß für einen kühnen geschichtsphilosophischen Versuch, der sich in die schöne Literatur verirrt hat. 2. SPRECHER Tatsächlich hat das Buch mit erzäh- lender Prosa wenig zu tun. Es wird nahezu erdrückt von dem Übermaß an Reflexion, von der Mittelbarkeit der Darstellung. Es ist ein Konglomerat von Essays, Aphorismen, den inneren Monologen Ulrichs und zwei Dutzend Nebenfiguren. 1. SPRECHER Und es ist doch durchkomponiert und durchstrukturiert wie kein andres Buch dieses Jahr- hunderts. Musil ist ein Stratege des Geistes, der mit der faszinierendsten Intelligenz an der Ausführung seines Plans arbeitet, mit allen Sprachmitteln, mit je- dem möglichen Stil, mit jeder Bewußtseinsverschie- bung, mit jeder Erlebnismöglichkeit. Und er wird getrieben von der kältesten und absonderlichsten Leidenschaft. MUSIL "Dieses Buch hat eine Leidenschaft, die im Gebiet der schönen Literatur heute einigermaßen deplaziert ist, die nach Richtigkeit, Genauigkeit." 257 An anderer Stelle des dmoe überlegt der Erzähler zur Genauig- keit, wie zu erwarten, eher ganz widersprüchlich: Genauigkeit, als menschliche Haltung, verlangt auch ein genaues Tun und Sein. Sie verlangt Tun und Sein 256 Ingeborg Bachmann Werke Bd. 1–4 Christine Koschel, Inge von Weidenbaum u. Clemens Münster (Hg.), Bd. 4, München 1982, S. 94-95 257 Musils Text ist hier von Ingeborg Bachmann nur geringfügig für das 'Hörspiel' geändert worden. Im Originaltext steht: Dieses Buch hat eine Leidenschaft, die im Gebiet der schönen Lit. heute einigermaßen deplaziert ist, die nach Richtig- keit/Genauigkeit. (Polgar: Man verschone uns mit kurzen Geschichten. Dabei schreibt er eine lange). (S. 1937) Alfred Polgar: Schriftsteller und Theaterkritiker zu Musils Zeiten. 2.1.21.1 Ordnung, Genauigkeit und Intuition _____________________________________________________________ 209 im Sinne eines maximalen Anspruchs. Allein hier ist eine Unterscheidung zu machen. Denn in Wirklichkeit gibt es ja nicht nur die phantastische Genauigkeit (die es in Wirklichkeit noch gar nicht gibt), sondern auch eine pedantische, und diese beiden unterscheiden sich dadurch, daß sich die phantastische an die Tatsachen hält und die pedantische an Phantasiegebilde. ... Es gibt also in Wirklichkeit zwei Geistesverfassungen, ... Die eine begnügt sich damit, genau zu sein, und hält sich an die Tatsachen; die andere begnügt sich nicht damit, sondern schaut immer auf das Ganze und leitet ihre Erkenntnisse von sogenannten ewigen und großen Wahrheiten her. (S. 247-248) Als beispielhaft für diese beiden Arten der Genauigkeit wird angeführt, daß im Fall des Frauentöters Moosbrugger die Justiz sich in pedantischer Genauigkeit an den phantastischen Begriff des 2000 Jahre alten Rechtsgutes gehalten habe, während die Psychiatrie in phantastischer Genauigkeit immerhin feststellte, daß Moosbruggers Krankheitsbild mit keinem anderen bisher beobachteten übereinstimme. 2.1.22 Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man nicht Geschichte? (83) _____________________________________________________________ 210 2.1.22 Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man nicht Geschichte? (83) 2.1.22.1 Zustände und Thermodynamik Ulrich denkt über ein Gespräch mit Clarisse nach, und findet, daß er Generelles zum Schicksal des Menschen und der Menschheit nicht gesagt habe. Er holt dies zunächst in einem Monolog nach, und schließt dann ganz allgemeine Erwägungen zum Spezialistentum und zum Verlauf der Geschichte an. Es heißt gleich zu Anfang des Kapitels: Aber er hatte noch etwas auf der Zunge gehabt; etwas von mathematischen Aufgaben, die keine allgemeine Lösung zulassen, wohl aber Einzellösungen, durch deren Kombination man sich der allgemeinen Lösung nähert. Er hätte hinzufügen können, daß er die Aufga- be des menschlichen Lebens für eine solche ansah. Was man ein Zeitalter nennt, ... dieser breite, ungere- gelte Fluß von Zuständen würde dann ungefähr eben- soviel bedeuten wie ein planloses Nacheinander von ungenügenden und einzeln genommen falschen Lö- sungsversuchen, aus denen, erst wenn die Menschheit sie zusammenzufassen verstünde, die richtige und totale Lösung hervorgehen könnte. (S. 358) Ulrich schlägt hier vor, die Aufgabe des menschlichen Lebens ähnlich anzugehen, wie das schrittweise Lösen komplexer ma- thematischer Aufgaben. Ebenso wie man in der Mathematik Par- tiallösungen konstruiere, die schließlich durch Kombination zur Gesamtlösung führten, so müsse die Lösung der Aufgabe der Menschheit durch Zusammenstellung von Einzellösungen zu einer totalen angenähert werden258. Wie in der Mathematik solche Lösungsmethoden der Kombina- tion von Einzellösungen aussehen können, soll an den beiden folgenden einfachen Beispielen demonstriert werden. Ein inhomogenes lineares Gleichungssystem mit n Unbekannten und m Gleichungen sei in der folgenden Form gegeben: a11x1 + a12x2 + ... + a1nxn = c1 a21x1 + a22x2 + ... + a2nxn = c2 . . am1x1 + am2x2 + ... + amnxn = cm 258 Im zweiten Buch des Romans ist des öfteren von diesen Partiallösungen die Rede. Siehe dazu auch Abschnitt 2.1.23.3 der vorliegenden Arbeit. 2.1.22.1 Zustände und Thermodynamik _____________________________________________________________ 211 Es enthält x1, ... , xn Unbekannte und a11, ... , amn Koeffizienten (Koeffizientenmatrix) sowie die Inhomogenität (Spaltenvektor der 'rechten Seite') c1, ... , cm . Sind alle ci gleich Null, so spricht man von einem homogenen Gleichungssystem. Für n = m = 2 reduziert es sich auf das von der Schule her bekannte Glei- chungssystem mit zwei Unbekannten und zwei Gleichungen. Das lineare Gleichungssystem259 ist genau dann lösbar, wenn der Rang (Zahl der linear unabhängigen Spaltenvektoren) der Koeffizientenmatrix gleich demjenigen der um den Spaltenvek- tor c1, ... , cm erweiterten Matrix ist. Ein lösbares Gleichungssy- stem ist genau dann eindeutig lösbar, wenn der Rang der Koeffi- zientenmatrix gleich n ist. Für großes n ≠ m läßt sich das Glei- chungssystem nur noch mit Hilfe schneller Computer lösen, falls es lösbar ist. Man kann sich aber die Rechenarbeit zur Auffin- dung der Lösungen sehr vereinfachen, indem man zunächst die Lösungen für das entsprechende homogene Gleichungssystem bestimmt und anschließend versucht, irgendeine spezielle Lö- sung für das inhomogene System zu finden, eventuell zu raten. Aus mathematischen Überlegungen folgt dann, daß eine Lö- sungsgesamtheit des inhomogenen Systems aus der speziellen Lösung und einer beliebigen Lösung des zugehörigen homoge- nen Systems durch Addition erzeugt werden kann. Vielleicht noch zutreffender ist das nächste Beispiel einer linea- ren inhomogenen Differentialgleichung der Form: y' = A0 + A1 y , wobei y' die Ableitung der gesuchten Lösungsfunktion y(x) be- deutet und A0, A1 Konstanten sind. Ist dann y* eine partikuläre Lösung dieser Gleichung, so läßt sich die Lösungsgesamtheit durch diese partikuläre Lösung und Addition der Lösungsgesamtheit für die entsprechende homoge- ne Differentialgleichung y' = A1 y bestimmen.260 In demselben Kapitel stellt Ulrich wenig später Betrachtungen über das Spezialistentum an, das aus gelehrten Leuten mit Ge- danken, die ungeheure Stelzschritte machen, besteht. Es heißt dort: Früher hat man ja wohl von Gedankenflug gespro- chen, ... heute dagegen hat man das Gefühl, daß mit so einem Menschen etwas nicht in Ordnung sei, ... 259 Rolf Lingenberg Lineare Algebra. Erster Teil einer Vorlesung. Mannheim 1969, S. 87-91; Klaus Jänich Lineare Algebra Berlin 1993, S. 158 ff 260 Für beide Differentialgleichungstypen existieren die Lösungen in gewissen defi- nierten Bereichen. Siehe: Friedhelm Erwe Gewöhnliche Differentialgleichungen Mannheim 1961, S. 31-32 2.1.22 Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man nicht Geschichte? (83) _____________________________________________________________ 212 Man hat für hochfliegende Gedanken eine Art Geflü- gelfarm geschaffen, die man Philosophie, Theologie oder Literatur nennt, und dort vermehren sie sich in ihrer Weise immer unübersichtlicher, ... Ulrich in seiner Achtung vor Fachlichkeit und Spezialistentum, war im Grunde entschlossen, nichts gegen eine solche Teilung der Tätigkeiten einzuwenden. Aber er gestat- tete sich immerhin noch selbst zu denken, ... (S. 358-359) Ähnlich mehrdeutig-ironisch äußert sich Ulrich dann über Welt- geschichte und den "Weg der Geschichte", von dem niemand weiß, woher er gekommen ist. Das folgende Zitat gibt einen Überblick: ... Weil Weltgeschichte zweifellos ebenso entsteht wie alle anderen Geschichten. Es fällt den Autoren nichts Neues ein, und sie schreiben einer vom anderen ab. Das ist der Grund, warum alle Politiker Geschichte studieren, statt Biologie oder dergleichen. ... Größten- teils entsteht Geschichte aber ohne Autoren. Sie ent- steht nicht von einem Zentrum her, sondern von der Peripherie. Aus kleinen Ursachen. ... Denn das menschliche Wesen ist ebenso leicht der Menschen- fresserei fähig wie der Kritik der reinen Vernunft; ... (S. 360-361) Renner, der sich ebenfalls auf dieses Kapitel bezieht, will dem Romantext Musils entnehmen, daß die ... geschilderte Zeitsitua- tion durch eine Aufspaltung des Wissens, durch Sprachspiele eines Spezialistentums und durch das Am-Rande-Stehen der Geisteswissenschaften gekennzeichnet seien, die zur "Geflügel- farm des Wissens" verkommen. Renner möchte weiter folgern, es erweise sich unter diesen Voraussetzungen ... das auf Kausa- lität und teleologische Zielsetzungen261 gegründete Geschichts- bild als obsolet. Denn für Musil sei Geschichte nicht mehr um die Begriffe von Ursache, Individuum und Authentizität zu zentrieren und auch nicht mehr auf jene kausalen Herleitungen rückführbar, die den Gesetzen der Mechanik parallel stehen.262 Falls solches überhaupt aus dem Text des hier zu behandelnden Kapitels herauszulesen ist, so scheint Renner doch den hochiro- nischen Ton der ganzen Abhandlung263 außer Acht gelassen zu 261 Was sind 'teleologische Zielsetzungen' ? 262 Renner Die postmoderne Konstellation S. 129. Wozu die Gesetze der Mechanik eigentlich "parallel stehen" sollen, ist nicht zu erkennen. 263 Auch Honold (Die Stadt und der Krieg S. 320) scheint die deutlich ironisch ge- färbten Passagen dieses Textes nicht zur Kenntnis genommen zu haben. 2.1.22.1 Zustände und Thermodynamik _____________________________________________________________ 213 haben. Danach läßt sich nämlich das Gesagte auch genau gegensätzlich verstehen. Anknüpfend an die Gesetze der Mechanik kommt Renner dann auf die Thermodynamik, die Ausdehnung von Gasen und die Entropie zu sprechen264. Was dabei jedoch ausgesagt werden soll, läßt sich auch bei gutem Willen nicht verstehen. Es wird deshalb auf Zitate verzichtet. Zu vermuten ist, daß Renner letztlich erklären will, was Musil wohlbegründet mit kinetischer Geschichtstheorie bezeichnet hat. Im folgenden soll versucht werden, die in Renners Text verwendeten physikalischen Be- griffe klarzustellen und das physikalische Grundwissen dazu nachzuliefern, um dann vielleicht den beabsichtigten Gedanken- gang Renners rekonstruieren zu können. Die Thermodynamik ist eine phänomenologische Beschreibung der Physik der Zustände und Zustandsänderungen gasförmiger, flüssiger und fester Körper. Grundlagen dieser Beschreibung sind die zu postulierenden drei Hauptsätze, von denen der erste nichts anderes ist als der Satz von der Erhaltung der Energie, und der zweite dem Sinn nach sagt, daß in einem abgeschlosse- nen System von selbst niemals Wärme aus einem tieferen in ein höheres Temperaturniveau übergehen kann oder - in anderer Formulierung - die Zustandsgröße Entropie bei spontan (natür- lich) verlaufenden Vorgängen immer zunimmt (vergleiche mit Abschnitt 2.1.23.3 der vorliegenden Arbeit). Der dritte Haupt- satz sagt schließlich, daß es für ein beliebiges thermodynami- sches System unmöglich ist, den absoluten Nullpunkt in einer endlichen Zahl von Operationen zu erreichen (Moore, S. 187). Während der dritte Hauptsatz in diesem Zusammenhang über- gangen werden kann265, müssen die beiden ersten der Wichtig- keit halber in verallgemeinerter exakter Version vorgestellt wer- den (Bergmann-Schaefer, Bd. I, 1998, S. 14-16): 1. Hauptsatz der Thermodynamik Es ist unmöglich, ein Perpetuum mobile erster Art zu konstru- ieren, also eine Maschine, die nichts weiter tut als mechanische Arbeit zu leisten. 2. Hauptsatz der Thermodynamik Es ist unmöglich, ein Perpetuum mobile zweiter Art zu konstru- ieren, also eine Maschine zu ersinnen, die nichts weiter bewirkt, als einem Wärmereservoir Wärme zu entziehen und diese in die äquivalente mechanische Arbeit umzuwandeln. 264 Renner Die postmoderne Konstellation S. 129-130 265 Siehe dazu z.B.: Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 1149-1161 oder Moore, S. 187 2.1.22 Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man nicht Geschichte? (83) _____________________________________________________________ 214 Dem Kommentar Meisels zu den beiden Hauptsätzen im Zu- sammenhang mit der von ihm erörterten 'Wahrscheinlichkeits- theorie' ist nicht zu folgen. Er schreibt: während sich also nach dem ersten, dem Erhaltungssatz, die Erscheinungsform des Ver- hältnisses Energie/Materie ändern kann, ... sind die Folgen des zweiten, des Entropiesatzes weitaus folgenreicher. ... (S. 252) Unterstellt man, daß der Ausdruck die Folgen sind folgenreicher überhaupt etwas bedeutet, so ist zu beachten, daß sich der zweite Hauptsatz gar nicht ohne den ersten, den Energieerhaltungssatz, formulieren ließe. Auch die sich anschließenden Bemerkungen Meisels stimmen nicht: Materie und Energie können immer nur in eine Richtung, also irreversibel verändert werden, und zwar von einer gebundenen in eine ungebundene, von einer nutzbaren in eine nicht nutzbare, von einer geordneten in eine ungeordnete und damit von einem unwahrscheinlichen in einen wahrscheinli- chen Endzustand (S. 252). Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik sagt aber nur, daß in abgeschlossenen Systemen alle von selbst (natürlich) ablaufen- den Prozesse irreversibel verlaufen und deshalb stets mit einem Entropieanstieg verbunden sind. Für gewisse Kreisprozesse je- doch, insbesondere den Carnotschen Kreisprozeß, kann man zumindest theoretisch eine reversible Prozeßführung und infol- gedessen auch reversible Energieumwandlung angeben. Für den Carnotschen Kreisprozeß bleibt also die Entropie erhalten. Er soll im folgenden skizziert werden. Die experimentelle Anord- nung dazu zeigt schematisch die nächste Abbildung 48: Abbildung 48 Schema eines Zylinders mit beweglichem Stempel (oben). Stempel und Zylinderwände seien wär- meundurchlässig. Der Zylinderboden sei aber ideal wärme- leitend (schwarz gezeichnet). In der unteren Reihe sind zwei Wärmereservoire R1 und R2 mit konstant gehaltenen 2.1.22.1 Zustände und Thermodynamik _____________________________________________________________ 215 Temperaturen T1 bzw. T2 (T1 > T2) und in der Mitte ein Isoliervolumen gezeichnet. Die Reservoire seien genügend groß, ihre Temperaturen nicht zu ändern, selbst bei Auf- nahme oder Abgabe von bestimmten Wärmemengen. Der Zylinder mit Stempel kann mit den beiden Reservoiren in Kontakt gebracht werden oder in Mittelstellung ohne Kon- takt bleiben, dann ist das Gas adiabatisch isoliert. Berg- mann-Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 1119 Im Carnot-Prozeß266 durchläuft das ideale Gas eine geschlosse- ne Reihe von Zuständen in Teilprozessen, in denen Energie nur in Form von Wärme (Q) und Arbeit (A) ausgetauscht wird. Die Einstellung der vier Zustände A - B - C - D, die im Kreisprozeß durchlaufen werden, erfolgt in vier Schritten: 1. Schritt (A nach B) Der Ausgangszustand des Gases sei durch den Druck PA, das Volumen VA und die Temperatur T1 gekennzeichnet. Zylinder und Stempel seien mit dem Reservoir R1 verbunden. Der Au- ßendruck wird nun verkleinert, so daß der Stempel ausfährt und dabei das Gas unter reversibler Arbeitsverrichtung auf das Volu- men VB expandiert. Die entsprechende Abkühlung des Gases wird durch das Reservoir R1 verhindert; der Prozeß verläuft iso- therm. Dem Gas wird eine bestimmte Wärmemenge übertragen, wofür es die äquivalente Expansionsarbeit zu leisten hat. 2. Schritt (B nach C) Der Zylinder wird in Mittelstellung gebracht, und durch infini- tesimale Außendruckverkleinerung kann sich der Stempel weiter nach oben verschieben, das Volumen des Gases vergrößert sich und der Druck verringert sich entsprechend. Die dabei auftreten- de Abkühlung des Gases wird solange fortgesetzt, bis das Gas die Temperatur T2 des zweiten Wärmereservoirs erreicht hat. Das Gas hat in diesem adiabatischen Fall Arbeit auf Kosten seiner inneren Energie geleistet und sich dabei abgekühlt. Der Enddruck sei PC, das zugehörige Volumen VC genannt. 3. Schritt (C nach D) Der Zylinder wird mit Reservoir R2 in Verbindung gebracht, und anschließend durch Einschieben des Stempels das Volumen des Gases komprimiert. Wieder verläuft der Vorgang isotherm: es wird von außen Arbeit geleistet und die äquivalente Wärme- menge vom Gas an das Reservoir R2 abgegeben. Am Ende des Vorgangs hat das Gas die Temperatur T2 beibehalten, sein Volumen auf VD verkleinert und den Druck auf PD vergrößert. 266 Bergmann - Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 1114 - 1138 2.1.22 Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man nicht Geschichte? (83) _____________________________________________________________ 216 4. Schritt (D nach A) Im letzen Schritt wird schließlich der Zylinder wieder in Mittelstellung gebracht, und durch weiteres Zusammendrücken des Gases adiabatische Kompression erzielt. Das Gas wird dabei solange erwärmt bis die Ausgangstemperatur T1 und die dazu- gehörigen Ausgangswerte für Volumen V = VA und Druck, P = PA eingestellt sind. Der Kreisprozess hat seinen Ausgangs- zustand wieder erreicht. Durch diese reversible Führung des Prozesses wird seine vollständige Umkehrung ermöglicht. D.h. der oben beschriebene Fall der Wärmekraftmaschine, wobei insgesamt Wärmeenergie in äußere Arbeit übergeht, kann auch umgekehrt werden, so daß die Anordnung als Wärmepumpe, also zur Umwandlung von äußerer Arbeit in Abkühlungsenergie, benutzt wird. Läßt man den Carnot-Prozeß hintereinander in beiden Richtungen laufen, so werden als Konsequenz der Reversibilität alle damit verbundenen Änderungen in der Natur (z.B. in den Reservoiren) vollständig rückgängig gemacht. Der Carnotsche Kreisprozeß läßt sich auch sehr anschaulich anhand eines PV-Diagramms (Zustandsdiagramms) erläutern, welches in der nächsten Abbildung 49 zu sehen ist: Abbildung 49 Im dargestellten PV-Diagramm finden sich die beschriebenen Zustandsstationen A, B, C, D, A des Carnotschen Kreisprozesses wieder. Gezeichnet sind die weniger steilen Isothermen T1 und T2 (Verbindungslinien von Zuständen gleicher Temperatur) und die sie schnei- denden steiler abfallenden Adiabaten (Verbindungslinien von Zuständen mit vollständiger Wärmeisolierung). Die zu betrachtenden Zustände liegen jeweils auf dem Schnitt- punkt der entsprechenden Isotherme mit der Adiabate. Anfangs- und Endzustand sind gekennzeichnet durch die 2.1.22.1 Zustände und Thermodynamik _____________________________________________________________ 217 Temperatur T1, das Volumen VA und den Druck PA. Der Kreisprozeß verläuft abwechselnd auf Isothermen und Adiabaten. Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 1119 ff Zur Bewertung der Effizienz eines Kreisprozesses benutzt man im allgemeinen den Wirkungsgrad η. Dieser ist beim Carnot- Prozeß allein durch die auftretenden Temperaturen in der fol- genden Weise bestimmt: η = (T1 -T2) / T1 . Musil kommt in einem späteren Kapitel des dmoe noch auf den Wirkungsgrad zu sprechen (s. Abschnitt 2.2.4.2 der vorliegenden Arbeit). In der Thermodynamik wird generell von einem Zustand nur dann gesprochen, wenn es sich um einen Gleichgewichtszustand handelt. Sollen 'Nichtgleichgewichtszustände' betrachtet werden, so muß dies ausdrücklich angemerkt werden. Ein Gleichge- wichtszustand ist bestimmt durch feste Werte der charakteristi- schen Zustandsvariablen, z.B. Volumen, Temperatur, Druck, usw.. Die einzelnen Zustandsvariablen sind aber nicht unabhän- gig von einander, sondern verknüpft durch bestimmte thermo- dynamische Relationen. D.h. es können nur bestimmte Zu- standsvariable unabgängig gewählt werden, die restlichen stellen sich in Abhängigkeit von den gewählten ein. Es ist deshalb stets festzulegen, welche Zustandsgrößen als Pa- rameter gewählt werden. Die genannten grundlegenden thermo- dynamischen Relationen sollen hier nicht ausgeführt werden267. Man sollte sich vielleicht aber die vier thermodynamischen Potentiale merken, die jeweils Funktionen zweier 'natürlicher' Variablen sind. Die partiellen Ableitungen der Potentiale nach diesen Variablen ergeben dann wieder einfache Zustandsgrößen und zeigen dadurch sofort die wechselseitigen Abhängigkeiten an. Die Potentiale lauten: E (S,V) [ (innere) Energie ] H (S,P) [ Enthalpie ] F (T,V) [ Helmholtz-Energie ] G (T,P) [ Gibbs-Energie ] . Die zugehörigen unabhängigen Zustandsvariablen der Potentiale sind in der funktionalen Schreibweise angegeben. Leitet man die Energie nach der Entropie S bzw. nach V ab, so ergibt sich T bzw. -P. Ableitung der Enthalpie nach S bzw. P ergibt T bzw. V. Die entsprechenden Ableitungen der Helmholtz- bzw. Gibbs- Energie ergeben -S und -P sowie -S und V. 267 Reif, S. 185-191; Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 1115 ff ; G. Falk Theoreti- sche Physik. Allgemeine Dynamik. Thermodynamik. Bd. II, Berlin 1968, S. 71 ff 2.1.22 Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man nicht Geschichte? (83) _____________________________________________________________ 218 Wichtig ist, daß ein bestimmter Gleichgewichtszustand eines thermodynamischen Systems allein von den aktuellen Werten der Zustandsvariablen abhängt. D.h. die gesamte Vorgeschichte des Systems, also z.B. eine Reihe vorher eingenommener Zu- stände, spielt keine Rolle. Das System hat kein 'Erinnerungs- vermögen'. Betrachtet man nach diesen einführenden Bemerkungen das eingangs von Renner268 erwähnte Gas, so gilt für einen gewissen Zustandsbereich die experimentell gefundene Zustandsglei- chung des idealen Gases: PV = nRT , wobei n die Menge des Gases (Zahl der Mole) und R die universelle Gaskonstante bezeichnet. Wählt man für das Gas ein festes Volumen und eine bestimmte Gesamtmasse, Molzahl269, so ergibt sich aufgrund der Zustandsgleichung der Druck des Gases stets proportional zur eingestellten Temperatur. D.h. zu einer anfänglich eingestellten Temperatur T1 findet man einen Druck P1, hebt man die Temperatur auf den Wert T2 an, so erhält man dazu den höheren Druck P2. Diese makroskopischen Zu- stände des Gases werden unabhängig davon eingenommen, wieviele andere Zustände vorher eingestellt wurden. Allein die Einstellung der Temperatur T2 genügt, den zugehörigen Druck P2 zu erzeugen. In bezug auf den zweiten Hauptsatz schreibt Meisel (S. 250- 251), die Zustandsgröße Entropie sei "den Bestimmungsglei- chungen der kinetischen Gastheorie entlehnt" und "entspringe historisch gesehen dem Untersuchungsgebiet der Thermodyna- mik". Zu ergänzen ist, daß Rudolf Clausius die Entropie im Jah- re 1850 einführte und sie damals 'Umwandlungsgröße' nannte. Er konnte zeigen, daß für einen reversiblen Prozeß die folgende Gleichung gilt: dS = dQ / T, wobei der Buchstabe d das totale Differential anzeigt und Q die Wärmemenge bezeichnet270. Die kinetische Gastheorie wurde erst am Ende der zweiten Hälfte des 19-ten Jahrhunderts von Maxwell und Boltzmann entwickelt (s. Diu et. al., S. 481 ff). Im folgenden irrt sich Meisel. Er schreibt: mit dem Fortschritt der Physik wächst auch die Einsicht in Bereiche, wo Gesetze 268 Renner Die postmoderne Konstellation S. 129 269 Das Mol wird über das Isotop 12 des Kohlenstoffs definiert. Die Masse eines Mols 12C beträgt gerade 12 g. 270 Streng genommen müßte δQ statt dQ geschrieben werden, da für die Wärme- menge kein totales Differential angegeben werden kann. Siehe z.B. Moore, S. 76 ff 2.1.22.1 Zustände und Thermodynamik _____________________________________________________________ 219 fehlen. Dieser kategorialen Einsicht der 'prinzipiellen Un- schärfe' begegnet die moderne Physik durch statistische Mittel- wertbildungen, also durch Wahrscheinlichkeitsrechnung. Nichts anderes - dies zusammen mit Maxwell, aber als erster konse- quent - macht Ludwig Boltzmann (Meisel, S. 252). Weder Maxwell noch Boltzmann wußte etwas von der prinzipi- ellen Unschärfe im atomaren Bereich. Sie kannten weder die wellenfunktionale Beschreibung von Atomzuständen noch die sog. Unschärferelation, die grundsätzlich ausschließt, daß Ort und Impuls eines Teilchens von atomarer Größenordnung gleichzeitig bestimmbar sind. Boltzmann hat, wie an anderer Stelle dieser Arbeit ausführlicher beschrieben wird (Abschnitte 2.1.29.6 - 2.1.29.7), als erster auf der Grundlage der klassischen statistischen Mechanik eine Transportgleichung für das ver- dünnte Gase hergeleitet, mit welcher sowohl zeitabhängige wie auch zeitunabhängige Phänomene in guter Übereinstimmung mit dem Experiment berechnet werden konnten. Die statistisch- mechanische Erklärung der Entropie, also die Darstellung der Zustandsgröße Entropie im mikroskopischen (molekularen) Bild, war eine der Konsequenzen seiner Transportgleichung. Sie ergab sich durch Ableitung des berühmten H-Theorems, wobei die Zustandsgröße H proportional zur Entropie ist, aber umge- kehrtes Vorzeichen hat271. Das Theorem besagt, daß eben diese Zustandsfunktion H eines abgeschlossenen Systems als Funkti- on der Zeit so lange abnimmt, bis sein Minimalwert im Gleich- gewichtszustand erreicht ist. Im Minimum, also im Gleichge- wichtszustand, bleibt H unverändert. Folglich hat jedes abge- schlossene System, welches sich noch nicht im Gleichgewicht befindet, die unabdingbare Tendenz, seinem Gleichgewichts- zustand zuzustreben und dabei H zu minimieren.272 Würde man das Weltall als abgeschlossenes thermodynamisches Gesamtsystem ansehen und weiterhin annehmen, der zweite Hauptsatz gelte, so ließe sich vorhersagen, daß durch eine hin- reichend große Zahl von Ausgleichsvorgänge nach 'langer Zeit' ein thermodynamischer Endgleichgewichtszustand erreicht wür- de. Ob dieser allerdings mit einer sich nicht mehr weiterentwik- kelnden Gemengelage, wie Renner273 schreibt, zu vergleichen wäre, ist ganz unwahrscheinlich. Es dürfte eher ein vollkommen homogener Zustand zu erwarten sein. Auch Meisel nimmt sich dieses universalen Gleichgewichtszustands an und bezeichnet ihn als Wärmetod: ... stellt sich schließlich ein Gleichgewichts- 271 Siehe hierzu: Kerson Huang Statistical Mechanics New York 1963 S. 68 ff oder Diu et. al., S. 834-857 272 Vergleiche: McQuarrie, S. 413-415 273 Renner Die postmoderne Konstellation S. 129 2.1.22 Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man nicht Geschichte? (83) _____________________________________________________________ 220 zustand der freien Energie274 ein: der Wärmetod. Der Wärmetod besitzt eine signifikante Doppelstruktur. Mikrophysikalisch ge- sehen herrscht aufgrund der zunehmenden Wärme größtmögli- che Unordnung, also ideale Vermischung. Von "außen", also makrophysikalisch betrachtet, zeigt der Gleichgewichtszustand alle Anzeichen größtmöglicher, weil völlig erstarrter Ordnung. Mit anderen Worten: im System herrscht absolutes Chaos, wäh- rend die Außenansicht als Ausgleich aller Gegensätze einen idealen Ordnungszustand repräsentiert (Meisel, S. 255). Es gilt auch hier: welche 'Struktur' dieser 'Endgleichgewichts- zustand' haben wird, kann nur geraten werden. Ob überhaupt noch zwischen Partikeln und Nichtpartikeln, zwischen mikro- physikalischen und makrophysikalischen Phänomenen unter- schieden werden kann, bleibt ganz ungewiß und eher zweifel- haft. Alle Voraussagen dieser Art dürften für immer rein speku- lativ bleiben. Wir wissen nicht einmal, ob der zweite Hauptsatz im Universum Gültigkeit hat. 2.1.22.2 Kinetische Gas- u. Geschichtstheorie Bisher wurde das Zustandsverhalten von Gasen, Flüssigkeiten und Festkörpern im wesentlichen aus rein phänomenologischer Sicht beschrieben. Man kann aber, wie bereits mehrfach ange- deutet, von der mikroskopischen (molekularen) Struktur der Ma- terie ausgehend versuchen, den makroskopischen Zustand eines Gases, einer Flüssigkeit oder eines Festkörpers anhand des Ver- haltens der Moleküle theoretisch zu beschreiben. Grundsätzlich sollen dabei die makroskopischen Eigenschaften eines thermodynamischen Systems aus den mikroskopischen Eigenschaften des entsprechenden Vielteilchensystems mit einer Teilchenzahl der Größenordnung 1020 berechnet werden. Aber die Beschreibung eines Systems mit einer derart unvorstellbar großen Zahl von Teilchen kann nicht mehr auf der Basis des Verhaltens einzelner Teilchen erfolgen. Es müssen mathema- tisch-statistische Methoden zur Behandlung von Zufallsvaria- blen und deren Verteilungen herangezogen werden. Dies ge- schieht in der statistischen Mechanik. Unter der Annahme gewisser grundsätzlicher Postulate lassen sich Verteilungen, Erwartungswerte, Standardabweichungen, usw. angeben, welche 274 Dieser Ausdruck der 'freien Energie' ist ganz unglücklich gewählt, denn er bedeu- tet in der Thermodynamik ein von den Variablen V und T abhängiges thermody- namisches Potential F, auch Helmholtz-Energie genannt (siehe Abschnitt 2.1.22.1). Insofern gibt es keinen "Gleichgewichtszustand der freien Energie". Vergleiche auch: Abschnitt 2.1.34.2 der vorliegenden Arbeit. 2.1.22.2 Kinetische Gas- u. Geschichtstheorie _____________________________________________________________ 221 mit den thermodynamischen Potentialen bzw. den entsprechen- den Zustandsgrößen verknüpft werden können. Die ausführliche Darstellung der Methoden und Ergebnisse der statistischen Me- chanik muß im Rahmen dieser Arbeit unterbleiben. Grundzüge und wichtige Überlegungen dazu werden aber in den Abschnit- ten 2.1.23.3 und 2.1.29.6 sowie 2.1.34.2 entwickelt. Da die elementare kinetische Gastheorie275 - auch wenn sie in mancher Hinsicht der gewöhnlichen Mechanik nahe steht - als Vorläufer der klassischen statistischen Mechanik angesehen werden kann, soll in diesem Zusammenhang auf einige Voraus- setzungen und Aspekte der Theorie hingewiesen werden. Musil nennt die kinetische Gastheorie mehrfach im Roman, und schlägt unter anderem auch deren Übertragung auf die Geschich- te der Menschheit als kinetische Geschichtstheorie vor. Die kinetische Gastheorie bezieht sich auf ein sog. verdünntes Gas, das modellhaft aus einer großen Zahl winziger elastischer Kügelchen besteht. Diese Kügelchen fliegen in einem gegebe- nen, vergleichsweise großen Volumen chaotisch durcheinander und werden an den Gefäßwänden elastisch reflektiert. Außerdem kommen mit geringer Wahrscheinlichkeit elastische Zweierstöße vor, in denen Energie und Impuls der Teilchen entsprechend ver- ändert werden (Boltzmanns Ansatz für das verdünnte Gas). Beschränkt man sich aber auf den einfacheren Fall des bereits genannten idealen Gases, so wird das den Gasteilchen zur Ver- fügung stehende Volumen als so groß angesehen, daß im Mittel Stöße zwischen den Teilchen vollständig vernachlässigt werden können. Als wesentliche Voraussetzungen für die kinetische Theorie bleiben dann: (i) Ungeheuer große Anzahl von Teilchen (elastische, mi- kroskopische Kugeln), (ii) stoßfreie chaotische Bewegung dieser Teilchen im ma- kroskopischen Volumen. Aus diesen beiden Voraussetzungen läßt sich unter Ausnutzung einfacher statistischer Rechnungen zunächst der kinetische Druck des Gases als Mittelwert des Geschwindigkeitsquadrats der Teilchen, also der mittleren kinetischen Energie der Teil- chen, ausdrücken. Anschließend bestimmt man die mittlere Energie der Teilchen (innere Energie) als direkt proportional zur Temperatur276. Zusammen führen beide Relationen zu dem oben erwähnten idealen Gasgesetz, allerdings nun in der 'mikroskopi- schen' Notierung: 275 Siehe dazu: Diu et al., S. 481-500 276 Diu et al., S. 490-494 u. 485-486. Zu beachten ist: die Numerierung der Glei- chungen auf den Seiten 483-484 muß mit (C.3) beginnen und mit (C.9.b) enden. 2.1.22 Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man nicht Geschichte? (83) _____________________________________________________________ 222 P = NkT/V , wobei N die Anzahl der Teilchen und k die Boltzmannkonstante bedeutet. In Musils Ansatz (Metapher) der kinetischen Geschichtstheorie, auf den sich wahrscheinlich auch Renner (Die postmoderne Kon- stellation S. 130) bezieht, wird die kinetische Theorie der Gasteilchen übertragen auf eine 'kinetische Theorie der Gesamt- heit menschlicher Individuen'. Aus letzterer sollte der Zustands- verlauf der Menschheit (Geschichtsverlauf) bzw. eine Art Zu- standsgleichung für die menschliche Gesellschaft zu berechnen sein. Die Voraussetzungen für eine derartige Übertragung schei- nen annähernd erfüllt: (i) riesige Anzahl menschlicher Individuen (ii) chaotische Verhaltensweisen (Bewegungen) der Individuen (das menschliche Wesen ist ebenso leicht der Menschenfresserei fähig wie der Kritik der reinen Vernunft (S. 361)) [ (iii) im wesentlichen Zweier-Interaktionen ]. Aus diesen Voraussetzungen ließe sich vielleicht ähnlich wie in der kinetischen Gastheorie unter Benutzung statistischer Metho- den eine 'Zustandsgleichung der Menschheit' herleiten. Damit könnten sich in Abhängigkeit von gegebenen 'Zustandsparame- tern' bestimmte Aspekte der Geschichte des Durchschnitts als berechenbare Zustandsgrößen erweisen. Wollte man aber zusätzlich die zeitliche Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, also - wie sich Musil an anderer Stelle ausdrückt - den Weg der Geschichte, vorausberechnen, so hätte man die Theorie für Nichtgleichgewichtszustände zu entwickeln. Ob eine solche Theorie noch zu lösbaren Gleichun- gen führen würde, ist aber nicht absehbar. In dem vorliegenden Kapitel deutet Musil zwar schon Über- legungen in Richtung 'kinetischer Geschichtstheorie' an, wie Renner richtig gesehen zu haben scheint, explizit werden sie jedoch erst in den Kapiteln 103 und 47 (2) vorgetragen. Unter welchen Vorbehalten aber eine mögliche Berechnung dieses Weges der Geschichte gesehen wird, dürfte die folgende Textpassage am Schluß des aktuellen Kapitels deutlich machen: Der Weg der Geschichte ist also nicht der eines Billardballs, der, einmal abgestoßen, eine bestimmte Bahn durchläuft, sondern er ähnelt dem Weg der 2.1.22.2 Kinetische Gas- u. Geschichtstheorie _____________________________________________________________ 223 Wolken, ähnelt dem Weg eines durch die Gassen Streichenden, der hier von einem Schatten, dort von einer Menschengruppe oder einer seltsamen Ver- schneidung von Häuserfronten abgelenkt wird und schließlich an eine Stelle gerät, die er weder gekannt hat, noch erreichen wollte. Es liegt im Verlauf der Weltgeschichte ein gewisses Sich-Verlaufen. (S. 361) Musils Text erinnert sofort an die Bewegung eines Brownschen Teilchens, das in der Flüssigkeit durch die zufällige Bewegung der Moleküle in beliebige Richtungen angestoßen wird. Doch während man die erratische Bahn eines Brownschen Teilchens durchaus noch auf einem Rechner simulieren könnte, so wäre der Weg einer Wolke in einem Wolkenfeld ganz unberechenbar. Selbst wenn man die Werte aller äußeren Parameter hätte, wel- che die Bewegung einer Wolke beeinflussen, so wären doch die sich ständig ändernde äußere Form und die innere Struktur der Wolke nicht bekannt. Aber auch für den Fall, daß man die ge- samte Information über Form und Zustand der Wolke für einen Anfangszeitpunkt besäße, so ließe sich die zeitliche Entwicklung wegen der großen Zahl der Parameter doch nicht mehr berech- nen (vergleiche mit Abschnitt 2.1.18.1). Aus dieser Sicht erwiese sich der vorgeschlagene 'theoretische Ansatz' Musils zur Berechnung des Wegs der Geschichte schließlich doch als utopisch. 2.1.23 General Stumms Bemühungen, Ordnung in den Zivilverstand zu bringen (85) _____________________________________________________________ 224 2.1.23 General Stumms Bemühungen, Ordnung in den Zivilverstand zu bringen277 (85) 2.1.23.1 Planetenbahnen und Gravitation General Stumm möchte den Zivilgeist verstehen lernen und ihn in geordnetem Zustand dem Militärgeist hinzufügen. Dazu soll eine zentrale Stelle beim Militär eingerichtet werden. Die Idee zu diesen Aktivitäten hat er von Diotima erhalten, für welche er in höchster Bewunderung schwärmt. Er glaubt jedoch ohne die Hil- fe Ulrichs scheitern zu müssen, da sich ihm die höchsten Prinzi- pien, nach denen sich der Zivilgeist zu organisieren scheint, ganz paradox vorstellen. So muß er bezüglich der berühmten Leute, die in Diotimas Salon verkehren, z.B. feststellen: ... "Sagt der eine das, so behauptet der andere das Gegenteil" ... "Daß mir von den berühmten Leuten bei deiner Kusine jeder etwas anderes sagt, wenn ich ihn um Belehrung bitte, daran habe ich mich schon gewöhnt, ... aber daß es mir, wenn ich längere Zeit mit ihnen gesprochen habe, trotzdem vorkommt, als ob sie alle das gleiche sagen würden, das ist es, was ich in keiner Weise kapieren kann, ..." (S. 371; S. 373) Ulrich erklärt seinem Freund und General schließlich, der Geist sei nicht im Zivil und das Körperliche beim Militär zu finden, sondern es verhalte sich gerade umgekehrt. Die Begründung da- für sei, daß der Geist Ordnung beinhalte, und es diese vor allen Dingen beim Militär gebe. In dem Zusammenhang doziert Ulrich das folgende über Wissenschaftlichkeit: "Du bist vorschnell" beharrte Ulrich. "Wissenschaft ist nur dort möglich, wo sich die Geschehnisse wie- derholen oder doch kontrollieren lassen, und wo gä- be es mehr Wiederholung und Kontrolle als beim Mi- litär? Ein Würfel wäre kein Würfel, wenn er nicht um neun Uhr so rechteckig wäre wie um sieben. Die Ge- setze der Planetenbahnen sind eine Art Schießvor- schrift. Und wir könnten uns überhaupt von nichts ei- nen Begriff oder ein Urteil machen, wenn alles nur einmal vorüberhuschte. Was etwas gelten soll und ei- nen Namen tragen, das muß sich wiederholen lassen, muß in vielen Exemplaren vorhanden sein, und wenn du noch nie den Mond gesehen hättest, würdest du ihn für eine Taschenlampe halten; nebenbei bemerkt, die große Verlegenheit, die Gott der Wissenschaft be- 277 Selbst die neueste Ausgabe des dmoe enthält in diesem Kapitel auf S. 380 einen Druckfehler: statt verzerren muß es verzehren heißen. 2.1.23.1 Planetenbahnen und Gravitation _____________________________________________________________ 225 reitet, besteht darin, daß er nur ein einzigesmal gese- hen worden ist, und das bei Erschaffung der Welt, ehe noch geschulte Beobachter da waren." (S. 377) Diese Äußerungen in bezug auf die Anwendung von wissen- schaftlichen Methoden auf die Heeresausbildung sind durchaus zu verstehen, wenn man berücksichtigt, daß Musil von 1920 bis 1922 eine Stellung als Fachbeirat für 'Methoden der Geistes- und Arbeitsausbildung ' beim österreichischen Militärbildungswesen (Bundesministerium für Heereswesen) inne hatte. Musil war zwar nicht ganz glücklich mit diesem Posten, konnte aber eine Reihe sinnvoller Vorschläge im Bereich der Rationalisierung des Beschreibungs- und Vorschriftenwesens machen278. Im einzelnen erfordern die Lehren des Protagonisten aber ge- nauere Erklärung. Wissenschaft, so doziert Ulrich, sei nur dort möglich, wo wiederholbare, unabhängige Experimente oder Be- obachtungen unter einstellbaren und überprüfbaren Bedingungen gemacht werden können. So habe ein Würfel z.B. die unabhängi- ge Eigenschaft, kubisch zu sein. Verlöre er diese mit der Zeit, so sei nicht mehr von einem Würfel zu sprechen. Was Ulrichs anschließenden Vergleich des Planetenbahngesetzes mit einer Schießvorschrift anbetrifft, so läßt sich dieser vielleicht wie folgt verstehen. Der Astronom Johannes Kepler (1571-1630) konnte aus seinen Beobachtungen drei Kernsätze für die Plane- tenbewegung aufstellen279, die zu einem qualitativen Verständnis der Planetenbahnen führten. Die Abbildung 50 skizziert eine Pla- netenbahn um die Sonne: Abbildung 50 Skizze einer elliptischen Planetenbahn um die Sonne. In einem der beiden Brennpunkte der Ellipse steht die Sonne. Der andere Brennpunkt ist durch ein 'Plus- 278 Hoffmann, S. 232-237 279 (i) Jeder Planet bewegt sich annähernd kreisförmig in einer Ebene um die Sonne. Seine Bahn ist eine Ellipse, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht. (ii) Der von der Sonne zum Planeten gezogene Leitstrahl überstreicht in gleichen Zeiten gleiche Flächen. Abbildung 50, S. 225 erklärt anschaulich, was gemeint ist. (iii) Die Qua- drate der Umlaufszeiten zweier Planeten verhalten sich wie die dritten Potenzen der großen Halbachsen ihrer Bahnen. Pohl, Bd. 1, S. 39-44 oder Bergmann - Schaefer, Bd. 1, 1990, S. 122-123 2.1.23 General Stumms Bemühungen, Ordnung in den Zivilverstand zu bringen (85) _____________________________________________________________ 226 zeichen' gekennzeichnet. Der Leitstrahl Sonne - Planet ist für vier verschiedene Positionen auf der Ellipse angezeigt. Die beiden dadurch ausgeschnittenen Flächen A1 und A2 sind gleich groß. Sie werden gemäß dem zweiten Kepler- schen Gesetz vom Leitstrahl in gleichen Zeiten überstri- chen. Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1990, S. 122 Isaac Newton (1643-1727) gelang dann das quantitative Ver- ständnis der gesamten Himmelsmechanik auf der Basis des von ihm aufgestellten Gravitationsgesetzes. Dieses Gesetz besagt, daß die Massenanziehung zweier Körper proportional dem Pro- dukt ihrer Massen und indirekt proportional dem Quadrat ihres Abstandes ist. Es lautet in der Formelsprache der Physik: K =  m M / r2 . K bedeutet dabei die Anziehungskraft zwischen den Schwer- punkten der beiden Massen m und M,  die Gravitations- konstante und r bezeichnet den Abstand zwischen den Massen- schwerpunkten. Die Gravitationskonstante  (heute meistens mit G bezeichnet) läßt sich jedoch nicht aus astronomischen Beob- achtungen entnehmen, sie muß im Laboratorium gemessen wer- den. Dies kann durch Nachahmung der astronomischen Verhält- nisse mit einer Drehwaage geschehen, welche als Schattenriß in der folgenden Abbildung 51 zu sehen ist: Abbildung 51 Schattenriß einer Drehwaage (untere Dar- stellung, jedoch ohne die großen Massen) zur genauen Be- stimmung der Gravitationskonstanten  [= (6,73 ± 0,007) 10-11 m3/(kg s2)]. Im Prinzip wird die Beschleunigung ge- 2.1.23.1 Planetenbahnen und Gravitation _____________________________________________________________ 227 messen, die eine bewegliche kleine Massenkugel gegen- über einer festen großen erfährt. Benutzt wird eine sym- metrische Anordnung mit zwei beweglich aufgehängten kleinen und zwei festen großen Kugeln (obere Skizze). Im Experiment werden die beiden großen Massen umge- schwenkt, wie in der oberen Skizze angegeben. Dadurch geraten die beiden kleinen Kugeln in eine beschleunigte Bewegung, wobei der zurückgelegte Weg in bestimmten Zeiten gemessen wird. Da die Auslenkung der kleinen Kugeln außerordentlich gering ist, wird sie über einen Spiegel und einen geeignet positionierten langen Licht- strahl in nahezu 1500-facher Vergrößerung gemessen. Vergleiche: Pohl, Bd.1, S. 40-42 Mit Hilfe des Newtonschen Gravitationsgesetzes läßt sich die Bewegung der Planeten und ihrer Monde, sowie die der Kome- ten und der Doppelsterne vorausberechnen. Auch eine Gewehrkugel, die auf der Erdoberfläche abgefeuert wird, unterliegt dem Gesetz der Gravitation, hier speziell der Erdbeschleunigung. Alle beim Militär zu erlernenden Schießvor- schriften basieren auf einer Anwendung des Gravitationsgeset- zes. Soll ein bestimmtes Ziel mit hoher Präzision erreicht wer- den, so müssen gewisse 'Randbedingungen' eingehalten werden, also z.B. ein bestimmter Anstellwinkel des Geschützes, geeigne- te Masse und Anfangsgeschwindigkeit des Geschosses. Für die- sen Fall ist allerdings - anders als unter Weltraumbedingungen - der Einfluß des Luftwiderstandes zusätzlich zu berücksichtigen, welcher die Geschoßbahn ganz erheblich verändert. Man spricht von ballistischen Bahnkurven. Genaueste Vorausberechnung ballistischer Bahnkurven ist z.T. auch für Trägerraketen notwen- dig, die Satelliten in Erdumlaufbahnen bringen sollen. Zu Musils Zeiten war aber die Aussetzung künstlicher Satelliten noch nicht möglich, da die Fluchtgeschwindigkeit von 11,2 km/s (Mindest- geschwindigkeit zur Überwindung der Erdbeschleunigung) mit Raketen noch nicht erreicht werden konnte. Schon damals wurde aber an der Herstellung leistungsfähiger Raketen gearbeitet, wie eine Tagebuchnotiz Musils belegt: In Washington soll mit 1 Mill. Dollar die 'Kosmonau- tische Verkehrsgesellschaft' gegründet worden sein. Bis 1950 soll der Mond zugänglich sein. Nötig Trieb- stoff, der einem Raketenschiff 11.2 km/Sek Geschw. gibt. Heute erreicht 5-6. Man hofft 1948 die ersten unbemannten Raketen rund um den Mond zu senden ... 1950 auf Grund dieser Erfahrungen schon be- mannte. 'Der Verkehr Erde-Mond ist nur als eine 2.1.23 General Stumms Bemühungen, Ordnung in den Zivilverstand zu bringen (85) _____________________________________________________________ 228 Schule der Weltraumfahrer gedacht'. Weiteres Ziel Mars u Venus. (tg1 S. 875) Der angegebene Zeitplan für die bemannte 'Mondfahrt' ist be- kanntlich recht gut eingehalten worden. Von Weltraumfahrten im eigentlichen Sinne kann aber weder heutzutage noch in ir- gendeiner Zukunft die Rede sein280. Ulrichs Bemerkung läßt sich wahrscheinlich so verstehen, daß das Gravitationsgesetz als eine 'von Gott gegebene Schießvor- schrift' für die Planetenbewegung anzusehen sei. Tatsächlich weiß man bis heute nicht, worauf Gravitation eigentlich zurück- zuführen ist. Alle Versuche - einschließlich derjenigen Einsteins - eine allgemeine Feldtheorie der Physik, die auch die Gravi- tation einzuschließen hätte, zu schaffen, sind unbefriedigend ge- blieben (s. Abschnitt 2.1.14.2 der vorliegenden Arbeit). Eine Bestätigung für die Annahme, daß Schießvorschrift und Gravitationsgesetz in Zusammenhang gebracht werden, findet man in Musils Nachlaß. Dort werden die von Newton und Einstein aufgestellten Gesetze (Gleichungen) in der Tat mit mili- tärischen Verfügungen verglichen. Es heißt dort: ... daß die Aufstellung einer Eskadron in schnurgera- der Linie, ... die genaue Kragenhöhe (und überhaupt die Uniform) geistige Güter von größter Bedeutung sind. ... In der Rechtswissenschaft oder in der Physik bildet man sich ungeheuer viel auf genaue Gesetze ein, das gar nichts anderes ist als die Genauigkeit und Übersichtlichkeit einer Vorschrift. Newton hat in diesem Sinn das Exerzierreglement für die Planeten Gottes geschrieben, u. Einstein den Entwurf für ein verbessertes neues Dienstbuch. (nl VII/1/169) Im anfänglich zitierten Romantext (S. 377) spricht Ulrich weiter davon, daß der Mond, wenn er einem zum ersten Mal erschiene, mit einer Taschenlampe zu verwechseln wäre. Dies leuchtet ei- nem selbst bei Vollmondlicht nicht ganz ein. Erstens müßte man das Glück haben, den Mond annähernd als Vollmond zu sehen, 280 Es verwundert immer wieder, wie selbst in seriösen Nachrichtensendungen von Aufenthalten im Weltraum gesprochen wird, wenn tatsächlich nur Raketen- oder Satellitenfahrten in Erdnähe stattfanden. Auch wenn bemannte Fahrten zum Mars oder zur Venus gelängen, so hätte dies mit Weltraumfahrten nicht im mindesten zu tun. Man könnte vielleicht von einer Weltraumfahrt sprechen, wenn ein Flug von unserer Galaxie zur nächsten Nachbargalaxie durchführbar wäre. Dabei hätte man aber eine Strecke von 2x106 Lichtjahren zurückzulegen (Andromeda-Galaxie). Siehe: Bergmann-Schaefer, Bd. 8, S. 440. Vergleiche auch mit den Abschnitten 2.1.6.1 und 2.1.14.2 der vorliegenden Arbeit. 2.1.23.2 Denker in Nankinghosen _____________________________________________________________ 229 zweitens weiß man, daß der beleuchtete Kopf einer angeschalte- ten Taschenlampe schon in mäßiger Entfernung nur noch winzig und gelblich erscheint. So dürfte das Taschenlampenlicht wohl kaum Ähnlichkeit mit der großen, hellen Mondscheibe haben281. Was Ulrich vermutlich ausdrücken will, ist die prinzipielle Ein- sicht, über das Phänomen 'Mond' so gut wie nichts aussagen zu können, wenn es nur einmal kurzzeitig aufgetreten wäre. Viel- leicht ist dieser Ausspruch Ulrichs aber nicht allzu ernst zu neh- men. Dafür spräche auch der witzige Einfall im letzten Satz, welcher mit nebenbei bemerkt beginnt. 2.1.23.2 Denker in Nankinghosen Als Ulrich im gleichen Kapitel später mit Stumm über Ord- nungssysteme des Geistes spricht, charakterisiert Meisel die Leh- ren Ulrichs folgendermaßen: Bis ins 18. Jahrhundert garantierte die Ordnung des göttlichen Logos eine Logik der Ordnung. Ent- sprechend dem Prinzip des zureichenden Grundes hatte Gott als Urheber jeglicher Ordnung allen Dingen und Geschöpfen ihre Bestimmung gegeben und nach dem Vorbild der göttlichen Trini- tät nach Maß, Zahl und Geschwindigkeit, Ort, Raum und Zeit etc. geordnet. Im Gefolge von Aufklärung und entschiedener noch, der französischen Revolution, wird dieser Ordnungsbegriff in nahezu allen Bereichen radikal in Frage gestellt. Der hierar- chische Rang der Ordnung wird zugunsten einer vertikalen, nach Funktionsmerkmalen zusammengesetzten Systematik aufgegeben, deren Zentrum nicht mehr in Gott, sondern im erkennenden Subjekt fundiert ist. Damit wird fraglich, welche Ordnung gelten soll. (Meisel, S. 154) Ulrichs gelehrte Rede lautet an dieser Stelle, wie folgt: "... Siehst du, es mögen ungefähr hundert Jahre her sein, da haben die führenden Köpfe des deutschen Zivils geglaubt, daß der denkende Bürger die Gesetze der Welt an seinem Schreibtisch sitzend aus seinem Kopf herleiten werde, so wie man die Sätze von Drei- ecken beweisen kann; und der Denker war damals ein Mann in Nankinghosen, der das Haar aus der Stirn schleuderte und noch nicht die Petroleumlampe, geschweige denn die Elektrizität oder ein Phono- gramm282 kannte. Diese Überhebung ist uns seither 281 Mittlere Entfernung Erde-Mond: 384400 km. Auch die Mondbahn beschreibt eine Ellipse. Mondmasse: 1/81 der Erdmasse. Bergmann-Schaefer, Bd. 7, S. 698 282 Ein Phonogramm ist eine Schallaufzeichnung, z.B. durch eine Schallplatte oder eine CD bewerkstelligt. 2.1.23 General Stumms Bemühungen, Ordnung in den Zivilverstand zu bringen (85) _____________________________________________________________ 230 gründlich ausgetrieben worden; wir haben in diesen hundert Jahren uns und die Natur und alles sehr viel besser kennen gelernt, aber der Erfolg ist sozusagen, daß man alles, was man an Ordnung im einzelnen gewinnt, am Ganzen wieder verliert, so daß wir im- mer mehr Ordnungen und immer weniger Ordnung haben." (S. 379) Unter den Sätzen von Dreiecken versteht man bestimmte immer gültige Aussagen über Dreiecke in der ebenen Geometrie, also z.B. den Satz 'Die Summe der Innenwinkel im Dreieck beträgt 180 Grad.' oder 'Dreiecke sind kongruent (deckungsgleich), wenn sie in den drei Seiten übereinstimmen.' Der Denker in Nankinghosen283 läßt sich nicht mit Sicherheit bestimmen. Wahrscheinlich ist aber Friedrich Hegel (1770-1831) gemeint, der glaubte, den Weltplan vom Schreibtisch her auf- stellen zu können. Folgendes spricht dafür. In den Kapiteln 1 und 86 gibt Musil eine Jahresangabe für die Zeit, in welcher der Roman spielt: 1913. Der Mann in Nankinghosen müßte also ungefähr um 1810 die Gesetze der Welt am Schreibtisch "herge- leitet" haben. Hegels Phänomenologie des Geistes erschien 1807. Das Werk beanspruchte nach Hegels eigenen Worten höchste Wissenschaftlichkeit. Hegel kündigte es mit den fol- genden Worten an: Dieser Band stellt das werdende Wissen dar. Die Phänomenologie des Geistes soll an die Stelle der psychologischen Erklärungen, oder auch der abstrac- ten Erörterungen über die Begründung des Wissens treten. Sie betrachtet die Vorbereitung zur Wissen- schaft aus einem Gesichtspuncte, wodurch sie eine neue, interessante, und die erste Wissenschaft der Philosophie ist. Sie faßt die verschiedenen Gestalten des Geistes als Stationen des Weges in sich, durch welchen er reines Wissen oder absoluter Geist wird. ... Der, dem ersten Blicke sich als Chaos darbietende Reichthum der Erscheinungen des Geistes, ist in eine wissenschaftliche Ordnung gebracht ... In der Vorre- de erklärt sich der Verf. über das, was ihm Bedürfniß der Philosophie auf ihrem itzigen Standpuncte zu seyn scheint; ferner über die Anmaßung und den Un- fug der philosophischen Formeln, der gegenwärtig 283 Nankingstoffe sind chinesische Baumwollstoffe, benannt nach der Stadt Nanking. Musil schildert hier einen Modeausschnitt der damaligen Zeit. Denn im Nachlaß ist er noch etwas ausführlicher. Dort schreibt er: ... der Denker, damals ein Mann in Nankinghosen oder großkarierten Hosen, mit Halbstiefeln, ... (nl VII/1/191) 2.1.23.3 Statistik, Entropie, Ordnung _____________________________________________________________ 231 die Philosophie herabwürdigt, und über das, worauf es überhaupt bey ihr und ihrem Studium ankommt. 284 Der Text läßt Anspruch und Selbstbewußtsein des Autors deut- lich erkennen und scheint das wiederzugeben, was im Roman über diesen Denker referiert werden soll. Auch die Bemerkungen Musils in den Tagebüchern über Hegel285 fügen sich dazu. Es käme von der Zeit her auch Arthur Schopenhauer (1788- 1860) in Frage. Schopenhauer scheint jedoch nicht diesen An- spruch auf 'Weltgesetzmäßigkeit' und diese streng wissenschaft- liche Systematik gehabt zu haben. 2.1.23.3 Statistik, Entropie, Ordnung Im letzten Teil des vorher zitierten dmoe-Textes spricht Ulrich über "Ordnung im einzelnen und am Ganzen". Was er damit meint, findet sich ausführlicher in einem Nachlaßtext Musils. Es heißt dort: Je mehr Ordnung wir gewonnen haben, desto mehr, ein Vielfaches von ihr, haben wir verloren. Wir haben hunderte von Ordnungen, aber keine Ordnung. ... Alles ist so voll Ordnung, von den Straßenbahnen bis zu den Planetenbahnen, wohin man blickt. ... Die Menschen haben ganz recht, wenn sie unser Zeitalter für das ordentlichste halten, das es je gegeben hat, wenigstens zu jener Zeit im Jahre 1913 u. den darauf folgenden Monaten. Es ist so voll Ordnungen gewe- sen, daß kein Mensch auf die Idee kommen konnte, um alle diese Ordnungen noch eine Ordnung zu ver- missen ... (nl VII/1/191) In bezug auf Ordnung bzw. den Ordnungsgrad besagt der zweite Hauptsatz der Thermodynamik286, daß Veränderungen in einem abgeschlossenen System nur derart stattfinden können, daß die Entropie des Systems entweder konstant bleibt oder zunimmt (s. Abschnitte 2.1.17.2 u. 2.1.22.1). Anders ausgedrückt: der Ord- 284 G. W. F. Hegel Phänomenologie des Geistes, S. 549-550 285 An mindestens drei verschiedenen Stellen seiner Tagebücher äußert sich Musil zu Hegel: Die späte Führung der Wissenschaft durch Naturwissenschaft: Ermüdungs- reaktion auf Hegel u Zerfall der Hegelschen Schule. (tg1 S. 655) 'Hegel, Phänomenologie des Geistes', in wiederhergestelltem Originaltext, hggb. Von Johannes Hoffmeister bei Felix Meiner, Leipzig. Sehr verdienstvoll sogar. S. im Geist-Pol-Heft das beigelegte Hegel - Feuilleton. (tg1 S. 754) ... Der letzte philosophische Ernst: Kant. Und was ist mit Hegels Denkphantasie? Ein letzter, überheblicher Anspruch auf Autonomie? Vor der Erschütterung? (Und vor dem liberalen Gemeinwerden?) (tg1 S. 776) 286 Siehe auch: G. Falk, S. 70 ff 2.1.23 General Stumms Bemühungen, Ordnung in den Zivilverstand zu bringen (85) _____________________________________________________________ 232 nungsgrad eines Zustands eines abgeschlossenen Systems kann niemals zunehmen. Erhöht sich also in einem Subsystem der Ordnungsgrad, so muß in einem damit verbundenem Subsystem der Ordnungsgrad gleichzeitig absinken, so daß der Unord- nungsgrad des zugehörigen abgeschlossenen Gesamtsystems (die Entropie) wieder zunimmt oder konstant bleibt. Vergrößert werden kann immer nur der Unordnungsgrad, nie- mals der Ordnungsgrad. Dies dürfte eine der ironischen Konno- tationen in Ulrichs gelehrten Ausführungen über Ordnung sein. Im folgenden soll versucht werden, den statistischen Charakter der Entropie bzw. die Aussage des zweiten Hauptsatzes im mi- kroskopischen Bild anhand eines Beispiels der Kugeldurchmi- schung plausibel zu machen. In den Abschnitten 2.1.17.2 und 2.1.22.1 wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Entropie eine Zustandsgröße ist, welche mit der grundsätzlichen Tendenz abgeschlossener thermodyna- mischer Systeme, zum Gleichgewichtszustand zu gelangen, in engem Zusammenhang steht. Im Rahmen der statistischen Mechanik kann sie als Maß für den Unordnungsgrad eines abge- schlossenen thermodynamischen Systems erklärt werden, wobei dieser Unordnungsgrad im Gleichgewicht maximal und konstant ist287, im Nichtgleichgewicht, also während spontaner Zustands- änderungen irreversibel288 zunimmt. Unter Zuhilfenahme eines Modellexperiments der Durchmi- schung einer großen Zahl schwarzer und weißer Kugeln kann man sich anhand einfacher Überlegungen diese Tendenz des Anwachsens des Unordnungsgrads im Nichtgleichgewicht ver- ständlich machen. Dazu sind in Abbildung 52 zwei unterschied- liche Konfigurationen des zu behandelnden Modells skizziert: Abbildung 52 Schematisch gezeichnet sind jeweils zwei Kästen mit der gleichen Anzahl schwarzer und weißer Ku- 287 Diu et al. (S. 207) sprechen einleuchtend vom 'Prinzip der maximalen Unord- nung'. 288 Irreversible Vorgänge sind solche, die nicht mehr vollständig zurückgeführt wer- den können. Alle natürlichen, 'von selbst' verlaufenden Vorgänge sind irreversibel. Vergleiche z.B. Falk, S. 58-70 2.1.23.3 Statistik, Entropie, Ordnung _____________________________________________________________ 233 geln, und zwar einmal nach 'Farben' geordnet, das andere Mal vollständig gemischt. Die Kästen werden durch eine geeignete Vorrichtung dauernd geschüttelt und können außerdem über eine Brücke in Verbindung gebracht werden. Siehe Moore, S. 246 Durch die Rüttelvorrichtung der Kästen wird im Experiment ge- währleistet, daß die Kügelchen zufällige, zweidimensionale Be- wegung in alle Richtungen ausführen können. Öffnet man die Brücke zwischen den Kästen (Nichtgleichgewicht), so setzt Durchmischung ein. Durch die Zufallsbewegung der Kugeln wird sich dann nach gewisser Zeit der auf der rechten Seite der Abb. 52 gezeigte Mischzustand, hier die gleichmäßige Vertei- lung schwarzer und weißer Kugeln, einstellen. Auch durch beliebig langes weiteres Schütteln wird der geordne- te Anfangszustand des Doppelkastensystems von selbst nie wie- der hergestellt. Der erreichte Gleichgewichtszustand (stationärer Zustand) entspricht größter Durchmischung (Unordnung): es wandern durch die Brücke im Mittel genauso viele schwarze wie weiße Teilchen von A nach B und umgekehrt. Plausibel wird dies, wenn man überlegt, wieviel mehr Möglich- keiten es gibt, die Kugeln in irgendeiner gemischten Konfigura- tion als nach Farben geordnet zusammenzustellen289. Da die Ku- geln eine reine Zufallsbewegung ausführen, werden die gemisch- ten Anordnungen deshalb sehr viel häufiger angenommen als die weniger gemischten. Die Wahrscheinlichkeit dafür, die Kugeln in einem gemischten Zustand zu finden, ist folglich wesentlich größer als für einen weniger gemischten. Es werden sich also überwiegend solange weiße Kugeln in schwarzen verteilen und umgekehrt, wie noch keine vollständige Durchmischung, also noch keine Gleichgewichtsverteilung erreicht ist. Erst bei völ- liger Durchmischung, im Beispiel ist dies die Gleichverteilung, wird sich im Mittel die anteilmäßige Verteilung der Teilchen auch in sehr kleinen lokalen Bereichen der beiden Kästen nicht mehr verändern. Auch in der Brücke wird schließlich durch- schnittlich die gleiche Zahl von weißen und schwarzen Kügel- chen vom Kasten A in den Kasten B wandern und umgekehrt. Der statistische Charakter des Entropiesatzes wird hier deutlich. Da die Bewegung der Kugeln in alle Richtungen gleich wahr- scheinlich ist (zufällig), stellen sich die gemischten Konfigura- tionen sehr viel häufiger ein, als die (teilweise) nach Farben ge- ordneten, eben weil die Zahl der Möglichkeiten für die ersteren 289 Man überlege sich das anhand der Verteilungsmöglichkeiten für vier oder sechs Teilchen. Mit steigender Teilchenzahl werden die Verhältnisse für die geordneten Konfigurationen noch sehr viel ungünstiger! 2.1.23 General Stumms Bemühungen, Ordnung in den Zivilverstand zu bringen (85) _____________________________________________________________ 234 sehr viel größer ist. Die Wahrscheinlichkeit für das Einnehmen stärker gemischter Konfigurationen überwiegt folglich immer diejenige der weniger gemischten Anordnungen. Für große Teilchenzahl sind Aussagen über die Eigenschaften des Gesamtsystems nur noch anhand wahrscheinlichkeitstheore- tischen Methoden möglich. Die chaotische Einzelbewegung ei- nes Kügelchens ist ohne Belang. Die Ergebnisse des Modellexperiments lassen sich verallgemei- nernd folgendermaßen zusammenfassen: (i) Aus kombinatorischen Überlegungen folgt, daß durchmischte Anordnungen der Kügelchen sehr viel häu- figer eingestellt werden als weniger gemischte. (ii) Im Laufe der Zeit wird immer größtmögliche Durchmischung, also der größtmögliche Unordnungsgrad, und damit der Gleichgewichtszustand angenommen. (iii) Im (stationären) Gleichgewicht sind Aussagen über bestimmte Eigenschaften des Systems durch geeignete Mittelwerte möglich. Diese Mittelwerte unterliegen ge- wissen Standardabweichungen, die den maßgeblichen Gaußschen Verteilungen entsprechen. Die Verteilungen werden aber mit zunehmender Teilchenzahl immer schär- fer, und haben folglich bei thermodynamischen Systemen (etwa 1020 Teilchen) eine derart geringe Standardabwei- chung, daß die zugehörigen Mittelwerte als feste Werte angesehen werden können (s. Abschnitt 2.1.29.7). In den Tagebüchern Musils findet sich eine interessante Textpas- sage, welche sich im Hinblick auf die Aussagen des zweiten Hauptsatzes (Entropiesatz) mit dem menschlichen Streben nach Ordnung befaßt: Naturwissenschaftlich, im Sinne etwa des Entropie- satzes. - Ethisch; dessen Verflechtung ins Naturwis- senschaftliche kaum zu vermeiden ist (Mehrung, Minderung usw. ethischer Begriffe). Rein ethisch wohl identisch mit: es gibt keinen letzten Wert. Es kann aber Zielsetzung geben. Relativ frei, relativ zwangsläufig. x-fach unfreies System wie in Mecha- nik290. Bei der heutigen Gegenreformation wird man wohl zwei Linien folgen müssen: 290 Das mathematische Pendel (siehe Abschnitt 2.1.3.2 dieser Arbeit) kann beispiels- weise theoretisch auch als System eines frei fallenden Massenpunktes behandelt 2.1.23.3 Statistik, Entropie, Ordnung _____________________________________________________________ 235 1. Der Seele contra Verstand. 2. Der des Ordnungsverlangens. Systematik. Die ganze Aufgabe ist: Leben ohne Systematik aber doch mit Ordnung. Selbstschöpferische Ordnung. Generative Ordnung. Eine nicht von a bis z festgeleg- te Ordnung, sondern eine im Schritt von n auf n+1. Vielleicht auch Richtung statt Ordnung. Bzw. Gerich- tetheit. (tg1 S. 652-653) Das genannte generative Schaffen von Ordnung knüpft auch an die in der Mathematik bekannten Ordnungsrelationen an. Zur Strukturierung von (unendlichen) Zahlenbereichen sind unter anderem sog. Äquivalenz- und Ordnungsrelationen nötig. Fol- gende Eigenschaften gelten für die Ordnungsrelationen: (i) Irreflexivität: für kein m aus M gilt mRm (ii) Transitivität: aus mRn und nRp folgt mRp (iii) Konnexität: für jedes Paar (m,n) aus M gilt: mRn oder n = m. Dabei bezeichnet M eine Menge; m, n, p sind beliebige Elemente aus dieser Menge und R bedeutet eine Ordnungsrelation z.B. der Art a  b. Allgemein ist genau dann eine Ordnungsrelation in M erklärt, wenn von jedem geordneten Paar von Elementen aus M feststeht, ob es die Eigenschaft R besitzt oder nicht291. Das weiterhin erwähnte Schaffen partieller Ordnung anhand des Schritts von n auf n+1 wird im dmoe deutlicher diskutiert. In einem Gespräch zwischen Ulrich und seiner Schwester Agathe kommt es zu folgendem Dialog: ... Agathe fuhr fort: "... ich habe mir, als ich dich ... sagen hörte, es käme nicht auf den Schritt an, den man unternehme, sondern immer erst auf den näch- sten, vorgestellt: Wenn dann ein Mensch innerlich fliegen, sozusagen moralisch fliegen und mit großer Geschwindigkeit fortwährend in neue Verbesserun- gen kommen könnte, dann würde er keine Reue ke- nen! ..." "Das ist sinnlos" entgegnete Ulrich mit Nachdruck. "Ich habe gesagt, es käme nicht auf einen werden mit der besonderen Zwangsbedingung, daß der Abstand zwischen einem festen Punkt, dem Aufhängepunkt, und dem Massenpunkt konstant bleiben muß. Man spricht in der Mechanik in diesem Sinn von einem System mit n (oder x) verschiedenen Zwangsbedingungen. Das letztere ist hier von Musil gemeint. 291 Vergleiche Handbuch d. Math., S. 75 ff 2.1.23 General Stumms Bemühungen, Ordnung in den Zivilverstand zu bringen (85) _____________________________________________________________ 236 Fehltritt an, sondern auf den nächsten Schritt nach diesem. Aber worauf kommt es nach dem nächsten Schritt an? Doch offenbar auf den dann folgenden? Und nach dem n-ten auf den n plus ersten Schritt?! Ein solcher Mensch müßte ohne Ende und Entschei- dung, ja geradezu ohne Wirklichkeit leben. Und doch ist es so, daß es immer nur auf den nächsten Schritt ankommt. Die Wahrheit ist, daß wir keine Methode besitzen, mit dieser ruhelosen Reihe richtig umzu- gehn. Meine Liebe," schloß er unvermittelt "ich be- reue manchmal mein ganzes Leben!" (S. 735-736) Der "Schritt von n auf n+1", auf dem Ulrich hier besteht, ist in der Mathematik bekannt. Er gehört zum mathematischen Gesetz der vollständigen Induktion, dem sog. 'Schluß von n auf n+1', äquivalent mit der fundamentalen Eigenschaft der 'natürlichen Zahlen' 292. Es wird für eine aufgestellte Behauptung allgemeine Gültigkeit für jedes n nachgewiesen, wenn der Schritt von n auf n+1 gezeigt werden kann. Die genaue Formulierung des Geset- zes ist folgende: (i) Eine Behauptung sei für den Fall c = 1 gültig. Induk- tionsanfang. (ii) Sie gelte ferner für den Fall c = n. Induktions- voraussetzung. (iii) Läßt sich dann zeigen, daß die Behauptung auch für den Fall n+1 richtig ist. So gilt sie damit für alle natürlichen Zahlen. Induktionsschluß. Eine ähnliche Vorgehensweise, sich in der Unordnung des Le- bens zurechtzufinden, schwebt Ulrich offenbar vor, allerdings nicht mit dem allgemeingültigen Ergebnis eines mathematischen Satzes, sondern nur mit partieller Gültigkeit. Obwohl im gesamten Romanfragment ständig von Ordnung ge- sprochen wird, dürfte gleichzeitig vor allem auch deren Binär- opposition, die Unordnung und deren Tendenz zu immer mehr Unordnung konnotiert sein, mit der zu leben ist. Musil hat in Anbetracht dieser Situation auch wiederholt von Partiallösungen (siehe z.B.: dmoe S. 1856) gesprochen. In seinen Tagebüchern bezeichnet er Ulrich sogar als Mann der Partiallösung: ... Theoretiker. (Ein M. o. E. ist ein Theoretiker). Es muß Theoretiker geben. Und Forscher. Experimenta- toren. Menschen ohne Bindung. Ohne Bedürfnis nach Ja oder Nein. Menschen der Partiallösung. ... (tg1 S. 1098) 292 Handbuch d. Math., S. 77, oder A. Ostrowski Vorlesungen über Differential- und Integralrechnung (Funktionen einer Variablen) Bd. 1, Basel 1960, S. 21 2.1.23.3 Statistik, Entropie, Ordnung _____________________________________________________________ 237 Wie schwierig es aber ist, geeignete generelle Kriterien für Ord- nung schlechthin zu finden, sagt der treffsichere General Stumm nicht ohne resignierende Ironie schließlich im zweiten Buch des dmoe während eines Gesprächs mit Ulrich: "Also Ordnung ist gewissermaßen ein paradoxer Begriff. Jeden anständigen Menschen verlangt es nach innerer u äußerer Ordnung, aber andrerseits verträgt man auch nicht zu viel von ihr ... Das liegt sozusagen (schon) im Begriff der Ordnung. Und darum muß man sich fragen: was ist denn überhaupt Ordnung? Und wie kommt es denn, daß wir uns einbilden, ohne Ordnung nicht existieren zu können? Und was für eine Ordnung suchen wir denn? eine logische, eine praktische, eine persönliche, eine allgemeine, eine Ordnung des Gefühls, eine des Geistes oder eine des Handelns? De facto gibt es ja eine Menge Ordnungen durcheinander; die Steuern und Zölle sind eine, die Religion eine andere, das Dienstreglement eine dritte, ... aber du selbst hast schließlich verkündet, daß man zur Ordnung des Geistes ein ganzes Weltsekretariat brauchen möchte, und auf eine solche Ordnung, das wirst du selbst zugeben, kann man nicht warten! Aber anderseits darf man auch nicht deshalb jeden gewähren lassen!" (S. 1451) 2.1.24 Moosbrugger tanzt (87) _____________________________________________________________ 238 2.1.24 Moosbrugger tanzt (87) 2.1.24.1 Gummibänder und Federkonstanten Honold charakterisiert die im Roman geschilderte Situation des Frauentöters Moosbrugger während seiner Untersuchungshaft folgendermaßen: Der Prostituiertenmörder wartet in einer Un- tersuchungszelle des Landgerichts auf Revision seines Todes- urteils aufgrund vermuteter Unzurechnungsfähigkeit. Während er wartet, versucht er aus isolierten Gedächtnisbildern den Zu- sammenhang seines Lebens zu rekonstruieren. ... Paradoxer- weise demonstriert gerade der im objektiven Sinne unzurech- nungsfähige Moosbrugger, daß die je eigene Lebensgeschichte dem Prinzip der subjektiven Zurechnung folgt, das bruchstück- hafte Details zur kohärenten Biographie verbindet und die erin- nerten Orte als Stationen eines Werdegangs erscheinen läßt. (Honold Die Stadt und der Krieg S. 292) Kants Reflexionen über das Selbstbewußtsein zitierend schreibt Honold weiter: Diese Verstandesleistung, die es dem Ich ermög- licht, die unterschiedlichsten Wahrnehmungen "als meine Vor- stellungen zu dem identischen Selbst rechnen" zu können, illu- striert Kant an einem Beispiel, das uns wieder auf die Spur des biographischen Erzählens im 'Mann ohne Eigenschaften' zurück- führen wird ... Die anschauliche Darstellung der Zeit als "fort- gehende Linie", bei Kant eine unproblematische, konventionelle Analogie, konstituiert im Raum - oder besser: anhand eines räumlichen Anschauungsmodells - jene Synthesis, die dem Sub- jekt in der zeitlichen Abfolge seiner Erlebniszustände herzustel- len aufgegeben war. ... Moosbrugger müßte also, um die Etap- pen seines Lebens aus dem "gegebenen Mannigfaltigen" einer "verworrenen" Zeit herauslösen und als zusammenhängende Linie, als den "Weg" seines Lebens wahrnehmen zu können, diese Linie selbst ziehen, und er müßte dazu wiederum zuerst die ungeordnete Menge disparater Eindrücke in eine zeitliche Folge bringen. ... das Gegenteil aber ist der Fall. "Seine Lebensuhr war in Unordnung geraten; man konnte sie vor- und zurück- drehen". (Honold Die Stadt und der Krieg S. 293-294) Man kann von Moosbrugger glauben, er habe ein gestörtes Ver- hältnis zur Sprache293, zu seinem eigenen Körper und anderen 293 Weitere Aspekte der Moosbrugger Romanfigur bei: Albertsen, S. 88 ff; Ulrich Karthaus Der andere Zustand. Zeitstrukturen im Werke Robert Musils. Berlin 1965, S. 70 ff; Günter Graf Studien zur Funktion des ersten Kapitels von Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" Göppingen 1969, S. 146-157; Renate Marschner Utopie der Möglichkeit: ästhetische Theorie Stuttgart 1981, S. 111-134; Gilbert Reis Musils Frage nach der Wirklichkeit Königstein / Ts 1983, S. 349 ff 2.1.24.1 Gummibänder und Federkonstanten _____________________________________________________________ 239 Körpern, besonders denen der Frauen (vergleiche auch mit Ab- schnitt 2.1.17.1). Als sechzehnjähriger Jüngling machte er seiner verheirateten Meisterin ein "Liebesangebot" (S. 237) und wurde von der Frau grob zurückgestoßen. Dieses frühe traumatische Erlebnis gerät zur Schlüsselstellung294 in Moosbruggers weite- rem Leben. Seine Liebesfähigkeit scheint für immer untergraben. Das zurückweisende Benehmen der Meisterin führt bei ihm zum Verlust seines Selbstbewußtseins. Ohne die geringste intellektu- elle Einsicht in das Geschehene, verliert er sein Recht auf Liebe. Sprachlos kann er sich durch Sprache in Zukunft nicht mehr erklären. Zur Tötung kommt es, weil Moosbrugger - konfrontiert mit dem einladenden Angebot einer käuflichen Frau und seiner eigenen erotisch-sexuellen Triebkraft, der aber durch seine Selbstverneinung jegliche Existenzberechtigung fehlt - sich selbst nicht mehr von der Frau unterscheiden zu können glaubt. Er erlebt seine eigene Verdoppelung, die Differenz zwischen 'Ich' und 'Du' scheint sich psychisch real aufzulösen. Um sich jedoch als autonomes Subjekt behaupten zu können, nutzt Moosbrugger schließlich als letzte Möglichkeit seine archaische Gewalt. Meisel gibt dazu die folgenden weiterführenden Erklärungen: Moosbruggers Körper ... ist noch dem Imaginären verhaftet, das nach Lacan durch Prävalenz der Beziehung zum Bild des Ähnli- chen, also der narzißtischen Beziehung des infans zu seinem Ich gekennzeichnet ist. Die Verdrängung dieser Täuschung in der Ablösung des Imaginären durch das Symbolische, also im Mo- ment des Spiegelstadiums, kann Moosbrugger mangels Familia- risierung und damit Alphabetisierung damit ebensowenig gelin- gen, wie eine Sublimierung während der nachödipalen Phase. Weil Moosbruggers Eintritt in das kulturelle Zeichensystem Sprache sich auf keine natürliche Ursache gründet, weil seine biologische Reifung ihre Referenz nur aus dem Imaginären und nicht aus der Welt der Sprache bezieht, hat er sein "Jus" ver- wirkt, bevor er es sich erwerben konnte. ... Hinter dem gebro- chenen Fingerglied des "Brotherren" 295 und dem so naiven wie obszönen Antrag an die "Meisterin" erscheint nicht nur die auf- geschobene Inszenierung des ödipalen Dramas, in ihnen voll- zieht sich auch die eklatante Verletzung der Diskursordnung. ... Das verbotene Wort, die obszöne Geste, die blinde Gewalt, die Zufallsalphabetisierung gegen die codierten Redeordnungen ... "niemals", so scheint es, kann es Moosbrugger gelingen, "die 294 Ruth Hassler-Rütti Wirklichkeit und Wahn in Robert Musils Roman 'Der Mann ohne Eigenschaften' Frankfurt a. Main 1990, S. 38-41 u. S. 231-254 295 In Wahrheit sagt der Erzähler, daß Moosbrugger schon als Bursche einem Brot- herrn die Finger gebrochen habe, als dieser ihn züchtigen wollte (dmoe: S. 71) 2.1.24 Moosbrugger tanzt (87) _____________________________________________________________ 240 Mitte zwischen seinen zwei Zuständen zu finden, bei der er viel- leicht hätte bleiben können". 296 Moosbrugger steht seinen eigenen Erinnerungen oft ganz fremd- artig gegenüber. Dadurch fehlt ihm, wie Honold schreibt297, sei- ne biographische Kohärenz, und es gelingt ihm nicht, das Ichbe- wußtsein von der Außenwelt abzutrennen. Er erlebt sich nicht als 'Moosbrugger', sondern als Gegenstand, der zur Außenwelt ge- hört. Die folgenden Textstellen aus dem Roman geben davon deutliches Zeugnis: Wenn Moosbrugger einen großen Säbel gehabt hätte, würde er ihn jetzt genommen und dem Stuhl den Kopf abgeschlagen haben. Er würde dem Tisch den Kopf abgeschlagen haben und dem Fenster, dem Kübel und der Türe. Er würde dann allem, dem er den Kopf abschlug, seinen eigenen aufgesetzt haben, denn es gab in dieser Zelle nur seinen eigenen Kopf, und das war schön. ... Der Tisch war Moosbrugger. Der Stuhl war Moosbrugger. Das vergitterte Fenster und die verschlossene Tür war er selbst. Er meinte das keinesfalls verrückt und ungewöhnlich. Die Gummi- bänder waren einfach weg. Hinter jedem Ding oder Geschöpf, wenn es einem anderen ganz nah kommen möchte, ist ein Gummiband, das sich spannt. Sonst könnten ja auch am Ende die Dinge durcheinander hindurchgehen. Und in jeder Bewegung ist ein Gum- miband, das einen nie ganz das tun läßt, was man möchte. Diese Gummibänder waren nun mit einem- mal fort. Oder war es bloß das hinderliche Gefühl wie von Gummibändern? Das kann man wohl nicht so genau unterscheiden? (S. 394-395) Der eigenartige Vergleich der Angebundenheit an Gummibänder scheint naturwissenschaftlicher Herkunft zu sein. Zur theoreti- schen Beschreibung von Festkörpereigenschaften, z.B. der spezi- fischen Wärme, kann in erster Näherung das atomare Festkör- pergitter als ein System von Massenschwerpunkten betrachtet werden, die durch Federn (Gummibänder) miteinander verbun- den sind. Durch die Wahl geeigneter Federkonstanten, die u.a. auch dafür sorgen, daß die Massenpunkte ihre mittleren Plätze behalten, gelangt man in etwa zu den beobachteten Schwin- gungsfrequenzen und damit zu Energieverteilungen, die ihrer- 296 Meisel, S. 161-163. Letztes Zitat nicht wörtlich und zweitens mit falscher Seiten- angabe. Richtig: dmoe S. 397. 297 Die Stadt und der Krieg S. 292-293 2.1.24.1 Gummibänder und Federkonstanten _____________________________________________________________ 241 seits annähernd zu den makroskopischen Eigenschaften der Kri- stallgitter führen298. Vielleicht hatte Moosbrugger das Gefühl, ein Gitterpunkt mit abgerissenen Federn zu sein, der nun ungehindert durch die an- deren Gitterplätze hindurchwandern kann. Dafür spräche auch die spätere Erwähnung des mechanischen Spielwerkes und des geometrischen Anblicks seiner Zelle. Es heißt dort: Er hatte, obgleich er eingesperrt war, ein ungeheures Gefühl der Macht. ... In einer merkwürdigen Umkeh- rung hatte er den Eindruck, diese Ordnung gehe von ihm aus, obwohl er wußte, daß sie ihm auferlegt war. Andere Leute haben solche Erlebnisse, wenn sie im Sommerschatten einer Hecke liegen ...; die Welt dreht sich dann wie ein mechanisches Spielwerk um solche Leute. In Moosbrugger besorgte das schon der geo- metrische Anblick, den ihm seine Zelle bot. (S. 395) Sich von den funktionsuntüchtigen Gummibändern wieder ab- kehrend assoziiert Moosbrugger nun aber die Strumpfbänder der Frauen: "Zum Beispiel, Frauen halten ihre Strümpfe mit Gummibändern. Da hat man's!" - dachte Moosbrug- ger. "Sie tragen wie ein Amulett Gummibänder ums Bein. Unter den Kitteln. Wie die Ringe, mit denen man die Obstbäume beschmiert, damit die Würmer nicht hinaufsteigen." (S. 395) Musil hat selbst wohl auch eine besondere Neigung, auf die Strumpfbänder der Frauen aufmerksam zu machen, denn er be- schreibt öfter derartige Strumpfbandszenen, z.B. bei einer Zu- sammenkunft von Gerda und Ulrich (S. 311). Auch in den Tage- büchern erwähnt er mehrfach die Strumpfbänder: Eine Ziehharmonika spielt leise. Die Leute stehen lautlos im Kreise herum. Ein sechzehnjähriges Mädel in Strümpfen und Unterrock dreht sich, daß man die roten Strumpfbänder sieht und die herrlich festen Konusse der Schenkel über den Knien. (tg1 S. 269) Als sie dann am Klosett sitzt, die Röcke bis über die Strumpfbänder gehoben und hinten in einem großen Bausch gehalten, merkt sie plötzlich, daß ihr der Schutzengel zusieht und ist von der Eindringlichkeit dieser Beziehung ganz überwältigt. ... (tg1 S. 981) 298 Genaueres bei Vogel, S. 776-780; vergleiche auch: Moore, S. 695- 699 2.1.25 Die Verbindung mit großen Dingen (88) _____________________________________________________________ 242 2.1.25 Die Verbindung mit großen Dingen (88) 2.1.25.1 Geistiger Impulssatz u. Regenbogen- Theorie Der Erzähler stellt hier unter spezieller Berücksichtigung des Großschriftstellers Arnheim, Ulrichs Antipoden, das Musilsche Gesetz von der Erhaltung der geistigen Materie auf, welchem er weitgehende Allgemeingültigkeit zuschreibt. Es heißt im dmoe: Es gibt nichts, was dem Geist so gefährlich wäre wie seine Verbindung mit großen Dingen. ... Man könnte die Gefahr der Verbindung mit großen Dingen darum auch als ein Gesetz von der Erhaltung der geistigen Materie bezeichnen, und es scheint ziemlich allgemein zu gelten. Die Reden hochgestell- ter, im Großen wirkender Personen sind gewöhnlich inhaltsloser als unsere eigenen. Gedanken, die in ei- ner besonders nahen Beziehung zu besonders würdi- gen Gegenständen stehen, sehen gewöhnlich so aus, daß sie ohne diese Begünstigung für sehr zurückge- blieben gehalten würden. Die uns teuersten Aufga- ben, die der Nation, des Friedens, der Menschheit, der Tugend und ähnlich teuere tragen auf ihrem Rücken die billigste Geistesflora. Das wäre eine sehr verkehrte Welt; aber wenn man annimmt, daß die Behandlung eines Themas desto unbedeutender sein darf, je bedeutender dieses Thema selbst ist, dann ist es eine Welt der Ordnung. (S. 398-399) Dieses Musilsche Gesetz von der 'Erhaltung der Geistesmaterie' dürfte in Anlehnung an das physikalische Gesetz von der Erhal- tung des (translatorischen) Gesamtimpulses aufgestellt worden sein. Als Impuls definiert man in der Physik das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit. Denkt man sich etwa eine große Billardkugel der Masse M und der moderaten Geschwindigkeit V, welche auf eine kleine ruhende Kugel der Masse m stößt, so wird nach dem Stoß die leichte Kugel mit relativ großer Ge- schwindigkeit vn davonrollen, während die schwere Kugel nur noch mit geringer Geschwindigkeit Vn weiterläuft. Nimmt man an, die Kugeln unterlägen keinen Reibungskräften oder anderen äußeren Kräften, sondern verhielten sich vollkommen reibungs- frei und elastisch, so ließe sich der Stoß nach den Gesetzen des elastischen Stoßes behandeln (Pohl, Bd. 1, S. 50). Für diesen gilt der genannte Impulssatz. D.h. der Gesamtimpuls der heranlau- fenden Kugel vor dem Stoß muß gleich der Summe der Impulse 2.1.25.1 Geistiger Impulssatz u. Regenbogen-Theorie _____________________________________________________________ 243 der beiden Kugeln nach dem Stoß sein. In Formelschreibweise lautet dies: MV = MVn + mvn. Eine genaue Rechnung zeigt, daß bei der Impulsaufteilung das Massenverhältnis eine entscheidende Rolle spielt299. Die Kugel mit kleiner Masse hat nach der Impulsänderung generell die grö- ßere Geschwindigkeit, die mit der großen Masse die kleinere. Etwas ähnliches dürfte Musils Gesetz von der Erhaltung der gei- stigen Materie sagen wollen. Die teuersten Werte werden mit dem billigsten geistigen Aufwand behandelt und umgekehrt. Vielleicht könnte man im Sinne der Physik Musils Gesetz als dasjenige von der Erhaltung der geistigen Bewegungsgröße for- mulieren. Der Erzähler liefert in dieser Hinsicht mustergültige Beispiele, und zwar sowohl für große als auch für kleine 'geistige Masse': Personen, welche die Gesellschaft großer Dinge be- vorzugen - und dazu gehören vornehmlich auch die großen Seelen, für die es überhaupt keine kleinen Dinge gibt, - wird unwillkürlich das Innere zu einer ausgedehnten Oberflächlichkeit herausgezogen. ... Es gab einflußreiche Industrien, wie die des Fußball- spiels oder des Tennis, aber man zögerte noch, ihnen an den technischen Hochschulen Lehrstühle aufzu- stellen. (S. 399) Der erste Teil des Textes zielt auf Ulrichs (Musils) Spezialfreund Arnheim (Rathenau). Für letzteren wird das Musilsche Gesetz sogar noch etwas stärker zugespitzt formuliert: ... Die Quantität der Wirkung und Wirkung der Quantität, als neuer, sonnenklarer Gegenstand der Verehrung, kämpfte noch mit einer veraltenden und erblindeten adeligen Verehrung der großen Qualität, ... (S. 400) Zur Verdeutlichung dieses neuen Gegenstands der Verehrung wird zusätzlich darauf aufmerksam gemacht, daß die Herren, welche die Kartoffel nach Europa gebracht hätten, neuerdings als bedeutend gälten, während ihnen früher kaum Beachtung ge- schenkt worden sei. Der zugehörige Text lautet: - lange Zeit ist es niemand eingefallen, wegen der Kartoffeln diese Männer für bedeutender zu halten als etwa den Physiker Al Schirasi, von dem man nur weiß, daß er den Regenbogen richtig erklärt hat; ... (S. 399) 299 Korrekterweise müssen zur Berechnung der Impulse die Geschwindigkeiten in vektorieller Form eingeführt werden. Für das gewählte Beispiel erhält man folgende Formeln Vn = V (M - m) / (M + m); vn = 2V M / (M + m). Siehe Pohl, Bd.1, S. 52 2.1.25 Die Verbindung mit großen Dingen (88) _____________________________________________________________ 244 Interessant erscheint dieser Text auch insofern, als sich ein Phy- siker namens Al Schirasi im Zusammenhang mit der Erklärung des Regenbogens nicht nachweisen läßt. Bekanntlich hat aber schon Descartes eine qualitativ richtige Erklärung des Phäno- mens gegeben. Wahrscheinlich wollte Musil diese Bemerkung in doppelt ironischer Weise verstanden wissen. René Descartes (1596-1650) verfügte über eine brauchbare Theorie des Regenbogens. Danach entsteht der Regenbogen im wesentlichen dadurch, daß der in einen Regentropfen eindrin- gende Sonnenstrahl im Inneren einmal reflektiert und durch zweimalige Brechung farbig zerlegt wird300. Descartes' Theorie basiert auf den Reflexions- und Brechungsgesetzen und erklärte die Erscheinung qualitativ korrekt. Die folgende Darstellung der Zusammenhänge folgt den Ausfüh- rungen Häckels (S. 193-195). Abbildung 53 zeigt eine Skizze des in Frage kommenden Strahlenganges für den Hauptregenbo- gen und den sekundären: Abbildung 53 Schematisch gezeichneter Strahlengang im Regentropfen zur Erklärung des Regenbogens. Oben: Hauptregenbogen; unten: sekundärer Regenbogen. Im er- sten Fall tritt zunächst eine Brechung, dann eine Reflexion und abschließend wieder eine Brechung auf. Im zweiten Fall schließen sich an die erste Brechung zwei Reflexionen 300 Die Farbfolge im Hauptregenbogen ist diejenige der Spektralfarben. Im sekun- dären Regenbogen tritt die umgekehrte Reihenfolge auf. 2.1.25.1 Geistiger Impulssatz u. Regenbogen-Theorie _____________________________________________________________ 245 an, bevor eine weitere Brechung erfolgt. S: Sonnenstrahl; B: Brechung; R: Reflexion. Winkel in Grad. Häckel, S. 193. Siehe auch: Vielstrahlinterferenz.301 Betrachtet man zuerst den oberen Teil der Abbildung 53, so ergibt sich folgender Strahlenverlauf: der Sonnenlichtstrahl wird zunächst beim Übergang von Luft in Wasser (Regentropfen) am Punkt B1 gebrochen, anschließend am Übergang von Wasser in Luft am Punkt R totalreflektiert und schließlich am Punkt B2 wieder gebrochen, und zwar ebenfalls beim Übergang Wasser - Luft. Physikalisch beruht dieser Strahlengang auf dem Brechungs- gesetz, welches für einen bestimmten Grenzwinkel auch die Totalreflexion beinhaltet. Dem Brechungsgesetz entsprechend wird ein Lichtstrahl, der vom optisch dünneren Medium (hier Luft) in das optisch dichtere Medium (hier Wasser) fällt, stets zur Normalen hin gebrochen. Als Normale wird die Senkrechte bezeichnet, welche die Übergangsgrenzfläche im Punkt des ein- tretenden Strahls schneidet. Folglich ist der im Punkt B1 gebro- chene Strahl näher an der Normalen als der einfallende Strahl, da der Übergang von Luft in Wasser erfolgt. Im nächsten Punkt R erfolgt jedoch der entgegengesetzte Über- gang, derjenige vom optisch dichteren ins optisch dünnere Me- dium. Dabei findet Brechung in Richtung der Vergrößerung des Winkels zur Normalen statt. Infolge dieser Winkelvergrößerung kommt es aber beim Überschreiten des sog. Grenzwinkels zu einer Besonderheit: der 'gebrochene Strahl' wird wieder ins glei- che Medium zurückgeworfen, man spricht von der sog. Totalre- flexion302. Die Totalreflexion sorgt im Punkt R dafür, daß der Strahl den Tropfen nicht verläßt, sondern an der Grenzfläche Wasser-Luft reflektiert wird und zum Punkt B2 gelangt. Im Punkt B2 gibt es zwar ebenfalls einen Wasser-Luft-Übergang, doch wird der Grenzwinkel der Totalreflexion hier nicht erreicht. Der Lichtstrahl verläßt den Tropfen unter gewöhnlicher Bre- chung (s. Abbildung 53, S. 244). Berechnet man den Gesamtstrahlengang, so erhält man eine To- talablenkung des ursprünglichen Sonnenstrahls um 139 0, so daß der Winkel zwischen eintretendem und austretendem Strahl ge- rade 41 0 beträgt. Bisher wurde aber noch nicht berücksichtigt, daß der (weiße) Sonnenstrahl nicht aus monochromatischem Licht besteht, sondern Licht verschiedener Wellenlänge im Be- reich rot bis violett enthält (s. Tabelle 2, S. 45 und Abbildung 9, 301 Bergmann-Schaefer, Bd. 3, S. 335-340 302 Siehe Bergmann-Schaefer, Bd. 3, S. 48-59. Man findet dort auch einige Abbil- dungen zur Veranschaulichung der Totalreflexion. 2.1.25 Die Verbindung mit großen Dingen (88) _____________________________________________________________ 246 S. 44), welches unterschiedlich stark gebrochen wird. Die wel- lenlängenabhängige Brechung des Lichts - die sog. Dispersion303 - ist für rot am kleinsten, für violett am größten. Folglich erfährt der rote Anteil des Strahles die kleinere Ablenkung, der blau- violette Anteil die größere. Die Gesamtwinkeldifferenz beträgt schließlich 42 0 für den austretenden roten Strahl, für den violet- ten 40 0, was Abbildung 53 auch deutlich macht. In manchen Fällen ist nicht nur der Hauptregenbogen, sondern auch ein sekundärer Regenbogen mit der umgekehrten Reihen- folge der Spektralfarben zu sehen. Dieser Nebenregenbogen läßt sich anhand des unteren Teils der Abbildung 53, S. 244 nun leicht verstehen. Der Sonnenstrahl fällt dabei unter einem sol- chen Winkel in den Regentropfen ein, daß zweimalige Brechung und zweimalige Totalreflexion erfolgt und dadurch der Strahl insgesamt um 231 0 abgelenkt wird. Infolge dessen kreuzt der gebrochene Strahl den ursprünglichen, das Blau-Violett ist daher außen, das Rot innen zu sehen, also umgekehrt im Vergleich zum Hauptbogen. Die zugehörigen Winkeldifferenzen betragen 53 0 für rot, 50 0 für blau-violett (mittlere Winkeldifferenz: 51 0). Wie läßt sich die beobachtete Bogen- bzw. Ringform verstehen? Das gesamte Sonnenstrahlbündel wird im Tropfen in alle Raum- richtungen gebrochen, da es keine Vorzugsrichtung gibt. Der mittlere Öffnungswinkel von 41 0 bleibt aber in jedem Fall erhal- ten. Man kann also erwarten, daß das insgesamt zurückgewor- fene Licht einen Kegelmantel mit der Öffnung 2 x 41 0 bildet. Die folgende Abbildung 54 veranschaulicht dies in einer sche- matischen Zeichnung: Abbildung 54 Das einfallende Sonnenlicht wird im Re- gentropfen in Form eines Kegelmantels der Öffnung 2 x 410 zurückgeworfen. Häckel, S. 194 303 Vergleiche Bergmann-Schaefer, Bd. 3, S. 203 ff 2.1.25.1 Geistiger Impulssatz u. Regenbogen-Theorie _____________________________________________________________ 247 Alle von der Sonne beschienenen Tropfen werden einen solchen Strahlenkegel ausbilden. Ein Betrachter, der in Richtung der Sonnenstrahlen auf die Tropfen schaut, wird aber nur diejenigen Tropfen als farbige Strahlung wahrnehmen, die auf einem Kreis liegen, welcher zu dem entsprechenden Kegelmantel mit dem Öffnungswinkel von 41 0 gehört. Dem auf dem Boden befind- lichen Beobachter wird sich nur der obere Teilkreis als Regen- bogen zeigen, während ein Beobachter im Flugzeug den gesam- ten farbig leuchtenden Kreis sehen kann. Am Schluß des dmoe-Kapitels deutet der Erzähler an, welche gefährlichen Konsequenzen das 'Gesetz von der Erhaltung der geistigen Materie' schließlich haben könnte. Eine Vorausschau auf die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg wird nahegelegt. Es heißt dort: ... denn man wartete auf einen Mann, der die Einsam- keit des Genies haben sollte, aber dabei doch die Ge- meinverständlichkeit der Nachtigall. Es war schwer, vorher zu sagen, was auf diese Weise herauskommen werde, da man die Gefahr der Verbin- dung mit großen Dingen gewöhnlich erst durch- schaut, wenn die Größe dieser Dinge schon halb vor- bei ist. (S. 400) 2.1.26 Man muß mit der Zeit gehen (89) _____________________________________________________________ 248 2.1.26 Man muß mit der Zeit gehen (89) 2.1.26.1 Piloten und Dichter Im Zusammenhang mit Arnheims Tätigkeit innerhalb der Paral- lelaktion findet der Erzähler wieder die rechten Worte für die Tendenzen der Zeit, welche man heutzutage erst so richtig wie- derzuerkennen glaubt: Die Neugestaltung des Menschen auf Grund eines amerikanischen Weltarbeitsplans, durch das Medium der mechanisierten Kraft. Den Lyrismus, verbunden mit dem eindringlichsten Dramatismus des Lebens. Den Technismus; einen Geist, der des Zeitalters der Maschine würdig ist. Blériot - hatte einer ausgerufen - schwebe soeben über dem Ärmelkanal mit fünfzig Kilometern Stun- dengeschwindigkeit! Dieses Fünfzig-Kilometer-Ge- dicht müßte man schreiben und die ganze andere, mulmige Literatur auf den Mist schicken! Den Akzelerismus304 forderten sie, das ist die maxi- male Steigerung der Erlebensgeschwindigkeit auf Grund sportlicher Biomechanik und zirkusspringeri- scher Präzision! (S. 402) Unter dem Medium der mechanisierten Kraft dürften vor allem die an die Stoppuhr gekoppelten Arbeitsgänge in den Fabriken zu verstehen sein, die damals eingeführt wurden und heute in der perfektionierten Fließbandarbeit einen gewissen Höhepunkt er- reicht haben. Der französische Flugtechniker Louis Blériot flog am 20. Juli 1909 als erster mit einem selbst gebauten 'Flug-Zeug' über den Ärmelkanal. Er benötigte für die Überquerung eine knappe halbe Stunde. Eine Skizze seiner Flugmaschine zeigt die nächste Abbildung 55: 304 Überlegungen bezüglich der Lebensverhältnisse im Zusammenhang von Akzele- ration und Geschwindigkeit im dmoe-Roman findet man in der Habilitationsschrift Gnams. Andrea Gnam Die Bewältigung der Geschwindigkeit. Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" und Walter Benjamins Spätwerk. München 1999, S. 17-46 2.1.26.1 Piloten und Dichter _____________________________________________________________ 249 Abbildung 55 Schematische Darstellung der Eindecker- Propeller-Maschine, die Louis Blériot 1909 für seinen Flug über den Ärmelkanal benutzte. Siehe: Arthur Gordon Die Fliegerei. Illustrierte Geschichte von den Anfängen bis zur Raumfahrt. Gütersloh 1964, S. 140 Blériots Flug war damals Thema vieler künstlerischer Darstel- lungen. Einen Eindruck davon gibt die nächste Abbildung 56 eines Wandteppichs, der zu dieser Zeit entstanden ist. Abbildung 56 Photographie eines zur Zeit der Kanalüber- fliegung durch Louis Blériot entstandenen Wandteppichs. Vergleiche: Gordon, S. 132 Der im Romantext beschworene Lyrismus wird dann durch einen berühmten Dichter verbildlicht, auf den sowohl General Stumm als auch Dr. Arnheim hinweisen, dessen Name aber nicht ver- raten wird. Man liest dort: 2.1.26 Man muß mit der Zeit gehen (89) _____________________________________________________________ 250 " ... Zum Beispiel wenn der berühmte Dichter - ich weiß nicht, wie er heißt, dieser große ältere Herr mit Bauch, der die Verse über die griechischen Götter, die Sterne und die ewigen Menschengefühle gemacht haben soll; die Dame des Hauses hat mir gesagt, er soll wirklich ein Dichter sein, in einer Zeit, die sonst höchstens Intelligenz hervorbringt - " ... als er (Arnheim) sich nun dem zweiten Vertreter großer deutscher idealistischer Gesinnung, dem Dich- ter des Generals zuwandte. Das war nach dem mage- ren der fette Geistesschlag. Sein feierlicher Idealis- mus entsprach jenen großen tiefen Blasinstrumenten in den Orchestern, welche in die Höhe gestellten Lo- komotivkesseln gleichen und ein ungefüges Grunzen und Schollern hervorbringen. Sie decken mit einem Ton tausend Möglichkeiten zu. Sie pusten große Pake- te voll der ewigen Gefühle aus. Wer in einer von diesen Arten in Versen zu blasen vermag, ... gilt bei uns heute für einen Dichter, im Unterschied zum Literaten. (S. 404, S. 406) Nach Alter und Beschreibung der lyrischen Themen dieses Dich- ters kommt eigentlich nur Stefan George (1868-1933) in Frage, obgleich der ältere Herr mit Bauch nicht so recht der Vorstel- lung entspricht, die man sich vom damaligen körperlichen Zustand Georges macht. Otto Mann schreibt über George: Stefan George war Haupt- gegner des Naturalismus und des positivistischen Zeitgeistes, ein Künder geistiger Kunst, Zucht und Schönheit. Unter seiner Schar von Freunden und Anhängern genoß er fast sakrale Verehrung seiner Person und seines Werkes305. Ganz offensichtlich war Musil aber nicht unter dieser Schar seiner Freunde und Anhän- ger. Dies belegen auch zahlreiche Textstellen im Nachlaß und in seinen Tagebüchern. Einige dieser Stellen sollen im folgenden zitiert werden: Wir haben es in der Dichtung mit einer viel gewöhnli- cheren Erscheinung zu tun, nämlich dieser, daß über- all, wo in ihr einfache, unmittelbar einleuchtende, letzte Worte verehrt werden, alsbald anstelle der frag- lichen religiösen oder moralischen Tiefen, in denen sie entdeckt werden konnten, die Untiefe der morali- schen Gewohnheitswerte, das Niveau eines Tugend- klatsches tritt. Ich bin der frevelhaften Meinung, daß dies z.B. sogar bei Stefan George nicht selten vor- kommt. (nl VI/2/32) 305 Otto Mann Deutsche Literaturgeschichte Gütersloh 1964, S. 472 2.1.26.1 Piloten und Dichter _____________________________________________________________ 251 Die Dichtung enthielt Realisten neben Preziösen, Immoralisten neben dem glasstarren Moralismus Georges, Pantheisten neben dem katholischen Rilke, ... (nl VII/11/45) Beim Tode tritt üblicherweise ein Gipfel der Über- schätzung in Erscheinung. Dann werden noch Versu- che mit Gesamtausgaben und Nachlässen gemacht; u. dann wächst langsam Gras darüber. Was geschieht da eigentlich? Denke an Hofmannsthal und George. (tg1 S. 737) George: Eines der wenigen moralischen Beispiele, aber am Ende ein Archaismus? Heroismus des Gei- stes. Im zweiten Bestandteil irrend. Der einzige Nicht=Schüler Nietzsches. Der das Kunstwerk der Prosa nicht verstand? Nicht den Weg der großen Prosa. Das ist seine Romantik. (tg1 S. 852) Karl Corino306 hält es aber zurecht für wahrscheinlicher, daß hier Theodor Däubler (1876-1934) gemeint ist, der tatsächlich ein umfangreicher Dichter war, über die hellenisch-antike Götter- und Lebenswelt schrieb, und zu Musils Bekanntenkreis gehörte. Interessanterweise werden jedoch in Musils Tagebüchern George und Däubler gleichzeitig im Hinblick auf Arten der Ruhmeskar- rieren (tg1 S. 678) genannt307. 306 Persönliche Mitteilung 2002; siehe auch: Anmerkung 159 (tg2 S. 305-306) und Nachlaß (I/2/23) 307 Mit der Identifizierung bestimmter im Roman geschilderter 'Figuren' sollte man aber stets sehr vorsichtig sein. So dürfte die Ansicht, für den im Roman beschriebe- nen Dichter 'Feuermaul' hätten Franz Werfel, Anton Wildgans und Leonhard Frank Modell gestanden nur partiell zutreffen. Siehe dazu: Josef Strutz Politik und Litera- tur in Musils "Mann ohne Eigenschaften", Königstein (Ts.) 1981, S. 11 ff 2.1.27 Von der Halbklugheit und ihrer fruchtbaren anderen Hälfte; von der Ähnlichkeit zweier Zeitalter, von dem liebenswerten Wesen Tante Janes und dem Unfug, den man neue Zeit nennt (99) _____________________________________________________________ 252 2.1.27 Von der Halbklugheit und ihrer fruchtbaren anderen Hälfte; von der Ähnlichkeit zweier Zeitalter, von dem liebenswerten Wesen Tante Janes und dem Unfug, den man neue Zeit nennt (99) 2.1.27.1 Stromstöße, Erinnerungsbilder Wesentliche Ziele und Inhalte der Parallelaktion, zu denen man sich auf den entsprechenden Sitzungen äußert, werden erläutert. Einerseits war man für aktiven Geist, andererseits galten das Intellektuelle und der Individualismus schon wieder als egozen- trisch und überholt. Der Erzähler schreibt: ... "Man ist" wechselt, wie es scheint, ebenso schnell wie "Man trägt" und hat mit ihm gemeinsam, daß niemand, wahrscheinlich nicht einmal die an der Mode beteiligten Geschäftsleute, das eigentliche Ge- heimnis dieses "Man" kennt. Wer sich dagegen auf- lehnte, würde jedoch unfehlbar den etwas lächerli- chen Eindruck eines Mannes machen, der zwischen die Pole einer Faradisationsmaschine geraten ist und gewaltig zuckt und rüttelt, ohne daß man seinen Geg- ner wahrnehmen kann. Denn der Gegner ist nicht durch die Leute gegeben, welche die vorhandene Ge- schäftslage mit schnellem Witz ausnützen, sondern ihn bildet die flüssig-luftartige Unfestheit des allge- meinen Zustandes selbst, ... (S. 453-454). Den erwähnten Faradisationsapparat kannte Musil wahrschein- lich aus entsprechenden Versuchen am Berliner Psychologischen Institut, dessen Mitarbeiter er zumindest während seiner Doktor- arbeit war308. Der Apparat ist nach dem englischen Physiker Michael Faraday (1791-1867) benannt, der unter vielem anderen auch die elektromagnetische Induktion entdeckte. Zum Ver- ständnis der Induktion geben wir einen einfachen Versuch an, der lediglich mit zwei Drahtspulen (einer Feldspule und einer Induktionsspule) arbeitet. Das Schema der Versuchsanordnung wird in Abbildung 57 gezeigt und die Versuchsdurchführung in der zugehörigen Legende erklärt. Grundsätzlich baut sich beim Einschalten des Stromes (Stromstoß) in der Feldspule auch gleichzeitig ein Magnetfeld auf. Das sich ändernde Magnetfeld induziert seinerseits in der zweiten Spule ein sich änderndes elektrisches Feld und damit einen meßbaren Spannungsstoß. 308Hoffmann, S. 61 ff 2.1.27.1 Stromstöße, Erinnerungsbilder _____________________________________________________________ 253 Abbildung 57 Anordnung zweier Drahtspulen zur De- monstration der Faradayschen Induktionserscheinungen. Die Feldspule (Sp) ist mit einer Gleichstromquelle, einem Schalter und einem Widerstand zu einem Stromkreis ver- bunden. Die Induktionsspule (J) ist nur mit einem Span- nungsmesser versehen. Schaltet man den Strom im Strom- kreis der Spule Sp ein, so erhält die Induktionsspule J einen Spannungsstoß, der mit dem Spannungsmesser an- gezeigt wird. Vergleiche: Pohl, Bd. 2, S. 63 Die im Roman angesprochene Faradisationsmaschine liefert niederfrequente, sich sehr stark ändernde Stromstöße von einigen Milliampere. Da solche Stromstöße anregend auf die menschli- che Muskulatur wirken, wird die Maschine in der Elektrothera- pie eingesetzt, besonders zur Heilung von Lähmungen und Mus- kelatrophien. Musil schildert aber zur Veranschaulichung des 'Benehmens' eines gegen die Mode angehenden Menschen die Situation, in der ein Gesunder in diese Maschine gerät. Einen ähnlichen Fall beschreibt er auch in seinen Tagebüchern. Es heißt an der entsprechenden Stelle: Faradisation. Simulationsverdacht, der Bursch wird täglich faradisiert. Hu hu hu hu ajäja ja – er zappelt. Ein Wärter und vier Schwestern stehen lachend um ihn, halten ihm Arm und Beine und drücken die Kon- takte an ihn. - Er schneidet Gesichter als ob er lachen würde. (tg1 S. 326) Im weiteren Verlauf des Romankapitels wird sehr ausführlich über die Anfangsphase der Photographie gesprochen, als Ulrich sich alte Photos seiner einst geliebten Tante Jane ansieht. Sie - so erinnert sich Ulrich - sei ein ordentlicher Mensch gewesen, und habe eigentlich nur von Tee, schwarzem Kaffee und zwei Tassen Fleischbrühe gelebt, sei also alles andere als ein Mensch mit struktiver Weltauffassung gewesen. Es kommt schließlich zu folgenden Bemerkungen des Erzählers: 2.1.27 Von der Halbklugheit und ihrer fruchtbaren anderen Hälfte; von der Ähnlichkeit zweier Zeitalter, von dem liebenswerten Wesen Tante Janes und dem Unfug, den man neue Zeit nennt (99) _____________________________________________________________ 254 ... je näher er den Anfängen dieser neuen Bildkunst zu blätterte, desto stolzer, so kam ihm vor, hatten sich die Menschen ihr dargeboten. ...wenn sie Offiziere waren, stellten sie die Beine auseinander und den Säbel dazwischen; wenn sie Mädchen waren, legten sie die Hände in den Schoß und öffneten weit die Augen; ... Das mag so zwischen achtzehnhundertsech- zig und -siebzig gewesen sein, nachdem die Anfänge des Verfahrens überwunden waren. ... aber wie eine Welle auf Sand ausläuft, war dieser Edelmut nun bei den Kleidern angelangt und einer gewissen privaten Schwunghaftigkeit, wofür es wohl ein besseres Wort geben mag, von dem aber vorläufig nur die Photogra- phien da sind. ... und den Privatmenschen schien es zu dieser Zeit gerade an der Zeit zu sein, daß auch für sie ein Verewigungsverfahren erfunden wurde. (S. 457) Musils ausgeprägtes Interesse an Photographie und Film macht sich an vielen Stellen des dmoe bemerkbar (s. Abschnitt 2.1.35.1 der vorliegenden Arbeit). Er sah die Möglichkeiten der Photo- graphie, stand ihr aber auch sehr kritisch gegenüber. Einige Texte im Nachlaß und seinen Tagebüchern geben Auskunft: Ich habe ... ein Kinostück gesehen, ... einzelne Bilder des Films verfolgen mich. ... Ich glaube, die Ursache liegt darin, daß der Film Wirklichkeit abbildet. ... Er tut es zwar nur schwarz-weiß, aber wir sind es gewohnt, Photos als Wirklichkeitserinnerungen zu lesen. Außerdem hat die Photographie alle Details wie die Wirklichkeit. Ihrer Wirkung kommt deshalb etwas von der Stärke des Erlebten zu. (nl VII/11/175) Halskragen: Wenn ich ein altes Bild von mir sehe, kränken mich die hohen steifen Kragen. Der Film treibt seit ein, zwei Jahren seinen, auch damals etwas billigen, Spaß mit der Mode um 1900. (tg1 S. 925) Im Romantext wird davon gesprochen, daß in den Anfängen der Photographie die Menschen sich mit großem Stolz photographie- ren ließen. Ein Grund dafür war sicher auch, daß man damals sehr genau darüber Bescheid wußte, wie aufwendig die Herstel- lung einer Photographie war, und daß dieser große Aufwand allein für den Photographierten selbst betrieben wurde. Zwar ist die moderne Photographie und Filmtechnik weitgehend automatisiert worden, die wesentlichen Teilschritte des photo- graphischen Prozesses sind aber unverändert geblieben. Sie sol- 2.1.27.1 Stromstöße, Erinnerungsbilder _____________________________________________________________ 255 len im folgenden für die Schwarzweißphotographie zusammen- gestellt werden309: (i) Das lichtempfindliche Material, damals beschichtete Metall- oder Glasplatten, besteht an der Oberfläche aus kolloid- artig verteiltem Silberbromid (AgBr), welches in einer Gelatine- schicht mit dem Grundmaterial verbunden ist. Einwirkung von Licht führt zur graduellen Zersetzung dieses Bromids in Silber und Brom (Schwärzung). Die chemische Reaktionsgleichung lautet: AgBr + Lichtenergie → Ag + 1/2 Br2 Zu beachten: atomares Brom tritt nicht auf, da es sofort zu mole- kularem Br2 weiter reagiert. (ii) Bei Belichtung der lichtempfindlichen Schicht entste- hen Spuren feinverteilten Silbers, während das gebildete Brom von der Gelatineschicht aufgenommen wird. Je intensiver die Bestrahlung desto mehr 'Silberkeime' entstehen. Die ausgeschie- dene Silbermenge ist aber noch so gering, daß das entstandene Bild unsichtbar bleibt. Man spricht vom latenten Bild. (iii) Das latente Bild muß anschließend zum sichtbaren Bild entwickelt werden. Dazu werden reduzierende Lösungen angewandt, die weiteres Silberbromid zu Silber reduzieren, und zwar nur an den Stellen, an welchen sich schon Silberkeime be- finden. Diese Reduzierung geht dort rascher vonstatten, wo sich bereits viele Keime befinden. Das latente Bild kann auf diese Weise schließlich zu einem sichtbaren Bild verstärkt werden. (iv) Das entwickelte, sichtbare Bild enthält noch den Restanteil des unveränderten Silberbromids, der weiterhin licht- empfindlich ist und das Bild bei Lichteinfall sofort zerstören würde (totale Schwärzung). Deshalb wird das Material mit einer Lösung behandelt, die das gesamte Silberbromid herauslöst ohne die Silberschicht selbst anzugreifen. Man nennt dies die Fixie- rung des Bilds. Durch den Fixiervorgang entsteht das durchsich- tige Negativbild, welches durch Kopieren auf Photopapier zum endgültigen Positivbild wird. Beim Kopiervorgang wird die ge- schilderte Prozedur mit lichtempfindlichem Photopapier wieder- holt, dabei das Negativ mit einer Lampe durchstrahlt. 309 Siehe Holleman-Wiberg, S. 474-476; Rudolf Kahlau Taschenbuch der Photogra- phie. Leitfaden für Anfänger und Fortgeschrittene Berlin 1958, S. 17-48. Hinweis: die digitale Photographie kommt ohne diesen Prozeß aus, steckt aber heute noch in den Anfängen. 2.1.28 Die feindlichen Verwandten (101) _____________________________________________________________ 256 2.1.28 Die feindlichen Verwandten (101) 2.1.28.1 Elastische Bälle und elektrische Stromkreise Seit langem haben Diotima und ihr Vetter Ulrich, die in der Ka- pitelüberschrift als "feindliche Verwandte" bezeichnet werden, nicht mehr außerdienstlich miteinander sprechen können oder wollen. Abseits eines 'Parallelaktionstreffens' finden sie in Dioti- mas Wohnung nun Gelegenheit dazu. Zunächst wird klar, auch Diotima ahnt, daß all ihre schönen Bemühungen in der Parallel- aktion tot zusammenbrechen werden, wie es Ulrich bereits früher prophezeite. Anschließend verleiht Ulrich teilweise aus Eifer- sucht seiner Ablehnung gegenüber Diotimas 'Freund' Arnheim deutlichen Ausdruck. Im weiteren Gespräch zeigen sich die bei- den Verwandten durchaus nicht so feindlich gesinnt. Es heißt dort beispielsweise: "Und wenn ich so bin, wozu können Sie mich verwen- den?" fragte Ulrich. Er saß auf Rachels, der kleinen Zofe kleinem Eisenbett, und Diotima saß auf dem kleinen Strohstuhl, eine Armlänge vor ihm. Aber da erhielt er von Diotima eine bewundernswerte Ant- wort: "Wenn ich mich einmal vor Ihnen" sagte sie un- vermittelt "ganz gemein und schlecht benehmen könn- te, würden Sie sicher wundervoll wie ein Erzengel sein!" (S. 471) Ulrich analysiert anschließend die zwischenmenschliche Bezie- hung zwischen Mann und Frau in allgemeiner Form, aber nicht ohne Bezug zu derjenigen zwischen ihm selbst und Diotima, die ja innerhalb der Parallelaktion eigentlich seine Chefin ist. Der entsprechende Text lautet: "Wir sagen heute noch: ich liebe diese Frau, und ich hasse jenen Menschen, statt zu sagen, sie ziehen mich an oder stoßen mich ab. Und um einen Schritt genau- er müßte man hinzufügen, daß ich es bin, der in Ihnen die Fähigkeit erweckt, mich anzuziehen oder abzu- stoßen. Und noch um einen Schritt genauer müßte man dem hinzufügen, daß sie in mir die Eigenschaf- ten hervorkehren, die dazu gehören. Und so weiter; man kann nicht sagen, wo da der erste Schritt ge- schieht, denn das ist eine gegenseitige, eine funktio- nale Abhängigkeit so wie zwischen zwei elastischen Bällen oder zwei geladenen Stromkreisen. Und wir wissen natürlich längst, daß wir auch so fühlen müß- 2.1.28.1 Elastische Bälle und elektrische Stromkreise _____________________________________________________________ 257 ten, aber wir ziehen es noch immer beiweitem vor, die Ursache und Ur-Sache in den Kraftfeldern des Ge- fühls zu sein, die uns umgeben; ..." (S. 473) Die von Ulrich gewählten Vergleiche der elastischen Bälle und der geladenen Stromkreise erfordern genauere Erklärung. Beim Aufeinanderstoßen zweier Gummibälle verformen sich gleich- zeitig beide Bälle. Sie drücken sich ein, und zwar jeder jeweils durch den einwirkenden Impuls (bzw. die kinetische Energie) des anderen. Aber die auftretenden Verformungen werden nur dann gleich groß und tief sein, wenn Größe, Elastizitätsmodule, usw. der Bälle gleich sind. Bei unterschiedlichem Druck z.B. verformt sich der Ball mit dem größeren Druck weniger. Voraus- setzung für eine Verformung, also eine Wechselwirkung zwi- schen den elastischen Bällen, ist aber in jedem Fall eine Berüh- rung zwischen beiden. Im nächsten Beispiel der beiden geladenen Stromkreise ist Be- rührung nicht mehr nötig. Hier treten Wechselwirkungen schon in gewisser Entfernung voneinander auf. Zur Erklärung der Wir- kung zweier geladener Stromkreise aufeinander müssen einige physikalische Grundlagen in Erinnerung gerufen werden. Die folgende Abbildung 58 zeigt die sichtbar gemachten Magnet- felder eines einzelnen Stromrings und einer Spule: Abbildung 58 Die obere Photographie zeigt in Aufsicht einen gleichstromführenden Ringleiter. Das durch den elektrischen Strom erzeugte Magnetfeld ist durch Eisen- feilspäne sichtbar gemacht. Die Magnetfeldlinien umgeben 2.1.28 Die feindlichen Verwandten (101) _____________________________________________________________ 258 den Ring in exzentrischen Kreisen. Dadurch entsteht in- nerhalb des Ringes ein Gebiet linearer Feldlinien. Die Richtung der Magnetfeldlinien resultiert aus der Stromrich- tung. Rechtsschraubenregel: fließt in dem sichtbaren Teil- stück des Ringes der Strom von unten nach oben, so zeigen die Magnetfeldlinien im linearen Gebiet nach links. Im unteren Bild ist der Stromring durch eine stromführende Spule ersetzt. Dadurch erhält man näherungsweise das homogene Magnetfeld eines Stabmagneten mit Nord- und Südpol an den Enden der Spule. Pohl, Bd. 2, S. 2; S. 56-59 Jeder stromdurchflossene elektrische Leiter hat ein eigenes Ma- gnetfeld, dessen magnetische Feldlinien ihn kreisförmig umge- ben. Dadurch bildet sich innerhalb eines gleichstromführenden Drahtrings ein teilweise lineares Magnetfeld aus, welches senk- recht zur Ringfläche steht, wie der obere Teil der Abbildung 58 zeigt. Im unteren Teil ist das Magnetfeld mehrerer schrauben- förmig hintereinandergeschalteter Stromringe, also einer strom- durchlaufenen Spule, zu sehen. Innerhalb der Spule bekommt man einen größeren Bereich geradliniger Feldlinien als im Ring. Für sehr eng gewickelte Spulen kann man sogar homogene Magnetfelder erzeugen. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß die Feldlinien nicht nur geradlinig verlaufen, sondern auch gleichen Abstand haben. Versucht man nun zwei Stromringe einander anzunähern, so wirken abstoßende oder anziehende Magnetfeldkräfte in Abhän- gigkeit davon, in welcher Richtung sie vom Strom durchflossen werden. Zeigen die Magnetfeldlinien der beiden Stromkreise in dieselbe Richtung, tritt Abstoßung auf, im umgekehrten Fall erhält man Anziehung. Im einzelnen kommt es auf die Überlage- rung der beiden Magnetfelder an. Während die besagten Gummibälle sich gegenseitig nur absto- ßen können, zeigen die beiden Stromringe Anziehung oder Ab- stoßung. Ganz ähnlich jedoch wie bei den elastischen Bällen kommt es erst bei sehr kleinen Abständen zwischen den beiden Ringen zu großen Kraftwirkungen. Für größere Entfernungen ist die Kraftfeldwirkung zu vernachlässigen. Der Stromringvergleich Ulrichs macht besonders auf die starken Gefühlseinwirkungen aufmerksam, die bei körperlicher Nähe - aber noch nicht Berührung - auftreten können. Das bestätigt auch der Schluß des Kapitels. Dort wird vom Erzähler noch ein weiterer schöner Vergleich mit magnetischen und elektrischen Phänomenen vorgeführt. Als Ulrich und seine Cousine Diotima gerade anfangen, sich ihrer körperlichen Anziehung in dem kleinen Raum der Zofe bewußt zu werden, heißt es im Roman: 2.1.28.1 Elastische Bälle und elektrische Stromkreise _____________________________________________________________ 259 ... Aber in seiner Gänze als Geschehnis wirkte es doch lebhaft auf sie, daß ihr Vetter alles das mit ei- nemmal gerade in dieser Kammer, wo sie allein wa- ren, zu ihr sagte und sich dabei nicht die kleinste ge- wöhnliche Mühe gab, ihre Hand zu fassen oder ihr Haar zu berühren, obgleich sie die Anziehung, die die Körper auf einander in dieser Enge ausübten, wie ei- nen magnetischen Strom spürten. - ... Er kam ihr wie ein ungezogener Bruder vor, in dessen Gesellschaft man treiben könnte, was man wollte. ... Dennoch ahn- te ihr dabei etwas von der Möglichkeit, diesen Mann zu lieben; ... Und obgleich sie annahm, daß sie natür- lich mehr davon ahne als er selbst, begannen, wie sie vor ihm stand, ihre Beine heimlich zu glühen ... (S. 476-477) Liest man hier den magnetischen Strom als magnetischen Kraft- fluß, der die Stärke eines magnetischen Kraftfeldes angibt, so würde man annehmen, daß die Körper der beiden Protagonisten durch Nähe und Affektion gleichsam von einem magnetischen Kraftfeld erfaßt werden, wobei die Magnetlinien des männlichen und weiblichen Körpers in entgegengesetzte Richtung zeigen, und es deshalb zu starker Anziehung kommt. In einer zweiten mehr metonymischen Lesart könnte man den magnetischen Strom als Kraftwirkung der magnetischen Felder eines elektrischen Stroms verstehen, von dem beide in derselben Richtung durchlaufen werden. Dann üben die beiden 'Strom- leiter' nach den Regeln, die vorher erläutert wurden, ebenfalls eine starke Anziehung aufeinander aus. Danach wären Diotima und Ulrich durch Affektion und körperliche Nähe wie von einem elektrischen Strom durchflossen, und ihre Körper erführen durch die induzierten Magnetfelder eine starke Anziehung. Die abschließende Metaphorik des "Glühens der Beine" Dioti- mas fügt sich wunderschön in die vom Erzähler bereits benutzten Bilder elektrischer Phänomene. Die durch die sinnliche Situation hervorgerufenen blutdurchfluteten Beine Diotimas entsprechen dann Stromleitern, die plötzlich, von übergroßem elektrischen Strom durchflossen, rotglühend werden. 2.1.29 Die Versuchung (103) _____________________________________________________________ 260 2.1.29 Die Versuchung (103) 2.1.29.1 Nicht Herr im eigenen Haus Ulrich und Gerda bleiben im Haus des Bankdirektors Fischel und seiner Frau Klementine, Gerdas Eltern, allein zurück. Zwi- schen beiden, die ein sehr freundschaftliches aber sexuell eigen- artiges Verhältnis haben, beginnt eine Unterhaltung, in der je- doch Ulrich hauptsächlich 'gelehrte Vorträge' hält, vielleicht mit der Absicht, Gerda als gebildeter Mann zu imponieren. Es kommt aber erst in dem späteren Kapitel 119 Kontermine und Verführung zu einem sexuellen Erlebnis zwischen Ulrich und der etwa 10 Jahre jüngeren Gerda, wenn auch nicht in der von bei- den geplanten Form. Dieses letztere Kapitel soll zunächst teil- weise behandelt werden. Renner kommentiert es folgendermaßen: Schon vor dieser Erzählpassage heißt es an einer Stelle 'daß jeder Mensch ein Tier habe, mit dem er auf unerklärliche Weise zusammenhänge', dementsprechend ist die gesamte Darstellung dieser sexuellen Begegnung von einem Spiel der Metaphorik von Tier und Mensch bestimmt. Gerda wird an einer Stelle als Fisch geschil- dert, ... Der konventionalisierte Ablauf der sexuellen Begegnung ist tierhaft und als Zwang zugleich gezeigt, seine minuziöse Beschreibung wird an jeder Stelle verfremdet und von unbewuß- ten Wunschphantasien durchkreuzt.310 Davon läßt sich im benannten Kapitel oder auch vorher nichts auffinden. Die von Renner zunächst zitierte Textstelle des vor- hergehenden Kapitels So töte ihn doch ist aus dem Zusammen- hang gerissen. Sie gilt für Walter, nicht für Ulrich, und hat wenig zu tun mit der auf Sexualität bezogenen Metaphorik von Mensch und Tier. Der Erzähler sagt dort: Denn Walter hatte immer Glück gehabt mit Men- schen; selbst im Streit wurden sie von ihm angezogen, und er von ihnen, ... Es fiel ihm ein, daß es Menschen gibt, die Vögel anlocken; die Vögel fliegen gern zu ihnen hin, und solche Menschen haben oft selbst etwas Vogelhaftes in ihrem Ausdruck. Es war über- haupt seine Überzeugung, daß jeder Mensch ein Tier habe, mit dem er auf unerklärliche Weise zusammen- hänge. ... und schon seit seiner Kindheit stand es fest, daß sein Tier Fische seien. (S. 611) 310 Renner Die postmoderne Konstellation S. 127 2.1.29.1 Nicht Herr im eigenen Haus _____________________________________________________________ 261 Gerda wird auch nicht als Fisch geschildert, wie der ent- sprechende Text Musils sofort zeigt: Bei diesem Stand der Dinge trat Ulrich, der ihre Qual und die Gefahr bemerkte, daß alles zunichte werden könnte, was mit so viel Überwindung bis hierher gefördert worden war, auf sie zu und löste ihr Achselband. Gerda schlüpfte wie ein Knabe ins Bett. Ulrich sah einen Augenblick lang die Bewegung eines nackten jungen Menschen; es hatte mit Liebe nicht mehr zu tun wie das Aufblinken eines Fisches. (S. 621) Wie Renner weiterhin diesen von Musil höchst empfindsam und komplex dargestellten vergeblichen Versuch der beiden, der schließlich in einen hysterischen Anfall Gerdas mündet, zu einer körperlichen Vereinigung zu kommen, als konventionalisierten und tierischen Ablauf der sexuellen Begegnung auffassen kann, ist unbegreiflich. Ein Textbeispiel soll dies zeigen: ... aber sie suchte nach Worten, um zu sagen, daß sie keinen Vorteil wolle, sondern nur sich schenken; die- se Worte fand sie nicht, sie sagte zu sich: "Es muß sein!" und öffnete den Kragen ihres Kleides. Ulrich hatte sie losgelassen; er brachte es nicht über sich, den zarten Beistand der Liebe beim Entkleiden zu leisten, stand abseits und warf seine eigenen Klei- der ab. Gerda gewahrte den schlank aufgerichteten mächtigen Körper des Mannes in seinem Gleichge- wicht von Gewalttätigkeit und Schönheit. Erschreckt wurde sie gewahr, daß sich ihr eigener Körper, ob- gleich sie noch in Unterkleidern dastand, mit einer Gänsehaut überzog. Wieder suchte sie nach Worten, die ihr helfen sollten; sie stand allzu jämmerlich da! (S. 621) Bei Renner heißt es weiter: ... die Schilderung des weiblichen Körpers, die diesen als Objekt, als Untersuchungsgegenstand, als Ort unkontrollierbarer Reaktionen, als zerstückelt in Haut und Härchen, oder als leichenhaft, als 'Fleisch' erscheinen läßt. Die Bewegung, die Mann und Frau aufeinander zu machen, wird als Eindringen und als Kampf beschrieben, obwohl es of- fenbar nicht zu einer tatsächlichen Vereinigung kommt (Renner Die postmoderne Konstellation S. 127). All dies läßt sich ebenfalls in dem angesprochenen Kapitel nicht nachweisen, wie einige beispielhafte Zitate im folgenden zeigen sollen: 2.1.29 Die Versuchung (103) _____________________________________________________________ 262 Er beugte sich hinab und bedeckte es (Gerdas Gesicht) mit den rücksichtslosen Küssen, die das Fleisch in Bewegung setzen. Gerda stand willenlos auf und ließ sich führen. Es waren ungefähr zehn Schritte, die sie bis in Ulrichs Schlafzimmer zurück- zulegen hatten, und das Mädchen stützte sich auf, wie ein schwer Verwundeter oder Kranker. Fremd kam ein Fuß vor den anderen, obgleich sie sich nicht schleppen ließ, sondern freiwillig ging. Eine solche Leere trotz solcher Erregung hatte Gerda noch nicht erlebt; sie meinte, ihr Blut habe sie verlassen, es war ihr eiskalt, sie kam an einem Spiegel vorbei, der ihr Bild in viel zu großer Entfernung zu zeigen schien, trotzdem bemerkte sie darin, daß ihr Gesicht kupfer- rot war, mit blassen Flecken. (S. 620-621) ... Er glaubte zu erraten, daß Gerda sich entschlossen habe, ein Geschehnis so rasch wie möglich zu über- stehen, das nicht mehr zu vermeiden war, und noch nie war es ihm so klar geworden wie in der Sekunde, wo er ihr folgte, wie sehr das leidenschaftliche Ein- dringen in einen fremden Körper eine Fortsetzung der kindischen Neigung für heimliche und verbreche- rische Verstecke ist. Seine Hände stießen auf die noch immer von Angst gerauhte Haut des Mädchens, und er selbst fühlte sich erschreckt statt hingezogen. (S. 621-622) Renner schließt seinen Kommentar zu diesem Kapitel folgender- maßen: Dieser unaufhörliche Prozeß der Gefühlsvernichtung hat auch hier eine surrealistische Komponente, von 'Dämonen der Lust' ist die Rede und der Hinweis auf 'Lustmord' und 'Lust- selbstmord' eröffnet einen Einbruch unbewußter Reaktionen, die nicht kontrollierbar sind.311 Davon kann wieder keine Rede sein, denn die zitierten Worte finden sich entweder gar nicht in Musils Text oder besagen im Zusammenhang betrachtet etwas ganz anderes. Wir geben die wahrscheinlich angesprochenen Textstellen zusammenhängend wieder: ... was er tat, kam ihm völlig sinnlos vor, und er würde am liebsten die Flucht aus dem Bett ergriffen haben, ... So kam es, daß er sich in verzweifelter Eile alles einredete, was es heute an allgemeinen Gründen gibt, um sich ohne Ernst, ohne Glauben, ohne Rück- sicht und ohne Befriedigung zu betragen; und er fand darin, daß er sich dem ohne Widerstand überließ, zwar nicht die Ergriffenheit der Liebe, wohl aber eine 311 Renner Die postmoderne Konstellation S. 127 2.1.29.1 Nicht Herr im eigenen Haus _____________________________________________________________ 263 halb verrückte, an ein Gemetzel, einen Lustmord, oder wenn es das geben kann, einen Lustselbstmord erinnernde Ergriffenheit von Dämonen der Leere, die hinter allen Bildern des Lebens zuhause sind. (S. 622) Dagegen stimmt Meisels Einschätzung der sexuellen Zusam- menkunft Ulrichs mit Gerda vollständig mit unserer Lesart überein. Er schreibt: Zu welch erotischen Katastrophen es kom- men kann, wenn ein Mensch, der - zumindest zeitweise - mit sei- nem Körper übereinstimmt, auf einen trifft, der über diese ideale Fusion nicht verfügt, zeigt Musil am Modell Ulrich - Gerda. ... Was sich zwischen der verschleiert erscheinenden und vom "Es muß sein!" getriebenen Gerda und dem von Lust und Abscheu gleichermaßen ergriffenen Ulrich abspielt, ist alles andere als das klassische Szenario einer Verführung. ... Lust und Opferbe- reitschaft, Angst und Wollust, Projektion und Wirklichkeit - das klassische Tableau der weiblichen Hysterie ist damit vollständig angelegt. ... Die Diagnose für Gerdas Symptom - das selbst dem sonst um keine Antwort verlegenen Ulrich312 nicht nur seinen ohnehin wenig ausgeprägten Hang für das Handeln, sondern die Sprache verschlägt - ist bei Freud in aller Klarheit nachzulesen. ... Musils Interesse geht über die bloße Darstellung dieser Symptome hinaus. Es gilt der Frage nach der Möglichkeit einer Identität vom Menschen mit seinem Körper, wie sie Gerdas Ent- setzen über die "Empörung ihres Körpers gegen sie selbst" scheinbar widerlegt. ... Weil das Ich nicht Herr im eigenen Haus ist, vermag Gerda sich im Hause des etymologisch und als Per- sönlichkeit unmaskierten nackten "Herren im eigenen Hause" nicht souverän über die empörende Weigerung ihres Körpers gegen sich selbst hinwegzusetzen. Die gegensätzlichen Regun- gen, die Einsicht Gerdas in Ulrichs falsches Spiel und ihr gleichzeitiger Wunsch, von ihm geliebt zu werden, können aber nur dann einen Kompromiß eingehen, wenn der Körper das Ich und dessen Gesetzmäßigkeiten gerade in den Augenblicken höchster Tätigkeit vorübergehend saturiert. ... Nach Lacans bekannter Gleichsetzungsformel von Gesetz und verdrängtem Trieb bedeutet diese fehlende Beaufsichtigung des Körpers durch das Ich im Fall Gerdas die zeitweilige Herrschaft des reinen Triebes nach Befriedigung ohne dabei Gefahr zu lau- fen, die Persönlichkeit kränken zu müssen. Dieses Paradoxon, den Partner lieben zu wollen, nicht aber dessen Körper, löst sich im hysterischen Krampfanfall, den die Psychoanalyse nicht 312 Was Ulrichs vorher erwähnte 'wissenschaftliche Vortragsreihe' deutlich zeigt. 2.1.29 Die Versuchung (103) _____________________________________________________________ 264 zufällig als Konversionshysterie bezeichnet. Als Koitusäquiva- lent befriedigt der Anfall die Bedürfnisse des Triebs, ohne dabei die labile Persönlichkeit des Ichs zu kränken. Die Bilanz dieser 'Verführung' vor dem Hintergrund der Musil- schen Frage, ob Menschen mit ihren Körpern übereinstimmen müssen oder können, ist ernüchternd. Nur im Ausweg des hyste- rischen Anfalls, erst in den einsamen Zuckungen eines genußlo- sen Liebessurrogats, entstanden aus der Differenz von triebhaf- ten Wünschen des Körpers und Verletzlichkeiten des Ichs, ge- langt Gerda zu einer so traurigen wie schmerzlichen Schein- identität, die Persönlichkeit heißt. (Meisel, S. 209-211) 2.1.29.2 Hysterie Da Meisel nicht wenigstens die grundsätzlichen Strukturen des hysterischen Anfalls referiert, Musil aber im Zusammenhang mit Hysterie ausdrücklich auf Freud verweist, wie später noch zu sehen sein wird (s. Nachlaßtext), soll im folgenden ein kurzer Abriß der Arbeit Freuds Allgemeines über den hysterischen Anfall313 vorgelegt werden: A) Hysterische Anfälle sind ins Motorische übertragene, pantomimisch vorgetragene Phantasien, von der Art der Tag- träume bzw. der nächtlichen Träume. Da die pantomimische Darstellung der Phantasien ebenso der eigenen Zensur unterliegt wie der Traum, läßt sich aus dem Anfall nicht unmittelbar auf die Phantasien selbst schließen. Man braucht deshalb dieselben Deutungshilfsmittel, wie sie für die Entschlüsselung der Bedeu- tung nächtlicher Träume angewandt werden. Ein Anfall wird durch Verdichtung entstellt, dabei werden gleichzeitig mehrere Phantasien vorgetragen. Der Kerninhalt beruht z.B. auf einem rezenten Wunsch oder der Wiederbelebung eines infantilen Ein- drucks. Weiterhin kann der Anfall durch mehrfache Identifizie- rung unverständlich werden. D.h. die Tätigkeit mehrerer in der Phantasie vorkommender Personen wird nachgeahmt. Drittens wird ein Anfall durch antagonistische Verkehrung entstellt. Die- se entspricht der in der Traumarbeit oft vorkommenden Ver- wandlung eines Elements in sein Gegenteil. Im Anfall werden dabei z.B. die Arme rückwärts gezogen, wenn eine Umarmung nachgemacht werden soll. Es kann auch zur Umkehrung in der Zeitfolge kommen, wenn z.B. dem Koitus vorausgehende Hand- lungen erst später dargestellt werden, und zwar als die Panto- 313 Sigmund Freud Studienausgabe in 10 Bänden Hysterie und Angst Bd. VI, Frankfurt a. Main 1971, S. 199-203 2.1.29.2 Hysterie _____________________________________________________________ 265 mime des Koitus selbst. Freud schreibt: Die beiden letztange- führten Entstellungen können uns die Intensität der Widerstände ahnen lassen, denen das Verdrängte noch bei seinem Durch- bruche im hysterischen Anfalle Rechnung tragen muß (Freud, SA, Bd. VI, S. 200). B) Das Ausbrechen eines Anfalls läßt sich nach Freud folgendermaßen verstehen. Der verdrängte Komplex besteht aus Libidobesetzung und Vorstellungsinhalt. Folglich kann der Anfall assoziativ, also durch Anknüpfung an das bewußte Leben ausgelöst werden. Er kann aber auch organisch entstehen, also aus somatischen Gründen. Es kommen außerdem primäre und sekundäre Tendenzen zur Auslösung in Frage, also als 'Flucht in die Krankheit', wenn die Wirklichkeit zu peinlich oder schreck- lich wird, oder wenn ein bestimmter, für den Kranken nützlicher Zweck erreicht werden kann. C) Aus der Erforschung der Kindheit Hysterischer weiß man, daß ein Anfall Ersatz für eine frühere autoerotische Be- friedigung sein kann. Die Befriedigung kehrt auch unter Ab- schaltung des Bewußtseins wieder (hypnoide Zustände). Der Mechanismus dabei läßt sich am sichersten bei jungen Frauen erkennen. Zunächst wird alle Konzentration auf den Befriedi- gungsvorgang gerichtet. Beim Einsetzen der Befriedigung wird diese Aufmerksamkeit aufgehoben, es entsteht momentane Be- wußtseinsleere. Diese 'Bewußtseinslücke' wird anschließend im Dienste der Verdrängung solange vergrößert, bis all das aufge- nommen werden kann, was die verdrängende Instanz eigentlich verbietet. D) Bei verdrängter Libido geschieht die motorische Ab- leitung im Anfall in Form des Reflexmechanismus' der Koitus- aktion. D.h. der Hysterische Krampfanfall ist ein Koitusäquiva- lent. Insgesamt wird bei der Frau durch den Anfall ein Teil der Sexualbetätigung wieder in Funktion gesetzt, welcher in der Kindheit vorhanden war und männlichen Charakter hatte. Freud schreibt: In einer ganzen Reihe von Fällen entspricht die hyste- rische Neurose nur einer exzessiven Ausprägung jenes typischen Verdrängungsschubes, welcher durch Wegschaffen der männ- lichen Sexualität das Weib entstehen läßt. (Freud, SA, Bd. VI, S. 203) Worauf auch Meisel nicht aufmerksam macht, ist die Tatsache, daß Gerdas Krampfanfall offenbar als antagonistische Verkeh- rung der Innervationen gesehen werden muß. Denn der Text des Romans zeigt an der Stelle deutlich, daß Gerdas Gebärden das genaue Gegenteil von dem ausdrücken, was eigentlich von ihr 2.1.29 Die Versuchung (103) _____________________________________________________________ 266 beabsichtigt war: die geschlechtliche Vereinigung mit Ulrich. Zwar scheint ihr Anfall erst mit dem Satz des Erzählers auszubrechen Aber im gleichen Augenblick begann etwas Ent- setzliches (S. 622), aber schon auf S. 621 wird eine Art Voran- kündigung beschrieben: ..., und das Mädchen stützte sich auf, wie ein schwer Verwundeter oder Kranker. ... Eine solche Leere trotz solcher Erregung hatte Gerda noch nicht erlebt; sie meinte, ihr Blut habe sie verlassen; es war ihr eiskalt, ... (S. 621) Während des erschütternden Höhepunkts des Anfalls heißt es dann: Gerda flehte um Schonung, wie es ein Kind tut, das eine Strafe empfangen soll oder zum Arzt geführt wird und keinen Schritt weiter tun kann, weil es völlig von Schreien zerrissen und gekrümmt wird. Sie hatte die Hände an die Brüste gezogen und bedrohte Ul- rich mit den Nägeln, während sie ihre langen Schen- kel krampfhaft zupreßte. (S. 622-623) Interessanterweise beschreibt Musil auch einen hysterischen Anfall eines jüngeren Manns in seiner Erzählung Der Vorstadt- gasthof (pr S. 630-634)314. Der Plot der Episode läßt sich schnell angeben. Der Mann trifft sich mit einer 'Dame' mittleren Alters in einem ziemlich merkwürdigen Vorstadtgasthof, um mit ihr zur ge- schlechtlichen Vereinigung zu kommen. Als dies jedoch gesche- hen soll, ereilt ihn ein hysterischer Anfall, welcher in gewalt- tätiger und widerwärtiger Weise darin kulminiert, daß der Frau beim Kuß die Zunge durchgebissen wird. Das Einsetzen und die allmähliche Intensivierung des Anfalls werden von Musil in erschreckender Genauigkeit geschildert. Einige Textbruchstücke daraus sollen vorgestellt werden: ... Er wußte, du sollst sie jetzt "mit Küssen bedecken". Es wurde ihm übel. ... Er fühlte in diesem Augenblick, daß es ganz unmöglich sei, einen Vogel in die Hand zu nehmen, und diese nackte Haut sollte sich an seine nackte und ungeschützte Haut pressen? (pr S. 631) "Nein," sagte der Mann, "wenn du diese zwei Wachs- stumpen ansiehst, sind sie nicht wie zwei niederge- brannte Glieder? Sie haben hier auf dich gewartet. ... 314 Die Erzählung stammt aus dem Jahre 1924 2.1.29.2 Hysterie _____________________________________________________________ 267 Und wenn du schnell machst, ist ein Knarren in mir, ja ein Knarren, ein fürchterlicher, ganz unmenschli- cher Laut wie ein Wagenrad." ... Sie begann sich ent- schlossen auszukleiden; sie war es ihrer Ehre schul- dig. Er bekam nun Angst. Ihn quälte die Vorstellung: Aufmachen! Wie ein Kinderspielzeug, bis an die Räder, die in die Räder aller anderen greifen. (pr S. 632-633) Seine Augen zerrten wie Hunde an einer Kette hin und her. ... Ein Schweigen folgte. Dann fragte er vorsichtig: "Sind die Mädchen ausgegangen, die in deinem Leib wohnten?" ... Seine Augen stürzten wie Fische im Dunkel hin und her. ... Da hob er mit der Kraft der Verzweiflung die Last hoch und küßte sie. "Was macht dein Kungfutse?" fragte er leise. ... Da seufzte der Unbekannte. Die runde Kugel der Welt rollte auf ihn. "Noch einmal!" bat er mit wankenden Knien. Und dann dauerte es lange, bis seine Zähne ganz durch ihre Zunge kamen. ... (pr S. 633-634) In Freuds oben zusammengefaßtem Aufsatz wird unter C) der Zungenbiß in direktem Zusammenhang mit dem hysterischen Anfall erwähnt. Er schreibt dort: Übrigens kann man auch den Zungenbiß bei unzweifelhafter Hysterie antreffen; er wider- spricht der Hysterie so wenig wie dem Liebesspiele; sein Auftre- ten im Anfalle wird erleichtert, wenn die Kranke durch ärztliche Erkundigung auf die differentialdiagnostischen Schwierigkeiten aufmerksam gemacht worden ist. (Freud, SA, Bd. VI, S. 202). Während Freud offensichtlich den hysterischen Zungenbiß eher den Frauen zuschreibt, wobei er wahrscheinlich den Biß in die eigene Zunge meint, beschreibt Musil ihn für einen Mann in gewalttätiger Hysterie gegen eine Frau. Musil studierte die Texte Freuds zur Hysterie sorgfältig. Dies geht zweifelsfrei aus Bemerkungen im Nachlaß hervor, die er im Zusammenhang mit Franz von Assisi macht: Menschen von heute wie Anders (Ulrich), welche mit der Wissenschaft Kontakt haben, fühlen sich durch sein (dasjenige des Franz von Assisi (1181-1226)) späteres Gehaben (nach der religiösen Erweckung) an gewisse manische Zustände erinnert, und es soll gar nicht geleugnet werden, daß sie damit Recht ha- ben. Aber was 1913 zur Geisteskrankheit wird, kann 13... (zirkuläres Irresein, Hysterie, nicht natürlich circumscripte Erkrankungen, sondern nur solche, die mit Gesundheit durchsetzt sind) eine bloße Egozentri- 2.1.29 Die Versuchung (103) _____________________________________________________________ 268 zität gewesen sein. Gewisse Geisteskrankheiten sind (bzw. die Krankheitsbilder) nicht individuelle, son- dern auch soziale Erscheinungen. Von der Hysterie hat es Freud wahrscheinlich gemacht. Den Rausch betrachtet man als eine akute Geistesstörung (seine Formen sind sozial variabel). (nl VII/6/266) Auf die Auswirkungen des Rausches macht Musil in seinen Tagebüchern aufmerksam, als er die Tanzspiele zur Heilung von Krankheiten auf Bali schildert: Die Tanzspiele haben die Aufgabe, die Götter mit den Menschen zu versöhnen. Ihr Inhalt ist gewöhnlich ein Kampf zwischen guten u. bösen Mächten. Die Dar- steller werden sehr dramatisch u. der Trancezustand greift von ihnen auf die Zuschauer über. Manchmal plötzlich u. explosiv, wie "vom Schlage getroffen, stürzt ein Teil der Tänzer aus dem klaren Dasein in einen qualvoll erscheinenden Zustand. Der Körper wird von konvulsivischen Zuckungen gepeitscht, der Blick ist starr, Schreie werden ausgestoßen". Die Krieger streben krampfhaft danach, sich mit ihrem Kris selbst zu verletzten, ohne es aber zu können. Der Kris kann unter der Wirkung der Hypnose (vergleiche Hysterie!) nur bis zur Haut gestoßen werden. Manchmal steigert es sich aber zum Amoklaufen; darum werden die Tänzer scharf überwacht. ... Die Ähnlichkeit mit dem Coitus geht aus dem physio- gnomischen Ausdruck der Bilder noch deutlicher hervor. (tg1 S. 786)315 2.1.29.3 Wahrscheinlichkeitstheorie, Statistik und Gaußfunktion Nach diesem Exkurs in das spätere Kapitel Kontermine und Ver- führung, welches allerdings im Fortgang dieser Arbeit auch nicht mehr behandelt wird, soll das oben angekündigte Kapitel Die Versuchung weiter kommentiert werden. Ulrich scheint anzustreben, Gerda durch seine gelehrten Vorträ- ge gleichsam mit Wissenschaft zu hypnotisieren. Es heißt im Roman: "... Sie erinnern sich wohl aus den Kollegs, die Sie gehört haben, wie es in der Welt zugeht, wenn man wissen möchte, ob etwas ein Gesetz ist oder nicht? 315 Der Text entstammt einem Zeitungsbeitrag Musils aus dem Jahre 1939, dessen Originaltitel Unbegreifliches Bali lautete (tg2 S. 566) 2.1.29.3 Wahrscheinlichkeitstheorie, Statistik und Gaußfunktion _____________________________________________________________ 269 Entweder man hat von vornherein seine Gründe, daß es eines sei, wie zum Beispiel in der Physik oder Chemie, und wenn Beobachtungen auch nie den gesuchten Wert ergeben, so liegen sie doch in einer bestimmten Weise um ihn herum und man berechnet ihn daraus. Oder man hat diese Gründe nicht, wie so oft im Leben, und steht vor einer Erscheinung, von der man nicht recht weiß, ob sie Gesetz oder Zufall ist, dann wird die Sache menschlich spannend. Denn dann macht man zunächst aus seinem Haufen von Beobachtungen einen Zahlenhaufen; man macht Abschnitte - welche Zahlen liegen zwischen diesem und jenem, dem nächsten und dem übernächsten Wert? und so weiter - und bildet daraus Verteilungs- reihen; es zeigt sich, daß die Häufigkeit des Vorkom- mens eine systematische Zu- oder Abnahme hat oder nicht; man erhält eine stationäre Reihe316 oder eine Verteilungsfunktion, man berechnet das Maß der Schwankung, die mittlere Abweichung, das Maß der Abweichung von einem beliebigen Wert, den Zentral- wert, den Normalwert, den Durchschnittswert, die Dispersion und so weiter und untersucht mit allen solchen Begriffen das gegebene Vorkommen." Ulrich erzählte das in einem ruhig erklärenden Ton, und es hätte sich schwer unterscheiden lassen, ob er sich selbst erst besinnen wollte oder ob es ihm Spaß machte, Gerda mit Wissenschaft zu hypnotisieren. (S. 487) Ulrichs Ausführungen sind hier derart wissenschaftlich, daß sie ohne Beispiele kaum verstanden werden können und Gerda bestenfalls durch den Tonfall als durch ihren Inhalt hypnotisieren konnten. Bevor jedoch grundsätzliche systematische Erklärungen dazu abgegeben werden, seien Musils z.T. sehr aufschlußreiche Notizen zu diesem Kapitel aus dem Nachlaß zitiert: Zu Statistik. Und doch ist Gerda auch interessiert. ... Der Unmut verleiht Gerda Sicherheit gegen Ulrich. Ulrich hypnotisiert sie mit Wissenschaft. Gerda als Bsp. der Jugend, die von dem nicht mehr humani- stisch zu Fassenden überwältigt wird. Vom Fort- 316 Es ist nicht klar, was gemeint ist. 'Stationarität' bedeutet im heutigen Sprachge- brauch: zeitliche Unveränderlichkeit. Das thermodynamische Gleichgewicht stellt z.B. einen stationären Zustand dar. Ein stochastischer Prozeß ist dann stationär, wenn seine Autokorrelationen nur von der Zeitdifferenz, nicht vom absoluten Zeit- wert abhängen (s. van Kampen, S. 54). Auch der Begriff 'Reihe' erscheint hier merkwürdig gebraucht. Mathematisch ist eine Reihe als Folge von Partialsummen definiert, im Text wird aber zunächst nur von Folgen gesprochen. Vielleicht soll unter dem Ausdruck 'stationäre Reihe' lediglich eine Zahlenfolge mit systematisch gebildeten Gliedern verstanden werden. 2.1.29 Die Versuchung (103) _____________________________________________________________ 270 schritt bleibt der Durchschnitt übrig. Als Programm dieses Kap. hieß es: Bedeutung d. Durchschnitts. Als Erklärung, Überlegenheit ... : Gott kommt es nicht auf das an, was wir tun ... Ironie der Natur: der höchste Sinn als Durchschnitt der Sinnlosigkeit. (nl I/2/28) Es soll im folgenden zunächst eine knappe Einführung in die Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik aus heutiger Sicht vor- angestellt werden317, um eine sichere Basis für die anschließende Diskussion der bereits zitierten und ähnlicher, nachfolgender Texte Musils bereitzustellen. Die allgemeinen Grundlagen dieser mathematischen Grundvoraussetzungen sind Musil bekannt gewesen. Ausgangspunkt sind Zufallsexperimente, deren Ausgänge nicht durch angebbare Gründe oder bestimmte Versuchbedingungen determiniert sind. Die Experimente sollen also zufallsabhängig sein, und unter gleichen Bedingungen - zumindest gedanklich- wiederholbar sein. Beispiele sind jedem bekannt, einige werden im Laufe dieser Arbeit untersucht. Die Wahrscheinlichkeitstheorie dient dazu, die Gesetzmäßig- keiten zu untersuchen, die bei solchen Zufallsexperimenten eine Rolle spielen. Dazu bedarf es einer mathematischen Basis, die hier für den vereinfachten Fall endlich oder abzählbar vieler Versuchsergebnisse angegeben werden soll318. Einem Zufallsexperiment ordnet man eine Menge Ω zu, deren Elemente ω die möglichen Versuchsausgänge bezeichnen. Ω heißt auch Grundraum, Stichprobenraum oder Ereignisraum. Die Versuchsausgänge nennt man auch Ergebnisse, Realisierun- gen oder Stichproben. Die Elemente von Ω können sehr einfach sein, wie z.B. der Ausgang eines Münzwurfs, aber auch sehr kompliziert, wie die Trajektorie eines Brownschen Teilchens in einem bestimmten Zeitintervall. Oft interessiert man sich nicht für den genauen Ausgang eines Experiments, sondern nur für ein gewisses Ereignis, eine Teilmenge von Ω. Man sagt, daß ein Er- eignis A eintritt, wenn ω, enthalten in A, ein beobachteter Aus- gang des Experiments ist. Beispiel: es wird 100 mal ein Würfel geworfen. Dann wäre z.B. ein Ereignis, 70 mal eine 6 zu werfen. Die Menge aller Ereignisse ist die Potenzmenge von Ω. Es kann 317 Siehe dazu ausführlicher: Ulrich Krengel Einführung in die Wahrscheinlichkeits- theorie und Statistik Braunschweig 2000, S. 1-20; S. 42-87 oder Klaus Schürger Wahrscheinlichkeitstheorie München 1998, S. 1-248 318 Die Voraussetzung diskreter Wahrscheinlichkeitsräume kann aufgegeben wer- den, wenn man das mathematische Hilfsmittel der Maßtheorie hinzunimmt. Siehe: Schürger, S. 1-222 oder Rainer Schlittgen Statistische Inferenz München 1996, S. 1-84 2.1.29.3 Wahrscheinlichkeitstheorie, Statistik und Gaußfunktion _____________________________________________________________ 271 nun ein Wahrscheinlichkeitsmaß durch die Abbildung der Po- tenzmenge von Ω auf das Intervall [0,1] gegeben werden, die jedem Ereignis A seine Wahrscheinlichkeit P(A) zuordnet. Das Wahrscheinlichkeitsmaß oder die Wahrscheinlichkeitsverteilung hat dann die folgenden Eigenschaften: sie ist normiert und addi- tiv. (Ω,P) ist ein diskreter Wahrscheinlichkeitsraum, den man als stochastisches Modell für ein Zufallsphänomen auffassen kann. Legt man gewisse weitere geeignete Axiome für Wahrschein- lichkeitsmaße zugrunde, so läßt sich zeigen, daß die relativen Häufigkeiten319, die z.B. beim Würfeln durch die Anzahl der Würfe mit dem Ereignis A, dividiert durch die Gesamtzahl der Würfe, definiert werden können, in einem gewissen Sinne gegen P(A) konvergieren, wenn die Anzahl der Experimente unbe- grenzt wächst. Für einen diskreten Wahrscheinlichkeitsraum läßt sich dies anhand des (schwachen) Gesetzes der großen Zahlen beweisen, welches im Verlauf dieser Arbeit noch besprochen wird.320 In vielen Fällen interessiert nicht unmittelbar das Ergebnis eines Zufallsexperiments, sondern eine Funktion dieses Ergebnisses, eine Zufallsvariable X(ω) und deren Verteilung PX (x) = P({ω  Ω: X(ω) = x}) . Eine Verteilung läßt sich z.B. gewinnen, indem man eine Liste der möglichen Werte xk von X anlegt, dazu die Wahrscheinlich- keiten PX(xk) ausrechnet und diese schließlich als Stabdiagramm zeichnet. Bei mehreren Zufallsvariablen ist die statistische Unabhängig- keit zu beachten, d.h. die entsprechenden Ereignisse müssen voneinander unabhängig sein. Die Variablen dürfen sich nicht gegenseitig beeinflussen. Eine der wichtigsten Rechengrößen der Zufallsvariablen ist der 'mittlere' oder der 'durchschnittliche' Wert, den man allgemein als Erwartungswert einführt. Der Erwartungswert E(X) = EX von X(ω) ist die mit den Wahrscheinlichkeiten gewichtete Sum- me aller vorkommenden Realisationen (abzählbarer Werte- bereich). Es gilt: E(X) = EX = ∑ X(ω) P(ω) = ∑ i xi P(X = xi) . ω  Ω Der Erwartungswert stellt also eine Maßzahl für den Schwer- punkt einer Verteilung dar. 319 Siehe dazu: Schlittgen, S. 3 320 Krengel, S. 56-58 2.1.29 Die Versuchung (103) _____________________________________________________________ 272 Die im folgenden zu betrachtende Varianz oder mittlere quadra- tische Abweichung bedeutet eine Maßzahl für die Streuung um diesen Schwerpunkt. Die Varianz einer Zufallsvariablen ist defi- niert als: Var (X) = E((X-EX)2) ; σX = (Var(X))1/2 , wobei σX als Standardabweichung oder Streuung bezeichnet wird. Ein häufiger und wichtiger Fall ist derjenige, daß Verteilungen durch Dichten oder Dichtefunktionen gegeben sind. Eine Dichte ist eine nichtnegative Funktion f(x) auf der Menge der reellen Zahlen, für welche gilt: ∞ ∫ f(x) dx = 1 . -∞ Die Dichtfunktion soll integrabel sein, damit das Integral defi- niert ist. Man kann dazu dann die zugehörige Verteilungsfunk- tion in folgender Weise definieren: x ∫ f(t) dt = F(x) . -∞ Die Wahrscheinlichkeit von Intervallen läßt sich anschließend durch die folgende Beziehung bestimmen: b P( ]a,b] ) = ∫ f(t) dt . a In der Praxis spielen einige dieser Verteilungen mit stetiger Zufallsvariablen eine große Rolle, u.a. die folgenden: Gleichverteilung im Intervall [a,b] Dichte f(x) = 1/(b-a); sonst f(x)=0. Exponentialverteilung Dichte f(x)=λexp( -λx) mit λ>0 für x≥0; sonst f(x)=0. (Standard-)Normalverteilung oder N(µ,σ2) - Verteilung Dichte φ(x)= [1/(σ(2π)1/2)] exp[-(x-µ)2/ (2σ2)]. 2.1.29.3 Wahrscheinlichkeitstheorie, Statistik und Gaußfunktion _____________________________________________________________ 273 Die Standard-Normalverteilung ist stets durch Erwartungswert µ (= Modalwert = Median) und Varianz σ2 festgelegt321. Sie wird später noch ausführlicher behandelt. In statistischen Fragestellungen der Praxis sind oft die Wahr- scheinlichkeiten bestimmter Ereignisse oder die Erwartungs- werte bzw. Varianzen von Zufallsvariablen nicht ohne weiteres bekannt. Man sucht dann nach geeigneten Methoden, diese Größen zu schätzen. Es wird dabei gewöhnlich von Beobachtungsreihen (Zufalls- stichproben) x = x1, ..., xn ausgegangen. Die Zufallsstichprobe ist dann die Realisierung einer n-dimensionalen Zufallsvariablen (X1, ... , Xn). Man berechnet daraus in der Regel einen Funk- tionswert: tn = gn(x1, ..., xn) , der die Realisierung einer Zufallsvariablen ist: Tn = gn(X1, ..., Xn) . Tn heißt dann Stichprobenfunktion oder Statistik. Wird sie zur Schätzung eines Parameters benutzt, so nennt man sie Schätz- funktion. Es liegt im allgemeinen nahe, solche Schätzfunktionen zu wählen, die den empirischen Gegenstücken der vorher erwähnten theoretischen Größen der Wahrscheinlichkeitstheorie entspre- chen, also die relative Häufigkeit gegenüber der Wahrscheinlich- keit oder das arithmetische Mittel gegenüber dem Erwartungs- wert.322 Beispiel: unabhängige Messungen einer Größe µ beschreibt man oft durch unabhängige Zufallsvariable X1, ..., Xn. Wenn µ dann der 'wahre' zu messende Wert ist, so soll die Verteilung derart beschaffen sein, daß die Xi in gewisser Streubreite um µ verteilt sind. Der arithmetische Mittelwert: n < X > = (1/n) ∑ Xk k=1 ist dann ein erwartungstreuer Schätzer für µ . Für die Varianz σ2 läßt sich entsprechend die folgende erwartungstreue Schätzung wählen323: n s2 = (1/(n-1)) ∑ (Xi - < X >)2 . i=1 321 Siehe dazu: Karl Bosch Großes Lehrbuch der Statistik München 1996, S. 252 ff oder Schlittgen, S. 94 ff 322 Siehe: Schlittgen, S. 191-200; Bosch, S. 325-330 323 Krengel, S. 64 2.1.29 Die Versuchung (103) _____________________________________________________________ 274 Nach diesem Exkurs in die Grundlagen der Wahrscheinlichkeits- theorie und Statistik kehren wir zurück zu Ulrichs vorher bereits zitierten Ausführungen im dmoe (S. 487). Zu betrachten ist zunächst der von Ulrich angedeutete Fall, daß physikalische, chemische oder andere Gründe dafür vorliegen, ein Gesetz für irgendeine beobachtete Ereignisfolge anzuneh- men. Als Beispiel könnte man sich vorstellen, das Energieerhal- tungsgesetz für die Pendelbewegung des mathematischen Pen- dels (siehe Abschnitt 2.1.3.2 dieser Arbeit) durch geeignete Meßreihen nachzuweisen. Da für ein Fadenpendel die Reibungs- kräfte innerhalb einer gewissen Zeitspanne keine Rolle spielen, müßte sich die Gesamtenergie der Pendelbewegung zu jedem beobachteten Zeitpunkt aus kinetischer und potentieller Energie zusammensetzen lassen, und zwar so, daß die Summe stets den- selben konstanten Wert ergäbe. In einem entsprechenden Versuch werden Pendelgeschwin- digkeit und Auslenkungshöhe für bestimmte Pendelausschläge gemessen. Hieraus läßt sich mittels der Formeln für kinetische Energie (im wesentlichen das Quadrat der Geschwindigkeit) und potentielle Energie (im wesentlichen das Produkt aus Erd- beschleunigung und Auslenkungshöhe) durch Addition der Wert für die Gesamtenergie gewinnen. Schwierigkeiten mit der Um- rechnung von verschiedenen Energieeinheiten gibt es dabei nicht, da es nur auf die Konstanz der Summe ankommt. Die ein- fachste Messung ist sicherlich die für den Durchgang durch die Ruheposition (nur kinetische Energie) oder den Maximal- ausschlag (nur potentielle Energie). Für fünfzig verschiedene Auslenkungen bestimmt man nun in dieser Weise die Gesamtenergie und findet erwartungsgemäß einen annähernd konstanten Wert. Besieht man aber die Werte in einer entsprechend angelegten Tabelle, so gleicht kein einziger Wert dem anderen exakt. Musil spricht im Nachlaß ganz zutref- fend von sog. Beobachtungsfehlern und erklärt diese, wie folgt: Wenn ich in der Physik oder Chemie eine natur- gesetzliche Tatsache beobachte, so entspricht sie nie dem Ideal, welches das Gesetz später aus ihr macht, wohl aber liegen die Beobachtungsergebnisse in ganz bestimmter Weise um einen bestimmten Wert herum, der sich als der wahre errechnen läßt. Die Abwei- chungen bezeichnen wir dann - nicht ganz grundfest - als Beobachtungsfehler. (nl I/1/25) Jede unserer Messungen (Beobachtungen) ist natürlich mit ge- wissen Meßfehlern und 'Ablesefehlern' behaftet, die sich im 2.1.29.3 Wahrscheinlichkeitstheorie, Statistik und Gaußfunktion _____________________________________________________________ 275 Endergebnis zeigen. Wir können weder die Auslenkung noch die relative Höhe des Pendelmassenpunktes exakt feststellen, son- dern werden mit gewissen Fehlern behaftete Werte bestimmen, je nach Anzeigegenauigkeit des Meßgerätes und der individuel- len Ablesung (eigentlich reine Zufallsvariable). Ähnliches gilt für die Bestimmung der Geschwindigkeit (Zeitmessung). Folglich streut der Beobachtungswert der Gesamtenergie um einen 'wahren' Wert, den wir nicht kennen und deshalb schätzen müssen. Dies ist also gerade der Fall, den wir in der obigen Ein- führung in die Statistik zuletzt besprochen haben. Wir können hier den Mittelwert und die Varianz mit den angegebenen For- meln als Schätzer benutzen und so eine erwartungstreue Schät- zung sowohl für die Gesamtenergie als auch für die Standardab- weichung bekommen. Uns steht ein beträchtlicher Zahlenhaufen zur Verfügung (50 Messungen). Dadurch erhalten wir eine recht genaue Schätzung des 'wahren' Wertes der Gesamtenergie: die Standardabweichung wird entsprechend klein. Im zweiten von Ulrich beschriebenen Fall, weiß man nicht, ob ein Gesetz vorliegt oder nicht. Man geht hier ganz ähnlich vor und macht eine Reihe von Beobachtungen oder Messungen und schaut nach, ob sich eine Folge mit systematischen Veränderun- gen bilden läßt oder charakteristische Verteilungen entstehen. Zeigt sich eine Systematik, so versucht man eine Hypothese über das Gesetz, und verwendet dann die oben beschriebene Schätz- methode oder eine ähnliche, geeignetere, um die Hypothese tat- sächlich als Gesetz nachzuweisen. Wollte man in diesem Sinne beispielsweise das Gesetz des freien Falles s = g t2/2 (siehe Ab- schnitt 2.1.20.1 der vorliegenden Arbeit) neu nachweisen, so würde man die Fallwege für ansteigende Fallzeiten messen, und dabei feststellen, daß der durchfallene Weg sehr viel schneller steigt als die Fallzeit. Folglich versuchte man als Hypothese eine höhere Potenz des Anstiegs in der Zeit, also zunächst den qua- dratischen, und könnte zum Nachweis den oben erwähnten Schätzer verwenden. Oft sind jedoch die Unterschiede bei bestimmten Beobachtungen nicht sehr groß oder erscheinen unsystematisch. Dann ist man zur Auswertung solcher Verteilungen auf geeignete Schätzfunk- tionen angewiesen (s. z.B. Schlittgen, S. 192-256). Darauf will Ulrich wahrscheinlich aufmerksam machen, wenn er von verschiedenen Streuungsmaßen spricht, z.B. vom Maß der Schwankung (Streuungsmaß bei Häufigkeitsverteilungen) oder der mittleren Abweichung (Standardabweichung), dem Maß der Abweichung von einem beliebigen Wert sowie der Dispersion 2.1.29 Die Versuchung (103) _____________________________________________________________ 276 (Varianz). Deshalb hebt er auch die unterschiedlich definierten Lageparameter einer Verteilung hervor, z.B. den Zentralwert (Median324), den Normalwert (Modalwert = absolut häufigster Wert325) oder den Durchschnittswert (arithmetisches Mittel). In zahlreichen Fällen ist die Beobachtungsgröße aus vielen un- abhängigen Zufallsvariablen zusammengesetzt, dann ähnelt die Häufigkeitsverteilung meistens einer Gaußschen Glockenkurve, und man kann sie durch die Dichte der Normalverteilung appro- ximieren. Ein Grund dafür, daß die Normalverteilung meistens eine gute Approximation darstellt, ist der Zentrale Grenzwert- satz326, den man intuitiv etwa so formulieren kann: Eine standardisierte Summe von vielen unabhängigen Zufallsvariablen, die jeweils nur einen gewissen klei- nen Beitrag zu dieser Summe liefern, ist angenähert standard-normalverteilt. Die Gaußsche Glockenkurve, also die Wahrscheinlichkeitsdichte der Standard-Normalverteilung, findet man zusammen mit der zugehörigen Verteilungsfunktion (Integral der Dichtefunktion) in der folgenden Abbildung 59: Abbildung 59 Links ist die Dichte der Normalverteilung (Gaußsche Glockenkurve) dargestellt. Sie entspricht einer Exponentialfunktion mit negativem quadratischem Expo- nenten. Die Dichtefunktion ist so normiert, daß ihr Inte- gral, die Verteilungsfunktion (rechts gezeichnet), über den gesamten Integrationsbereich gerade 1 ergibt. Die Normal- verteilung ist eindeutig durch ihren Erwartungswert µ und die Standardabweichung σ charakterisiert. Die mathemati- 324 Der Median einer Beobachtungsreihe kann folgendermaßen erklärt werden: min- destens die Hälfte der Beobachtungswerte ist kleiner oder gleich und mindestens die Hälfte größer oder gleich dem Median. Siehe Bosch, S. 24 325 Eine Verteilung kann durchaus zwei oder sogar mehrere Modalwerte haben. Siehe: Bosch, S. 19 u. S. 230 326 Exakte Formulierungen in Schlittgen, S. 179-184 oder Schürger, S. 239 ff oder Bosch, S. 291 ff 2.1.29.4 Gesetz der großen Zahlen, relative Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit _____________________________________________________________ 277 sche Form der Dichtefunktion lautet: φ(x) = [1/(σ√2π)] exp[-(x-µ)2/(2σ2)]. Handbuch d. Math., S. 662 ff; Bosch, S. 252 ff Zu beachten ist, daß die Gaußverteilung stets eine unimodale Verteilung ist, für welche zusätzlich gilt: Maximum der Glok- kenkurve = Erwartungswert = Median. Ulrich erwähnt in seinem wissenschaftlichen 'Vortrag' zusätzlich die Dispersion327. In den modernen Lehrbüchern der Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie erscheint der Begriff der Disper- sion im Deutschen nicht mehr; in der englischen Literatur bedeu- tet er soviel wie Varianz328. Viele der genannten Definitionen und Relationen hat Musil ausführlich – teilweise mit Formeln - in seine Tagebücher (tg1 S. 461-468) eingetragen. Die meisten dieser Definitionen entstam- men dem Lehrbuch von Timerding (1915), wie aus Frisés An- merkungen hervorgeht (tg2 S. 296-297). Weitere Lehrbücher, die Musil benutzt hat, sind in seinen Tagebüchern angegeben (tg1 S. 460-461). In den genannten Tagebucheintragungen wird unter den Definitionen auch die Dispersion erwähnt (tg1 S. 468, Anm. 117-119 in tg2 S. 300). Danach handelt es sich um ein geeigne- tes Mittelwertverhältnis aus Datenmengen, die statistisch nicht als vollständig unabhängig gelten können und solchen, die tat- sächlich unabhängig sind. Nimmt dieses so definierte Verhältnis näherungsweise den Wert 1 an, so wird von 'normaler Dispersi- on', für Werte deutlich kleiner 1 von 'unternormaler Dispersion' und für solche, die erheblich größer als 1 sind, von 'übernormaler Dispersion' gesprochen. 2.1.29.4 Gesetz der großen Zahlen, relative Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit Im weiteren Monolog (mit Gerda) erläutert Ulrich das schon genannte (schwache) Gesetz der großen Zahlen. Musil selbst faßt im Nachlaß das Wesen dieses Gesetzes sehr prägnant folgendermaßen zusammen: 327 Unter Dispersion versteht man in der Physik die Wellenlängenabhängigkeit der Fortpflanzungsgeschwindigkeit einer Welle. In diesen Sinne spricht man von der Dispersion des Lichtes oder des Schalls. Siehe: Pohl, Bd. 1, S. 225-228 oder DTV- Lexikon d. Physik, Bd. 2, S. 124-127 328 Siehe: van Kampen, S. 5 oder Lindsay u. Margenau, S. 168 2.1.29 Die Versuchung (103) _____________________________________________________________ 278 Das Gesetz der großen Zahlen liefert erst die Bestäti- gung, daß der Ansatz gleichmöglicher Fälle richtig ist. Die Unregelmäßigkeiten, welche die zufälligen Ereignisse in die Welt hineintragen, verschwinden im Gesamtergebnis durch das Gesetz der großen Zahlen. (nl V/5/76) Was das Gesetz der großen Zahl genannt wird: die seltsam anmutende Erscheinung, daß die Unregel- mäßigkeiten, welche die zufälligen Ereignisse in die Welt bringen, von selbst verschwinden, wenn ihrer genug sind. (nl V/5/78) Im dmoe lautet der Text, wie folgt: "Und nun gibt es" fuhr er fort "Beobachtungen, die aufs Haar so aussehen wie ein Naturgesetz, doch ohne daß ihnen etwas zugrunde läge, was wir als ein solches ansehen könnten. Die Regelmäßigkeit statisti- scher Zahlenfolgen ist bisweilen ebenso groß wie die von Gesetzen. Sie kennen sicher diese Beispiele aus irgendeiner Vorlesung über Gesellschaftslehre. Etwa die Statistik der Ehescheidungen in Amerika. Oder das Verhältnis zwischen Knaben- und Mädchenge- burten, das ja eine der konstantesten Verhältniszah- len ist. Und dann wissen Sie, daß sich jedes Jahr eine ziemlich gleichbleibende Zahl von Stellungspflich- tigen durch Selbstverstümmelung dem Militärdienst zu entziehen sucht. Oder daß jedes Jahr ungefähr der gleiche Bruchteil der europäischen Menschheit Selbstmord begeht . ..." "Man nennt das etwas schleierhaft das Gesetz der großen Zahlen. Meint ungefähr, der eine bringt sich aus diesem, der andere aus jenem Grunde um, aber bei einer sehr großen Anzahl hebt sich das Zufällige und Persönliche dieser Gründe auf, und es bleibt - ja, aber was bleibt übrig? Das ist es, was ich Sie fragen will. Denn es bleibt, wie Sie sehen, das übrig, was jeder von uns als Laie ganz glatt den Durchschnitt nennt und wovon man also durchaus nicht so recht weiß, was es ist. ... Denn wie dem auch sei, jedenfalls ruht auf diesem Gesetz der großen Zahl die ganze Möglichkeit eines geordneten Lebens; und gäbe es dieses Ausgleichs- gesetz nicht, so würde in einem Jahr nichts gesche- hen, während im nächsten nichts sicher wäre, ..." (S. 488-489) In der vorher gegebenen Einführung in die Grundlagen der Stati- stik und Wahrscheinlichkeitstheorie haben wir gesehen, daß sich das schwache Gesetz der großen Zahlen, das Ulrich hier hervor- 2.1.29.4 Gesetz der großen Zahlen, relative Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit _____________________________________________________________ 279 hebt, mit den zur Verfügung stehenden Begriffen und Axiomen der Wahrscheinlichkeitstheorie mathematisch exakt herleiten läßt. Das Gesetz wurde schon von Jakob Bernoulli gefunden. Es lautet dem Sinn nach, wie folgt329: Für sehr großes n ist die Wahrscheinlichkeit dafür, daß die relative Häufigkeit der Erfolge sich um mehr als eine beliebig vorgebbare Größe ε von der Erfolgs- wahrscheinlichkeit p unterscheidet, sehr gering. Das starke Gesetz der großen Zahlen wurde in seiner allgemein- sten Form von Andrei Nikolajewitsch Kolmogorow bewiesen. Es beinhaltet stärkere als die sog. stochastische Konvergenz, die für das schwache Gesetz gilt. Es läßt sich folgendermaßen fassen330: Bilden die X1, X2, ... eine unendliche Folge von paar- weise unabhängigen Zufallsvariablen, und existiert der Erwartungswert EXi , so konvergiert die im fol- genden angegebene Folge fast sicher gegen Null: n Zn = (1/n) ∑ (Xi - EXi) . i=1 Folglich konvergiert in einer unendlichen Folge X1, X2, ... von Zufallsexperimenten mit der Erfolgswahrscheinlichkeit p die relative Häufigkeit hn = (X1 + ... + Xn)/n der Erfolge mit der Wahrscheinlichkeit 1 gegen p. Dies läßt sich am Beispiel des Münzwurfes sehr schön nachwei- sen: geben wir der 'Kopfseite' der Münze den Wert -1, der 'Zahl- seite' den Wert +1, so ist die theoretische Wahrscheinlichkeit dafür, den Wert +1 bzw. -1 zu werfen, plausiblerweise 1/2. Da- für, daß entweder 1 oder -1 geworfen wird, natürlich 1. Prakti- zieren wir den Münzwurf, so können die gefundenen Werte ge- trennt nach negativen und positiven Werten aufsummiert wer- den. Bezeichnen wir nun die Summe (ohne Vorzeichenberück- sichtigung) aller negativen Werte mit n1 und die zugehörige Ge- samtzahl der Würfe mit n, so können wir die relative Häufigkeit n1/n nach der jeweils ausgeführten Gesamtzahl von Würfen be- rechnen und graphisch darstellen. Wir erwarten, daß die relative Häufigkeit für 'Kopf' n1/n bei genügend großem n der theoreti- schen Wahrscheinlichkeit p = 1/2 zustrebt. In der Abbildung 60 329 Exakte Formulierungen in: Krengel, S. 56-58; Schlittgen, S. 174-176 330 Siehe: Krengel, S. 153-157; Schürger, S. 196-199; Schlittgen, S. 176-177. Schlittgen weist darauf hin, daß das Gesetz auch auf empirische Verteilungsfunk- tionen anwendbar ist, so daß bei einer Folge von Stichprobenvariablen mit der theo- retischen Verteilungsfunktion F(x) und den empirischen Verteilungsfunktionen Fne(x) die Konvergenz der empirischen Funktionen gegen die theoretische vorliegt. 2.1.29 Die Versuchung (103) _____________________________________________________________ 280 ist die relative Häufigkeit für 'Kopf' gegen die Gesamtzahl der Würfe bis zu einem maximalen n=15000 aufgetragen: Abbildung 60 Die Graphik zeigt die relative Häufigkeit für das Zufallsexperiment des Münzwurfs. Aufgetragen ist die relative Häufigkeit n1/n, 'Kopf' als Ergebnis des Experi- ments zu finden, in Abhängigkeit von der Gesamtzahl der Würfe. Die relative Häufigkeit wurde mit dem Computer berechnet, wobei die Zufallszahlen +1 ('Zahl') und -1 ('Kopf') durch einen Zufallszahlengenerator erzeugt wur- den. Die Gesamtzahl der 'Würfe' wurde in Schritten von 500 erhöht. Die niedrigste Zählung geschah nach 100 Wür- fen. Es ist evident, daß die Abweichungen vom theoreti- schen Wert 1/2 mit wachsender Zahl der Würfe deutlich kleiner werden. Eigene Rechnungen 1997. Wie die Graphik zeigt, erhält man mit wachsendem n eine immer besser werdende Approximation der theoretischen Wahrschein- lichkeit 1/2 für 'Kopf'. Im Bereich von 10000 Würfen beträgt die mittlere Abweichung von der theoretischen Wahrscheinlichkeit nur noch 4,5%. Das bedeutet aber keinesfalls, daß nun in den folgenden Würfen abwechselnd 'Kopf' oder 'Zahl' mit einer Unsicherheit von nur 2% erscheint! Auch nach 10000 Würfen bleibt die Wahrschein- lichkeit dafür, 'Kopf' oder 'Zahl' zu würfeln, nur 50%. Es kann durchaus auch in den nächsten 15 Würfen nur 'Kopf' zu sehen sein.331 Berechnet wird hier allein die relative Häufigkeit. D.h. aber bei- spielsweise, daß sich deren mittlerer Abstand von der theoreti- schen Wahrscheinlichkeit bloß mit der Wurzel aus der Gesamt- zahl der Experimente verkleinert. Folglich läßt sich eine be- 331 Dazu ausführlicher und allgemein verständlich: Walter Krämer Denkste! Trug- schlüsse aus der Welt des Zufalls und der Zahlen Frankfurt a. M. 1995, S. 35-41 2.1.29.4 Gesetz der großen Zahlen, relative Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit _____________________________________________________________ 281 stimmte mittlere Abweichung nur dadurch halbieren, daß die Anzahl der Experimente vervierfacht wird. Dies wird durch die Abbildung 60 deutlich bestätigt: bei 800- 1000 Würfen beträgt die mittlere Abweichung der relativen Häufigkeit vom theoretischen Wert für Kopf ca. 8%. Nach 4000 Würfen (vierfach) hat sich die mittlere Abweichung auf ca. 4% und nach 15000 Würfen (annähernd sechzehnfach) auf ca. 2% abgesenkt, wie es nach dem genannten Wurzelgesetz zu erwarten war. Das vorliegende Ergebnis einer 8-prozentigen Abweichung im Intervall von 800-1000 Würfen stimmt auch sehr gut überein mit der von Krämer gefundenen mittleren Abweichung von ca. 10% für den Bereich von 600 Würfen bei der Approximation der theoretischen Wahrscheinlichkeit von 1/6 beim Würfelspiel332. Man beachte aber, daß für den allgemeinen praktischen Fall einer Zufallsvariablen oder einer Reihe von Zufallsvariablen die theoretischen Wahrscheinlichkeiten nicht bekannt sind, so daß diese erst durch geeignete Schätzer angenähert werden müssen. Ganz ähnlich wie das Münzwurfbeispiel sind auch alle anderen Beispiele zu verstehen, die Ulrich nennt: Zahl der Knaben- u. Mädchengeburten, Zahl der Selbstmorde, Zahl der Ehescheidun- gen, usw.. Für diese Zufallsvariablen kennt man aber die theore- tischen Werte der Wahrscheinlichkeiten nicht, sondern muß sie anhand von empirischen Verteilungen und entsprechenden Schätzfunktionen bestimmen. Am leichtesten lassen sich vielleicht die Sterbedaten durch- schauen. Es gibt sicher viele Gründe dafür, daß ein einzelner Mensch in einem bestimmten Alter stirbt. Für eine sehr große Anzahl von Todesereignissen läßt sich aber das altersabhängige Eintreten des Todes nicht mehr von einer Zufallsvariablen unterscheiden. Die Verteilung für die relative Sterbehäufigkeit hat allerdings keine einfache Form, weil die Wahrscheinlichkeit für jemanden, in einem bestimmten Jahr zu sterben, natürlich davon abhängt, welches Alter er bereits erreicht hat. Man spricht hier von bedingter Wahrscheinlichkeit. Auf der Basis solcher Verteilungen lassen sich zuverlässige Schätzungen für Wahrscheinlichkeiten anstellen, welche für alle Arten von Versicherungen notwendig sind. Im heutigen moder- nen 'Zeitalter des Normalismus' sind uns Verteilungen, Modal- werte und Mittelwerte aus den Graphiken für die unterschied- lichsten Gebiete bekannt. Keine Zeitung, die nicht mindestens 332 Krämer Denkste! S. 40, Abb. 2.2 2.1.29 Die Versuchung (103) _____________________________________________________________ 282 täglich eine derartige Grafik veröffentlicht, auch wenn es sich dabei nur um Staubsaugertests handelt. Bei allen Rechnungen dieser Art muß aber - worauf Kaizik mit Recht aufmerksam macht - stets zwischen mathematischer Wahrscheinlichkeitstheorie einerseits und der praktischen An- wendung dieser Theorie andererseits (Kaizik nennt das 'Wirk- lichkeit') unterschieden werden. Die Weiterentwicklung der Theorie erfolgt dabei sowohl durch Untersuchungen der axioma- tischen Struktur als auch durch die Ausrichtung auf entsprechen- de Fragestellungen in der 'Wirklichkeit'. Das nachfolgende Fluß- diagramm in Abbildung 61 soll diese gegenseitige Beeinflussung von axiomatischer Wahrscheinlichkeitstheorie (mathematischer Statistik) und 'Wirklichkeit' (praktische Statistik) verdeutlichen: Abbildung 61 Flußdiagramm für die Beziehungen zwi- schen mathematischer Wahrscheinlichkeitstheorie und deren Anwendung in der praktischen Statistik. Siehe: Kaizik, S. 35 Des weiteren muß vor der Fehleinschätzung gewarnt werden, Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik könnten den Zufall bzw. Zufallsvariablen oder Verteilungen begründen oder ihre 'wirkliche Bedeutung' erklären. 2.1.29.5 Kausalität, Statistik und Verteilungen _____________________________________________________________ 283 Van Kampen schreibt dazu in diesem Sinne sehr deutlich: The entire theory of probability is nothing but transforming vari- ables. Some probability distribution must be given 'a priori' on a set of elementary events; the problem is to transform it into a probability distribution for the possible outcomes, each of which corresponds to a collection of elementary events. When two dice are cast there are 36 elementary events and they are assumed to have equal 'a priori' probability; ... Mathematics can only derive probabilities of outcomes from a given 'a priori' distribution. In applications to the real world one must therefore decide which 'a priori' distribution correctly de- scribes the actual situation. In problems of gambling or balls in urns the correct choice, or at least the one meant by the author, is usually so clear that it need not be mentioned explicitly. This has led to the erroneous view that pure mathematics is able to tell the probability for actual events to occur, ... 333 2.1.29.5 Kausalität, Statistik und Verteilungen Meisel kümmert sich nicht um die Details334 des vorher zitierten Romantextes (S. 487). In seinem Kommentar heißt es: Die Di- mension dieser Darstellung vom "Gesetz der großen Zahlen" ... indiziert nicht weniger, als daß Musil den kategorialen Para- digmenwechsel des wissenschaftlichen Weltbildes am Ende des 19. Jahrhunderts im Roman folgenreich nachvollzogen hat: Kau- salität, Teleologie, Dialektik und Möglichkeitsdenken ... werden als 'Wahrheit' spätestens seit den Beiträgen des Wiener Natur- wissenschaftlers Ludwig Boltzmann von der statistischen Kon- zeption der Wahrscheinlichkeit abgelöst. (Meisel, S. 217) Zunächst die folgenden Richtigstellungen: (i) Das 'Gesetz der großen Zahlen' gibt es schon seit Jakob Bernoulli, und der lebte von 1654-1705, wie schon vorher gesagt. (ii) Detaillierte Wahr- scheinlichkeitsrechnungen wurden bereits von Francis Galton335 um 1870 angestellt. (iii) Die Frage nach der 'Kausalität' ist weder spätestens noch frühestens von Boltzmann berührt worden. Boltzmann hat vollständig im Rahmen der klassischen Physik 333 Van Kampen, S. 21 334 Anscheinend weiß Meisel nicht so recht über die statistische Mittelwertbildung Bescheid, wenn er auf Seite 203 schreibt: ... meint jenes 'System von Kunstgriffen' ... bei Bonadea, ... (das) schließlich ein statistisches Mittel von nymphomanischen Schüben und zärtlichem Mutterglück eingeht....Statistisch gemittelt werden kann erstens nur über Zahlen oder äquivalente numerische Größen und zweitens über eine hinreichend große Menge solcher Zahlen als Realisierungen einer Zufallsvariablen. 335 Ian Hacking The Taming of Chance Cambridge 1990, S. 180-188. Siehe auch: 'Galtonbrett', Handbuch d. Math., S. 660 2.1.29 Die Versuchung (103) _____________________________________________________________ 284 geforscht336, innerhalb welcher ein strenges Kausalgesetz als gül- tig angenommen wurde. Erst mit der Entwicklung der Atom- und Quantenphysik mußte die Frage nach Determinismus und Kausa- lität neu gestellt und erörtert werden337. Das folgende von Niels Bohr (1885-1962) aufgestellte Schema in Abbildung 62 kann zum Verständnis des Kausalbegriffs in quantenmechanischer und klassischer Theorie beitragen: Klassische Theorie ___________________________________________________________ Raum - Zeit - Beschreibung und Kausalität __________________________________________________ Quantenmechanische Theorie ___________________________________________________________ entweder oder ___________________________________________________________ Raum - Zeit - Beschreibung Abstraktes, mathemati- sches Schema, nicht in Raum und Zeit und (statistische und Zusammenhänge) Unbestimmtheitsrelationen, Kausalität daher Kausalprinzip nicht anwendbar Abbildung 62 Übersichtstafel zur 'Kausalität' für die klas- sische und quantenmechanische Physik. Das mathemati- sche Schema, mit dem die Quantenmechanik das atomare Geschehen beschreibt, liegt nicht in Raum und Zeit. Bei Angabe der Anfangswerte liefert die Theorie eindeutige Voraussagen. Innerhalb dieses mathematischen Ansatzes gilt strenge Kausalität. Der rein mathematische Ansatz lie- fert aber für die beobachtbaren Größen (Observablen), wie Ort, Geschwindigkeit, Strom, usw., die in Raum und Zeit liegen, lediglich statistische Aussagen (z.B. Aufenthalts- wahrscheinlichkeiten). DTV-Lexikon d. Phys., Bd. 4, S. 295. Lindsay u. Margenau, S. 515 ff. Boltzmann hat - wie an anderer Stelle dieser Arbeit bereits betont wurde - klassische statistische Mechanik betrieben, und 336 Siehe z. B.: McQuarrie, S. 68-73 337 DTV-Lexikon d. Phys., Bd. 4, S. 294-298 2.1.29.5 Kausalität, Statistik und Verteilungen _____________________________________________________________ 285 zwar für das zeitabhängige und das zeitunabhängige Verhalten des verdünnten Gases unter Anwendung der etablierten Metho- den der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die Frage nach dem Kau- salitätsprinzip stellte sich ihm nicht. Meisel macht in diesem Zusammenhang zwar auf Kaiziks Dis- sertation aufmerksam, scheint die dort übersichtlich zusammen- gestellten grundsätzlichen Erläuterungen zur Wahrscheinlich- keitstheorie und Statistik (siehe Abb. 61, S. 282 der vorliegenden Arbeit) nicht studiert zu haben. Anders ist jedenfalls nicht zu verstehen, warum in Meisels Arbeit (s. z.B. S. 219) ständig die mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie dem Kausalprinzip gegenübergestellt wird. Für die Gesetze und Ergebnisse der Wahrscheinlichkeitsrechnung gilt absolute Kausalität. Sie be- inhalten jedoch nur Aussagen über Wahrscheinlichkeiten, relative Häufigkeiten und damit verbundene Größen. In Meisels Arbeit folgen weitere Unstimmigkeiten. Wie kann, was Meisel auf S. 225 seiner Arbeit behauptet, das 'Gesetz der großen Zahlen' der Evolutionstheorie entlehnt sein, wenn Ber- noulli, auf welchen Meisel sogar noch in einer Fußnote hinweist, dieses bereits im 17. Jahrhundert formulierte, während Darwins Evolutionstheorie im wesentlichen erst Mitte des 19. Jahr- hunderts entwickelt wurde? Auf derselben Seite spricht Meisel schließlich vom 'Bildungsgesetz der wahrscheinlichen Mittel- wertbildung'. Was man sich darunter vorzustellen hat, kann nur erraten werden. Die zuvor gegebene Einführung in die Wahr- scheinlichkeitstheorie und Statistik sollte hier aber hilfreich sein. Meisel kommt im Laufe seiner Arbeit auch auf Unfallstatistiken zu sprechen und schreibt:... so schrecklich für den einzelnen die Folgen eines Verkehrsunfalls sein mögen, für die Unfallstatistik bedeutet jeder Unfall mehr einen Zuwachs an notwendiger Er- härtung der Aussagekraft bei gleichzeitigem Schwinden singulä- rer Daten und Schicksale. ... Wenn Zufall, so darf man bündig folgern, in ein Gesetz überführt werden kann, wird Unwahr- scheinliches (resp. Unschickliches und Unfälle) zunehmend zur Norm. Die Konsequenzen dieser 'fortschrittlichen' Entwicklung leuchten unmittelbar ein: "Mittelwertbildung ist gleichbedeu- tend mit Informationsverlust" (Meisel, S. 225). Was hier leider nur halbwahr und verwirrend vorgetragen wird, aber im Kern richtig zu sein scheint, läßt sich anhand unseres vorangegangenen Kommentars in geordneter Form verständlich machen. Welche Art von Verteilung (Häufigkeitsverteilung) innerhalb einer Unfallstatistik soll betrachtet werden? Die bloße Angabe 2.1.29 Die Versuchung (103) _____________________________________________________________ 286 irgendwelcher Zahlen über Verkehrsunfälle führt nicht zu einer Verteilung. Untersucht man aber z.B. die absolute Häufigkeit der täglichen Unfälle der Stadt Wien über mehrere Jahre in Abhän- gigkeit von der Anzahl, so findet man näherungsweise eine Gaußsche Verteilung, also ein Maximum bei einer bestimmten mittleren Anzahl und wesentlich kleinere Werte bei sehr geringer bzw. sehr hoher Anzahl. Je größer die Gesamtzahl der entspre- chenden Unfälle ist desto genauer kann man die Verteilung bestimmen. Der Zufall läßt sich aber nicht in ein Gesetz überführen, wie Meisel glaubt, er unterliegt ja gerade keiner Gesetzmäßigkeit, keiner Berechenbarkeit! Man kann jedoch - wie wir gesehen haben - auf der Grundlage von Verteilungen, in denen die einzel- nen Zufallswerte keine Rolle mehr spielen, die mathematischen Gesetze, Relationen und Transformationen der Wahrscheinlich- keitsrechnung anwenden. Eine der am häufigsten vorausgesetz- ten Wahrscheinlichkeitsdichten, ist die vorher bereits besproche- ne Gaußsche Glockenkurve (s. Abb. 59, S. 276). Sie gilt für alle biologischen Zufallsprozesse (z.B. Gewichts- oder Körpergrö- ßenverteilung beim Menschen) und hat generelle Bedeutung für die Statistik, worauf schon hingewiesen wurde. Keineswegs wird also 'Unwahrscheinliches' zur 'Norm', wie Mei- sel sagt. Aus einer Verteilung läßt sich jedoch leicht entnehmen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein bestimmtes Ergebnis zu er- warten ist. 2.1.29.6 Kinetische Gastheorie, ideales Gas und molekulare Geschwindigkeits- Verteilung Musils Protagonist Ulrich setzt anschließend für Gerda seine Ausführungen über statistische Methoden fort, indem er die Be- handlung geschichtlichen Fortschrittes in Verbindung bringt mit der kinetischen Gastheorie, einer lehrreichen Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf Probleme der molekularen Physik (s. Abschnitt 2.1.22.2). Es heißt im Roman: "Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Gerda. Nehmen wir an, daß es im Moralischen genau so zugehe wie in der kinetischen Gastheorie: alles fliegt regellos durcheinander, jedes macht, was es will, aber wenn man berechnet, was sozusagen keinen Grund hat, 2.1.29.6 Kinetische Gastheorie, ideales Gas und molekulare Geschwindigkeits-Verteilung _____________________________________________________________ 287 daraus zu entstehen, so ist es gerade das, was wirk- lich entsteht! Es gibt merkwürdige Übereinstimmun- gen! Nehmen wir also auch an, eine bestimmte Men- ge von Ideen fliegt in der Gegenwart durcheinander; sie ergibt irgendeinen wahrscheinlichsten Mittelwert; der verschiebt sich ganz langsam und automatisch, und das ist der sogenannte Fortschritt oder der ge- schichtliche Zustand; das Wichtigste aber ist, daß es dabei auf unsere persönliche, einzelne Bewegung gar nicht ankommt, wir können rechts oder links, hoch oder tief denken und handeln, neu oder alt, un- berechenbar oder überlegt: es ist für den Mittelwert ganz gleichgültig, und Gott und Welt kommt es nur auf ihn an, nicht auf uns!" (S. 491) Dazu fügt sich ein wörtlicher Auszug aus einem Aufsatz Erwin Schrödingers338, den Musil in seinen Tagebüchern notierte: Ich lese - nach Abschluß des I Bdes. MoE. - in Der Koralle (Dez. 1929) eine Plauderei von Erwin Schrö- dinger Mitgl. d. Preußischen Akademie d. Wiss.339 über das "Gesetz der Zufälle". Danach ist die Frage Kausal- oder statistisches Gesetz jetzt sehr aktuell. In seiner Ausdrucksweise (vielleicht allzusehr nach dem Entropiesatz orientiert?) lassen sich "die .. phy- sikalischen u. chemischen Gesetzmäßigkeiten .. unter ein allgemeineres Gesetz bringen, nämlich dieses: bei jedem physikalischen oder chemischen Vorgang fin- det ein Fortschreiten von verhältnismäßig wohlge- ordneten Zuständen der Atom- u. Molekülschwärme zu weniger geordneten statt, ein Fortschreiten von der Ordnung zur Unordnung, ... Die exakten Gesetze, die wir dabei beobachten, sind 'statistische Gesetze', wie sie an jeder Massenerscheinung umso deutlicher hervortreten, je größer die Zahl der Einzelindividuen ist, und zwar auch dann, ja gerade dann, wenn das 338 Erwin Schrödinger, 1887-1961, österreichischer Physiker, entwickelte die Wel- lenmechanik für die atomare Theorie, und stellte die nach ihm benannten fundamen- tale Wellengleichungen auf. Die sog. stationäre Schrödinger-Gleichung hat zwar die scheinbar simple Form: H ψ = E ψ, wobei H den sog. Hamiltonoperator, E die Gesamtenergie und ψ die Wellenfunktion bezeichnet, aber das Verständnis der Gleichung bedarf sehr vieler Grundkenntnisse in der Wellenmechanik, die hier nicht angefügt werden können. Es sei aber angemerkt, daß es sich dabei um eine sog. Eigenwertgleichung handelt, deren Energieeigenwerte En und deren Eigenfunktio- nen ψn(x,y,z) bestimmt werden. Ausführliches findet sich in den Lehrbüchern: Messiah, Bd. 1, S. 62-74; Fließbach, Bd. 3, S. 3-89; Bergmann-Schaefer, Bd. 4, Berlin 1992, S. 14-30 339 Man beachte, daß Musil die Preußische Akademie der Künste als Akademie von Dünkelshausen bezeichnet! (tg1 S. 677) 2.1.29 Die Versuchung (103) _____________________________________________________________ 288 Verhalten des einzelnen Individuums nicht streng determiniert, sondern undeterminiert, 'zufallsbe- stimmt' ist. ... Nach der Auffassung des Physikers beruht darauf die sehr ausgesprochene einseitige Richtungstendenz aller Naturvorgänge. Wenn aus einem Anfangszustand als Ursache ein Folgezustand als Wirkung hervorgeht, so ist der letztere (nach Aussage der Molekularphysik) stets der untergeord- nete (siehe Kommentar!) u. stets genau derjenige, der bei völliger Zufälligkeit des Einzelgeschehens mit erdrückender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. So ergibt sich das Paradoxon, daß vom Standpunkte des Physikers die Wurzel der Kausalität der Zufall ist." (tg1 S. 524-525) Dieser letzte Text wird in der Form mehrfach zitiert340. Frisé vergleicht sogar den Tagebuchtext akribisch mit dem Original- text der Zeitschrift Koralle (s. Anm. 454 in tg2 S. 347-348). Man fragt sich jedoch, was der Sinn eines solchen Unterfangens sei, wenn dabei nicht bemerkt wird, daß schon der Originaltext einen sinnentstellenden Druckfehler aufweist. Im vorletzten Satz muß es stets der ungeordnetere heißen an Stelle des verdruckten stets der untergeordnete. Warum Musil selbst diesen üblen Druckfeh- ler in seinem Tagebuch nicht korrigiert hat, ist nicht ganz klar. Immerhin finden sich im Nachlaß an mehreren Stellen Inhalts- angaben des betreffenden Textauszugs, die diese Sinnentstellung vermeiden! Eine dieser Inhaltsangaben des Schrödinger-Textes trägt Musils Protagonist Ulrich vor und behauptet gleichzeitig, diese Einsichten von einem Studienfreund übernommen zu ha- ben. Vergleicht man die Geburtsdaten von Musil und Schrödin- ger, so könnte durchaus ein Kontakt während der Studienzeit bestanden haben. Im folgenden soll die Einleitung der besagten Zusammenfassung des Schrödinger-Artikels zitiert werden, in der keineswegs von 'untergeordneten' Zuständen die Rede ist: Man hat gesagt, daß die ganze Festigkeit des wirt- schaftlichen und staatlichen Lebens auf diesem Ge- setz (der großen Zahlen) beruhe; es ist aber wohl gar kein Gesetz, sondern einfach der Ausdruck beständi- 340 Bouveresse wird ebenfalls nicht auf den im Text enthaltenen Druckfehler auf- merksam, so daß man ihn dort auch in französischer Sprache lesen kann (siehe Bouveresse, S. 205). Auch Meisel (S. 139) zitiert unbesehen diese Tagebuchtextstel- le und vergleicht sie mit einer anderen. Was er damit aber zeigen möchte, wird nicht gesagt. Meisels weitere Behauptung, Musil sei vor allem am anthropomorphen Aspekt dieses Gesetzes interessiert gewesen, ist nicht richtig. Dagegen spricht z.B. die anfängliche Bemerkung Musils, welche Meisel in seinem Zitat vorsorglich wegläßt. 2.1.29.6 Kinetische Gastheorie, ideales Gas und molekulare Geschwindigkeits-Verteilung _____________________________________________________________ 289 ger, wenig sich verändernder Verhältnisse. U. wußte auch von einem paradoxen Gegenstück dazu. Ein Genosse seiner Studienzeit, dem eine große Zukunft bevorstehen sollte, hatte ihm diesen Gedanken aus- einandergesetzt; es geschah im Zusammenhang mit den neuen atomaren Theorien der Natur, die damals noch in den Anfängen waren. Er vermutete, daß bei jedem physikalischen oder chemischen Vorgang ein Fortschreiten von verhältnismäßig wohlgeordneten Zuständen der Atom- und Molekularschwärme zu weniger geordneten stattfände; ... (nl V/5/78) Auf das Wesen dieser Ergebnisse moderner Physik dürfte sich auch ein Text des zweiten Buches des Romans beziehen, den auch Bouveresse im Sinne des unberechenbaren Verhaltens der Natur hervorhebt341. Musil schreibt dort: Und vielleicht ist selbst das Wort Naturgesetz ... noch ein viel zu persönlicher Ausdruck; Gesetze haben et- was von dem persönlichen Verhältnis eines Angeklagten zu seinem Richter oder eines Untertanen zu seinem König, sie haben etwas von contract sozial u beginnendem Liberalismus an sich. Die neuere Auf- fassung der Natur hat aber schon Nietzsche bemerkt als er schrieb: "Die Natur hat einen berechenbaren Verlauf, nicht weil Gesetze in ihr herrschen, sondern weil sie fehlen u. jede Macht in jedem Augenblick ihre letzte Konsequenz zieht." Das ist ein Wort, das zu den Vorstellungen der heutigen Physik paßt, erst recht aber auf das biologische Geschehen gemünzt war, u. eine Ahnung solcher Gefühle liegt über dem heutigen Leben. ... daß dieses Chaos auf eine ähnliche Weise wie das der Atombahnen schließlich doch einen bestimmten Wert ergebe, u. daß man mit der genaueren Kenntnis des Zusammenhangs auch wieder einen Sinn des Lebens haben werde. Das ist ungefähr der Sinn des Übergangs vom Individualismus zum kollektivistischen Weltbild / Weltaufgabe / (wobei keine Rede davon ist, daß der Wert der Persönlichkeit aufhöre, sie wird nur eine genauere Bewertung erhalten.) (S. 1440-1441) Meisel nimmt diesen letzteren Text zum Anlaß für die folgenden Bemerkungen: Wenn die Wahrscheinlichkeit sämtliche Erschei- nungsweisen von Kultur und Natur, von Organischem und Anor- 341 Bouveresse, S. 55-57 2.1.29 Die Versuchung (103) _____________________________________________________________ 290 ganischem, von Individuellem und Kollektivem unter ihr Gesetz zwingt, dann öffnen sich sowohl in der Rückschau auf das erste Buch als auch auf das geplante Ende des zweiten und dritten Buchs des 'Mann ohne Eigenschaften' gänzlich neue Perspekti- ven. ... all dies läßt sich nach der nun gewonnenen Leitkategorie der Wahrscheinlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes ermessen (Meisel, S. 250). Es erscheint hier ganz unklar, was unter 'die Wahrscheinlichkeit' verstanden und unter welches Gesetz das Genannte gezwungen werden soll, wenn doch ausdrücklich im Text steht, daß Gesetze fehlen. Außerdem ist die Wahrscheinlichkeit weder eine Katego- rie noch trägt sie irgend eine Bedeutung, wenn man nicht sagt, worauf sie sich beziehen soll. Man sieht, wie wichtig die zu Beginn des Abschnitts zusammengestellte Einführung in die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik ist, auf die in diesem Zusammenhang noch einmal verwiesen werden soll. Kommen wir zurück zu den vorher zitierten Äußerungen Ulrichs (S. 491) über die Verbindung von historischer Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und der im dmoe-Roman mehrfach erwähnten kinetischen Gastheorie342. In der Literaturforschung wird häufig auf diese dmoe-Texte Bezug genommen, wobei man allem Anschein nach die kinetische Theorie der Gase als bekannt voraussetzt. Meisel spricht beispielsweise in großer Breite von Begriffen wie Entropie, Mikro- und Makrozustand usw., erläutert aber nicht ansatzweise diese Theorie343. Honold beschäftigt sich ebenfalls mit den angeführten Texten, erwähnt auch die kinetische Gas- theorie, erörtert aber nicht die elementarsten Grundlagen dazu. Immerhin bemerkt er, daß man nach der Vergleichbarkeit von kinetischer Gastheorie und der von Musil im Tagebuch344 er- wähnten 'kinetischen Geschichtstheorie' fragen sollte. Er schreibt: ... (Dies Modell) löst ein an der Brownschen Moleku- larbewegung orientiertes thermodynamisches Modell ab, das raumzeitlich bestimmte Positionen und deren Veränderung nur als Wahrscheinlichkeitswerte zu beschreiben erlaubt. ... Inwie- fern aber die thermodynamische Relativierung der klassischen 342 Musil scheint ein sehr guter Kenner dieser Theorie gewesen zu sein, denn er nennt sie auch in den Tagebüchern: Weltbild: Eine bestimmte Menge Ideen grup- piert sich zu wahrscheinlichsten Mittelwerten wie in der kinetischen Gastheorie. Es ist ganz gleich, was man tut und propagiert, es kommt doch der Mittelwert heraus. (tg1 S. 633) 343 Meisel, S. 249-256 344 Siehe: (tg1 S. 637); vergleiche auch mit den Abschnitten 2.2.6.1 und 2.2.6.2 der vorliegenden Arbeit 2.1.29.6 Kinetische Gastheorie, ideales Gas und molekulare Geschwindigkeits-Verteilung _____________________________________________________________ 291 Mechanik geeignet ist, Musils Ausgangsproblem der Geschichts- darstellung des Vorkrieges in eine neues Licht zu rücken, kann mit Hilfe seines eigenen Postulats einer "kinetischen Geschichts- theorie" verdeutlicht werden, ... Die Übertragung des thermo- dynamischen Modells auf gesellschaftliche Verhältnisse, oder mit Ulrichs Worten, auf das Moralische, reduziert den Bereich historischer Prozesse freilich nicht auf die zwei thermodynami- schen Hauptsätze. ... Die griffige Formel: "kinetische Ge- schichtstheorie" ist, im Sinne einer Metapher, Übertragung per analogiam, die Vergleichbares am differenten Modell gewinnt, also eine Beziehung der Ähnlichkeit und nicht der Ableitbarkeit herstellt. Worin aber besteht die Vergleichbarkeit?345 Honold versucht dann, diese Vergleichbarkeit irgendwie herzustellen und mißversteht dabei die Intention Musils346. Auf die nahelie- gende operationale Übertragbarkeit, die auf den elementarsten Grundlagen der kinetischen Gastheorie (s. Abschnitt 2.1.22.2) beruht, kommt er nicht. Honolds Mißverständnis der angeblichen 'Metaphorik' Musils entspringt schon aus seiner ganz unglücklich zusammengesetzten Terminologie, welcher er sich im gesamten zitierten Textabschnitt bedient. 347 Die Thermodynamik stellt eine phänomenologische physikali- sche Betrachtungsweise der Zustände und Zustandsänderungen von Gasen, Flüssigkeiten und Feststoffen dar. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Als solche hat sie zunächst nichts zu tun mit den molekularen dynamischen Vorgängen in Gasen, Flüssig- keiten, usw.. Entsprechend hat ein molekulares (mikrosko- pisches), dynamisches Modell, wie das der Brownschen Moleku- larbewegung, primär nichts zu schaffen mit einer phänomenolo- gischen Beschreibung. Spricht man nun von molekularen, kineti- schen (dynamischen) Theorien der Gase (die Brownsche Mole- kularbewegung gehört eigentlich nicht dazu, denn sie bezieht sich auf Flüssigkeiten und dichte Fluide), und um solche geht es 345 Honold Die Stadt und der Krieg S. 81-82 346 An anderer Stelle bezeichnet Honold den Ausdruck "kinetische Geschichts- theorie" als 'phantasievolle Formel' ohne auch nur andeutungsweise verstehen zu wollen, was von Musil damit bezeichnet wird. Statt dessen umkreist er in ganz allge- meiner Weise den Kern des Musilschen 'Ansatzes': ... Die phantasievolle Formel benennt das Desiderat einer Erweiterung des historischen Reflexionsniveaus um die Kategorie des Zufalls und die Disziplinen zur Erforschung seiner Gesetze, Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie, deren zeitgenössischer Diskussionsstand Musil durchaus geläufig war. (Honold Die Stadt und der Krieg S. 324) 347 So heißt es auf S. 82: Diese Orientierung in Raum und Zeit ... war im thermody- namischen Mikrobereich durch Berechnung bloßer Aufenthaltswahrscheinlichkeiten ersetzt worden oder auf S. 83 ...eindimensionale Kausalitätsverknüpfungen zu ver- meiden ... (Honold Die Stadt und der Krieg). Mit diesen ganz widersprüchlichen Aussagen läßt sich nicht mehr herausbekommen, was Honold gemeint haben könnte. 2.1.29 Die Versuchung (103) _____________________________________________________________ 292 in Musils Äußerungen, so meint man die theoretische Beschrei- bung makroskopischer Eigenschaften von Gasen auf der Basis der orts- und zeitabhängigen Bewegung der Moleküle. In der klassischen Physik bezieht man sich dann auf die klassische sta- tistische Mechanik und die entsprechenden molekularen Trans- porttheorien. Zu den Rechenmethoden der statistischen Mechanik gehören diejenigen der Wahrscheinlichkeitstheorie, von denen einige bereits besprochen wurden. Quantenmechanische Verallgemei- nerungen in Form von 'Unschärferelationen' und 'Aufenthalts- wahrscheinlichkeiten', wie sie für die Betrachtung inneratomare Vorgänge notwendig werden, kommen in der klassischen statistischen Mechanik überhaupt nicht vor. Die von Honold angesprochene Brownsche Molekularbewegung, bezeichnet ursprünglich die Zitterbewegung von kleinen in einer Flüssigkeit suspendierten Teilchen, nicht von Flüssigkeits- molekülen348. Die Wackelbewegungen der makroskopischen Suspensionsteilchen kommen dadurch zustande, daß sie von den sich erratisch bewegenden Flüssigkeitsmolekülen angestoßen werden. Die Dynamik der Flüssigkeitsmoleküle ist aber mit der kinetischen Gastheorie (besser: Transporttheorie) Boltzmanns nicht zu verstehen. Dafür sind andere Modellbeschreibungen nötig, die ebenfalls auf der klassischen statistischen Mechanik fußen. Ein zunächst überraschendes Ergebnis dieser Theorie der Flüssigkeiten ist z.B., daß trotz der durch den Zufall bestimmten Wackelbewegung der Flüssigkeitsmoleküle deren mittleres Verschiebungsquadrat, welches mit der makroskopisch beob- achtbaren Größe des Diffusionskoeffizienten verknüpft ist, linear in der Zeit zunimmt349. Während also die Raumkoordinaten eines Flüssigkeitsteilchens r(t) = (x(t), y(t), z(t)) zufälligen Veränderungen als Funktion der Zeit unterliegen, stellt der zeitliche Verlauf des mittleren Verschiebungsquadrates eine Gerade dar. Es gilt: ‹ r(t)2 › = ‹ x(t)2 + y(t)2 + z(t)2 › , 348 Die Brownsche Molekularbewegung ist im übrigen sehr viel früher erkannt wor- den als deren Theorie, nämlich 1827 von dem Botaniker Robert Brown. 349 Genaueres bei: Ulich u. Jost, S. 31-32; McQuarrie, p. 452 ff; Hoheisel, S. 193 ff 2.1.29.6 Kinetische Gastheorie, ideales Gas und molekulare Geschwindigkeits-Verteilung _____________________________________________________________ 293 wobei die spitzen Klammern die Mittelwertbildung (arithmeti- scher Mittelwert) über eine große Zahl von Teilchen bedeuten. Die Steigung der Geraden bestimmt den beobachtbaren Dif- fusionskoeffizienten. Der Prozeß erscheint förmlich als De- monstration dessen, was Musil im Roman beschreibt (s. obiges Zitat): ... alles fliegt regellos durcheinander, jedes macht, was es will, aber wenn man berechnet, was sozusagen keinen Grund hat, daraus zu entstehen, so ist es gerade das, was wirklich entsteht. (S. 491) Die kinetische Gastheorie ist eine Vorstufe der heutigen statisti- schen Mechanik. Ihre Voraussetzungen und die wichtigsten Ergebnisse sollen im folgenden etwas ausführlicher dargestellt werden, als es im Abschnitt 2.1.22.2 geschehen ist. Zu Anfang sei jedoch auf ein von Musil stammendes, anschauli- ches, wenn auch sehr vereinfachtes Bild aufmerksam gemacht, das auf das Zusammenspiel der dynamischen molekularen Vor- gänge verweist. Es heißt im Nachlaß: ... Auch dann noch ließe sich eine gewisse Ordnung vorstellen. Schließlich schießen die Atome in einem Kochtopf ganz wild hin u. her, sie stoßen milliarden- mal zusammen u. am Ende heben sie den Deckel. (nl III/7/116) Das chaotische Durcheinanderfliegen der gasförmigen Wasser- moleküle im Kochtopf sorgt schließlich doch für einen einheitli- chen, meßbaren Dampfdruck im Topf, der dann den Deckel hebt. Einige Vorbemerkungen zur Theorie. Die kinetische Theorie der Gase stellt eine quantitative Beschreibung der makroskopisch beobachtbaren Eigenschaften der Gase durch das mikrosko- pische Verhalten der Gasmoleküle auf der Basis molekularer Grundgrößen dar. Die Theorie ist im Rahmen der klassischen Physik in großer Allgemeinheit zuerst von Ludwig Boltzmann für das verdünnte Gas unter Anwendung der Methoden der Wahrscheinlichkeitsrechnung entwickelt worden. Heute lassen sich die wesentlichen Ergebnisse dieser Theorie mit dem Forma- lismus der modernen statistischen Mechanik gewinnen. Die kinetische Theorie beinhaltet folgende Voraussetzungen: ein Gas, bestehend aus einer bestimmten, sehr großen Anzahl von identischen Gasmolekülen (Gasatomen, Gasteilchen) N, sei in einem konstanten Volumen V eingeschlossen. Das Gas werde auf einer bestimmten Temperatur T gehalten. Die Wärmebewe- 2.1.29 Die Versuchung (103) _____________________________________________________________ 294 gung der Moleküle, also die mittlere kinetische Energie der Moleküle (Pohl, Bd. 1, S. 127 ff), entspricht dann dieser gewählten Temperatur. Das Eigenvolumen der Gasteilchen sei im Vergleich zum makroskopischen Gasvolumen des Behälters verschwindend klein. Die Teilchen können folglich freie Flugbewegungen in alle Richtungen ausführen. Ihre Flugstrek- ken ('freie Weglängen') werden lediglich durch die Außenwände eingeschränkt, an denen die Moleküle elastisch zurückgeworfen werden, und durch eine gewisse Zahl an Zweierstößen mit anderen Teilchen, die ebenfalls nach den Gesetzen der elastischen Reflexion350 verlaufen. Beschränkt man sich auf ein ideales Gas, so entfällt die Wechselwirkung durch Stöße mit anderen Teilchen. Die mittlere freie Weglänge der Gasteilchen entspricht dann den Gefäßabmessungen. Im thermodynamischen Gleichgewicht, welches hier grund- sätzlich vorausgesetzt werden soll, sind für alle Moleküle rein zufällige Flugbewegungen in alle Raumrichtungen zu erwarten. Es darf dann eine stationäre Verteilung der Molekülgeschwin- digkeiten angenommen werden. Diese Verteilung sollte die Form der bereits früher eingeführten (s. Abschnitt 2.1.29.3) Gaußfunk- tion haben. In der Tat ergibt die statistische Mechanik eine sol- che Verteilung der Molekülgeschwindigkeiten, die in der Physik als Maxwell-Boltzmann-Verteilung351 bekannt ist. Sie lautet: f( v ) = [n/(2mkT)3/2] exp[-m(v-v0)2/(2kT)] , wobei v = (vx, vy, vz) die vektorielle Molekülgeschwindigkeit und v0 die Gasgeschwindigkeit bedeuten, und letztere für ein ruhendes Gas gleich Null gesetzt wird. n = N/V bezeichnet die Teilchenzahldichte, m die Masse des Teilchens und k die Boltzmannkonstante. Der Exponent der Exponentialfunktion enthält bis auf einen Zahlenfaktor die kinetische Energie des Gasteilchens geteilt durch die mittlere kinetische Energie pro Teilchen. In der modernen Computerphysik läßt sich die Maxwell- Boltzmann-Verteilung unmittelbar in molekulardynamischen Modellrechnungen 'auszählen'. Sie kann aber auch in Molekular- strahlexperimenten bestimmt werden, wie die folgende Ab- bildung 63 zeigt, in der die Verteilung für Sauerstoffgas gemes- sen wurde: 350 Es können auch verallgemeinerte Wechselwirkungsweisen angenommen werden. 351 Vergleiche: Kerson Huang Statistical Mechanics New York 1987, p. 75-77; McQuarrie, p. 82-90, S. 125, S. 358-365; Pohl, Bd. 1, S. 286-302. 2.1.29.6 Kinetische Gastheorie, ideales Gas und molekulare Geschwindigkeits-Verteilung _____________________________________________________________ 295 Abbildung 63 Experimentelle Maxwell-Boltzmann-Ver- teilung für die Molekülgeschwindigkeiten des Sauerstoff- stoffgases (O2-Moleküle: m = 32 x 1,66 x 10-27 kg) bei zwei Temperaturen, 100 K und 400 K. Gemessen wurde die statistische Verteilung der x-Komponente der Molekül- geschwindigkeiten. Der Erwartungswertwert (arithmeti- scher Mittelwert) erscheint im Maximum der Kurve bei vx = 0 (durchschnittlich gleich viele positive wie negative Ge- schwindigkeitskomponenten). Es ist deutlich, daß durch höhere Temperatur im Durchschnitt sehr viel mehr Mole- küle größere Geschwindigkeitskomponenten erhalten: die Gaußsche Kurve wird breiter und weniger scharf. Oft ist man an der Verteilung für den Betrag der Molekül- geschwindigkeiten interessiert. In dem Fall erhält man eine nichtsymmetrische, Gaußartige Verteilung. Diu et al., S. 484-487; Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 1101-1102; Pohl, Bd. 1, S. 289-290 Mit Hilfe theoretisch-physikalischer Überlegungen352 läßt sich die generelle Gültigkeit der Maxwell-Boltzmann-Geschwindig- keitsverteilung zeigen. Demnach gilt die Verteilung für jedes klassisch behandelbare Fluid unabhängig davon, welche Wech- selwirkungen für die Moleküle angenommen werden. Sie ist also sowohl für das ideale Gas gültig, wo sich die Gasteilchen im Mittel nicht berühren, als auch für die Flüssigkeit, in der sich die Moleküle in ständigem Kontakt miteinander befinden. Auf der Basis der durch die Maxwell-Boltzmann-Verteilung bestimmbaren Mittelwerte der Geschwindigkeit, des Impulses und der kinetischen Energie der Gasteilchen ist die Zustandsglei- chung für das ideale Gas einfach herzuleiten (s. Abschnitt 352 Siehe: Huang, S. 75-79 oder Diu et al., S. 482-484 2.1.29 Die Versuchung (103) _____________________________________________________________ 296 2.1.22.2). Ausgehend von der mechanischen Definition des Drucks kann man aus der Impulsübertragung der Moleküle auf die Wand des Gasbehälters unter der Bedingung der Erhaltung des Gesamtimpulses des Systems einen Ausdruck für den kinetischen Druck des Gases bekommen, der im wesentlichen die Dichte und die mittlere kinetische Energie der Teilchen enthält. Der dynamische Anteil des Druckes, welcher durch die Stöße der Gasteilchen untereinander zustande kommt, bleibt wie wir wissen beim idealen Gas unberücksichtigt. Die mittlere kinetische Energie pro Teilchen ist aber andererseits proportional der mit der Boltzmannkonstanten multiplizierten Temperatur. Setzt man diese letztere Beziehung nun in den für den Druck erhaltenen Ausdruck ein, so ergibt sich das ideale Gasgesetz in der Form: PV = NkT. 2.1.29.7 Boltzmann - Gleichung für das verdünnte Gas Ludwig Boltzmann hat ein realistischeres Modell als das ideale Gasmodell behandelt, das verdünnte Gas. Für dieses Modellgas wird das Eigenvolumen der Teilchen ebenfalls als sehr klein im Vergleich zum Gasvolumen vorausgesetzt, aber es werden zu- sätzlich Wechselwirkungen in Form von Zweierstößen zwischen den Teilchen berücksichtigt. Dreierstöße oder Stöße höherer Ordnung können unberücksichtigt bleiben, da sie nur mit viel geringerer Wahrscheinlichkeit vorkommen. Ein Portraitphoto Boltzmanns findet sich in der nächsten Abbildung 64: Abbildung 64 Photographie Ludwig Boltzmanns (1844- 1906). Seine Arbeiten auf dem Gebiet der kinetischen Gastheorie öffneten den Weg für ein Verständnis der makroskopischen physikalischen Phänomene auf der Basis molekularer Theorie. K. Huang Statistical Mechanics S. ii 2.1.29.7 Boltzmann - Gleichung für das verdünnte Gas _____________________________________________________________ 297 Boltzmann ist die Entwicklung einer fundamentalen kinetischen Gleichung für den Fall des verdünnten Gases gelungen, die es gestattet, zeitabhängige und stationäre Eigenschaften des Gases zu berechnen. Er arbeitete, wie bereits mehrfach gesagt, inner- halb der klassischen statistischen Mechanik. Zu seiner Zeit war er nicht in der Lage, die Gültigkeit der Maxwell-Boltzmann- Statistik für ununterscheidbare Teilchen tiefer zu begründen. Eine solche Begründung gelingt erst unter Einbeziehung der Quantenmechanik, welche zeigt, daß grundsätzlich zwischen Fermi-Dirac- und Bose-Einstein-Statistik unterschieden werden muß, und daß die Maxwell-Boltzmann-Statistik den klassischen Grenzfall jener beiden Statistiken darstellt (McQuarrie, S. 68 ff; Fließbach 1999, S. 31 ff). Boltzmanns fundamentale Transportgleichung, die sog. Boltz- manngleichung, welche die Berechnung der orts-, geschwindig- keits- und zeitabhängigen Wahrscheinlichkeitsdichte f(r, v, t) zuläßt353, ist heute noch in unveränderter Form gültig. Allerdings stellt sie eine komplexe Gleichung dar, deren Lösungen nur näherungsweise mit bestimmten Techniken zu erhalten sind354. Die Lösungen führen aber zu Transportkoeffizienten des ver- dünnten Gases, welche akzeptabel mit gemessenen Werten über- einstimmen355. Auch die Maxwell-Boltzmann-Geschwindigkeitsverteilung er- gibt sich als stationäre Lösung der Boltzmanngleichung. Dabei zeigt sich - worauf früher bereits aufmerksam gemacht wurde -, daß die stationäre Verteilung (Gleichgewichtsverteilung) ganz unabhängig von der Wechselwirkung der Teilchen ist, aber mehr noch, daß jede beliebige zeitabhängige Verteilung f(r, v, t) aufgrund der Boltzmanngleichung allmählich in die Gleichge- wichtsverteilung, die Maxwell-Boltzmann-Verteilung, übergeht. Boltzmann konnte anhand seines berühmten H-Theorems nach- weisen, daß die Zustandsgröße H, die proportional zur Entropie ist, aber negatives Vorzeichen trägt, in dem Maße einem Mini- mum zustrebt, wie sich die zeitabhängige Wahrscheinlichkeits- verteilung f(r, v, t) der Gleichgewichtsverteilung annähert. Erst im Gleichgewicht bleibt H konstant und minimal (s. Abschnitt 2.1.22.1 der vorliegenden Arbeit). 353 Die Boltzmanngleichung ist eine nichtlineare Integro-Differential-Gleichung, deren Verständnis wesentlich mehr Fachkenntnis erfordert, als wir hier vermitteln können und wollen. Für Interessierte seien McQuarrie (Kapitel 18) und Huang (Kapitel 3) empfohlen. 354 Die Standardmethode, eine solche Integro-Differential-Gleichung zu lösen, wird als Chapman-Enskog-Methode bezeichnet (McQuarrie, S. 426 ff). 355 Siehe z. B. McQuarrie, S. 433-439 2.1.29 Die Versuchung (103) _____________________________________________________________ 298 Sehr wichtig für die vorher zitierten Ausführungen Ulrichs (S. 491) ist die Tatsache, daß die beobachtbaren makroskopischen Größen des Gases aus Mittelwerten über Gaußverteilungen be- rechnet werden, welche aus Teilchenzahlen der Größenordnung 1020 stammen356. Die Standardabweichung ist wegen der riesigen Anzahl von Teilchen so außerordentlich klein, daß von festlie- genden Werten ausgegangen werden kann. Die einzelne chaoti- sche Bahn eines Teilchens (Trajektorie) ist dabei ganz ohne Be- deutung. Gerade weil die mikroskopischen Teilchen eine völlig unberechenbare (zufällige) Bewegung ausführen, entsteht auf der Grundlage der Wahrscheinlichkeitstheorie ein kalkulierbares makroskopisches Verhalten der Gesamtheit der Teilchen von vernachlässigbar kleiner statistischer Abweichung (s. Abschnitt 2.1.23.3). Dies scheint es zu sein, was Ulrich in einer seiner schon vorher zitierten Bemerkung andeuten möchte: ... aber wenn man berechnet, was sozusagen keinen Grund hat, daraus zu entstehen, so ist es gerade das, was wirklich entsteht! ... Dazu fügen sich auch Aufzeichnungen, die Musil in seinen Tagebüchern als Zitat aus Husserls Logischen Untersuchungen (siehe dazu Anmerkung 19 in tg2 S. 69) aufbewahrte: S. 65 Wahrscheinlichkeiten als Grundmaße aller Richtigkeit können einer Erkenntnis weder den Stem- pel der Wahrscheinlichkeit noch den der Richtigkeit aufdrücken, da der Gegensatz zwischen den beiden mit dem Begriff der Richtigkeit fortfällt. Es bleibt nur eine Scala von Wahrscheinlichkeiten und es wäre denkbar, daß eine gewisse Höhe der Wahrscheinlich- keit das ist, was wir Gewißheit nennen. Notwendig wäre dazu nur, daß die Gesetze des äußeren Gesche- hens nie dieses Niveau der Wahrscheinlichkeit erreichen. (tg1 S. 119) Etwas ähnliches dürfte auch angesprochen sein, wenn Ulrich im dmoe davon spricht: ... daß jede Wahrheit heute in zwei einander entge- gengesetzte Unwahrheiten zerlegt auf die Welt kommt, ... Der Ausgleich, die Summe der Versuche entsteht dann nicht mehr im Individuum, das uner- 356 Man beachte, daß 1020 eine Zahl mit zwanzig Nullen darstellt (die Zahl der Men- schen auf der Erde ist im Vergleich dazu vernachlässigbar klein: 1010 ), und über- lege sich, welch geringe Varianz die Erwartungswerte demzufolge haben. 2.1.29.7 Boltzmann - Gleichung für das verdünnte Gas _____________________________________________________________ 299 träglich einseitig wird, aber das Ganze ist wie eine Experimentalgemeinschaft! ... (S. 490) Musil scheint darin auch einen der Gründe dafür zu sehen, daß 'Wirklichkeit' und 'Wahrheit' nur in paradoxer Weise aufeinander bezogen bzw. verbunden gedacht werden können. Helga Honold schreibt dazu in ihrer Dissertation: ... auch der Sinn ist für unseren Standpunkt jeweils begrenzt, es muß immer ein neuer gesucht werden ... denn wir vermögen einen absoluten Sinn ebensowenig zu fassen wie etwa den indifferenten Punkt im Paradox-Symbol - wir haben uns vielmehr mit einem relativen und jeweilig verschiedenen Partial-Sinn zu begnügen ... Aus dem Zusammenhang des ... Wechsels von Sinn im einzelnen ... zum Unsinn des Ganzen ergibt sich notwendig ein so paradoxes Verhältnis wie das vom Sinn des Unsinns. (H. Honold, S. 24) 2.1.30 Hohe Liebende haben nichts zu lachen (105) _____________________________________________________________ 300 2.1.30 Hohe Liebende haben nichts zu lachen (105) 2.1.30.1 Begehrlichkeit, Seele und Verstand Der Erzähler beschreibt das 'Liebesverhältnis' zwischen Arnheim und Diotima (Hermine Tuzzi) im Hinblick auf Begehrlichkeit, Seele und Verstand. Arnheim, der immer wieder die Möglichkeit erwägt, Diotima zu heiraten und damit in eine fremde Ehe einzu- dringen, wird schon von Tagträumen heimgesucht, die sich durchaus für eine psychologische Analyse eigneten. Es heißt zu Anfang des Kapitels: Er wurde von unangenehmen Tagträumen verfolgt, wie es sein strenger Kopf noch nie erlebt hatte. Na- mentlich einer war hartnäckig; er sah sich mit Dioti- ma auf einem hohen Kirchturm stehn, das Land lag einen Augenblick lang grün zu ihren Füßen, und dann sprangen sie hinab. Abends ohne alle Ritterlichkeit in das Tuzzische Schlafzimmer einzudringen und den Sektionschef niederzuschießen, war offenbar das glei- che. Er hätte ihn auch im Duell niederstrecken kön- nen, aber es erschien ihm weniger natürlich; ... Schließlich hätte man ja auch sozusagen frei und offen bei Tuzzi um die Hand seiner Gattin anhalten können. (S. 501) Der letzte Satz mit dem bereits aus anderen Formulierungen be- kannten357 einleitenden sozusagen weist den Leser dann jedoch auf die ironische Färbung des Ganzen hin. In diesem Sinne wer- den die Betrachtungen auch fortgesetzt: So hatten Arnheim und Diotima wiederholt ein pro- fundes Gespräch über die Behandlung des Ehebruchs in der zeitgenössischen Literatur, und Diotima fand, daß dieses Problem durchwegs ohne Empfinden für den großen Sinn von Zucht, Versagen, heldischer Askese, rein sensualistisch behandelt werde, was leider genau auch die Meinung war, die Arnheim davon hatte, so daß ihm nur hinzuzufügen blieb, daß der Sinn für das tiefe moralische Geheimnis der Person heute fast allgemein verlorengegangen sei. Dieses Geheimnis besteht darin, daß man sich nicht alles gestatten darf. ... (S. 502-503) Schließlich wird expliziert, was Arnheim unter Begehrlichkeit zu verstehen und warum er sie nicht zu besitzen glaubt: Arnheim bedauerte es auf das innigste, nicht einen Funken jener Begehrlichkeit zu besitzen ... und be- 357 Vergleiche mit Abschnitt 2.2.9.3 dieser Arbeit 2.1.30.1 Begehrlichkeit, Seele und Verstand _____________________________________________________________ 301 gann in diesem Bedauern ausführlich von der Begehrlichkeit zu sprechen. Begehrlichkeit ist, um ihm zu folgen, genau das Gefühl, das der Kultur des Verstandes in unserem Zeitalter entspricht. Kein anderes Gefühl richtet sich so eindeutig auf seinen Zweck wie dieses. ... Es verarmt die Seele, so wie sie das Rechnen und die Mechanik und die Brutalität verarmen. Also sprach Arnheim mißbilligend von der Begehrlichkeit und fühlte sie indes wie einen geblen- deten Sklaven im Kellergeschoß rumoren. (S. 503) Arnheim scheint das Gefühl der Begehrlichkeit deutlich von den Gefühlen trennen zu wollen, die unsere 'Seele' bereichern oder sie sogar ausmachen. Denn ersteres verkümmere die Seele ge- nauso wie das Rechnen, die Mechanik und die Brutalität. Die Vergleiche mit eher mechanischen Fähigkeiten scheinen nahe zu liegen. Sie dürften zusätzlich auch metaphorisch den gewünsch- ten sexuellen Umgang Arnheims mit Diotima konnotieren. Rechnen im Hinblick auf Berechnung des sexuellen Lustge- winns, Mechanik mit Blick auf bloß mechanische sexuelle Tech- nik als Art der Selbstbefriedigung und schließlich Brutalität in Form der Vergewaltigung. Dieser Psychologie entsprechend schildert der Erzähler, wie Arnheim einerseits diese Gefühle völ- lig ableugnet, andererseits aber bemerkt, wie sie sich doch im 'unteren Geschoß' hervortun. Diotimas Sprechen wird vom Erzähler in ganz eigenartiger Wei- se verfremdet. Es heißt im Roman: "Lassen Sie uns schweigen! Das Wort vermag Gro- ßes, aber es gibt Größeres! Die wahre Wahrheit zwi- schen zwei Menschen kann nicht ausgesprochen wer- den. Sobald wir sprechen, schließen sich die Türen; das Wort dient mehr den unwirklichen Mitteilungen, man spricht in den Stunden, wo man nicht lebt ..." ... Was übrig blieb, war Schweigen, Leere und Tiefe. "Sollten wir auserwählt sein?" dachte Diotima, indem sie sich auf der so beschaffenen höchsten Höhe des Gefühls umsah und etwas Martervolles und Unvor- stellbares ahnte. ... Und sie sagte ganz leise ... "Verstand ist nicht das einzige Verständigungsmittel zwischen zwei Menschen!" (S. 503-505) Der Text erinnert an die 'Selbsterzählungen' des Azwei in Musils Rahmenerzählung Die Amsel (s. Abschnitt 2.1.35.1 der vorlie- genden Untersuchung). Zu beachten sind die hier im letzten Satz verwendeten Begriffe Verstand und Verständigung, die auch in der Amsel eine dominierende Rolle spielen. 2.1.31 Glaubt der moderne Mensch an Gott oder an den Chef der Weltfirma? Arnheims Unentschlossenheit (106) _____________________________________________________________ 302 2.1.31 Glaubt der moderne Mensch an Gott oder an den Chef der Weltfirma? Arnheims Unentschlossenheit (106) 2.1.31.1 Identitätssatz, Moral und Ichsucht Der Erzähler beschreibt den reichen Geschäftsmann Arnheim, wie er über Geld, Seele und Moral nachdenkt: Arnheim befand sich in einem eigenartigen Zwiespalt. Der sittliche Reichtum ist nah verschwistert mit dem geldlichen; das war ihm wohlbekannt, und es läßt sich leicht erkennen, warum es so ist. Denn Moral er- setzt die Seele durch Logik; wenn eine Seele Moral hat, dann gibt es für sie eigentlich keine moralischen Fragen mehr, sondern nur noch logische; sie fragt sich, ob das, was sie tun will, unter dieses oder jenes Gebot fällt, ob ihre Absicht so oder anders auszule- gen sei, und ähnliches mehr, ... Logik setzt aber wie- derholbare Erlebnisse voraus; es ist klar, wo die Ge- schehnisse wechseln würden wie ein Wirbel, in dem nichts wiederkehrt, könnten wir niemals die tiefe Er- kenntnis aussprechen, daß A gleich A sei, oder daß größer nicht kleiner sei, sondern wir würden einfach träumen; ein Zustand, den jeder Denker verabscheut. Und so gilt das gleiche von der Moral, und wenn es nichts gäbe, das sich wiederholen ließe, dann ließe sich uns auch nichts vorschreiben, und ohne den Menschen etwas vorschreiben zu dürfen, würde die Moral gar kein Vergnügen bereiten. Diese Eigen- schaft der Wiederholbarkeit, die der Moral und dem Verstande eignet, haftet aber am Geld im allerhöch- sten Maße ... und so ist das Geld allen Geisteskräften artverwandt, und nach seinem Muster zerlegen die Gelehrten die Welt in Atome, Gesetze, Hypothesen und verwunderliche Rechenzeichen, und die Tech- niker bauen aus diesen Fiktionen eine Welt neuer Dinge auf. ... (S. 506-507) Moral, so befindet Arnheim, sei eigentlich nur Logik der Seele. Logik setze aber wiederholbare Erlebnisse voraus. Ohne wieder und wieder auftretende gleiche Geschehnisse sei für uns nicht einmal der Satz der Identität möglich. Dieser Satz, der hier nur kurz und scheinbar ironisch durch die 'Gleichung' A = A ange- deutet wird, begründet aber unsere Logik. Er ist im allgemeinen 2.1.31.1 Identitätssatz, Moral und Ichsucht _____________________________________________________________ 303 als Satz (Prinzip) des Widerspruchs bekannt. Bei Lotze358 findet er sich ebenfalls als 'Gleichung' dargestellt: A nicht = Non A. D.h. A kann nicht gleichzeitig Nicht-A sein. Der Identitätssatz ist bereits ausführlich in Abschnitt 2.1.11.1 dieser Arbeit im Zu- sammenhang mit dem von Ulrich erwähnten Prinzip des unzu- reichenden Grundes diskutiert worden. Für unser Denken reicht aber der Satz von der Identität nicht aus, wie das folgende Zitat aus Lotzes Logik zeigt: Die Geltung des Satzes vom Grunde ist daher von ei- ner anderen Art, als die des Princips der Identität; nennen wir diese letztere denknothwendig wegen der Unmöglichkeit seines Gegentheils, so ist der Satz vom Grunde vielmehr nur eine dem Denken zweckmäßige Voraussetzung, ... Denkunmöglich wäre eine Welt gar nicht, in welcher jeder einzelne Inhalt mit jedem an- dern so unvergleichbar wäre, wie süß und dreieckig, in welcher mithin jede Möglichkeit fehlte, Verschiede- nes zur Begründung eines Dritten zusammenzufassen; wäre diese Welt, so würde das Denken zwar nichts mit ihr anzufangen wissen, aber es würde sie als eine nach seinem eigenen Urtheile mögliche anerkennen müssen. ... Die Möglichkeit, Allgemeinbegriffe zu bilden, beruht auf der nicht selbst denknothwendigen, aber gegebe- nen Thatsache, daß nicht jeder Vorstellungsinhalt un- vergleichbar mit jedem anderen ist, ... 359 Das von Musil erwähnte Träumen ist hier offenbar in einem sehr verallgemeinerten Sinne zu verstehen, da nach dem eben Gesag- ten auch das Träumen allein auf der Basis des Identitätssatzes nicht möglich wäre, insbesondere wenn man an die von Freud erkundete deutbare Struktur unserer Träume glaubt. Im letzten Teil des zitierten Romantextes wird die Zerlegung der Welt in Atome, physikalische Gesetze, Modellhypothesen und mathematisch-physikalische Gleichungen durch naturwissen- schaftliche Gelehrte kritisiert 360. Sie hat aber eigentlich erst in unserer Zeit verstärkt eingesetzt. In welche submikroskopischen Größenordnungen der Ausdehnung von Materieaufbauteilchen man bereits vordringt, zeigt die folgende Abbildung 65: 358 Lotze, S. 76-77 359 Lotze, S. 90-91 360 Es ist dabei nicht zu übersehen, daß Musil es in diesem Kapitel auch auf die Ka- pitalisten und Moralisten abgesehen hat. In den Ausführungen, die sich unmittelbar an den zitierten Text anschließen, beschreibt er z.B. den Kapitalismus als Organisa- tion der Ichsucht nach Rangordnung der Kräfte, sich Geld zu verschaffen ... 2.1.31 Glaubt der moderne Mensch an Gott oder an den Chef der Weltfirma? Arnheims Unentschlossenheit (106) _____________________________________________________________ 304 Abbildung 65 Schematischer Aufbau der Natur, so wie er sich augenblicklich in der Physik darstellt. Die in Klam- mern angegebene Länge entspricht dem Durchmesser des betreffenden Materiebausteins. Das Atom wird durch elek- trische Kräfte zusammengehalten, der Atomkern durch sog. Kernkräfte, deren Herkunft, Stärke und Reichweite nicht ausreichend bekannt sind. Die den Kern konstituie- renden Quarks sind zwar im Kern selbst nachgewiesen, konnten aber als freie Teilchen bisher nicht gefunden werden. Bergmann-Schaefer, Bd. 4, S. 354. Kamke u. Walcher, S. 69-73 Materie wird in Atome, Atome in Atomkerne und diese wieder in Kernbruchstücke, sog. Quarks, gespalten. Diese Quarks361 sind experimentell als Kernbausteine nachgewiesen worden, und bisher kennt man fünf verschiedene Sorten, eine sechste ist wahrscheinlich. Für das einfachste Quark-Modell muß man eine Reihe von Eigenschaften voraussetzen. Einige von ihnen sollen hier aufgezählt werden: (i) Quarks sind Fermionen, d.h. sie können nur mit einer besonderen Statistik, der sog. Fermi-Statistik behandelt werden. 361 Genaueres in: Bergmann-Schaefer, Bd. 4, S. 452-457 2.1.31.1 Identitätssatz, Moral und Ichsucht _____________________________________________________________ 305 (ii) Zu jedem Quark existiert auch sein Antiteilchen. (iii) Die Quarks sind punktförmig vorzustellen, und zwar mit Massen, die im allgemeinen deutlich klei- ner sind, als die der Nukleonen. (iv) Nur unter Einwirkung starker Wechselwirkung sind Quarks stabil. (v) Einzelne freie Quarks gibt es nicht; sie existieren nur im Zusammenschluß mit anderen (Quark- einschluß). Die Gründe für den Quarkeinschluß sind bisher nicht befriedigend verstanden. Quarks sind bisher nicht als freie Teilchen nachgewiesen wor- den, und man glaubt heute auch nicht mehr daran, dazu jemals in der Lage zu sein. Diese fundamentalen Kernbausteine müssen deshalb in anderer Weise behandelt werden als 'gewöhnliche' Elementarteilchen362. Ein Ende solcher Zerlegungswissenschaft ist gerade auf dem Gebiet der Physik nicht abzusehen. Mit jedem weiteren Schritt in die nächst untergeordnete Bruchstückwelt steigen die Schwierig- keiten des Verstehens und der wirtschaftliche Aufwand (not- wendig sind gewaltige Teilchen-Beschleuniger) für die entspre- chenden Experimente ungewöhnlich stark an. Musil hat sich des öfteren gegen derartige, das Leben zerfasernde Wissenschaften gewandt. In seinen Tagebüchern heißt es beispielsweise: Die Wissenschaft, die das Leben zu Begriffen zerreibt, erscheint als Dienerin des Liberalismus u. seines In- begriffs, der Ratio. Die Wiss. sichtet u beschreibt die Erscheinungen, teilt sie ein, zerfasert sie; blutloses Spezialistentum, Gehirnarbeit ohne Verpflichtung zur Wertung u Zusammenschau. Dagegen bestreitet das 'organische Denken' der logischen Denkfunktion die Fähigkeit, die Welt zu erkennen. Novalis: "Wie kann ein Mensch Sinn für etwas haben, wenn er nicht den Keim davon in sich hat? Was ich verstehen soll, muß sich in mir organisch entwickeln; u. was ich zu lernen scheine, ist nur Nahrung, Inzitament des Organis- mus." Das Weltbild des organischen Denkens setzt die Dinge nicht nebeneinander, sondern organisch jeden Teil in Beziehung zum Ganzen, es wird universal. (tg1 S. 957) 362 Bergmann-Schaefer, Bd. 4, S. 523-524 2.1.31 Glaubt der moderne Mensch an Gott oder an den Chef der Weltfirma? Arnheims Unentschlossenheit (106) _____________________________________________________________ 306 Im zweiten Buch des dmoe wird diese 'Vermessungs- und Berechnungslogik' in nahezu bissiger Weise kritisiert. In einem Entwurf eines Gespräches zwischen Gerda und ihrem Vater, Bankdirektor Leo Fischel, kommt es zu folgenden Ausführun- gen: - Was machen wir aber mit den Dingen, denen es nicht paßt, sich von uns verstehen zu lassen? - fragte sie F. (Fischel) prophetisch - Wir messen sie, wir wägen sie, wir zerlegen sie in Gedanken u. allen unseren Scharfsinn richten wir darauf, etwas an ihnen zu finden, das sich gleich bleibt, woran wir sie packen können, worauf wir uns verlassen können u. womit wir rechnen können! Das sind die Naturgesetze, mein Kind, u. wo wir sie herausgefunden haben, dort kön- nen wir die Dinge in Serien herstellen u. kaufen u verkaufen, wie es uns beliebt. Und nun frage ich dich, was können Menschen untereinander tun, wenn sie sich nicht verstehen? Ich sage dir, es gibt nur eines! Nur wenn du sein Begehren reizt oder wenn du es einschüchterst, kannst du einen Menschen genau dorthin bringen, wohin du willst. Wer auf Stein bauen will, muß sich der Gewalt u. der Begierden bedienen. Dann wird der Mensch plötzlich eindeutig, berechen- bar, fest, ... Mit der Güte kannst du nicht rechnen. Mit den schlechten Eigenschaften kannst du rechnen. (S. 1624) Ganz ähnliche Äußerungen - wenn auch nur auf die niedrige Eigenschaft Selbstsucht bezogen - finden sich auch in Arnheims Monologen des vorliegenden Kapitels im Zusammenhang mit der Forderung, ein starkes Tausendjähriges Reich aufzurichten: - so dachte Arnheim ... weiter - ... Wer auf Stein bauen will im Menschen, darf sich nur der niedrigen Eigen- schaften und Leidenschaften bedienen, denn bloß was aufs engste mit der Ichsucht zusammenhängt, hat Be- stand und kann überall in Rechnung gestellt werden; ... Dann ... träte Paul Arnheim vor und spräche ...: "... Die Ichsucht ist die verläßlichste Eigenschaft des menschlichen Lebens. Der Politiker, der Soldat und der König haben mit ihrer Hilfe ... (die) Welt durch List und Zwang geordnet. Das ist die Melodie der Menschheit; ... Der Kapitalismus, als Organisation der Ichsucht nach der Rangordnung der Kräfte, sich Geld zu verschaffen, ist geradezu die größte und dabei noch humanste Ordnung, die wir ... haben ausbilden 2.1.31.1 Identitätssatz, Moral und Ichsucht _____________________________________________________________ 307 können; ein genaueres Maß trägt das menschliche Tun nicht in sich!" (S. 507-508) Abschließend sei auf die Metaphorik physikalischen Ursprungs hingewiesen, welche der Erzähler verwendet, um Arnheims zwiespältige Gedanken- und Gefühlswelt zu charakterisieren. Der betreffende dmoe-Text lautet: Eine andere ... Stimme sagte ihm aber ..., daß man auf Vernunft und Moral und das ganze rationalisierte Dasein kühn verzichten sollte. Und gerade in den schwindelnden Augenblicken, wo er kein anderes Bedürfnis kannte, als einem irrenden Satelliten gleich in die Sonnenmasse Diotimas zu stürzen, war diese Stimme fast die mächtigere. (S. 509) Der irrende Satellit wäre also eine Art Meteor, der dem Anzie- hungsbereich der Sonne zu nahe kommt und nun auf Grund der ungeheuren Gravitation der Sonne mit riesiger Beschleunigung angezogen in die Sonne stürzt. Das Verhältnis von Sonnen- masse363 zu Erdmasse beträgt 300000. So wird der besagte Satel- lit auch mit 300000-facher Erdbeschleunigung angezogen. Man ahnt, mit welcher Geschwindigkeit er schließlich auf die Sonne schlägt, falls er nicht lange vorher verglüht ist! 363 Siehe: Lang, S. 22 oder Bergmann-Schaefer, Bd. 7, S. 694 u. S. 701 2.1.32 Moosbruggers Auflösung und Bewahrung (110) _____________________________________________________________ 308 2.1.32 Moosbruggers Auflösung und Bewahrung (110) 2.1.32.1 Nah- und Fernordnung Moosbrugger wartet im Gefängnis auf die Wiederholung seiner Untersuchung durch die Psychiatrie. Seine unangenehme Situa- tion wird vom Erzähler folgendermaßen beschrieben: Er war gleichsam um die Ecke herum an der Außen- welt angebunden. Leute, die zum größeren Teil gar nicht an ihn dachten, ... wirkten zusammen, um das Schicksal zu bereiten, das er unkörperlich an sich zer- ren fühlte. Ein Bürofräulein schrieb an einem Zusatz zu seinem Akt. Ein Registrator behandelte diesen nach kunstvollen Gedächtnisregeln. Ein Ministerialrat be- reitete die neueste Weisung für den Strafvollzug vor. Einige Psychiater führten einen Fachstreit über die Abgrenzung bloß psychopathischer Veranlagung von bestimmten Fällen der Epilepsie und ihrer Vermi- schung mit anderen Krankheitsbildern. Juristen schrieben über das Verhältnis der Milderungs- zu den Minderungsgründen. Ein Bischof sprach sich gegen die allgemeine Lockerung der Sitten aus, und ein Jagdpächter klagte Bonadeas gerechtem Gatten das Überhandnehmen der Füchse, wodurch in diesem ho- hen Funktionär die Stimmung zugunsten der Unbeug- samkeit von Rechtsgrundsätzen verstärkt wurde. (S. 533) Aus dem letzten zitierten Satz des Erzählers läßt sich insbeson- dere ersehen, was von der 'offiziellen Behandlung' Moosbrug- gers zu halten ist. Anschließend wird im Zusammenhang mit der 'Geschichte Moosbruggers' und der 'Wahrheit über Moosbrugger' anhand naturwissenschaftlicher Vergleiche deutliche Kritik an der Juris- prudenz und ihren Gesetzen geübt. Der entsprechende Textab- schnitt lautet folgendermaßen: Aus solchen unpersönlichen Geschehnissen setzt sich in einer Weise das persönliche Geschehen zusammen, die vorläufig unbeschreiblich ist. ... Die Wahrheit ist eben kein Kristall, den man in die Tasche stecken kann, sondern eine unendliche Flüssigkeit, in die man hineinfällt. ... Ohne sie kann selbst der bekannte Sper- ling nicht vom Dach fallen. Sonne, Wind, Nahrung 2.1.32.1 Nah- und Fernordnung _____________________________________________________________ 309 haben ihn hingeführt, Krankheit, Hunger, Kälte oder eine Katze ihn getötet; aber alles das hätte nicht ohne biologische, psychologische, meteorologische, physi- kalische, chemische, soziale usw. Gesetze geschehen können, und es ist eine rechte Beruhigung, wenn man solche Gesetze bloß sucht, statt daß man sie, wie in der Moral und Rechtsgelehrtheit, selbst erzeugt. (S. 533-534) Die Wahrheit wird metaphorisch als Flüssigkeit bezeichnet, in die man hineinfällt, nicht aber als Kristall, den man in die Tasche stecken kann. Ein Kristall ist fest, er läßt sich an jeder Stelle abschneiden, verkleinern, handlich zurechtkürzen und auch in die Tasche stecken364. Eine Flüssigkeit dagegen läßt sich nicht in Scheiben schneiden, nur 'zusammenhängend' in geeigneten Gefä- ßen unterbringen. Der Erzähler dürfte in seiner Metaphorik aber mehr auf die strukturellen physikalischen Unterschiede zwischen Kristall und Flüssigkeit verweisen. In Abschnitt 2.1.8.1 der vorliegenden Ar- beit wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, daß ein Kristall im Gegensatz zur Flüssigkeit eine Fernordnung in Form eines molekularen Gitters besitzt. D.h. der Festkörper hat eine in klein- ste gleichartige Grundzellen aufteilbare Gitterstruktur. Der Ge- samtaufbau eines solchen Festkörpers läßt sich anhand einer ein- zelnen Grundzelle bestimmen365. In der Flüssigkeit gibt es diese Fernordnung nicht. Die Flüssigkeit zeichnet sich lediglich durch eine gewisse Nahordnung zwischen Molekülen der nächsten Umgebung aus. In größeren Entfernungen unterliegen die Mole- küle ganz zufälligen Verteilungen. Die Struktur der Flüssigkeit ist also in seiner Gesamtheit nicht berechenbar. Aber selbst für den Nahordnungsbereich (nächste Nachbarn eines betrachteten Moleküls) stellt sich die Berechnung der Flüssigkeitsstruktur sehr viel komplizierter dar als die des Kristalls. Schon im Be- reich nächster Nachbarn sind die Moleküle nicht an festen Plät- zen zu finden, sondern sie kommen in bestimmten Abstandsbe- reichen mit gewissen Wahrscheinlichkeiten vor. Es gibt heutzu- tage computergestützte Modelle, die es ermöglichen, die Struktur der Flüssigkeit im Nahbereich verläßlich anhand von Verteilun- gen zu bestimmen. Zwar ändern sich im flüssigen Zustand die 364 Man kann sich beispielsweise den in den Alpen vorkommenden langprismati- schen Bergkristall (Quarzkristall (SiO2)) von klarem, farblosen Aussehen vorstellen. Siehe: Werner Lieber Bunte Welt der schönen Steine Stuttgart 1978, S. 24 365 Dies gilt natürlich nur für ein idealisiertes Gittermodell. Die Kristalle der Natur tragen stets eine Reihe von 'Gitterfehlern' und einen wechselnden Prozentsatz an 'Verunreinigungen' in sich. 2.1.32 Moosbruggers Auflösung und Bewahrung (110) _____________________________________________________________ 310 räumlichen Koordinaten der Moleküle zeitlich, man kann aber Gleichgewichtsverteilungen betrachten. Eine derartige stationäre Verteilung ist die radiale Paarvertei- lung. Sie gibt an, wie benachbarte Molekülpaare im Mittel zu- einander angeordnet sind366. Die folgende Abbildung 66 zeigt beispielhaft eine radiale Verteilung kugelförmiger Moleküle für eine monoatomare Flüssigkeit im Nahbereich bis zum drittnäch- sten Nachbarteilchen eines ausgewählten Zentralteilchens: Abbildung 66 Abgebildet ist die radiale Paarverteilung g(r) für eine monoatomare Flüssigkeit. Diese Funktion gibt die relative Häufigkeit an, ein Molekül im Abstand r zu finden, wenn sich gleichzeitig ein Zentralmolekül im Ur- sprung befindet. Die Verteilung ist so normiert; daß sie bei Unkorreliertheit der Abstände eins ergibt. Der Abstand r ist in Vielfachen des Teilchendurchmessers (Moleküldurch- messers) σ angegeben. Es wird deutlich, daß die relative Häufigkeit ihre Maxima dort hat, wo die Mittelpunkte der nächsten, übernächsten usw. Nachbarn in dichter Kugel- packung liegen. Die Minima treten an den Berührungsstel- en der Moleküle auf. Man stellt sich deshalb die Flüssig- keit schalenartig (schichtenartig) aufgebaut vor. Die Ver- kleinerung der Maxima und Minima als Funktion des Ab- standes ist ebenfalls zu sehen. Bei einem Abstand von ca. 6 -Einheiten verschwindet jegliche Struktur der Verteilung, die Abstände der Paare sind in dieser und größerer Entfer- nung völlig unkorreliert. Hoheisel, S. 58 ff 366 Die verwickelte Theorie dazu findet sich in: Bergmann-Schaefer Lehrbuch der Experimentalphysik. Vielteilchen-Systeme. Bd. 5, Berlin 1992, S. 227-291 2.1.32.1 Nah- und Fernordnung _____________________________________________________________ 311 Die mikroskopische Struktur der Flüssigkeit stellt sich folglich ungleich komplizierter und unberechenbarer dar als die des re- gelmäßigen Kristalls. Dies dürfte den Erzähler vor allem dazu bewegt haben, die 'Wahrheit' symbolisch eher mit einer Flüssigkeit als mit einem Kristall in Beziehung zu setzen. In dieselbe Richtung zielt auch Feststellung des Erzählers, selbst ein Sperling könne nicht vom Dach fallen, ohne daß eine lange Reihe von Naturgesetzen ihre Gültigkeit bewiesen habe. Im Nachsatz wird schließlich deutlich gemacht, es seien doch die Naturwissenschaftler, die nach Gesetzen suchten, weit sympathi- scher, als die Moral- und Rechtsgelehrten, die Gesetze selber machten. Andererseits erscheint Musil aber die Tätigkeit des 'Nur- Naturwissenschaftlers' bzw. 'Nur-Physikers' ebenfalls suspekt, wie die folgende Tagebuchstelle zu erkennen gibt: Der Physiker. Hatte seine heroische Zeit in den En- zyklopädisten. Heute alle diese Leute etwas wie Kastraten, Haremsmenschen, weil sie durch ihren Beruf dem Leben gar nicht verbunden sind. Sie leben nur für Fachgenossen und bloß wenn sie sehr berühmt sind, führt diese schmale Brücke ins Leben. (tg1 S. 364) 2.1.33 Die Verhältnisse spitzen sich zu. Arnheim ist sehr huldvoll zu General Stumm. Diotima trifft Anstalten, sich ins Grenzenlose zu begeben. Ulrich phantasiert von der Möglichkeit, so zu leben, wie man liest (114) _____________________________________________________________ 312 2.1.33 Die Verhältnisse spitzen sich zu. Arnheim ist sehr huldvoll zu General Stumm. Diotima trifft Anstalten, sich ins Grenzenlose zu begeben. Ulrich phantasiert von der Möglichkeit, so zu leben, wie man liest (114) 2.1.33.1 Schriftsteller und Bücher Im Gespräch mit General Stumm, den die Parallelaktionstruppe bestehend aus Diotima, Arnheim und Ulrich vor der Staatsbiblio- thek getroffen hat, trägt Arnheim zunächst folgendes vor: "Es gibt jetzt fast nur noch Schriftsteller und keine Menschen mehr, die Bücher lesen" fuhr er fort. "Haben Sie sich, Herr General, schon einmal gefragt, wieviel Bücher jährlich gedruckt werden? Ich glaube mich zu erinnern, daß es über hundert Bücher täglich allein in Deutschland sind. Und mehr als tausend Zeitschriften werden täglich gegründet! Jeder schreibt; jeder bedient sich jedes Gedankens als sei- nes eigenen, wenn es ihm paßt; ..." (S. 564) Es scheint, daß diese Bemerkungen eher in unsere Zeit passen als in das Jahr 1913. Zumindest trifft die von Arnheim genannte Zahl der Buchneuerscheinungen eher für die heutige Zeit der computergesteuerten Textverarbeitung und des vollautomatisier- ten Drucksatzes zu. Nach den Angaben der Wochenzeitschrift 'Die Zeit' (Nr. 43, 19.10.2000, S. 28) gab es 1999 in Deutschland 60819 Neuerscheinungen auf dem gesamten Büchermarkt. Für das Jahr 1913, in dem es nicht einmal die Möglichkeit der einfa- chen maschinellen Herstellung von Textkopien gab, erscheint deshalb die Angabe zu hoch. Offensichtlich hatte Musil aber Spaß an derartigen Übertreibungen, wenn man z.B. an die von ihm 'zitierten' Daten einer amerikanischen Unfallstatistik denkt, die in Abschnitt 2.1.2.7 der vorliegenden Arbeit diskutiert wur- den. Arnheim hält Stumm dann einen Vortrag über 'Seele', 'Moral', 'Wissenschaft' und 'Kunst', welcher dem General förmlich die Sprache verschlägt. Erwähnt wird unter anderem auch eine Buchmalerei, die der General nicht zu kennen scheint, deren Herkunft jedoch auch für den heutigen Leser etwas mysteriös erscheint. Der Romantext lautet an dieser Stelle wie folgt: Aber Arnheim schlug den großen Schweinslederband auf, den er in der Hand trug; er enthielt den kostbaren Nachdruck einer Handschrift, ... Der General sah ei- nen Engel, dessen waagrechte Flügel über zwei Seiten 2.1.33.1 Schriftsteller und Bücher _____________________________________________________________ 313 gingen, inmitten eines Blattes stehn, das sonst noch von dunkler Erde, goldenem Himmel und sonderba- ren, wie Wolken gelagerten Farben bedeckt war; er blickte auf das Abbild einer der ergreifendsten und herrlichsten frühmittelalterlichen Malereien, ... (S. 568-569) Die Abbildung des Engels mit den Flügeln, die über zwei Seiten gehen, dürfte fraglich sein. Wären hier zwei Buchseiten gemeint, so müßte die Malerei erst nach dem Binden auf das Pergament gebracht worden sein. Das erscheint höchst unwahrscheinlich. Wäre gemeint, daß ein Engel in der Mitte des Blatts steht und einen Flügel nach links, den anderen nach rechts ausstreckt, die Malerei also nur ein Pergamentblatt ausfüllt, so würde dies der alten Technik entsprechen, aber kaum der alten Ausdrucksweise. Waagrecht ausgestreckte Flügel findet man eigentlich nicht, in der Regel sind gedrehte oder eingezogene Anordnungen gemalt. In der frühen Buchmalerei ist auch im allgemeinen nicht nur ein Engel auf dunkler Erde und goldenem Himmel zu sehen, fast immer sind auch Rahmen, Architekturteile und ähnliches oder Menschen gemalt367. Außer Frage steht jedoch, daß die frühmit- telalterliche Buchmalerei von einzigartiger Schönheit und Far- bigkeit ist. Die Abbildung 67 der Miniatur des 'Engels mit dem Mühlstein' aus der Bamberger Apokalypse, Teil einer Hand- schrift des frühen 11. Jahrhunderts, vermag davon einen Ein- druck zu vermitteln: Abbildung 67 Photographie einer Miniatur aus der Hand- schrift der Bamberger Staatsbibliothek. Die Handschrift, 367 Die Hinweise gab Barbara Thoran. Persönliche Mitteilung, Berlin 2000 2.1.33 Die Verhältnisse spitzen sich zu. Arnheim ist sehr huldvoll zu General Stumm. Diotima trifft Anstalten, sich ins Grenzenlose zu begeben. Ulrich phantasiert von der Möglichkeit, so zu leben, wie man liest (114) _____________________________________________________________ 314 Cod. Bibl. 140 (A II 42), stammt aus dem Kollegiatstift St. Stephan und enthält 106 Pergamentblätter. Das Werk ist höchstwahrscheinlich zur Einweihung des Stifts im Jahre 1020 als Geschenk übergeben worden. Die Handschrift enthält unter anderem die lateinische Apokalypse (Bl. 1- 57r) mit 50 Miniaturen, welche auch die Bamberger Apo- kalypse genannt wird. Eine der Miniaturen (Bl. 46r) stellt den hier gezeigten Engel mit dem Mühlstein dar.368 2.1.33.2 Billard: Theorie, Praxis und Intuition Im Anschluß an diese Rede glänzt Arnheim, der nach eigenen Angaben selbst nicht Billard spielt, mit einer anscheinend per- fekten physikalisch-technischen Analyse des Billardspiels ge- genüber General Stumm. Es heißt im dmoe: Arnheim schloß die Augen und dachte nach. "Ich selbst spiele nie Billard," sagte er dann "aber ich weiß, daß man den Ball hoch oder tief, rechts oder links nehmen kann; man kann den zweiten Ball voll treffen oder streifen; man kann stark oder schwach stoßen; die 'Fälsche' 369 stärker oder schwächer wäh- len; und sicher gibt es noch viele solcher Möglichkei- ten. Ich kann mir nun jedes dieser Elemente beliebig abgestuft denken, so gibt es also nahezu unendlich viele Kombinationsmöglichkeiten. Wollte ich sie theo- retisch ermitteln, so müßte ich außer den Gesetzen der Mathematik und Mechanik starrer Körper auch die Elastizitätslehre berücksichtigen; ich müßte die Koef- fizienten des Materials kennen; den Temperaturein- fluß; ich müßte die feinsten Maßmethoden für die Ko- ordination und Abstufung meiner motorischen Im- pulse besitzen; meine Distanzschätzung müßte genau wie ein Nonius370 sein; mein kombinatorisches Ver- mögen schneller und sicherer als ein Rechenschieber; zu schweigen von der Fehlerrechnung, der Streubreite und dem Umstand, daß das zu erreichende Ziel der richtigen Koinzidenz der Bälle selbst kein eindeutiges ist, sondern eine um einen Mittelwert gelagerte Gruppe von eben noch genügenden Tatbeständen darstellt." (S. 570) 368 Siehe dazu: Helga Unger Text und Bild im Mittelalter. Illuminierte Handschriften aus fünf Jahrhunderten in Faksimileausgaben Graz 1986, S. 54-55 u. Tafel 5 369 Man kann dem Spielball mit Hilfe des Queues einen bestimmten Effet (Dreh- impuls) geben, der hier wahrscheinlich 'Fälsche' genannt wird. 370 Hilfseinteilung, mit deren Hilfe man an Längenmeßgeräten (Schublehre) die Ablesegenauigkeit enorm steigern kann. 2.1.33.2 Billard: Theorie, Praxis und Intuition _____________________________________________________________ 315 Obwohl Arnheim die Theorie des Billardspiels prinzipiell richtig darstellt, scheint bei seiner Erklärung doch wichtiges unberück- sichtigt zu bleiben. Der Einfachheit halber betrachtet man nur eine einzige Konfiguration von Spielball und zwei weiteren Bäl- len. Die Aufgabe sei, den Spielball mit dem Queue so anzusto- ßen, daß er hintereinander mit beiden Bällen kollidiert. Voraus- gesetzt wird: die Bälle sind so konfiguriert, daß ein solcher Dop- pelstoß nicht gänzlich ausgeschlossen ist. Weiterhin soll ange- nommen werden, daß die Entfernungen und Winkel zwischen den Kugeln genau vermessen sind. Zusätzlich ist bekannt, wie groß und schwer die Bälle sind, und welche Elastizitätskoeffi- zienten deren Material in Abhängigkeit von Temperatur und Luftfeuchtigkeit besitzt. Außerdem gibt es genaue Daten dar- über, wieviel kinetische Energie beim Lauf der Kugeln auf dem Tuch und Stoß zwischen den Kugeln in Wärme umgewandelt wird (Reibungsenergie)371. Es ließe sich dann aus den Gesetzen des unelastischen, nichtzen- tralen Stoßes372 unter zusätzlicher Berücksichtigung des Dreh- impulses (Effet373) des Spielballes und seiner Übertragung auf die gestoßenen Bälle schließlich unter riesigem Rechenaufwand (Großcomputer wäre nötig) ermitteln, mit welcher vektoriellen Anfangsgeschwindigkeit und mit welchem vektoriellen Drehim- puls der Spielball loslaufen müßte, damit er mit beiden anderen Bällen zusammenstoßen könnte. Das Rechenergebnis wäre mit einem angebbaren Fehler behaftet, der aber wahrscheinlich klein genug für eine sichere Voraussage der gewünschten Kollisionen wäre. Hätte man zusätzlich noch alle Daten für den Billardstock (Queue) zur Verfügung, also Größe, Masse, Elastizitätskonstan- ten - auch für die Queuespitze - usw., so wäre es durch eine wei- tere umfangreiche Computerrechnung sogar noch möglich, Treffpunkt, Stoßrichtung und Stoßgeschwindigkeit für das Queue zu berechnen, die zu den geforderten dynamischen An- fangsbedingungen des Spielballs führen. Die benötigte Gesamt- zeit für diese Rechnungen wäre aber vermutlich so groß, daß ein realistisches Spiel auf dieser Basis ausgeschlossen wäre. In ei- nem Modellspiel, das direkt 'auf dem Computer' ausgeführt wird, 371 Sollte für den Stoß eine zusätzliche Berührung mit einer Bande des Brettes not- wendig sein, müssen die Stoffdaten der Bande und die Reibungskoeffizienten für Ball und Bande ebenfalls bekannt sein. 372 Siehe z. B. DTV-Lexikon d. Phys., Bd. 8, S. 284-286 373 Zusätzlich zur Drehung, welche der Ball durch die Rollbewegung erhält, kann man durch nichtzentrales Stoßen dem Ball eine Eigendrehung mitgeben. Man spricht im Billard von Effet bzw. Kontereffet. Im Extremfall kann man sogar errei- chen, daß die Kugel kurz nach dem Stoß wieder zurückläuft (Rückläufer!). 2.1.33 Die Verhältnisse spitzen sich zu. Arnheim ist sehr huldvoll zu General Stumm. Diotima trifft Anstalten, sich ins Grenzenlose zu begeben. Ulrich phantasiert von der Möglichkeit, so zu leben, wie man liest (114) _____________________________________________________________ 316 stellt sich die Sache natürlich viel einfacher dar. Dort kann mit sehr vereinfachten Modellbedingungen gerechnet werden, und die dynamischen Größen sind nur innerhalb gewisser Grenzen veränderbar. In Abbildung 68 wird gezeigt, wie man zumindest unter idealisierten Bedingungen den auszuführenden Bandenstoß eines Balles zeichnerisch sehr einfach ermitteln kann. Unter Ide- albedingungen gilt das Reflexionsgesetz, das man sich in Kurz- form als 'Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel'374 merken kann: Abbildung 68 Die Zeichnung zeigt schematisch den Be- wegungsverlauf eines Billardballes unter idealisierten Bedingungen: keine Reibungsverluste, Drehbewegung ohne Einfluß. Im Punkt A rollt der Ball mit der Vektorge- schwindigkeit v in Richtung Bande (in der Zeichnung ist die Vektorwertigkeit durch einen Pfeil über dem entspre- chenden Zeichen gekennzeichnet), dort wird er im Punkt B elastisch zurückgeworfen (Impulsänderung) und erreicht den Punkt C mit der Geschwindigkeit v' . In der Zeichnung ist angegeben, wie die Geschwindigkeit jeweils in die hori- zontalen und vertikalen Komponenten zerlegt wird. Wäh- rend die horizontale Komponente unverändert bleibt, än- dert die vertikale Komponente ihr Vorzeichen: v'v = -vv . Die Kugel rollt also mit der Gesamtgeschwindigkeit v' = vh - vv nach der Bandenkollision weiter. Man beachte, daß die vektorielle Addition anhand der eingezeichneten Rechtek- ke geschieht. Wäre der Stoß nicht ganz elastisch, so hätte man eine geringere Vertikalgeschwindigkeit anzusetzen. Siehe: Kamke und Walcher, S. 173. 374 Einfalls- bzw. Ausfallswinkel werden gewöhnlich relativ zur Normalen im Auf- treffpunkt der Reflektorwand gemessen (siehe z. B. Pohl, Bd. 1, S. 218). Gäbe man dem Ball eine Eigendrehung (Winkelgeschwindigkeit), die an der Bande wirksam würde, so gälte natürlich das einfache Reflexionsgesetz nicht mehr. Der Ausfalls- winkel würde kleiner oder größer als der Einfallswinkel. Man denke an überzogene und unterschnittene Bälle im Tennis. 2.1.33.2 Billard: Theorie, Praxis und Intuition _____________________________________________________________ 317 Der zweite Teil des Spieles aber, den Arnheim trotz seiner sonst überlangen Erklärungen nicht mehr ausführlich betrachtet, näm- lich die tatsächliche Ausführung der vorausberechneten Bewe- gung des Queues zum vorausberechneten Treffpunkt des Spiel- balles durch Menschenhand, läßt sich eben nicht mehr theore- tisch bewerkstelligen. Das mathematisch genau vorausberech- nete Anstoßen des Spielballes muß durch einen geübten Spieler technisch umgesetzt werden, und dessen Aktion ist nicht mehr kalkulierbar. Vielleicht ließe sich heute ein Roboter für diesen Zweck entwickeln. Zu Musils Zeiten war aber ein 'Billard- Roboter' noch nicht herstellbar. Für Arnheim hätte es ausgereicht, wenn er sich mit dem im fol- genden zitierten Schlußsatz begnügt hätte, welcher die Quint- essenz seiner mündlichen Bemühungen ganz gut enthält: " ... Sie sind sicher Mathematikers genug, um beurtei- len zu können, welche lebenslängliche Aufgabe es wä- re, wenn man auf diese Weise auch nur den Verlauf eines einfachen Karambolstoßes berechnen wollte; der Verstand läßt uns einfach im Stich! Trotzdem trete ich ... an das Brett heran, gebe mir kaum die Mühe, die Situation zu betrachten, stoße zu und löse die Auf- gabe! Herr General, das gleiche geschieht im Leben unzähligemal! ..." (S. 570) Was also vor allen Dingen beim Billardspiel gebraucht wird, fehlt Arnheim: Intuition. Die versteckte Spitze gegen Arnheim dürfte naheliegen. In einer anderen Fassung dieser Beschreibung des Billardspieles, die sich im Nachlaß findet, arbeitet Musil den Punkt der fehlenden Intuition Arnheims deutlicher heraus. Dort heißt es: ... löst in dieser nachlässigen Weise oft glänzend eine Aufgabe, welche für die Überlegung nicht zu bewälti- gen. Übrigens nicht nur beim Billard, sondern unzäh- ligemal beim Tennis, Fechten, Schießen, Wettkämp- fen aller Art, ja eigentlich überall. ... Da war zum Beispiel das Geschäft, wo es doch scheinbar darauf ankommt, der Schlauere zu sein. Aber seit Arnheim darin tätig war, ... schoß es nicht mehr so gerade in die Höhe wie zu Anfang in seiner 'heroischen Zeit'. ... es gibt eben auch für Geschäfte eine geheime innere Grenze ... In diesem Fall entzieht sich also der mate- rielle Erfolg dem Willen und der Berechnung, und der Mensch gerät in die Lage des Wilden dem Donner gegenüber. So aber fand sich Arnheim bei den verschiedensten Fragen von seinem Verstand hilflos gelassen. (nl VII/3/217) 2.1.33 Die Verhältnisse spitzen sich zu. Arnheim ist sehr huldvoll zu General Stumm. Diotima trifft Anstalten, sich ins Grenzenlose zu begeben. Ulrich phantasiert von der Möglichkeit, so zu leben, wie man liest (114) _____________________________________________________________ 318 Intuition wird auch in Tagebuchaufzeichnungen Musils bespro- chen. Dort wird sie ausdrücklich im Zusammenhang mit einem einfachen Karambolstoß beim Billard erwähnt: Intuition. Nennen wir das, was es beim Billardspiel gibt, Intuition. Das ist ein Tatbestand. Der gleiche zeigt sich beim Fechten, Athletiksport, Radfahren, natürlich auch schon beim Gehen-, Sprechen-, Lesenlernen. Ohne diese Intuition könnte keine Katze über einen Graben springen. Diese Intuition braucht ein Arzt gegenüber dem Symptomenkomplex oder den Möglichkeiten der Be- handlung. Sie hat ein Dichter, der sein Werk nicht errechnet, sondern dem es einfällt. (tg2 S. 1169) Im Roman hören sich die Überlegungen zur Intuition allerdings wieder paradox an: In anderer Hinsicht wieder vollzieht sich die Lösung einer geistigen Aufgabe nicht viel anders, wie wenn ein Hund, der einen Stock im Maul trägt, durch eine schmale Tür will; er dreht dann den Kopf solange links und rechts, bis der Stock hindurchrutscht, und ganz ähnlich tun wir's, ... Und wenn ein kluger Kopf natürlich auch weit mehr Geschick und Erfahrung in den Drehungen hat als ein dummer, so kommt das Durchrutschen doch auch für ihn überraschend, es ist mit einemmal da, und man kann ganz deutlich ein leicht verdutztes Gefühl darüber in sich wahrnehmen, daß sich die Gedanken selbst gemacht haben, statt auf ihren Urheber zu warten. Dieses verdutzte Gefühl nennen viele Leute heutigentags Intuition, nachdem man es früher auch Inspiration genannt hat, und glauben etwas Überpersönliches darin sehen zu müssen; ... (S. 112) 2.1.33.3 Hunde, Blätter und physikalische Gesetze Im gleichen Kapitel findet später zwischen Ulrich und Diotima eine Unterhaltung statt, in welcher Ulrich in ähnlicher Weise die Unzulänglichkeit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit in bezug auf bestimmte Entscheidungsfindungen im Leben erörtert: Also sprach auch er auf Umwegen. "Haben Sie schon je einen Hund gesehen?" fragte er. "Das glauben Sie bloß! Sie haben immer nur etwas gesehen, das Ihnen mit mehr oder weniger Recht als ein Hund vorkam. Es 2.1.33.3 Hunde, Blätter und physikalische Gesetze _____________________________________________________________ 319 hat nicht alle Hundeeigenschaften, und irgendetwas Persönliches hat es, das wieder kein anderer Hund hat. Wie sollen wir da je im Leben 'das Richtige' tun? ... Und ist schon jemals ein Ziegel so vom Dach gefal- len, wie es das Gesetz vorschreibt? Niemals! Nicht einmal im Laboratorium zeigen sich die Dinge so, wie sie sein sollen. Sie weichen regellos nach allen Rich- tungen davon ab, und es ist einigermaßen eine Fikti- on, daß wir das als Fehler der Ausführung ansehen und in ihrer Mitte einen wahren Wert vermuten. ... Ich habe Ihnen früher einmal gesagt, daß in der Welt desto weniger Persönliches übrigbleibt, je mehr Wahres wir entdecken, denn es besteht schon lange ein Kampf gegen das Individuelle, dem immer mehr Boden abgenommen wird. ..." (S. 572) Bezüglich der Hundeeigenschaften sagt Ulrich, daß ein 'Ding' erst durch die Summe aller seiner Eigenschaften, die wir natür- lich niemals kennenlernen können, eindeutig und restlos charakterisiert sei. Wenn man von einem Hund im allgemeinen spreche, so verstehe man eigentlich darunter nur bestimmte, für einen Hund vermeintlich wesentliche Eigenschaften. Das Indivi- duelle eines jeden Hundes falle dabei völlig heraus. Ganz ähnli- che Überlegungen gibt es bekanntlich bei Nietzsche. Er schreibt in seinen 'Nachgelassenen Schriften' 375, daß keinesfalls die dem einzelnen Blatt eigentümliche Struktur gemeint sei, wenn von einem Blatt gesprochen werde, sondern nur eine uns wesentlich erscheinende Urform eines Blatts. Nietzsche führt folgendes aus: ... Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen. So gewiss nie ein Blatt einem anderen ganz gleich ist, so gewiss ist der Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschie- denheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet und erweckt nun die Vorstellung, als ob es in der Natur außer den Blättern etwas gäbe, das "Blatt" wäre, etwa eine Urform, nach der alle Blätter gewebt, gezeichnet, abgezirkelt, gefärbt, gekräuselt, bemalt wären, aber von ungeschickten Händen, so dass kein Exemplar correkt und zuverlässig als treues Abbild der Urform ausgefallen wäre. ... Was ist also Wahr- heit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metony- mien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die poetisch und rhetorisch 375 Zu Musils Lieblingsphilosophen scheinen vor allem Nietzsche und Kant gehört zu haben. Sie werden im Laufe des Romans sehr oft indirekt oder direkt als Zeugen angerufen. Der Name Nietzsches erscheint im dmoe ca. 80-mal, derjenige Kants 12- mal. 2.1.33 Die Verhältnisse spitzen sich zu. Arnheim ist sehr huldvoll zu General Stumm. Diotima trifft Anstalten, sich ins Grenzenlose zu begeben. Ulrich phantasiert von der Möglichkeit, so zu leben, wie man liest (114) _____________________________________________________________ 320 gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusio- nen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Be- tracht kommen. 376 Die Verbindung zum Romantext ist unmittelbar. Ein vom Dach fallender Ziegel, so stellen wir uns schematisierend vor, gehorcht im wesentlichen dem Fallgesetz. In 'Wirklichkeit' ist der fallende Dachziegel einer großen Zahl unterschiedlicher Einflüsse unter- worfen, so daß das Fallgesetz darin kaum wiederzuerkennen ist. Jeder Ziegel fällt also in ganz besonderer Weise vom Dach. Ul- rich geht zurecht sogar so weit zu behaupten, die Dinge richteten sich nicht einmal im Laboratorium vollständig nach dem zu un- tersuchenden Gesetz. Schon in Abschnitt 2.1.29.3 dieser Arbeit wurde darauf hingewiesen, daß jedes physikalische Gesetz nur für idealisierte Modellvorgänge streng gültig sein kann. Beim Nachweis eines solchen Gesetzes findet man in der Realität im- mer gewisse Abweichungen, die mit der Ungenauigkeit unserer Messung und systematischen Unzulänglichkeiten zu tun haben. Nur in den Mittelwerten der Ergebnisse solcher Messungen mag man das gesuchte Gesetz wiedererkennen. 'Nietzsches Blatt' würde man wahrscheinlich ebenfalls durch Mittelwertbildung zustande bringen. Dazu ließe sich zunächst nur die äußere Form betrachten. Man könnte 10000 Lindenblät- ter, 10000 Eichenblätter, usw. jeweils übereinanderlegen und mit einer geeigneten Methode graphisch den 'Formmittelwert' für Linden-, Eichen-, Ahornblätter, ... bestimmen. Aus diesen Mit- telwerten wäre dann wiederum durch Mittelung ein Überblatt zu zeichnen. So erhielte man bezüglich der äußeren Gestalt eine 'Blatturform'. Man müßte dies Verfahren dann für alle weiteren Eigenschaften fortsetzen, also für Stofflichkeit, Plastizität, Mase- rung, Farbe, usw.. Vielleicht käme man schließlich zu einem Blatt, was in allen nur vorstellbaren Dimensionen nur noch Mit- telmaß hätte und mit Nietzsches Urform eines Blattes gleichzu- setzen wäre. Wittgenstein greift später auch das Beispiel des 'Blattes' auf, um bestimmte Korrelationen zwischen Denken und Sprache aufzu- 376 Nietzsche Nachgelassene Schriften 1870-1873. Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne 1 KSA, Bd. 1, München 1988, S. 880-881 2.1.33.3 Hunde, Blätter und physikalische Gesetze _____________________________________________________________ 321 decken. Er bezieht sich ebenfalls auf Durchschnittsmerkmale und schreibt folgendes: Es gibt eine ... Tendenz zu denken, daß der, der ge- lernt hat, eine allgemeine Bezeichnung zu verstehen, etwa die Bezeichnung "Blatt", dadurch so etwas wie ein allgemeines Bild von einem Blatt gewonnen hat, im Gegensatz zu Bildern von bestimmten Blättern. Man hat ihm verschiedene Blätter gezeigt, als er die Bedeutung des Wortes "Blatt" lernte; ... Wir sagen, daß er das sieht, was all diesen Blättern gemeinsam ist; und das ist wahr, wenn wir damit meinen, daß er, wenn er gefragt wird, uns bestimmte Merkmale oder Eigenschaften nennen kann, die sie gemeinsam haben. Aber wir sind geneigt zu denken, daß die allgemeine Vorstellung von einem Blatt so etwas wie ein visuelles Vorstellungsbild ist, ... Das ist wiederum mit der Idee verbunden, daß die Bedeutung eines Wortes ein Vorstellungsbild ist, oder eine Ding, das mit dem Wort korreliert ist. 377 377 Ludwig Wittgenstein Werkausgabe in 8 Bänden. Das Blaue Buch. Rush Rhees (Hg.), Petra von Morstein (Übers.), Bd. 5, Frankfurt a. Main 1997, S. 38 2.1.34 Die Parallelaktion erregt Aufruhr (120) _____________________________________________________________ 322 2.1.34 Die Parallelaktion erregt Aufruhr (120) 2.1.34.1 Gleichgewichtszustände und Geister- Seher Clarissens Ehemann Walter trifft in der Stadt (Wien) eine eigen- artige Unruhe an, die mit dem Widerstand der Bevölkerung gegen die Parallelaktion zu tun hat und schließlich in einen lokalen Aufstand der Menge umschlägt. Honold schreibt: Der "Aufruhr", den die Parallelaktion durch ihre Brüskierung der germanophilen Kräfte erregte, verwandelte die "innere Stadt" in den Schauplatz einer Ausnahmesituation. ... Das Eintauchen des Einzelnen in die Menge setzt "etwas unver- nünftig Überströmendes und über die Vernunft Wegströmendes" frei. Für sich betrachtet, erscheinen Walter die Demonstrieren- den als harmlose und friedfertige Bürger, "Mitläufer wie er". Dynamik erhält ihre Versammlung, bei der weder Botschaften noch Ziele erkennbar werden, durch den allein von der großen Zahl bewirkten Eindruck, "daß sie sich zu einer allen gemeinsa- men Kraft vereinten. ... " (Honold Die Stadt und der Krieg S. 446-447). Der Romanerzähler kennzeichnet die Stimmung Walters in der folgenden Weise: Als Walter die innere Stadt betrat, lag etwas in der Luft. Die Leute gingen nicht anders als sonst, ... trotz- dem schien alles mit einem kleinen Merkzeichen ver- sehen zu sein, dessen Spitze in eine bestimmte Rich- tung wies, und kaum war Walter einige Schritte ge- gangen, so fühlte er dieses Zeichen auch an sich. Er folgte der Richtung ... ... auch die Straßen gerieten mit ihrer Tätigkeit und ihren putzübersäten, großtuenden Häusern in einen ähnlichen 'Vorzustand', wie er das bei sich nannte, denn es machte ungefähr den Eindruck einer kristal- lenen Form auf ihn, deren Flächen in einer Flüssig- keit nachzugeben beginnen und in einen älteren Zu- stand zurückfallen. So altgesinnt er war, ... so gern war er bereit, für sich selbst das Gegenwärtige zu verurteilen, und die Auflösung der Ordnung, die er spürte, regte ihn günstig an. (S. 625) Das Phänomen der 'Eigendynamik der Massen', in die sich auch Walter einbezogen sieht, wird eindrücklich anhand der Metapho- rik des schmelzenden Kristalls geschildert. Dabei verwendet Musil einen für den Roman zentralen Begriff, nämlich Zustand, 2.1.34.1 Gleichgewichtszustände und Geister-Seher _____________________________________________________________ 323 der sozusagen als Markenzeichen378 anzusehen ist (s. auch Ab- schnitt 2.2.1.1 dieser Arbeit). Der Begriff wird auffällig häufig gebraucht379. Im oben zitierten Textabschnitt kommt er allein dreimal vor, das vorhergehende Kapitel 119 schließt mit ihm; in einem späteren, vorbereitenden Kapitel zum viel diskutierten anderen Zustand wird in 'metaphysischer Weise' auf Zustände und Zustandsänderungen aufmerksam gemacht. Dort erscheint der Begriff auf den letzten zwei Seiten mehr als zehnmal. Musil gibt dabei den Text des bekannten Metaphysikus' Swedenborg wieder, über den er sich einerseits lustig macht, andererseits aber diesen Aspekt eines Zustands nicht auslassen will. Es soll der relevante Teil des entsprechenden Kapitels zitiert werden: " ..., so fehlt doch den Engeln jeder Begriff und jede Vorstellung von Raum und Zeit. ... Wo Jahre und Tage sind, herrschen Zeiten, wo Zustandsänderungen sind, Zustände. ... Hören sie einen Menschen davon (von der Zeit) reden ... dann verstehen sie darunter Zustände und Zustandsbestimmungen. Der Mensch denkt aus der Zeit, der Engel aus dem Zustand; ... Alle Bewegungsvorgänge in der geistigen Welt geschehen durch innere Zustandsänderungen. ... ich wurde in die Sphäre des Himmels zum Bewußtsein der Engel erhoben und von Gott durch die Reiche des Himmels geführt ... Alle Engel bewegen sich so von Ort zu Ort, deshalb gibt es für sie keine Abstände, folglich auch keine Entfernungen, sondern nur Zustände und Zustandsänderungen. Jede Annäherung ist eine Ähnlichkeit innerer Zustände, jede Entfernung eine Verschiedenheit; Räume im Himmel sind nichts als äußere Zustände, die den inneren entsprechen. Jeder wird in der geistigen Welt dem anderen sichtbar erscheinen, ... denn dann versetzt er sich in seinen Zustand; ...." ... Ulrich hatte das ... in einer Auswahlausgabe von Swedenborg380 aufgefunden ... weil es ihm sehr angenehm war, diesen alten 378 Vielleicht vergleichbar mit Neidharts Erkennungszeichen der dörper, die ständig in verschiedenen Zusammenhängen seiner Dichtung aufgerufen werden. Siehe: Die Lieder Neidharts Edmund Wießner, Hanns Fischer, Paul Sappler (Hg. u. Beab.), 4. Auflage, Tübingen 1984, S. 68, S. 72. Vergleiche dazu: Dieter Kühn Neidhart und das Reuental. Eine Lebensreise. Frankfurt am Main 1996. Kühns Darstellung ist auch für Nichtmediävisten zu verstehen. Für Fachleute dürfte eher Schweikles Monographie geeignet sein: Günther Schweikle Neidhart Stuttgart 1990, S. 123 ff 379 Wie häufig er im dmoe vorkommt, wissen wir nicht. Im Nachlaß wird er jedoch weit über 2000 mal gebraucht. 380 Emmanuel Swedenborg (1688-1772) schwedischer Naturforscher, der eine Na- turphilosophie entwickelte und später mehr okkult-mystisch gerichtet war. Sweden- borg war aber offenbar Mediziner und nicht Ingenieur, wie Musil behauptet. (Philo- sophisches Wörterbuch, Georgi Schischkoff (Neubearb.), Stuttgart 1978, S. 657) 2.1.34 Die Parallelaktion erregt Aufruhr (120) _____________________________________________________________ 324 Metaphysikus und gelehrten Ingenieur – von dem übrigens Goethe, ja sogar Kant381 keinen geringen Eindruck empfangen hatte – so sicher vom Himmel und den Engeln reden zu hören, als wären es Stockholm und seine Bewohner. (S. 1202-1203) Honold bemerkt dazu: So ist auch nicht als Verabschiedung aus der geschichtlichen Welt zu deuten, wenn der Autor durch die Feder seines Protagonisten an das Ende der letzten zur Druckle- gung fertiggestellten Kapitel einige Worte des schwedischen Geistersehers Swedenborg setzen ließ, ... Die himmlische Rede von jenen Wesen, welchen "jeder Begriff und jede Vorstellung von Raum und Zeit" abgeht, sie ist dem Mann ohne Eigenschaf- ten Vorspiel nur des eigenen, kommenden Textes, den ... die letzte Zeile erst in Aussicht stellen kann, die den 1938 beendeten Teilband zu einem trügerischen Abschluß brachte: "Und so schrieb er nieder, was er gedacht hatte." (Honold Die Stadt und der Krieg S. 485-486) Im Nachlaß erläutert Musil die Begriffe 'Zustand' und 'Zustands- gleichungen' vom physikalischen Standpunkt aus: ... außerdem gibt es sogar in den mathematisch behandelten Naturwissenschaften genug Ausdrücke, worin aus den verschiedensten Gründen die Zeit nicht enthalten ist, und die doch Vorgänge beschreiben. Mir sind darunter besonders die sogenannten Zustands- gleichungen aufgefallen, das sind Formeln, die einen Vorgang dadurch berechnen lassen, daß sie für jeden Augenblick angeben, wie seine wichtigsten Bestim- mungsstücke untereinander zusammenhängen; (nl II/2/22) ... Die den variablen Zustand eines Systems während eines Prozesses bestimmenden Größen heißen Zu- standsgrößen, die zwischen ihnen bestehenden Bezie- hungen Zustandsgleichungen382. Eine bestimmte An- zahl der Zustandsgrößen ist unabhängig voneinander, die übrigen hängen von jener ab ... Die Zustands- gleichungen sind i.a. sehr verwickelt, ... (nl II/6/164) 381 Die Bemerkung über Kant dürfte ironisch zu lesen sein. Denn Kant präsentierte Swedenborg als Beispiel für 'unwissenschaftliche Philosophie'! (Philosophisches Wörterbuch, S. 658) 382 Die Formel wurde hier der Klarheit halber unterdrückt. 2.1.34.2 Statistische Mechanik, Berechnung der Zustandsgleichung des idealen Gases _____________________________________________________________ 325 2.1.34.2 Statistische Mechanik, Berechnung der Zustandsgleichung des idealen Gases Um das Verständnis für die naturwissenschaftlichen Zusammen- hänge, in denen diese Begriffe auftauchen, zu erleichtern, soll ergänzend zu Musils Erklärungen der physikalische Gehalt an- hand der Aussagen der Thermodynamik und statistischen Me- chanik herausgearbeitet werden. Dies erscheint auch deshalb notwendig, weil in der Sekundär- literatur zum dmoe oft fälschlicherweise von verschiedenen thermodynamischen Modellen gesprochen wird, wenn eigentlich nur von makroskopischer und mikroskopischer Betrachtungs- weise ein und desselben thermodynamischen Systems gespro- chen wird. So folgt Moser383 z.B. einem Vorgänger in der Dis- kussion des Vergleichs einer Großstadt mit einem thermody- namischen System, in dem er von ganz verschiedenen ther- modynamischen Modellen spricht, die an die Namen Carnot und Boltzmann gebunden seien (siehe dazu die Abschnitte 2.1.22.1, 2.1.29.6 und 2.1.29.7 der vorliegenden Arbeit). Im folgenden wird der Gleichgewichtszustand (stationärer Zu- stand) eines abgeschlossenen thermodynamischen Systems (z.B. eines verdünnten Gases) betrachtet, der durch die aktuellen Wer- te seiner charakteristischen unabhängigen makroskopischen Zu- standsvariablen, wie z.B. Volumen und Temperatur, bestimmt ist. Ein solcher makroskopischer Zustand ist festgelegt durch die gewählten äußeren Zustandsparameter und die sich dazu einstel- lenden Zustandsgrößen. Im mikroskopischen Bild wird dies System als ein Vielteilchen- system angesehen, dessen Teilchen im allgemeinsten Fall durch die Quantenmechanik beschrieben werden384. Die Beschreibung gelingt anhand einer Wellenfunktion ψ, die von einer großen Anzahl Koordinaten abhängt, welche das System charakterisie- ren. Die Anzahl der Koordinaten wird dabei durch die Zahl der 383 Moser Zur Erforschung des modernen Menschen S. 121. Moser redet in diesem Aufsatz undifferenziert und z.T. unrichtig von den Methoden der statistischen Me- chanik und deren Anwendung auf die Beschreibung eines thermodynamischen Sy- stems (siehe S. 119-122). Es heißt dort unter anderem ganz irreführend auf S. 121: "Die statistisch-probablistische Strategie verzichtet auf die Bestimmbarkeit der Ein- zelpartikel, gesteht auf ihrer Ebene das Mitspielen von Zufall, von aleatorischem Verhalten ein und verschiebt die Möglichkeit ihrer Erkenntnis auf die Ebene der großen Zahl." 384 Die hier gewählte Darlegung stützt sich auf die folgenden Lehrbücher: Reif, S. 57-76, S. 110-116; Diu et al., S. 200-214, S. 325-332, S 352-403; Huang, p. 62-65, S. 130-135, S. 143-148 2.1.34 Die Parallelaktion erregt Aufruhr (120) _____________________________________________________________ 326 Freiheitsgrade des Systems festgelegt. Man schreibt im physika- lischen Formalismus: ψ( q1, ...... , qf ) , wobei die Koordinaten q1, ...... , qf entsprechend der Anzahl der Freiheitsgrade f durchnumeriert sind. Ein bestimmter Quan- tenzustand des Systems ist dann durch einen Satz von f Quanten- zahlen spezifiziert. In den folgenden Überlegungen soll vor- rangig die quantenmechanische Betrachtungsweise benutzt wer- den, da sie für alle atomaren Systeme Gültigkeit und in formaler Hinsicht auch Vorteile hat. Die Behandlung des Vielteilchensystems im Rahmen der klassischen Mechanik besitzt aber große Ähnlichkeit mit derjenigen der Quantenmechanik, wie hier kurz skizziert werden soll. Ein klassisches N-Teilchensystem wird durch die Anzahl seiner Ortskoordinaten qi und Impulskoordinaten pi vollständig beschrieben, welche gewöhnlich in der folgenden Form aufge- schrieben werden: q1, ...... , qf ; p1, ...... , pf , wobei die Zählung der Koordinaten jeweils über die Anzahl der Freiheitsgrade f läuft. Für ein Gas beispielsweise, welches aus N punktförmigen Teilchen besteht, ist jedes einzelne Teilchen durch seine drei Orts- und Impulskoordinaten charakterisiert, so daß mit f = 3N insgesamt 6N Koordinaten zur Beschreibung erforderlich sind. Der vieldimensionale 'Punkt', der durch diese 2f Koordinaten bezeichnet wird, liegt im Phasenraum des betrachteten Systems. Dieser Phasenraum wird nun in genügend kleine Zellen mit dem Volumen ∆q1 ... ∆qf ∆p1 … ∆pf eingeteilt, so daß man einen bestimmten Systemzustand durch die Angabe kennzeichnet, in welcher Zelle sich der Phasenraumpunkt mit den Koordinaten q1, ...... , qf ; p1, ...... , pf gerade befindet. Man betrachtet nun das einfachste abgeschlossene thermodyna- mische System, das vollkommen isolierte System, welches den äußeren Bedingungen konstanter Energie, konstanten Volumens und konstanter Masse genügt. Der Makrozustand dieses Systems wird also durch feste Energie, festes Volumen und vorgegebene Teilchenzahl bestimmt. Mit diesen makroskopischen Bedingungen des isolierten Sy- stems ist natürlich eine unerhört große Anzahl mikroskopischer Zustände verträglich. Denn die Gesamtenergie kann ja in ganz unterschiedlicher Weise auf die Teilchen verteilt sein. Diese mit den äußeren makroskopischen Zustandsbedingungen zu verein- 2.1.34.2 Statistische Mechanik, Berechnung der Zustandsgleichung des idealen Gases _____________________________________________________________ 327 barenden mikroskopischen Zustände werden zugängliche Zustände genannt, und es wird angenommen, daß jeder dieser Zustände gleichwahrscheinlich ist. Man betrachtet dann zur weiteren theoretischen Beschreibung ein Ensemble, hier im Fall des isolierten makroskopischen Systems das mikrokanonische Ensemble von Systemen, die sich in diesen zugänglichen mikro- skopischen Zuständen befinden und gleiche Wahrscheinlichkeit haben. Irgendeine meßbare Eigenschaft y des isolierten Systems kann dann durch die Berechnung des entsprechenden Ensemblemittel- werts angeben werden. Die Gesamtanzahl der zugänglichen Zu- stände, die einer festen Energie E in einem bestimmten Feinein- teilungsbereich (bei konstanter Teilchenzahl und konstantem Volumen) entsprechen, sei Ω(E). In dieser Anzahl befinde sich eine gewisse Zahl von Zuständen Ω(E, yi ), für die zusätzlich die gewählte Eigenschaft y den Wert yi annimmt. Die Wahrschein- lichkeit für y, den Wert yi anzunehmen, ist dann durch den fol- genden Quotienten gegeben: p(yi) = Ω(E, yi ) / Ω(E) , und der gesuchte Mittelwert der Größe y ergibt sich als arithme- tisches Mittel über die betrachteten Systeme des Ensembles: = ( Σi yi Ω(E, yi )) / Ω(E) , wobei die Summation Σi über die möglichen Werte der Eigen- schaft y läuft. Die zugehörige statistische Verteilung für y ist eine Gaußverteilung mit äußerst scharfen Maximum ( = Erwar- tungswert = arithmetischer Mittelwert). 385 Den Logarithmus der Gesamtzahl der zugänglichen Zustände, multipliziert mit der Boltzmannkonstanten k, definiert man nun als Entropie des mikrokanonischen Ensembles anhand der durch Boltzmann berühmt geworden Beziehung: S = k logΩ . Zu beachten ist: die Zahl der zugänglichen Zustände Ω ist so ungeheuer groß, daß ihr Logarithmus immer noch die Größen- ordnung der Teilchenzahl N hat, also für thermodynamische Sy- steme ≈1020 beträgt. Dadurch läßt sich zeigen, daß die Entropie auch als Logarithmus der Zustandsdichte zu schreiben ist: S = k logω mit Ω(E) = ω(E) ∆E , 385 Speziell hierzu: Diu et al., S. 212-214 2.1.34 Die Parallelaktion erregt Aufruhr (120) _____________________________________________________________ 328 wobei ω die Dichte der Zustände der Energie und ∆E den Fein- einteilungsbereich der Energie bezeichnet. Die Entropie ist folg- lich unabhängig vom gewählten Energie-Intervall ∆E. Es läßt sich weiterhin nachweisen386, daß die hier angegebene statistische Definition der Entropie S mit der thermodynami- schen Zustandsgröße S(E,V) übereinstimmt. Insbesondere kann man die folgenden charakteristischen Eigenschaften zeigen: (i) S ist eine nicht negative extensive Größe, d.h. sie verhält sich additiv. (ii) S erfüllt die Bedingungen, die an den zweiten Hauptsatz geknüpft sind, sie ist konstant und maximal im Gleichgewicht und wächst im Nichtgleichgewicht solange, bis der Gleichge- wichtszustand erreicht ist.387 Folglich läßt sich jede thermodynamische Größe eines isolierten makroskopischen Systems dadurch berechnen, daß zunächst die Entropie mit dem statistischen Formalismus berechnet wird, und anschließend die entsprechende thermodynamische Beziehung zwischen der Entropie und der gesuchten Zustandsgröße ange- wandt wird (s. Abschnitt 2.1.22.1 dieser Arbeit). Das isolierte System bzw. das mikrokanonische Ensemble ist für die meisten Rechnungen jedoch unpraktisch. Im allgemeinen wird ein System bei konstant gehaltener Temperatur betrachtet, also ein kleineres System Akl in thermischem Kontakt mit einem sehr viel größeren thermodynamischen System Agr konstanter Temperatur, einem Thermostaten. Theoretisch wird ein abgeschlossenes Gesamtsystem behandelt, welches aus Akl und Agr besteht. Für das zusammengesetzte System gilt dann Abgeschlossenheit und damit wieder die Bedingung des mikrokanonischen Ensembles. Man kann dem Gleichwahrscheinlichkeitspostulat folgend angeben, daß die Wahrscheinlichkeit pℓ dafür, das System Akl in einem mikrosko- pischen Zustand ℓ mit der Energie Eℓ vorzufinden, proportional zur Anzahl der zugänglichen Zustände des Gesamtsystems Akl + Agr unter den vorausgesetzten Nebenbedingungen ist. Die wei- tere Rechnung ergibt schließlich für diese Wahrscheinlichkeit: pℓ = (1/Z) exp (-Eℓ /(kT)) , 386 Huang, p. 130-136 387 Siehe dazu: Reif, S. 102-108 2.1.34.2 Statistische Mechanik, Berechnung der Zustandsgleichung des idealen Gases _____________________________________________________________ 329 wobei T die gewählte Temperatur und Z eine Normierungs- konstante bedeutet, die sicher stellt, daß die Gesamtwahrschein- lichkeit den Wert eins hat, also die folgende Relation erfüllt: Z = Σℓ exp (-Eℓ /(kT)) . Summiert wird hierbei über alle Exponentialterme mit den Energien Eℓ . Die so erhaltene Wahrscheinlichkeitsverteilung pℓ , deren Expo- nentialteil Boltzmann-Faktor genannt wird, ist die kanonische Verteilung. Sie gibt die Wahrscheinlichkeit der verschiedenen mikroskopischen Zustände eines Systems an, welches sich im Gleichgewicht mit einem Thermostaten befindet. Das zugehörige statistische Ensemble wird als kanonisches Ensemble bezeichnet. Anhand der kanonischen Wahrscheinlichkeitsverteilung läßt sich nun irgendeine meßbare Größe y, die den Wert yℓ im Zustand ℓ des mit dem Thermostaten verbunden Systems annimmt, als Ensemblemittelwert berechnen: = Σℓ yℓ exp(-Eℓ /(kT)) / Σℓ exp(-Eℓ /(kT)) . Dabei läuft die Summation Σℓ über alle zugänglichen Zustände ℓ des Systems. Die statistische Verteilung einer solchen physika- lischen Eigenschaft entspricht einer Gaußverteilung mit einem sehr scharfen Maximum, dem Erwartungswert, welcher mit dem arithmetischen Mittelwert zusammenfällt. Z nennt man die Zustandssumme, deren negativer Logarithmus, multipliziert mit kT, als Helmholtzenergie F definiert wird: F = - kT logZ . Man kann zeigen, daß diese statistische Definition der Helm- holtzenergie (auch: 'freie Energie') mit derjenigen des thermody- namischen Potentials F(T,V) übereinstimmt (Huang, S. 143- 145). Infolgedessen lassen sich alle gewünschten thermodynami- schen Größen aus dieser statistischen Definition der Helmholtz- energie F berechnen (siehe Abschnitt 2.1.22.1 dieser Arbeit). Für das ideale Gas, dessen Teilchen keine Wechselwirkung ha- ben und deshalb nur kinetische Energie besitzen, kann man klas- sisch rechnen und braucht nur die kinetischen 'Einteilchenener- 2.1.34 Die Parallelaktion erregt Aufruhr (120) _____________________________________________________________ 330 gien' zu berücksichtigen. Die Zustandssumme darf dann als Pro- dukt einfacher Integrale über die Impulskoordinaten geschrieben werden. Nach Integration ergibt sich für den Logarithmus von Z der folgende unkomplizierte Ausdruck (s. Reif, S. 284 u. S. 484): log Z = N [logV - (3/2) log (1/(kT)) + (3/2) log (2πm/ h02)], wobei m die Masse eines Gasteilchens und h0 eine quantenme- chanische Konstante (Phasenraumzelle) bedeutet. Der Druck berechnet sich anschließend aus der negativen Ablei- tung der Helmholtzenergie F(T,V) nach dem Volumen388. Setzt man den gefundenen Ausdruck für log Z in die vorher angege- bene Beziehung für F(T,V) ein und differenziert, so erhält man P = NkT/V, also die in Abschnitt 2.1.29.6 bereits genannte Zu- standsgleichung des idealen Gases. 2.1.34.3 Kristallklassen, Wellen und Inversion Der Erzähler spricht in dem zu Beginn des Abschnitts zitierten Romantext (S. 625) sowohl aus rein phänomenologischer, ma- kroskopischer Sichtweise als auch aus mikroskopischer Sicht der statistischen Mechanik. Er erwähnt die Auflösung der festgefüg- ten Gitterstrukturen eines Kristalls und den Übergang zu den nachgebenden Strukturen der Flüssigkeit. Dabei wird das Pha- senübergangsverhalten eines Festkörpers während des Schmelz- vorgangs genauer beschrieben: die Moleküle geben ihre wohlge- ordneten Gitterplätze im Kristallgitter allmählich auf und führen dann als Flüssigkeitsteilchen rein zufällige Bewegungen in alle Richtungen aus. Im Nachlaß weist Musil auf die feste Ordnung in Kristallen hin, macht aber andererseits zurecht auch auf die teilweise ungeord- neten amorphen Gebiete eines Festkörpers aufmerksam: Ein Kristall als Ding gehört stets in eine der be- stehenden Kristallklassen; als Wahrnehmungsphäno- men kann er aber bloß als regelmäßiger Körper er- scheinen, ohne daß darin etwas über die Zahl seiner Ecken enthalten wäre: Das Phänomen, nicht alles ist bis ins letzte gegliedert, im Gebilde können mehr oder weniger große Gebiete chaotisch bleiben; (nl VI/1/155) Die erwähnten Kristallklassen bilden die Grundlagen für die Klassifizierung der Kristallgitter. Diese Klassen definieren sich durch die Symmetrieeigenschaften der sog. Elementarzelle eines 388 Siehe Reif, S. 188 2.1.34.3 Kristallklassen, Wellen und Inversion _____________________________________________________________ 331 Gitters. Die Symmetrieeigenschaften werden ihrerseits nach den möglichen Symmetrieoperationen bestimmt, welche man auf die Gitterelementarzelle anwenden kann. Symmetrieoperationen sind z.B. Spiegelungen, Drehungen, Inversion. Man spricht dabei von kristallographischen Punktgruppen, die durch Kombination verschiedener Symmetrieoperationen (Symmetrieelemente) ent- stehen. Der Name Punktgruppe deutet daraufhin, daß mindestens ein Punkt bei jeder der zugehörigen Symmetrieoperationen un- verändert bleibt. Abbildung 69 zeigt die verschiedenen Dreh- achsen und Spiegelungsebenen exemplarisch für das kubische Gitter: Abbildung 69 Schematisch eingezeichnete Symmetrie- elemente einer Elementarzelle des kubischen Kristalls. Es gibt drei verschiedene Drehachsen: eine zweifache (2), eine dreifache (3) und eine vierfache (4). Dazu lassen sich zwei unterschiedliche Spiegelebenen angeben, die schraf- fiert gekennzeichnet sind. Siehe z.B. Moore, S. 650-652 Es stellt sich heraus, daß insgesamt 32 Punktgruppen und damit 32 Kristallklassen genügen, um sämtliche Kristalltypen vollstän- dig zu klassifizieren. Die Schilderung des 'aufgeregten Zustands der Stadt', in den Walter gerät, nimmt außer dem Bild des schmelzenden Kristalls auch noch die Metaphorik der wellenartigen Ausbreitung von rauschhafter Erregung zu Hilfe. Es heißt über Walter, der sich dem Zug Marschierender anschließt: Und je weiter er auf diese Weise kam, desto öfter bemerkte er auf den Gesichtern, in die er blickte, etwas unvernünftig Überströmendes und über die Vernunft Wegströmendes, ... als sich von der Spitze des ungeordneten Zugs, die man nicht sehen konnte, bis zu seinem Ende eine bestimmtere Erregung 2.1.34 Die Parallelaktion erregt Aufruhr (120) _____________________________________________________________ 332 fortpflanzte. Ein Trupp Studenten oder anderer junger Leute, der bereits irgendwas getan hatte ..., war dort zu der großen Menge gestoßen; man hörte etwas, das man nicht verstand, verstümmelte Botschaften und Wellen stummer Erregung liefen von vorne nach hinten, und die Leute empfanden ... Empörung oder Angst, Rauflust oder einen sittlichen Befehl und drängten nun in einem Zustand vorwärts, worin sie von solchen recht gewöhnlichen Vorstellungen geleitet wurden, .... (S. 626-627) Eine ganz ähnliche Wahl der Bilder ist bereits aufgefallen (s. Abschnitt 2.1.1.6), als die Auswirkungen von Unfällen auf die betroffenen und miteinbezogenen Menschen geschildert wurden. Beide Phänomene haben offenbar vieles gemeinsam. Am Ende des Kapitels beschreibt der Erzähler schließlich eine Zustandswandlung Ulrichs, als dieser den Aufstand der Menge, der in gewisser Weise auch ihm selbst gilt, vom Fenster aus beobachtet. Es heißt dort: ... ging mit ihm eine seltsame Veränderung vor. "Ich kann dieses Leben nicht mehr mitmachen, ... " fühlte er; aber zugleich fühlte er hinter sich das Zimmer, mit den großen Bildern an der Wand, .... Und das hatte nun selbst etwas von einer kleinen Bühne, an deren Ausschnitt er vorne stand, ... . Dann zog sich der Eindruck des Zimmers, das er hinter seinem Rücken wußte, zusammen und stülpte sich hinaus, wobei er durch ihn hindurch- oder wie etwas sehr Weiches rings um ihn vor-beiströmte. "Eine sonderbare räumliche Inversion!" dachte Ulrich. ... "Kann man denn aus seinem Raum hinaus, in einen verborgenen zweiten?" dachte er, denn es war ihm gerade so zumute, als hätte ihn der Zufall durch eine geheime Verbindungstür geführt. (S. 631-632) Ulrich fühlt plötzlich, daß sich das hinter ihm liegende Zimmer hinausstülpt und die Menschen hinter ihm vorüberziehen. Diese besondere Wahrnehmung Ulrichs dürfte schon eine Art Voran- kündigung dessen sein, was im zweiten Teil des Romans haupt- sächlich behandelt wird: die Begegnung mit seiner Zwillings- schwester Agathe und dem damit verbundenen anderen Zustand, welcher für beide Geschwister eine mystische Kontemplation darstellt und Ähnlichkeit mit optisch-geistiger Inversion hat. Es zeigt sich bereits hier, wie sehr Musil von der durch Hornbostel 2.1.34.3 Kristallklassen, Wellen und Inversion _____________________________________________________________ 333 erklärten optischen Inversion beidruckt war, die wir im späteren Abschnitt 2.2.1.2 ausführlich erklären werden. Es geht dabei um bestimmte Darstellungsarten von Körpern, die man in räumlich invertierter Form sehen kann. Musils Idee der weiblichen Verdoppelung seines Romanhelden hat eine Fortführung und Erweiterung durch Ingeborg Bachmann gefunden. Sie stellt in ihrem Roman Malina389 - wenn auch mit ganz anderer Zielsetzung - dem weiblichen Icherzähler mit Ma- lina und Ivan eine Art männliche Zwillings- bzw. Drillingsfigur an die Seite390. Da Bachmann das Werk Musils bekanntermaßen hoch einschätzte, könnte die Weiterführung des Verdopplungs- gedankens auch eine gewisse Hommage an Musil bedeutet haben. Beide stammen ja aus Klagenfurt. 389 Bachmann Werke Bd. 1-4. Malina. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster (Hg.), Bd. 3, München 1984, S. 11-337 390 Vergleiche: Peter Beicken Ingeborg Bachmann München 1988, S. 194-195; Veit Mölter in: Ingeborg Bachmann. Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. Christine Koschel und Inge von Weidenbaum (Hg.), München 1983, S. 73-74; Ekkehart Rudolph in: Ingeborg Bachmann S. 87-89; Otto Basil in: Ingeborg Bachmann S. 101-102; Robert Steiger Malina. Versuch einer Interpretation des Romans von Ingeborg Bachmann Heidelberg 1978, S. 5-25 2.1.35 Heimweg (122) _____________________________________________________________ 334 2.1.35 Heimweg (122) 2.1.35.1 Erinnerungen, Bilder, Klänge In diesem wichtigen, einen Wende- und Höhepunkt des gesam- ten fragmentarischen Romans bildenden Kapitel kurz bevor Ulrich in das Haus seiner Familie zurückkehrt, seinen Vater zu beerdigen und seine Zwillingsschwester Agathe wiederzusehen, denkt er über sich selbst und seine Familienbande nach. Renner schreibt dazu: Es ist eine erzählerische, kompositorische und theoretische Schaltstelle des Romans, denn unter der Über- schrift 'Heimweg' wird nicht nur von Ulrich erzählt, sondern zugleich eine Bewegung des Erzählens inszeniert, welche Wahr- nehmung zu organisieren vermag. ... Das Erzählen gewinnt die Konturen des Erzählten in einer Perspektivierung der Wahrneh- mung, ... Die Metaphorik der Orte, die seinem Heimweg zuge- ordnet ist, unterstützt zudem diesen Eindruck. Das Durchschrei- ten des Torbogens, der das Durchqueren der dunklen Vorstadt zugleich als ein Abtauchen ins Unbewußte erscheinen läßt und Ulrich den Eindruck vermittelt, er sei ein 'durch die Galerie des Lebens irrendes Gespenst' ... .391 Honold äußert sich in ähnlicher Weise, aber präziser: ... das vorletzte Kapitel des ersten Buchs, trägt den Titel 'Heimweg', unverkennbar die Geste des Zurückholens, des Einsammelns, mit der die ersten beiden Teile des Romans hier bilanzierend abge- rundet werden sollen. ... Der durchschrittene "Torbogen" signa- lisiert die exponierte Stellung dieses Kapitels in der Architektur des Romans; es bildet das Schlußportal des ersten Bandes, mit dem die Narration die Rückbindung an den Anfangspunkt her- stellt und die Schwelle des neuen Lebens bezeichnet, das Ulrich im zweiten Buch aufnehmen wird. ... Der 'Heimweg' wird zur kritischen Bilanz der bislang zurückgelegten Lebensgeschichte. Nicht von ungefähr folgt auf die 'Entzauberung' der architektoni- schen Dramatik durch eher prosaisches Stadtgebiet ("gewöhnli- che Häuser, mit Lichtstockwerken friedlich bestirnt, hatten weiter nichts Zauberhaftes an sich") ein befremdlicher Blick in die eigene Kindheit.392 Meisels verallgemeinerter Kommentar ergänzt: Raum und Zeit als Grundkategorien jeglicher Vorstellung sind gleichermaßen Garantie wie Hypothek für die Stellung des Subjekts in der Welt. 391 Renner Die postmoderne Konstellation S. 130-131 392 Honold Die Stadt und der Krieg S. 297-298 2.1.35.1 Erinnerungen, Bilder, Klänge _____________________________________________________________ 335 Indem sie die Distanz von Lebensfristung und Tod vermessen und schließlich verschwinden lassen, inthronisieren sie damit das Privileg der Schrift, über den Tod hinaus Leben zu bezeugen und vor dem Vergessen zu bewahren. Was für den Autor Robert Musil und seinen "Lebens-Text" in so eindrucksvoller und, wie man weiß, auch schmerzlicher Weise gilt, dem hat sein den Tröstungen der eigenen Schrift sich verweigernder Romanheld Ulrich längst abgeschworen (Meisel, S. 126). Ulrich fühlt sich während seines Gangs in fremden Gegenden der Stadt unwillkürlich an Photographien seiner Kindheit erin- nert393, die ihn zusammen mit seiner Mutter zeigen. Es heißt im Roman: Ins Freie tretend, nahm er von diesem Frieden Witterung, und ohne daß er recht wußte warum, erinnerte er sich an einige Kinderbildnisse, die er vor einiger Zeit wiedergesehen hatte: sie zeigten ihn in Gesellschaft seiner früh verstorbenen Mutter, und mit Fremdheit hatte er auf ihnen einen kleinen Knaben erblickt, den eine altmodisch gekleidete, schöne Frau glücklich anlächelte. ... Er hatte keine Spur von Neigung für diesen Knaben gefühlt, und wenn er auch auf seine schöne Mutter einigen Stolz setzte, hatte das Ganze doch vor allem den Eindruck auf ihn gemacht, einem großen Schrecken entronnen zu sein. Wer diesen Eindruck erlebt hat, daß ihm seine Per- son, in einen gewesenen Augenblick der Selbst- zufriedenheit gehüllt, aus alten Bildern entgegen- blickte, als wäre ein Bindemittel ausgetrocknet oder abgefallen, wird das Gefühl verstehen, mit dem er sich die Frage vorlegte, wie dieses Bindemittel denn eigentlich beschaffen sei, daß es bei anderen nicht versage. Er befand sich nun in einer der Baumanla- gen, ... und hätte ... sie durchqueren können, aber der große Streif Himmels ... verlockte ihn, abzubiegen und seiner Richtung zu folgen, wobei er sich dem überaus privat wirkenden Lichterkranz ... immerfort zu nähern schien, ohne ihm näher zu kommen. "Es ist eine Art perspektivischer Verkürzung des Verstandes," sagte er sich "was diesen allabendlichen Frieden zustande- 393 Die Erinnerung Ulrichs ... ohne daß er recht wußte warum, erinnerte er sich an einige Kinderbildnisse ... läßt sich vergleichen mit der Art der 'mémoire in- volontaire', die für Marcel Prousts Protagonisten 'Marcel' bekannt ist. Sie führt hier allerdings nicht zu einem Glücksgefühl wie bei Proust, sondern eher zu gewissen Erkenntnissen über sich selbst und sein Leben. Die Parallelität zwischen Musil und Proust wird ausführlicher anhand einer weiteren charakteristischen Erinnerungs- situation Ulrichs im folgenden Abschnitt 2.2.1.3 behandelt. 2.1.35 Heimweg (122) _____________________________________________________________ 336 bringt, der ... das dauernde Gefühl eines mit sich selbst einverstandenen Lebens ergibt. Denn der Men- ge nach ist es ja bei weitem nicht die Hauptvoraus- setzung des Glücks, Widersprüche zu lösen, sondern sie verschwinden zu machen, wie sich in einer langen Allee die Lücken schließen, und so, wie sich allent- halben die sichtbaren Verhältnisse für das Auge verschieben, daß ... ein ... Bild entsteht, worin das Dringende und Nahe groß erscheint, weiter weg aber selbst das Ungeheuerliche klein, ... tun es eben auch die unsichtbaren Verhältnisse und werden von Ver- stand und Gefühl derart verschoben, daß unbewußt etwas entsteht, worin man sich Herr im Hause fühlt. Diese Leistung ist es also," sagte Ulrich "die ich nicht in wünschenswerter Weise vollbringe." (S. 648-649) Es führt, wie Honold richtig bemerkt, von der auf Photoplatten gebannten Mutter-Kind-Dyade kein Weg mehr in die Gegenwart, und aus dieser noch keiner in die Zukunft 394. Ulrich überdenkt von einem grundsätzlichen Standpunkt aus die eigenartige Ver- bindung zwischen dem erwachsenen Ulrich und dem auf Kinder- photographien abgebildeten Knaben395. Seine Überlegungen dek- ken sich zeitweilig erstaunlich mit jenen der Musilschen Rahmenerzählung396 Die Amsel. In dieser Erzähltriade heißt es: Man ändert sich im Laufe solcher Jahre vom Scheitel bis zur Sohle und von den Härchen der Haut bis ins Herz, aber das Verhältnis zu einander bleibt merk- würdigerweise das gleiche und ändert sich sowenig wie die Beziehungen, die jeder einzelne Mensch zu den verschiedenen Herren pflegt, die er der Reihe nach mit Ich anspricht. Es kommt ja nicht darauf an, ob man so empfindet wie der kleine Knabe mit dickem Kopf und blondem Haar, der einst photographiert worden ist; nein, man kann im Grunde nicht einmal sagen, daß man dieses kleine, alberne, ichige Scheu- sal gern hat. Und so ist man auch mit seinen besten Freunden weder einverstanden noch zufrieden; ja, viele Freunde mögen sich nicht einmal leiden. (pr S. 548) 394 Honold Die Stadt und der Krieg S. 299 395 Kants Reflexionen über das 'Ich-Selbst' dürften dabei eine entscheidende Rolle spielen. Siehe: Kant Kritik der reinen Vernunft S. 370 ff 396 Zu älteren 'Auslegungen' dieser Erzählung: Uwe Baur Musils Novelle "Die Amsel". Figurierung der Persönlichkeitsspaltung eines Rahmenerzählers. In: Vom "Törless" zum "Mann ohne Eigenschaften", U. Baur und D. Goltschnigg (Hg.), Musil-Studien, Bd. 4, München 1973, S. 273-292 2.1.35.1 Erinnerungen, Bilder, Klänge _____________________________________________________________ 337 Die beiden verschiedenen Herren, die der Erzähler der Reihe nach mit Ich anspricht, führt Musil - mathematisch versiert genug - konsequenterweise mit den Namen A1 (Aeins) und A2 (Azwei) ein. Den Erzähler selbst könnte man infolgedessen mit A3 bezeichnen, um im Sinne dieser Einführung klarzustellen, daß es sich bei A1 und A2 um Jugendzustände und bei A3 um einen Zustand fortgeschrittenen Alters ein und derselben Person han- delt. Aus diesem Grunde müßten Rahmen- und Binnenerzählung eigentlich Selbstgespräche genannt werden, was auch tatsächlich im Text angedeutet wird: Sie (A1 und A2) verachteten sich seither gegenseitig und untrennbar, ... und als sie endlich für kurze Zeit abermals zusammengeführt wurden, erzählte A2 das nun Folgende ... Es kam unter diesen Umständen wenig darauf an, was dieser (A1) erwiderte, und es kann ihre Unterredung fast wie ein Selbstgespräch erzählt werden. (pr S. 549) Formal gesehen hat allerdings Hoffmann recht, wenn er bemerkt: ... sei zunächst auf ein Paradox aufmerksam gemacht: in "Die Amsel" ist alles, wovon man liest, in der Form einer Ansprache an einen explizit oder implizit anwesenden Zuhörer gehalten; die drei Begebenheiten, die A2 widerfahren, ihre Wiedergabe durch A2 und genauso auch die Einführung in dessen Rede durch einen anonymen Berichterstatter.397 Der Inhalt dieser 'Rahmenerzählung' ist schnell aufgezählt: zunächst verläßt A2 nächtlich angelockt durch den Gesang einer Amsel (oder Nachtigall) seine Frau und seine Berliner Wohnung und kehrt nie wieder zurück. Im Mittelteil entgeht er knapp dem Tod durch einen Fliegerpfeil, dessen 'Singen' er zwar hört aber ihm nicht auszuweichen versucht (diese Geschichte wird als Einzelwerk Musils im Laufe des Abschnitts noch kommentiert). Zuletzt kehrt er in das Haus seiner Eltern zurück, in welchem seine Mutter kurz vorher gestorben ist, erlebt dort den Tod seines kranken Vaters und wird wieder durch den Gesang einer Nachti- gall überrascht, die nachts an seinem Fenster sitzt und zu ihm 'spricht'. Einen Grund dafür, warum die drei Binnengeschichten zusam- men erzählt werden, erfährt man andeutungsweise aus einem Satz des A2: Ich will dir meine Geschichten erzählen, um zu erfah- ren, ob sie wahr sind; ich habe mich jahrelang mit keinem Menschen aussprechen können, und wenn ich 397 Hoffmann, S. 187 2.1.35 Heimweg (122) _____________________________________________________________ 338 mich darüber laut mit mir selbst sprechen hörte, wäre ich mir, offen gestanden, unheimlich. (pr S. 553-554) Demnach soll das Erzählen seiner drei Binnengeschichten er- stens dazu dienen, endlich seine Scheu vor dem Aussprechen seiner Erlebnisse zu verlieren, zweitens einen kritischen Zuhörer zu haben, der den 'Wahrheitsgehalt' soweit es geht überprüft und A2 gegebenenfalls auf Ungereimtheiten aufmerksam macht398. Über gewisse weitere Verbindungen der drei erzählten Erlebnis- se dürfte aber nicht zu streiten sein. Hoffmann schreibt: ... diffuse Klänge verwandeln sich in eine Botschaft, unstrukturierte Ge- hörsempfindungen nehmen als Vogelstimmen, Mütterworte oder eben als himmlische Laute Gestalt an. (Hoffmann, S. 120) ... In jedem der drei Geschehnisse befindet sich A2 in der gleichen Si- tuation: er vernimmt zunächst, neutral gesagt, einen Klang oder Klänge, ehe sich die Empfindung von Gesang oder Sprache einstellt. (Hoffmann, S. 196) Die zugehörigen Textstellen sollen zitiert werden: Mir wurde bewußt, daß ich auf etwas wartete, ... Da wurde ich durch etwas Näherkommendes erweckt; Töne kamen näher. Ein-, zweimal stellte ich das schlaftrunken fest. Dann saßen sie auf dem First des Nachbarhauses und sprangen dort in die Luft wie Delphine. Ich hätte auch sagen können, wie Leucht- kugeln beim Feuerwerk; denn der Eindruck von Leuchtkugeln blieb; im Herabfallen zerplatzten sie sanft an den Fensterscheiben und sanken wie große Silbersterne in die Tiefe. ... Es ist eine Nachtigall, was da singt! - sagte ich mir halblaut vor. ... - Ein Himmelsvogel! ... In einem solchen Augenblick ... ist man auf die natürlichste Weise bereit, an das Über- natürliche zu glauben; ... Ich werde der Nachtigall folgen. Leb wohl Geliebte! ... Es hatte mich irgendwo ein Signal getroffen - das war mein Eindruck davon. (pr S. 551-553) ... In diesem Augenblick hörte ich ein leises Klingen, das sich meinem hingerissen emporstarrenden Ge- sicht näherte. ... aber im gleichen Augenblick wußte ich auch schon: es ist ein Fliegerpfeil! ... Ich wun- derte mich zuerst darüber, daß bloß ich das Klingen 398 Warum Hoffmann (S. 216-217) hier das 'Wahrsein' der Geschichten anhand statistischer Rechenmethoden diskutieren will, ist ganz rätselhaft. Selbst wenn man unterstellt, daß die drei Einzelerzählungen mit drei experimentellen Beobachtungen gleichzusetzen seien, so ist die statistische Relevanz für nur 3 verschiedene 'Messun- gen' gleich Null. Es hat also gar keinen Sinn, für die Auswertung dieser drei Beobachtungen die Rechenmethoden der Statistik zu bemühen. 2.1.35.1 Erinnerungen, Bilder, Klänge _____________________________________________________________ 339 hören sollte. Dann dachte ich, daß der Laut wieder verschwinden werde. ... Er näherte sich mir, wenn auch sehr fern, und wurde perspektivisch größer. ... Es war ein dünner, singender, einfacher hoher Laut, wie wenn der Rand eines Glases zum Tönen gebracht wird; aber es war etwas Unwirkliches daran; ... Und plötzlich war das Singen zu einem irdischen Ton geworden, zehn Fuß, hundert Fuß über uns, und er- starb. ... Mitten zwischen uns ... war etwas verstummt und ... zu einer unwirklichen Lautlosigkeit zerplatzt. (pr S. 555-557) Ich hatte auch ein Zimmer wiedergefunden, das vor dreißig und mehr Jahren mein Kinderzimmer war; ... Und da kam dann die Amsel wieder. Einmal nach Mitternacht weckte mich ein wunderbarer, herrlicher Gesang. Ich wachte nicht gleich auf, sondern hörte erst lange im Schlaf zu. Es war der Gesang einer Nachtigall; ... Ich begann mit offenen Augen zu schlafen. Hier gibt es keine Nachtigallen - dachte ich dabei - es ist eine Amsel. ... es war vier Uhr morgens, ... und da saß vor dem Licht ... ein schwarzer Vogel im offenen Fenster! ... Ich bin deine Amsel, - sagte er - kennst du mich nicht? ... Ich bin deine Mutter - sagte sie. ... Hat sie noch oft gesprochen? - fragte A1 listig. Nein, - erwiderte A2 - gesprochen hat sie nicht. Aber ich habe ihr Amselfutter beschaffen müssen ... (pr S. 561-562) Von der Erzähltechnik einer Rahmenerzählung bleibt in Musils Geschichte kaum etwas übrig. Hoffmann schreibt mit Recht: Zu den wenig beachteten, gleichwohl wichtigen Charakteristika der Form (einer Rahmenerzählung) gehört es nämlich, daß im Erzählrahmen die Wiedergabe der Binnenerzählung zumeist unter dem Vorwand eines bestimmten Zwecks eingeleitet wird. Diese Konstruktion hat ursprünglich eine dramaturgische Funktion; etwa im Fall der Scheherezade, die buchstäblich auf Leben und Tod erzählt. ... So ... erhält die Einführung eines Erzählzwecks ... immer mehr die Aufgabe, die Erzählung selbst durch Belehrung und Unterhaltung, Retten und Heilen oder als Beichte oder Geständnis zu legitimieren. Nichts davon hat jedoch für die ... "Amsel" Gültigkeit. Weder baut der Erzähl- zweck einen Spannungsbogen auf, noch verbindet sich mit ihm eine höhere Absicht. Im Gegenteil der Zweck der Erzählung bleibt ... jederzeit auf den Vorgang des Erzählens selbst be- schränkt. (Hoffmann, S. 206-207) 2.1.35 Heimweg (122) _____________________________________________________________ 340 Mehr noch: der Sinn der ganzen Erzähltriade wird von A2 abge- leugnet, als er durch A1 explizit darauf aufmerksam gemacht wird. Es heißt im Text: Aber du deutest doch an, - suchte sich A1 vorsichtig zu vergewissern - daß dies alles einen Sinn gemeinsam hat? Du lieber Himmel, - widersprach A2 - es hat sich eben alles so ereignet; und wenn ich den Sinn wüßte, so brauchte ich dir wohl nicht erst zu erzählen. Aber es ist, wie wenn du flüstern hörst oder bloß rauschen, ohne das unterscheiden zu können! (pr S. 562) So kommt es auf den zu vermittelnden Sinn hier nicht oder nur nebelartig an. Er könnte aber vom Rezipienten der Geschichte vielleicht aufgefunden werden, wenn er anders als A2 in Lage wäre, das Flüstern vom Rauschen zu trennen. Die folgende Abbildung 70 zeigt die zeitliche Folge von Schallfrequenz- spektren, die durch die menschliche Stimme beim Zählen auf- tritt. Im Gegensatz dazu würde das Frequenzspektrum eines Rauschgeräusches überhaupt keine Struktur aufweisen. Abbildung 70 Zeitliche Folge von ca. 200 Spektren der Schallwellen, die beim Sprechen von 'one', 'two', 'three' auftreten. Die in Pfeilrichtung dicht aufeinanderfolgenden Spektren haben nur eine Höhe von Zehntel Millimetern. Die Amplituden sind hier durch die Schwärzung einer photographischen Platte wiedergegeben. Siehe dazu: Pohl, Bd. 1, S. 237 Hoffmanns Kommentar dazu unterstützt diesen Eindruck. Er schreibt: Ein Lehrstück ist "die Amsel" deshalb auch für die Literaturwissenschaft, weil es ihren unausgesprochenen Grund- konsens zur Disposition stellt. Wie aufreizend die Vorstellung, daß unter Umständen nicht "alles einen Sinn gemeinsam hat", ... Zu welchem Nutzen und mit welchem Selbstverständnis wird dann aber noch erzählt ? ... Erzählen bestimmte sich danach als das Gegenteil von Verstehen, nämlich als performatives Ver- 2.1.35.1 Erinnerungen, Bilder, Klänge _____________________________________________________________ 341 fahren, ... Bedeutung, hervorgebracht durch die Reihung der Worte zu einer Erzählung, wird nicht als Ausbreitung eines gegebenen Sinns verstanden, sondern als Akt der Begrenzung. Der Betrag von Sinnstiftung, Wahrheit oder Schönheit, der dabei anfällt, gäbe sich demnach als Maß von Ausschluß oder Fil- terung von Information399, als Grenze von Durchlässigkeit gegen das Rauschen zu erkennen. (Hoffmann, S. 223-224) Das im dmoe-Roman und in der Erzählung angesprochene Mut- ter-Sohn-Verhältnis läßt sich wahrscheinlich auch durch Musils eigene Beziehung zu seiner Mutter, welche sehr ambivalent war, beleuchten. Die beiden folgenden, in seinen Tagebüchern ver- merkten Texte, seien dazu zitiert400: ...Ich weiß, daß man mir immer anschaffte, beim Einschlafen die Arme oberhalb der Decke zu betten und, wenn ich mich nicht irre, mich jede selbst unfreiwillige Berührung der Bauchgegend als sündhaft fürchten hieß. ... Und ich glaube, diese hygienischen Morallehren kamen von meiner Mutter. ... Meine Eltern waren für Aufklärung in jeder Hinsicht. Meine Mutter hat resolut und sicher nur aus Gesundheitsrücksichten mir solche Befehle einge- prägt. ... das Ganze machte mir sicher sehr starken Eindruck. Es erscheint mir heute als ein viel zu kräftiger Eingriff, als hätte es mich innerlich für lange verletzt, als Terror401. (tg1 S. 314-315) Ich war wohl schon 18 oder 19 Jahre alt ... als ich Folgendes erlebte. ... meine Mutter stand im benachbarten Damenbad und blickte auf den See hinaus (umgestellt!) ... Sie war im Bademantel und bereits nach dem Bade. ... Mit einer gar nicht beachteten Bewegung öffnete sie ihren Bademantel, um ihn anders zu schließen und ich sah sie einen Augenblick nackt dastehen. Sie muß damals etwas über 40 Jahre alt gewesen sein, war sehr weiß und voll und schön gebaut. Obgleich mich das bis heute mit einer gewissen Anerkennung erfüllt, ist noch viel lebendiger das schamhafte und ich glaube zornige Entsetzen, das mich damals durchfuhr. (tg1 S. 315) 399 Es muß deutlich darauf hingewiesen werden, daß 'Information' hier nicht im Sin- ne der 'Informationstheorie' verstanden werden darf. In letzterer geht es ausschließ- lich um die Übertragung von Zeichen und Zeichenfolgen (Syntax), nicht von 'Sinn' (Semantik). Vergleiche: Otto Mildenberger Informationstheorie und Codierung Braunschweig 1990, S. 1-2; Roth Das Gehirn und seine Wirklichkeit S. 105-108 400 Siehe dazu auch: Corino Ödipus oder Orest S. 130-131. 401 Zum Thema Terror sei Musils 'Bild' Die Affeninsel (pr S. 477-480) als Lektüre empfohlen. 2.1.35 Heimweg (122) _____________________________________________________________ 342 Wagner-Egelhaaf analysiert die im Roman geschilderte Erin- nerung Ulrichs an Photographien aus seiner Kindheit folgen- dermaßen: Im Blick der Mutter auf den Sohn verdichtet sich die Intention des Familienbildes, die Lektüre der Photographie indessen stößt in ihm auf eine Differenz, die das Subjekt als nichtidentisch mit der Szene entdeckt. ... Es heißt im Text, daß Ulrich sich an Photographien erinnerte, nicht etwa Photo- graphien ihn an Gewesenes. Dies besagt einmal, daß die Refe- renzebene nicht die Wirklichkeit, sondern die eines Bildes von der Wirklichkeit ist, und zwar eines Bildes, das dabei ist, Wirk- lichkeitsansprüche zu stellen. Es besagt zum zweiten, daß die Isomorphie zwischen Photographie und Erinnerung, die in der Unvermitteltheit ihres Auftretens liegt, Akt und Gegenstand ineinander abbildet. Das Lektüreverfahren der Erinnerung wird in der Photographie als Objekt der Erinnerung selbst ansichtig. ... In dem Maße, in dem das Abgebildete seine Referenz verliert, fällt das Bild auseinander. Sichtbar wird nurmehr eine andere, auf ihre Möglichkeiten hin entworfene Wirklichkeit, die eine melancholische ... sein muß. 402 Im zitierten dmoe-Text (S. 648-649) wird davon gesprochen, daß dem Protagonisten Ulrich seine eigene Person als Kind aus alten Bildern entgegenblickte, als ob ein Bindemittel ausgetrocknet oder abgefallen wäre. Zum Verständnis dessen müssen Details aus dem photographischen Prozeß bekannt sein. Das Wesentli- che des Prozesses ist bereits in Abschnitt 2.1.27.1 beschrieben worden, hier kommt es aber auf Einzelheiten der Herstellung photographischer Schichten auf Platten, Filmen oder Papieren an. Dabei werden gelatinehaltige Lösungen von Silbernitrat (AgNO3) und Ammoniumbromid (NH4Br) so miteinander ver- mischt, daß daraus eine fein verteilte opaleszierende Masse des gewünschten Silberbromids (AgBr) entsteht403. Die Feinstver- teilung des Silberbromids ist auf die Kolloidwirkung der Gelati- ne zurückzuführen. Die Gelatine sorgt aber zugleich dafür, die Photoschicht fest an die Unterlage, also Glasplatte, Filmmaterial oder Papier zu binden. Sie stellt das im dmoe-Text erwähnte Bindemittel dar. Trocknet die Gelatine mit der Zeit durch ungün- stige Lagerung des Photos aus, so ist sie nicht mehr in der Lage, die Bildschicht am Papier festzuhalten, die Bildschicht löst sich teilweise oder ganz vom Papier ab. Dies ist es, worauf sich der Erzähler im Hinblick auf Ulrichs Erinnerung an Kindheitsphotos bildlich bezieht. 402 Wagner-Egelhaaf "Wirklichkeitserinnerungen" S. 229-232 403 Holleman-Wiberg, S. 474 2.1.35.2 Perspektivische Verkürzungen und Gehirnfunktion _____________________________________________________________ 343 2.1.35.2 Perspektivische Verkürzungen und Gehirnfunktion Ulrich bedient sich im Zusammenhang mit den erinnerten Kind- heitsphotographien, in welchen er von den übrigen Familienmit- gliedern herausgetrennt erscheint, einer weiteren auffallenden Metaphorik. Er spricht von der perspektivischen Verkürzung des Verstandes. Renner schreibt dazu: Die Wahrnehmung der Baumanlagen hat in ihrem Zentrum eine "perspektivische Verkürzung des Verstan- des", welche in der Lage ist, die tatsächlichen Verhältnisse und Proportionen im Akt der Wahrnehmung zu verändern und durch Imagination eines Bildes den Eindruck einer neuen Ganzheit entstehen zu lassen.404 Offensichtlich verkennt Renner aber, daß es sich bei der Erwähnung der Baumanlagen und dem Lichter- kranz noch um die Beschreibung des gewöhnlichen perspektivi- schen Sehens handelt. Indiz dafür ist Ulrichs Beobachtung, daß er sich immerfort zu nähern schien, ohne ihm näher zu kommen. Erst anschließend wird dann in dem zu Beginn des Abschnitts 2.1.35 zitierten Text von der perspektivischen Verkürzung des Verstandes gesprochen, und zwar als es um das dauernde Gefühl eines mit sich selbst einverstandenen Lebens geht. Honold scheint ebenfalls keine deutliche Unterscheidung zwi- schen den gewöhnlichen Verkürzungen beim perspektivischen Sehen und der im Roman metaphorisch eingeführten "perspekti- vischen Verkürzung des Verstandes" zu machen. Er differenziert auch nicht zwischen Zentralprojektion und unserem räumlich- plastischen Sehen, denn er schreibt: ... funktioniert analog zu dem geometrischen Effekt der Zentralperspektive, deren Darstel- lungstechnik die visuelle Wahrnehmung erstmals einer einheitli- chen Subjektposition unterwarf (Honold Die Stadt und der Krieg S. 300). Die Metapher von der "perspektivischen Verkürzung des Verstandes" wird von Honold bloß als eigenmächtige Verfü- gungsgewalt des Subjektes über die Vorstellung seiner eigenen Geschichte verstanden. Uns scheint jedoch vor allen Dingen die generelle Funktionsweise des Erinnerungsvermögens und des Gedächtnisses beleuchtet zu werden, wie die folgenden Über- legungen im einzelnen zeigen. Optische Wahrnehmung beim Menschen beinhaltet eine Reihe äußerst komplexer Vorgänge, die mit den beiden Augen als signalempfangende Sinnesorgane beginnt und schließlich mit einem Konstrukt des Gehirns endet, welches wir eine räumlich- 404 Renner Die postmoderne Konstellation S. 131-132 2.1.35 Heimweg (122) _____________________________________________________________ 344 plastische Bildvorstellung nennen405. Unabhängig davon, wie kompliziert sich die Verarbeitungsprozesse der Lichtsignale im Gehirn darstellen, erfolgt im Auge zunächst eine Zentralprojek- tion des räumlichen 'Gegenstands' auf die etwas gekrümmte Ebene der Netzhaut (siehe nachfolgende Abbildung 71). Abbildung 71 Schnittzeichnung des menschlichen Auges. Hornhaut, Augenkammer (A.-K.), Pupille und Linse bilden das 'Objektiv' des Auges. Die Brechkraft der Hornhaut macht dabei etwa zwei Drittel der Gesamtbrechkraft aus. Der mit G bezeichnete Glaskörper ist eine gallertartige Masse mit bestimmter Brechzahl. Das Bild entsteht auf der Netzhaut, welche die lichtempfindlichen Zellen enthält. Scharf gestellt wird es durch den Ziliarmuskel. Im ent- spannten Zustand des Muskels wölbt sich die Linse infolge ihrer eigenen Elastizität (große Brechkraft) und ermöglicht Nahsicht; bei Anspannung des Muskels wird die Linse ge- streckt (kleine Brechkraft) und erlaubt dann Fernsicht. Kamke u. Walcher, S. 472-473; Lippert, S. 526 Das 400-fach vergrößerte Schnittbild der Netzhaut (Retina) wird in der nächsten Abbildung 72 gezeigt: Abbildung 72 Schnittbild der Netzhaut (Retina) in 400- facher Vergrößerung. Das Licht durchquert acht Schichten 405 Eine ausführliche Beschreibung der Sehvorgänge findet man bei Roth Das Gehirn und seine Wirklichkeit S. 108-140 2.1.35.2 Perspektivische Verkürzungen und Gehirnfunktion _____________________________________________________________ 345 der Netzhaut, ehe es auf die der Lichtrichtung abgewandte photosensitive Schicht der Stäbchen und Zapfen (2) trifft. Die Lichtempfindlichkeit der Stäbchen und Zapfen wird durch die darunterliegende Pigmentschicht (1) geregelt. Die dunklen Pigmente hüllen je nach Helligkeit die Stäb- chen und Zapfen verschieden tief ein. Die Stäbchen sind nur für das Helldunkelsehen verantwortlich, während die Zapfen das Farbsehen ermöglichen. Die übrigen Schichten der Retina werden wie folgt bezeichnet: äußere Grenz- membran (3): siebartige Platte, durchbrochen von den Stäbchen u. Zapfen; äußere Körnerschicht (4): Zellkörper d. Stäbchen u. Zapfen; äußere Netzschicht (5): Synapsen; innere Körnerschicht (6): Zellkerne sind die Körner; innere Netzschicht (7): Synapsen; Ganglienzellschicht (8): Zell- körper der multipolaren Ganglienzellen; Nervenfaser- schicht (9): die Nerven ziehen zum Zwischenhirn (Dien- cephalon); innere Grenzmembran (10): Grenzschicht gegen den Glaskörper. Lippert, S. 528-530 In diesem ersten Schritt unseres 'räumlichen Sehens' wird der anvisierte räumliche Gegenstand durch Zentralprojektion auf die Retina als Tafelebene (Bildebene) projiziert. Zentralprojektion bedeutet dabei das Abbilden räumlicher Anordnungen auf eine (Bild-)Fläche bei festem Beobachtungspunkt. Die geometrischen Gesetze der Zentralprojektion sind bekannt und Musil hat sie auch beherrscht406. Sie enthalten im wesentlichen die Bestim- mung der sog. Fluchtpunkte bzw. des Hauptpunkts (Fluchtpunkt aller Tiefengeraden) bei vorgegebenem Beobachtungspunkt. Zur Verdeutlichung denke man sich eine Drahtkonstruktion eines Würfels in schräger Lage vor eine weiße Wand gestellt. Durch eine punktförmige Lichtquelle werde ein Schattenbild des Draht- würfels auf diese Wand geworfen und nachgezeichnet. Ein Beobachter bringe anschließend eines seiner Augen (das zweite bleibt geschlossen) an die Stelle der Lichtquelle. Die an sich flächige Zeichnung an der Wand wird dann als räumliches, perspektivisches Bild erscheinen. Wie man die Zentralprojektion etwa eines Gebäudes mit bekann- tem Grundriß und Aufriß anfertigen kann, wird in der folgenden Abbildung 73 gezeigt. Tafelebene und Grundrißebene stehen senkrecht zueinander. 406 Dies geht z.B. aus seinem Prosastück Über Robert Musil's Bücher hervor, in dem er Einzelheiten aus der Zentralprojektion in metaphorischer Weise benutzt. Sein größtenteils ironisch zu verstehender Text lautet dort: Denken Sie bloß an unsre wirklich großen Erzähler. Sie schildern. Einzig eine kunstvolle Optik formt die Ant- wort; die Meinung, das Denken des Künstlers drängt sich nirgends zwischen das Geschehen selbst, liegt sozusagen nicht in der Bildebene, sondern wird bloß als deren perspektivischer Fluchtpunkt fühlbar. (pr S. 997-998) 2.1.35 Heimweg (122) _____________________________________________________________ 346 Abbildung 73 Anfertigung der Zentralprojektion eines Gebäudes, dessen Grund- und Aufriß in der Zeichnung zu sehen sind. Beobachtungspunkt ist P, die Tafelebene steht senkrecht zur Grundrißebene. Ihre Grundrißspur ist s1. In der Tafelebene bestimmen die Spurpunkte aller Sehstrah- len nach den Eckpunkten des Gebäudes das zentralper- spektivische Bild. Die Risse dieser Spurpunkte trägt man in ein Koordinatensystem ein und verbindet sie entspre- chend. Die Fluchtpunkte F1 und F2 der horizontalen Kanten des Gebäudes findet man durch Konstruktion der Paralle- len durch P' (Projektion von P auf die Grundrißebene) zu diesen Kanten. Ihre Schnittpunkte mit s1 ergeben die Ab- szissen (x-Werte) der Fluchtpunkte, während die Ordinate (y-Wert) mit der des Punktes P'' (Projektion von P auf die Aufrißebene) übereinstimmt. Handbuch der Math., S. 259 Die Ausführung der in Abbildung 73 grob erläuterten Zentral- projektion erfordert einige Übung. Wesentlich einfacher läßt sich aber die Projektion eines Würfels konstruieren, der parallel zur Tafelebene steht. In diesem Fall gibt es nur einen Fluchtpunkt407. 407 Siehe dazu: Rudolf Fucke, Konrad Kirch und Heinz Nickel Darstellende Geo- metrie für Ingenieure Leipzig 1993, S. 206-224 2.1.35.2 Perspektivische Verkürzungen und Gehirnfunktion _____________________________________________________________ 347 Generell gilt für die Zentralprojektion: parallele Geraden schnei- den sich stets in einem gemeinsamen Fluchtpunkt, wenn sie nicht parallel zur Bildebene verlaufen. Parallele Ebenen haben die gleiche Fluchtgerade. Die Fluchtgerade aller waagerechten Ebe- nen ist der Horizont. Alle parallelen horizontalen Kanten treffen sich am Horizont im zentralen Fluchtpunkt (s. Fucke et al., S. 217). Dadurch entsteht die bekannte perspektivische Verkür- zung, das 'Zusammenlaufen' der Eisenbahnschienen, Alleen, Häuserzeilen, Telegrafenmasten, usw. mit zunehmender Entfer- nung. Obwohl die Zentralprojektion ein scheinbar genaues perspektivi- sches Bild vom Objekt bietet, hat sie einen gewissen Nachteil: ohne zusätzliche Angaben läßt sich die Größe des Objektes aus dem projizierten Bild nicht mehr rekonstruieren. So sind z.B. alle Versuche fehlgeschlagen, die Größe der Körper zu ermitteln, die auf Albrecht Dürers bekannter Radierung Melencholia I 408 zu sehen sind. Die geometrischen Gesetze der Zentralprojektion werden im dmoe metaphorisch auf die verstandesmäßige Erfassung und Speicherung unserer 'Erlebnisse', unserer individuellen 'Ge- schichte' übertragen. Im Text wird auch teilweise erklärt, wie diese Metaphorik zu verstehen sei. Bevor darauf jedoch genauer eingegangen wird, soll zunächst noch ein anderes Beispiel für Musils sinnbildliche Übertragung des perspektivischen Sehens behandelt werden. In dem 'Erlebnisbericht' Ein Soldat erzählt beschreibt er eine Situation des ersten Weltkriegs, in der er zusammen mit anderen Kriegskameraden einem Fliegerpfeil eines feindlichen Flugzeug- piloten ausgesetzt ist. Honold schreibt: In den während des Krieges oder kurz danach entstandenen Skizzen, Erzählungen und Essays nimmt der militärische Alltag, die jahrelangen Kämpfe an kaum sich verschiebenden Frontlinien, die Musil in Südtirol und am Isonzo erlebt hat, einen nur geringen Raum ein. Was dagegen mit geradezu obsessiver Beharrlichkeit in immer neuen Anläufen beschrieben, erzählt und auch beschworen wird, ist das Erlebnis eines Fliegerpfeil-Abwurfs, einer im Luftkrieg von italienischer Seite eingesetzten Waffe, die im Kampfgesche- hen kaum Wirkung hinterließ und alsbald wieder aufgegeben wurde.409 Zwei Fliegerpfeile verschiedener Bauart sind in der folgenden Abbildung 74 zu sehen: 408 Siehe dazu auch: Hartmut Böhme Melencholia I. Im Labyrinth der Deutung Frankfurt a. M. 1991, S. 89 ff 409 Honold Die Stadt und der Krieg S. 89 2.1.35 Heimweg (122) _____________________________________________________________ 348 Abbildung 74 Photographie zweier Fliegerpfeile in deut- scher (oben) und russischer Bauart. Durchmesser und Län- ge der Pfeile sind etwa die eines Bleistifts. Der singende Ton, von dem Musil spricht, entsteht erst durch die 'Flügel' des Pfeils beim durchqueren der Luft. Vergleiche Corino Robert Musil S. 238 Trifft ein solcher Fliegerpfeil, so durchbohrt er den Getroffenen vom Kopf bis zum Fuß. Allerdings gibt es nur eine äußerst geringe Treffsicherheit, und der Pfeil wurde deshalb später in der Kriegsführung nicht mehr eingesetzt. In der Erzählung vernimmt Musil als einziger einer Gruppe von Soldaten das leise Singen des abgeworfenen Pfeils. Musil beschreibt eindringlich den Ton des durch die Luft sausenden Pfeils: Im nächsten Augenblick hörte ich ein leises Singen. ... "Er hat einen Pfeil abgeworfen, " dachte ich mir ... Ich wunderte mich bloß, daß niemand etwas hörte. Dann dachte ich, daß der Laut wieder verschwinden würde. Aber er verschwand nicht. Wie er sich mir näherte und perspektivisch größer wurde, war es doch zugleich, als stiege etwas in mir ihm entgegen. ... es dauerte lange, sehr lange Zeit, während deren nur ich den Ton näher kommen hörte. Es war ein ho- her, dünner, singender einfacher Laut, ... (pr S. 755) Das Anschwellen des singenden Tones des sich nahenden Todespfeils wird hier metaphorisch als optische Vergrößerung eines schnell näher kommenden Gegenstandes ausgedrückt. Ähnlich dürfte Musils Übertragung der optischen Verkürzung auf verstandesmäßige Leistungen zu verstehen sein. Demnach ordnet der Verstand (wie auch das Gefühl, im Text scheint bei- des angesprochen) die eigenen Vorstellungen von Ereignissen ähnlich an, wie die Zentralprojektion den Gegenstandsraum: das Dringende, zeitlich Nahe wird bedeutungsvoll und groß darge- stellt, das zeitlich weit Zurückliegende, selbst wenn es ungeheu- 2.1.35.2 Perspektivische Verkürzungen und Gehirnfunktion _____________________________________________________________ 349 erlich war, unwichtig und klein. Dadurch verschwinden Wider- sprüche (Lücken), und es entsteht ein geschlossenes 'perspektivi- sches Verstandesbild', ein abgerundetes schönes 'Erinnerungs- bild'. Der Erzähler legt nahe, daß bei den meisten von uns das Erinnerungsbild ähnlich angelegt sei wie ein perspektivisches Bild: die zeitlich weiter zurückliegenden 'Daten' erhalten in unserer Vorstellung einen entsprechenden Verkleinerungsfak- tor410. Tatsächlich scheint die Musilsche Metapher von der perspektivischen Verkürzung des Verstandes zumindest teilweise von den jüngsten Ergebnissen der Gehirnforschung unterstützt zu werden. Folgt man Roth411, so ergibt sich das folgende wissenschaftliche Bild von Wahrnehmung und Gedächtnis. Jede unserer Wahr- nehmungen ist selektiv und grundsätzlich darauf ausgerichtet, das Überleben zu sichern. Deshalb werden nur Merkmale und Prozesse der 'Welt' erfaßt, die für den Organismus überlebens- relevant sind oder werden können. Die damit verbundene Leistung des Gehirns ist deshalb überhaupt nicht vergleichbar mit der Art einer 'Datenverarbeitung' durch einen Computer. Das Zentralnervensystem ist gänzlich von der Umwelt ausge- schlossen. Die Sinneszellen müssen also die eigentlichen Um- weltreize umwandeln in solche, die vom neuronalen Code des Gehirns entziffert und verarbeitet werden können. Der neuronale Code ist neutral, d.h. für Sehen, Hören, Riechen usw. wird der- selbe Code, dieselbe Sprache benutzt. Was wir als bestimmte Wahrnehmungsinhalte erleben ist ein Konstrukt unseres Gehirns. An der 'Auswertung' einer visuellen Information durch eine einzige Retinaganglienzelle beispielsweise sind etwa hundert- tausend zentrale Neurone beteiligt. Bis zu 200 Milliarden Nervenzellen dürften es sein, die insgesamt mit visueller Wahr- nehmung zu tun haben. Roth schreibt wörtlich: Wahrnehmung hängt zwar mit Umwelt- ereignissen zusammen, welche die verschiedenen Sinnesorgane erregen; sie ist jedoch nicht abbildend, sondern konstruktiv. ... Diese Konstruktionen sind aber nicht willkürlich, sondern voll- ziehen sich nach Kriterien, die teils angeboren, teils frühkindlich erworben wurden oder auf späterer Erfahrung beruhen. Insbe- sondere sind sie nicht unserem subjektiven Willen unterworfen. 410 Dazu Renner ergänzend, jedoch in etwas nebelhafter Form: Die perspektivische Verkürzung des Verstandes, die einer bewußten Rekonstruktion der poetischen Phantasie entspricht, ordnet die Bilder des Unbewußten und die bewußten Wahr- nehmungen, die Phantasmen und erzählten Handlungen ebenso einem Wahrneh- mungsfeld zu wie die chaotischen Fakten der authentischen Geschichte. (Renner Die postmoderne Konstellation S. 132) 411 Roth Das Gehirn und seine Wirklichkeit S. 78 ff; S. 92 ff; S. 108 ff; S. 121 ff; S. 194 ff 2.1.35 Heimweg (122) _____________________________________________________________ 350 Dies macht sie in aller Regel zu verläßlichen Konstrukten im Umgang mit der Umwelt. (Roth Das Gehirn und seine Wirklich- keit S. 125) Das zentrale Nervensystem muß, wie eingangs bereits erwähnt, in letzter Konsequenz ein Verhalten erzeugen, daß dem Orga- nismus erlaubt zu überleben. Dazu braucht es ein Bewertungs- system, eine Instanz, die ein Verhalten nach den sich daraus er- gebenden Folgen für den Organismus bewertet. Das Resultat der Bewertung kann im Gedächtnis gespeichert werden und steht dann für das zukünftige Verhalten zur Verfügung. Diese Instanz ist durch das limbische System (s. Legende zu Abb. 75, S. 351) gegeben, welches in enger Verbindung mit dem assoziativen Cortex des Großhirns steht. Die cortical-kognitiven Funktionen sind aufs engste mit den limbisch-emotionalen Funktionen ge- koppelt. Zusätzlich hängen Bewertungs- und Gedächtnissystem unmittelbar voneinander ab: jede Bewertung geschieht mit Hilfe von Gedächtnisinhalten: erst nach dem Abgleich der Bewertung der aktuellen 'Situation' mit vorhandenen Gedächtnisinhalten wird wieder abgespeichert. Roth schreibt dazu: Das Zusammen- fließen dieser beiden Aktivitäten (nämlich: Emotion und Bewer- tung) ... ermöglicht es, das eigene Handeln an der Erfahrung auszurichten ... Das Wirken des limbischen Systems erleben wir als begleitende Gefühle, die uns entweder vor bestimmten Hand- lungen warnen oder unsere Handlungsplanung in bestimmte Richtungen lenken. Gefühle sind somit 'konzentrierte Erfahrun- gen'; ohne sie ... ist vernünftiges Handeln unmöglich. Wer nicht fühlt, kann auch nicht vernünftig entscheiden und handeln. (Roth Das Gehirn und seine Wirklichkeit S. 212) Was Musil also metaphorisch treffsicher als die perspektivische Verkürzung des Verstandes bezeichnet hat, dürfte aus heutiger Sicht nicht bloß einer Verblassung unserer Erinnerung, sondern hauptsächlich einer aktuellen Bewertung der Ereignisse durch unser Bewertungssystem entsprechen, welche einem komplexen Prozeß aus cortical-kognitiven und limbisch-emotionalen Funk- tionen sowie aus Gedächtnisfunktionen entspringt. So werden zeitlich und räumlich entfernte 'Ereignisse' schwächer und un- wichtiger bewertet als solche, die unmittelbar vor uns liegen. Zum Verständnis des vorangegangenen und des sich anschlie- ßenden Kommentars wird in der folgenden Abbildung 75 eine Ansicht auf das menschliche Gehirn gezeigt und anhand der Legende das Wichtigste bezüglich Aufbau und Funktion erklärt: 2.1.35.2 Perspektivische Verkürzungen und Gehirnfunktion _____________________________________________________________ 351 Abbildung 75 Abgebildet sind die von hinten eröffneten Schädelhöhle und Wirbelkanal. Großhirn und Kleinhirn lassen sich unmittelbar unterscheiden. Zwar verfügt das Kleinhirn nur über etwa 1/10 des Großhirnvolumens, seine Rinde ist aber sehr viel feiner strukturiert, so daß es 3/4 der Oberfläche des Großhirns erreicht. Man unterscheidet ins- gesamt drei größere Hirngebiete, deren Aufbau und Funk- tionen im folgenden ganz grob erläutert werden. (3): Das Großhirn (Cerebrum, Telencephalon) besteht aus Groß- hirnrinde (Cortex cerebralis), Basalganglien (in der Tiefe liegende graue Substanz, sog. subcorticale Kerne) und Großhirnmark (Nervenbahnen). Funktionen der Groß- hirnrinde: motorische Zentren, motorische Assoziation; Denken, Wollen, Selbst-Bewußtsein; sensorische Assozia- tion, Wahrnehmung, Herstellung von Bedeutungszusam- menhängen. Anteile an der Großhirnrinde haben auch das Riechhirn und das im Text bereits erwähnte Limbische Sy- stem. Letzteres entsteht durch Zusammenwirken von Tei- len des Großhirns, des Zwischenhirns und des Hirnstamms. Das limbische System ist für Gefühle, Stimmungen, Affek- te, Triebe, Bestrebungen usw. verantwortlich, und für die Umsetzung in Verhaltensmuster. Das Zwischenhirn (Dien- cephalon) enthält Thalamus, Hypothalamus, Epithalamus und Subthalamus. Es ist weitgehend vom Großhirn umge- ben und deshalb auf dem Bild nicht sichtbar. Der Thalamus stellt die wichtigste zentrale Schaltstelle aller zum Groß- hirn führenden Bahnen dar, u.a. auch der Sehbahn. Er hat 2.1.35 Heimweg (122) _____________________________________________________________ 352 Verbindungen zum Hirnstamm, Kleinhirn und Rücken- mark sowie zum Hypothalamus und den Basalganglien. Hinzu kommen Verbindungen zur Großhirnrinde. Der Hy- pothalamus enthält übergeordnete vegetative Zentren und Teile der Sehbahn und ist an Gedächtnisfunktionen betei- ligt. Zum Epithalamus gehört auch die Zirbeldrüse. Der Subthalamus kann als Teil des Thalamus gelten. (8);(9): Hirnstamm und Kleinhirn. Der Hirnstamm umfaßt das Ver- längerte Rückenmark, die Brücke und das Mittelhirn. Alle drei sind Teile des Rautenhirns. Er setzt im wesentlichen die Richtung des Rückenmarks fort. Nur ein kleiner Teil des Hirnstamms ist auf dem Bild zu erkennen (8). Der de- taillierte Aufbau des Hirnstamms wird hier übergangen. Seine Aufgabe ist die Koordination der Hirnnerven unter- einander sowie deren Verbindung mit anderen Teilen des Zentralnervensystems. Das Kleinhirn ist auf dem Bild gut zu erkennen, seine spezifische Struktur wurde zu Anfang bereits hervorgehoben. Es regelt den Muskeltonus über Bahnen vom und zum Rückenmark, erhält das Gleichge- wicht durch Verbindungen zum Gleichgewichtsorgan und koordiniert zusammen mit dem Großhirn die Zeitabhän- gigkeit der Bewegung. Lippert, S. 468-504; Gerhard Roth Gehirn in: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthro- pologie. Christoph Wulf (Hg.), Weinheim 1997, S. 425- 435; Johannes Rohen Funktionelle Neuroanatomie Stutt- gart 2001, S. 1-54 Musil, so sagt Corino zurecht im Vorwort seines Bildbands, sei ein guter Kenner der Gehirnanatomie gewesen, wie er in seinem Essay Über Robert Musil's Bücher (pr S. 995-1001) bewiesen habe, und er habe von den Ergebnissen der damaligen Hirnfor- schung ausgezeichnete Kenntnis gehabt, wie die implizite Ver- wendung eines damals gängigen Gehirnmodells für den Tör- leß412 zeige. Corino stellt sich dann selbst als Kenner sowohl der modernen als auch der damaligen Gehirnforschung dar. Er schreibt: Ansatzweise gelangte Musil zu einer Anatomie der menschlichen Vernunft und Unvernunft, die von der Gehirn- und Neurophysiologie der letzten 60 Jahre noch verfeinert wurde. Unzweifelhaft liegt den Musilschen Vorstellungen ... ein Schich- tenmodell zugrunde. ... Dieses Schichtmodell (das sich, drei- gliedrig, ja auch bei Freud findet) ist offenbar nicht Fiktion, sondern physiologische Wirklichkeit. Das älteste unserer Gehir- ne stammt aus der Reptilienphase, das zweite haben wir von nie- deren Säugetieren geerbt, das dritte erst ist spezifisch mensch- lich: das Großhirn. ... Der alte Streit zwischen Kopf und Herz ... ist eigentlich der zwischen Alt-Hirn und Neu-Hirn. Eine Formu- lierung (Musils) ... kann man ... fast im Sinne der modernen 412 Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (pr S. 7-140) 2.1.35.2 Perspektivische Verkürzungen und Gehirnfunktion _____________________________________________________________ 353 Hirnforschung verstehen: in vertikaler Richtung, also zwischen dem Klein- und Zwischenhirn einerseits und dem Großhirn andererseits gibt es sehr viel weniger Nervenverbindungen als in horizontaler Richtung, zwischen rechter und linker Gehirnhälfte (Corino Robert Musil S. 16-17). Es dürfte als sicher gelten, daß der in experimenteller Psycholo- gie ausgebildete, naturwissenschaftlich außerordentlich interes- sierte Musil Aufbau und Funktion des menschlichen Gehirns - soweit diese damals erforscht waren - sehr gut kannte und ent- sprechend auch den 'Fortschritt' der Gehirnforschung verfolgte. Aber weder der von Corino erwähnte Essay noch der Törleß ge- ben darüber Auskunft. In Musils besagtem Essay gibt es nur we- nige Hinweise auf das Gehirn, und diese sind im wesentlichen metaphorisch zu verstehen. Corinos weitere Behauptung, in den Törleß sei die Vorstellung vom Schichtenmodell des Gehirns eingegangen, erscheint als grobe Unterstellung. Soweit dies in der vorliegenden Arbeit nachgeprüft werden konnte, gibt es in Musils Texten tatsächlich nur wenige Anhaltspunkte, aus denen man auf den genauen Kenntnisstand Musils bezüglich Gehirn und Gehirnforschung schließen kann. In der folgenden Fußnote sind einige Texte aus Nachlaß und Tagebüchern zusammenge- tragen413. Daraus geht aber vor allem hervor, wie vorsichtig Mu- sil, der sich der außerordentlichen Schwierigkeit der Erforschung des Gehirns bewußt war, Aussagen über Grundbauplan und Funktion des menschlichen Gehirns machte. Deshalb dürfte wohl auszuschließen sein, daß er Hypothesen, wie das Schichten- modell des Neurologen Jackson für das menschliche Gehirn, als Grundwissen für seine Dichtung übernahm. Jackson konstruierte damals eine Gehirnlehre, in welcher der assoziative Cortex (Teil 413 ... Ebenso sind unwahrgenommene Doppelbilder im Gesichtsfeld, denn das eine Auge sieht ja etwas anders als das zweite; Nachbilder lösen sich wie allerfeinste farbige Nebel vor den Augenblicksbildern auf; das Gehirn unterdrückt, ergänzt, formt die vermeintliche Wirklichkeit; ... (nl VII/6/50) Verletzungen der einen Hirnhälfte ergeben angeblich andre Störungen als die der andren. Das rechte Gehirn beobachtet das linke. (Angeblich nachgewiesen in: Das Schaltwerk der Gedanken) (tg1 S. 499) Der höher entwickelte Organismus besitzt auch nicht bloß ein einziges Centrum oder eine einzige Gruppe von Centren, sondern eine Reihe von lokalen Centren, die Ganglien-Gruppen des Sympathicus (die Ganglien des Sympathikus und Parasym- pathikus bilden gegenläufige Stränge des vegetativen Nervensystems, s. Lippert, S. 90 ff), die verschiedenen Rückenmarkssegmente, die einzelnen Teile des Gehirns. Diese verschiedenen Centralorgane sind relativ selbstständig und versehen ihre eigenen getrennten Functionen für sich; ...Dem, was wir geistiges Wachstum nen- nen, entspricht ... eine reichere Verzweigung der von den Zellen auslaufenden Faserzüge, insbesondere in der Großhirnrinde, durch welche Nervenelemente, wel- che bisher ohne Verbindung miteinander standen, in Beziehung gesetzt werden. (tg1 S. 71-72) 2.1.35 Heimweg (122) _____________________________________________________________ 354 der Großhirnrinde) als das höchste Hirnzentrum erschien, dem der motorische Cortex als mittlere Ebene sowie Hirnstamm und Rückenmark als 'ausführende Organe' auf niedrigster Ebene un- terstellt waren. Dabei waren die corticalen Gebiete auf höchster Ebene der eigentliche Sitz des rationalen Denkens und des Be- wußtseins. Diese entwickelten sich nach Jackson stammesge- schichtlich am spätesten und übernahmen dabei die Kontrolle der primitiveren Gehirnregionen der mittleren und niederen Ebenen. Das Jacksonsche Schichtenmodell wurde später durch Papez und MacLean ebenfalls auf hypothetischer Basis zum 'Dreistufen- modell' weiterentwickelt. Das Papez-MacLean-Modell414 besagt, daß das menschliche Gehirn entsprechend seiner angenommenen stammesgeschichtlichen Entwicklung folgendermaßen zu glie- dern sei: ein Reptiliengehirn, das im wesentlichen aus dem Hirn- stamm (s. Abb. 75, S. 351) besteht und für Reflexe und Instinkte zuständig ist; ein primitives Säugergehirn, welches hauptsächlich das limbische System (Randbereiche des Großhirns und Anteile bis zum Hirnstamm reichend, s. Abb. 75) ausmacht und welchem Gefühle und Triebe zugeordnet werden; und schließlich das für den Menschen charakteristische hochentwickelte Säugergehirn, das dem Neocortex entspricht und für rationales, problemlösen- des Verhalten maßgeblich ist. Es sagt weiter, daß zwischen dem primitiven und dem hochentwickelten Säugerhirn, also zwischen limbischem System und Neocortex, nur wenig anatomische Verbindungen existieren, und daß es uns daher schwerfällt, Affekte und Emotionen rational zu steuern. Corino propagiert nun wie oben gesehen noch im Jahre 1988 dieses hypothetische Papez-MacLean-Modell, spricht ihm sogar 'physiologische Wirklichkeit' zu, und will es mit bestimmten Formulierungen Musils in Verbindung bringen. Aber so plausi- bel dieses Modell auch klingen mag, es ist ganz falsch. Roth schreibt dazu: Wir können ... als gesichert annehmen, daß das Wirbeltiergehirn von Anfang an aus fünf Teilen aufgebaut war und sich von vorn nach hinten in ein Endhirn, Zwischenhirn, Mittelhirn, Hinterhirn und Nachhirn gliedert und dann in das Rückenmark übergeht. Dieser Aufbau findet sich bei allen Wir- beltieren einschließlich des Menschen und der Salamander. ... Alle wesentlichen Teile des Wirbeltiergehirns sind in der Evolu- tion gleichzeitig entstanden. ... Es gibt keine 'stammesgeschicht- lich ursprünglichen' oder 'stammesgeschichtlich neuen' Hirnre- gionen. ... Alle Wirbeltiere haben ein Palaeopallium (Paleocor- tex, Riechhirn), ein Archipallium (Archicortex, Hippocampus) und ein Neopallium (Neocortex). Die grundlegenden Funktionen 414 Roth Das Gehirn und seine Wirklichkeit S. 194-197 2.1.35.3 Theorie der Narration _____________________________________________________________ 355 dieser Strukturen sind gleich. ... Hirnstamm, limbisches System und Neocortex sind anatomisch und funktional aufs engste mit- einander verbunden. Das Papez-MacLean-Modell ist also nicht nur in seinen stammesgeschichtlichen Begründungen, sondern auch in seinen anatomischen Grundannahmen falsch. ... Es gibt massive auf- und absteigenden Verbindungen zwischen Neocor- tex und limbischem System, und es ist ein Rätsel, wie diese Ver- bindungen von Papez und MacLean übersehen werden konnten. Bemerkenswerterweise zeigt gerade der ... assoziative Cortex besonders massive Verbindungen mit dem limbischen System. (Roth Das Gehirn und seine Wirklichkeit S. 34-35, S. 197-198) 2.1.35.3 Theorie der Narration An späterer Stelle des Romankapitels, namentlich dort, wo ver- sucht wird, die grundsätzlichen, charakteristischen Strukturen des Erzählens in Roman und Erzählung aufzuzeigen, spricht Mu- sil wieder von der verstandesmäßigen perspektivischen Verkür- zung. Das Fazit lautet schließlich, beim rezipieren solcher Texte werde ständig diese Verkürzung benutzt415, um die im Text vor- getragenen grauenhaften und widerwärtigen Erlebnisse der Prot- agonisten so zu verkleinern, daß sie der im Lehnstuhl sitzende Leser dann erst so recht genießen könne. Deshalb seien die mei- sten Menschen sogar im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler. Die betreffende Textpassage des Romans ist aber noch aus einem anderen Grunde besonders wichtig. Sie enthält wichtige Aspekte der Musilschen Theorie des narrativen Schreibens. Es heißt dort: ... fiel ihm (Ulrich) ein, daß das Gesetz dieses Lebens, nach dem man sich ... sehnt, kein anderes sei als das der erzählerischen Ordnung! Jener einfachen Ord- nung, die darin besteht, daß man sagen kann: "Als das geschehen war, hat sich jenes ereignet!" Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwälti- genden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindi- mensionalen, ... die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten 'Faden der Erzählung', aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht. ... Es mag ihm Schlechtes widerfahren sein: ... sobald er imstande 415 In den Tagebüchern äußert sich Musil in anderem Zusammenhang derart, daß diese Verkürzung auch vom Autor selbst vorzunehmen sei: Die Jugendgeschichte H’s bekommt erst Wert durch das Mitleid, das sie in R. erzeugt. Daher ist dieses nicht in voller Lebensbreite auszuführen, sondern in der entsprechenden ethisch - perspektivischen Verkürzung! (tg1 S. 95) 2.1.35 Heimweg (122) _____________________________________________________________ 356 ist, die Ereignisse in der Reihenfolge ihres zeitlichen Ablaufs wiederzugeben, wird ihm so wohl, ... Das ist es, was sich der Roman künstlich zunutze gemacht hat: der Wanderer mag ... bei zwanzig Grad Kälte mit den Füßen im Schnee knirschen, dem Leser wird behaglich zumute, und das wäre schwer zu begreifen, wenn dieser ewige Kunstgriff der Epik, ... diese bewährteste 'perspektivische Verkürzung des Verstan- des' nicht schon zum Leben selbst gehörte. Die mei- sten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler. ... Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitive Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem "Faden" mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet. (S. 650) Der Protagonist Ulrich besitzt eben nicht mehr dieses primitive Epische der linearen Aufreihung von Erlebnissen, sondern fühlt sich eher der Darstellung einer unendlichen verwobenen Fläche verpflichtet. Er ist gerade nicht in der Lage, diese Leistung der 'verstandesmäßigen Verkürzung', der Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden zu voll- bringen: er schafft es nicht, die überwältigende Mannigfaltigkeit des Lebens auf eine eindimensionale Reihenfolge abzubilden416. In diesem (ironischen) Sinne dürfte auch zu verstehen sein, daß der Name 'Ulrich' nichts anderes bedeutet als 'Herr im eigenen Hause' 417. Wahrscheinlich soll auch schon an dieser Stelle unbemerkt darauf aufmerksam gemacht werden, daß der dmoe- Roman niemals zu Ende geführt werden kann, für immer ein Fragment bleiben muß. Honold schreibt dazu: Gewiß teilt er (Ulrich) nicht mehr die Hoffnung auf eine immanente Teleologie, nach der die Diskonti- nuitäten der Biographie als nur scheinbare auf die entelechiale Entfaltung einer organischen Ganzheit rückführbar sind. Statt einem vorhandenen Plan zu folgen, weiß er als 'nach-kritisches' Erkenntnissubjekt, daß nur jener Weg als planvoll und folgerich- tig erscheint, dessen Linie er selbst gezeichnet hat; der Ariadne- 416 Der Bemerkung Honolds dazu kann man nicht folgen: ... Ist es aber der räumli- che Zusammenhang eines Nebeneinanders, welcher das Nacheinander der erzählten Geschichte stiftet, so läßt sich jeder Augenblick bruchlos aus dem jeweils vorange- gangenen herleiten; Bewegung im Raum wird damit, wie in Zenons Paradoxon von Achills Wettrennen mit der Schildkröte, zu einer Kette zeitloser Zustände. (Honold Die Stadt und der Krieg S. 71). Im Roman wird doch gerade vom Protagonisten gesagt, zu einer linearen Auffädelung der Ereignisse nicht mehr im Stande zu sein! 417 Vergleiche Corino Ödipus oder Orest S. 202; auch Meisel, S. 132, Fußnote 41 oder Honold Die Stadt und der Krieg S. 131 2.1.35.3 Theorie der Narration _____________________________________________________________ 357 faden der Erzählung muß zuerst verlegt werden, soll man sich an ihm orientieren können. (Honold Die Stadt und der Krieg S. 308) Ähnlich kommentiert Meisel: Was Musil in den zum Modell ver- dichteten Novellen noch gelingen konnte, im 'Mann ohne Eigen- schaften' gerät es zum erzählerischen Paradoxon: um nicht "im Gedächtnis des Lesers (zu) verschwimmen", müssen die Erzähl- figuren im Text durch eine differenzierte Lebensgeschichte iden- tifizierbar bleiben, ohne daß diese in einer Kausalität aufgingen. Am Beispiel der Schlüsselfigur Ulrich mit all ihren widersprüch- lichen Attributen ... wird die Dichotomie von Kausalität und der nur ex negativo bestimmbaren "Ästhetik" offenkundig. Figuren- wie Motivanalyse, wie sie ein Großteil der Forschung ... betreibt, ist sicher eine notwendige aber keine hinreichende Diagnostik sowohl der Akteure wie auch des Textes. (Meisel, S. 135-136) Im Nachlaß spricht Musil ebenfalls über die perspektivische Verkürzung des Verstandes. Der Text stellt anscheinend einen Entwurf für ein dmoe-Kapitel dar, in welchem Arnheim Ulrich ein Angebot macht, für ihn zu arbeiten, und Ulrich über diesen Vorschlag nachdenken will: ... Man lebt für ein Ziel u hat die Fähigkeit das übri- ge nicht zu entbehren; es ist eine Art perspektivisch verkürzter Ergänzung. Ulrich fühlte, daß dies das sei, was ihm Arnheim vorschlug. Man lebt für solche Augenblicke. ... Man lebt für die Illusion das zu sein, was vor einem die waren, die beneidenswert genannt werden. (nl VII/17/42) Im Roman werden aber anschließend die Einsichten des Prot- agonisten über die verstandesmäßigen perspektivischen Verkür- zungen wieder ironisch relativiert. Denn auf Ulrich selbst wird eine ganz gewöhnliche perspektivische Verkürzung angewandt. Er begegnet während seines ausgeweiteten Heimwegs einem leichten Mädchen, das ihn dann mit Kleiner anredet: Da stand sie nun und lächelte, ... Ulrich fühlte plötz- lich, daß dieses geschäftsmäßige Lächeln in der Nacht eine kleine Wärme verbreitete. ... "Komm mit mir, Kleiner!" sagte sie oder etwas Ähnliches. Ihre Schultern fielen wie die eines Kindes ab, unter dem Hut quoll ein wenig blondes Haar hervor, ... Sie sah zu ihm empor und war viel kleiner als Ulrich, trotz- dem sagte sie noch einmal "Kleiner" zu ihm und fand in ihrer Teilnahmslosigkeit nichts Unpassendes an dieser Lautverbindung ... (S. 651) 2.2.1 Morgen in einem Trauerhaus (3) _____________________________________________________________ 358 2.2 Zweites Buch 2.2.1 Morgen in einem Trauerhaus (3) 2.2.1.1 Graphit und Diamant Ulrich geht durch das Haus seines verstorbenen Vaters, in wel- chem die Trauer noch nicht recht in Betrieb ist, und kommt auf den Gedanken, im Arbeitszimmer seines Vaters an seinen wis- senschaftlichen Problemen weiter zu arbeiten. Es heißt dort: In dieser Stimmung schlug Ulrich seine Arbeit auf, die er vor Wochen und Monaten unterbrochen hatte, und sein Blick fiel gleich zu Beginn auf die Stelle mit den physikalischen Gleichungen des Wassers, über die er nicht hinausgekommen war. Er erinnerte sich dunkel, daß er an Clarisse gedacht hatte, als er aus den drei Hauptzuständen des Wassers ein Beispiel gemacht hatte, um an ihm eine neue mathematische Möglich- keit zu zeigen; und Clarisse hatte ihn dann davon ab- gelenkt. Doch gibt es ein Erinnern, das nicht das Wort, sondern die Luft, worin es gesprochen worden, zurückruft, und so dachte Ulrich auf einmal: "Kohlen- stoff..." und bekam gleichsam aus dem Nichts heraus den Eindruck, es würde ihn weiterbringen, wenn er augenblicklich bloß wüßte, in wieviel Zuständen Koh- lenstoff vorkomme; aber es fiel ihm nicht ein, und er dachte statt dessen: "Der Mensch kommt in zweien vor. Als Mann und Frau." Das dachte er eine ganze Weile, scheinbar reglos vor Staunen, als ob es Wun- der was für eine Entdeckung bedeutete, daß der Mensch in zwei verschiedenen Dauerzuständen lebe. (S. 687) Bereits auf Seite 111 des Romans ist davon die Rede, daß Ulrich an den Zustandsgleichungen des Wassers arbeitet und Clarisse davon erzählt hat. Wie diese Zustandsgleichungen prinzipiell aussehen und welche Bedeutung sie haben, ist im Abschnitt 2.1.9.1 der vorliegenden Arbeit beschrieben worden und soll nicht wiederholt werden. Die erwähnten drei Hauptzustände des Wassers sind in diesem Zusammenhang unzweifelhaft Dampf, Flüssigkeit und Eis. In welchem dieser Zustände sich das Wasser unter den verschiedenen Zustandsbedingungen befinden kann, entnimmt man unschwer dem in Abbildung 27, S. 102 gezeigten Phasendiagramm des Wassers. Meisel, der den Text ebenfalls kommentiert, spricht von physika- lischen Elementen als Grundmaterial der Naturwissenschaften 2.2.1.1 Graphit und Diamant _____________________________________________________________ 359 und unklaren Hauptzuständen von Kohlenstoff und Wasser418. Es läßt sich jedoch bei bestem Willen nicht erkennen, was diese Aussagen Meisels zu bedeuten haben. Entweder man spricht von chemischen Elementen oder von physikalischen Gesetzen, Zu- ständen oder Gleichungen. Von 'unklaren Hauptzuständen' ist im Text überhaupt nicht die Rede. Folglich kann man auch die gesamte, sich anschließende Argumentation Meisels nicht nach- vollziehen. Von ganz ähnlichem Mißverständnis und eigentlich völliger Nichtbeachtung des zitierten Textes zeugen die Bemerkungen Franks. Frank spricht offenbar aufgrund fehlender physikalischer Grundkenntnis von "Geist als 'Assoziationssubstanz', der sein physisches Analogon im Wasser finde, dessen transparente und zugleich proteische Natur Ulrich während einer mathematischen Arbeit merkwürdig an sein infixibles Selbst erinnere". Falls man hier noch geneigt ist zu glauben, man habe den 'tieferen Sinn' dieser Aussage nicht verstanden, so machen die darauffolgenden Sätze schließlich klar, daß es sich dabei um ein dem Text völlig entrücktes Gerede handelt. Man erfährt nämlich des weiteren folgendes: Wenn er (Ulrich) viel später die unterbrochene Arbeit wiederaufnimmt, lassen ihn die Zustandsgleichungen des Was- sers an den Kohlenstoff denken: er "bekam gleichsam aus dem Nichts heraus den Eindruck, als würde es ihn weiterbringen, wenn er augenblicklich wüßte, in wievielen Zuständen Kohlen- stoff vorkomme" 419. Das tertium comparationis der beiden Asso- ziationen mit der Natur des Selbst liegt in der Vorstellung der relativen Eigenschaftslosigkeit und Verwandelbarkeit: unverse- hens enthüllt sich nun ihre mystische Disposition: das, was noch nicht Eigenschaften hat, wird zum Symbol dessen, was über alle Eigenschaften erhaben ist; so wie der Kohlenstoff zum Symbol des Diamanten in der aller Eigenschaften überhobenen Seelen- Burg (castellum animi) der mystischen Entrückung wird.420 Nichts von alldem steht auch nur andeutungsweise im Text. Die Verbindung von Wasser und Kohlenstoff liegt schlicht in den Zustandsgleichungen, die in allgemeinster Form sowohl die Zu- stände des Wassers als auch die des Kohlenstoffs beschreiben können. Außerdem wird im Text nicht von einem Zustand des Kohlenstoffs, sondern ganz deutlich von mehreren solchen Zu- 418 Meisel, S. 231 419 In diesem Zitat Franks ist erstens es würde durch 'als würde es' ersetzt, zweitens fehlt das Wörtchen bloß und drittens heißt es in Musils Text wieviel und nicht 'wievielen'. Vergleiche mit dem vorher angegebenen korrekten Zitat. 420 Frank, S. 336-337. Siehe auch die Erwähnung eines Seelendiamanten auf S. 338 des gleichen Artikels. 2.2.1 Morgen in einem Trauerhaus (3) _____________________________________________________________ 360 ständen gesprochen, um damit auch dem sich anschließenden Text einen Sinn zu geben. Zur Richtigstellung soll nun im folgenden der Inhalt des oben zitierten Textstücks ausführlich kommentiert werden. In Musils Text heißt es, Ulrich - von einer plötzlichen Ahnung getrieben - glaube, daß er mit seinen mathematisch-physikalischen Glei- chungen weiterkäme, wenn er die Zustände des Kohlenstoffs vor Augen hätte. Ohne Zweifel denkt Ulrich hier an die beiden Kri- stallformen, in denen elementarer Kohlenstoff in der Natur vor- kommt, die ihm aber gerade nicht gegenwärtig sind. Selbstver- ständlich kommt reiner Kohlenstoff (C) - so wie jedes andere chemische Element oder jede Verbindung - unter geeigneten Bedingungen in fester, flüssiger oder gasförmiger Form vor. Für diese Einsicht braucht Ulrich aber keine besondere Gedächt- nisleistung. Interessanterweise wollen ihm aber gerade die bei- den natürlichen festen Formen des Kohlenstoffs, nämlich Diamant und Graphit421, nicht einfallen. Die folgenden Abbil- dungen 76 und 77 enthalten photographische Darstellungen dieser beiden Steine422: Abbildung 76 Rohdiamant in vulkanischem Gestein. Diamant ist einer der härtesten Kristalle überhaupt (Härtezahl 10). Er wird in Südafrika, Brasilien, Indien und 421 Feinkristalliner Graphit liegt z. B. im Ruß vor; auch jede Bleistiftmine wird aus Graphit gefertigt (siehe dazu: Holleman-Wiberg, S. 297). 422 Paul O'Neil Der Planet Erde. Edelsteine. Amsterdam 1984, S. 6-20; Gunter Steinbach (Hg.) Mineralien München 1982, S. 38-39; Rolf Seim Minerale Berlin 1974, S. 194-195 2.2.1.1 Graphit und Diamant _____________________________________________________________ 361 Rußland gefunden. Aufgrund seiner Härte setzt man diesen Stein zur Metall- und Steinbearbeitung ein. Er dient z.B. als Bohrkrone bei den Tiefbohrgeräten. Wegen seiner be- sonderen Lichtbrechungseigenschaften wird er in geschlif- fener Form zu wertvollem Schmuck verarbeitet. Man un- terscheidet verschiedene Formen des Schliffs: z.B. Bril- lant-Vollschliff oder Smaragdschliff. O'Neil, S. 10 u. S. 156-157; Seim, S. 394 u. S. 419 Abbildung 77 Graphit in Sandstein. Er wird in der Stei- ermark und in Finnland gefunden. Der hexagonale Kristall ist als Schichtengitter aufgebaut und daher sehr weich und leicht spaltbar (Härte: 1). Aufgrund seiner geringen Härte und seiner Abfärbeigenschaften wird Graphit hauptsäch- lich als Farb-, Schmier- und Poliermittel eingesetzt. Große Verwendung findet er auch als Bleistiftmine oder Elektro- de. Vergleiche: Steinbach, S. 38-39; Seim, S. 420 Die erhebliche Verschiedenheit der Eigenschaften von Graphit und Diamant, besonders im Hinblick auf Härte, optisches und elektrisches Verhalten, beruht auf der Unterschiedlichkeit der beiden atomaren Gitterstrukturen. In der folgenden Abbildung 78 findet man die atomare Struktur der Kristalle im Vergleich. Die zugehörige Legende erläutert, warum es sich dabei um grund- sätzlich andere Arten von Kristallgittern handelt: 2.2.1 Morgen in einem Trauerhaus (3) _____________________________________________________________ 362 Abbildung 78 Schematische Darstellung der Kristallgit- terstrukturen des Graphits (oben) und Diamants. Die Koh- lenstoffatome sind durch weiße oder schwarze Kreise ge- kennzeichnet. Dadurch soll besser erkennbar werden, daß im Diamantgitter jedes 'weiße' C-Atom tetraedrisch von vier 'schwarzen' C-Atomen umgeben ist und umgekehrt. Für das Graphitgitter gilt dies nicht, wie die beibehaltene optische Unterscheidung anzeigt. Auch die Schraffur dient dem besseren Vergleich der beiden Gitter. Es handelt es sich im Grunde aber um zwei völlig verschiedene Kristall- strukturen. Das Graphitgitter weist eine Schichtenstruktur auf, wobei die einzelnen Schichten (Ebenen) nur durch schwache physikalische Bindungskräfte zusammengehal- ten werden, was im Bild durch die gestrichelten Linien an- gedeutet wird. Infolgedessen liegen die Schichten wesent- lich weiter auseinander als es einer chemischen Bindungs- länge entspricht. Auf Grund dieses hexagonalen Schich- tengitters läßt sich Graphit längs seiner Ebenen sehr leicht spalten. Es weist zudem eine hohe elektrische Leitfähigkeit auf, die dadurch zustande kommt, daß in den Ebenen jedes C-Atom nur mit drei anderen C-Atomen eine chemische Bindung eingeht. Im Gegensatz dazu ist das Diamantgitter ein kubisches Atomgitter, bei dem jedes Kohlenstoffatom tetraedrisch mit vier anderen chemisch verbunden ist. Da- 2.2.1.1 Graphit und Diamant _____________________________________________________________ 363 durch ergibt sich die gezeigte Wellung der 'Ebenen' und damit die Härte sowie die Festigkeit des Gitters bezüglich aller drei Raumrichtungen. Da hier die C-Atome über kei- ne freien Valenzen (Bindungsmöglichkeiten) verfügen, stellt der Diamant einen Nichtleiter dar. Die eingezeichne- ten Abstände tragen die heute nicht mehr übliche Längen- einheit Angström: 1 A = 10-10 m. Holleman-Wiberg, S. 294-299 Ulrich kann sich an diese beiden in der Natur vorkommenden Kristallformen des Kohlenstoffs, also an Diamant und Graphit, nicht erinnern, und denkt statt dessen, daß der Mensch ja in den zwei Dauerzuständen (Formen) 'Mann' und 'Frau' vorkomme. Ganz offensichtlich sollen Mann und Frau metaphorisch mit den beiden Kristallformen des Kohlenstoffs Diamant und Graphit verknüpft werden. Dieser Metaphorik entsprechend werden im anschließenden Text männliche Eigenschaften, wie hart, selbst- süchtig, geprägt, gegen weibliche, wie eingesenkt, unbeschreib- lich empfindlich, selbstlos, gesetzt. Tatsächlich ordnet Ulrich aber diese Eigenschaften sich selbst in jeweils einem 'anderen Zustand' zu. Dieser in der Sekundärlitera- tur oft diskutierte andere Zustand ermöglicht sozusagen eine Überführung des Männlichen in das Weibliche (und umgekehrt) und verbindet Ulrich in dieser Weise mit seiner Zwillingsschwe- ster Agathe. Auch unter diesem letzteren Gesichtspunkt der Umwandelbarkeit ist das Bild der beiden Kristallformen des Kohlenstoffs ver- wendbar. Die direkte Umwandlung von Graphit in Diamant und umgekehrt läßt sich in der Realität unter geeigneten Bedingun- gen durchführen. Diamant kann man relativ einfach durch Erhit- zen auf über 1500 Grad in Graphit umwandeln. Der umgekehrte Weg erfordert allerdings extreme Reaktionsbedingungen, man braucht Temperaturen von über 2400 Grad und Drücke von 105 bar. Die hohen Drücke sind deshalb erforderlich, weil die Ebe- nen des Graphit-Schichtengitters stark zusammengedrückt wer- den müssen, um die Abstände der chemischen Bindungslängen im Diamant-Atomgitter zu erreichen (siehe Abbildung 78, S. 362). Die Umwandlung findet außerdem nur statt, wenn be- stimmte Katalysatoren eingesetzt werden (Holleman-Wiberg, S. 297; Ulich-Jost, S. 116). Man könnte die Isomorphie der Zustände und Zustandsände- rungen zwischen 'Diamant' - 'Graphit' einerseits und 'männlich' - 'weiblich' andererseits für weitere Übertragungen423 nutzen, also 423 Dazu: Jürgen Link Die Struktur des literarischen Symbols München 1975, S. 8 ff 2.2.1 Morgen in einem Trauerhaus (3) _____________________________________________________________ 364 z.B. die kontemplativen Kräfte, derer es zur Wandlung in den jeweils 'anderen Zustand' bedarf, ähnlich sehen wie die Kräfte und Energien, die bei der Umwandlung von Diamant in Graphit und umgekehrt nötig sind. Dies würde aber die Grenzen des vor- liegenden Kommentars sicher überschreiten. Musils eigener richtungsweisender Kommentar zum anderen Zustand (z.B. dmoe: S. 1228-1229) findet sich in seinem essayi- stischen Fragment Der deutsche Mensch als Symptom (pr S. 1353-1400). Der Text kann aber im Rahmen des Kommentars nicht behandelt werden. Statt dessen soll eine Tagebuchnotiz Musils zitiert werden, die als Hinweis auf die Überlegungen im Essay dienen mag: ... Für eine Wahrheit kann man nicht mit der Person einstehen. "Man muss sich seines transzendenten Ichs bemächtigen," sagt Hölderlin (in Wahrheit stammt dieses Zitat von Novalis (siehe Anm. 81, tg2 S. 225)). Anders (Ulrich) erkennt: alle diese Strömungen hatte er früher in sich als andere, er sieht auch den Weg, um das mit den Erkenntnissen zu vereinigen, aber bis heute haben ihn Schwächen und Schicksale nicht bis dahin gelangen lassen. Und nun ist seine Schwester da und führt ihn geradezu hin. (tg2 S. 1083) 2.2.1.2 Optische Inversion, Raum und Zeit Im Romankapitel wird auf den anschließenden Seiten versucht, die verborgene Umwandlungsmöglichkeit zwischen den 'Ge- schlechts-Zuständen' des Menschen mit Hilfe des Phänomens der optischen Inversion aufzudecken. Der dmoe-Text lautet: Ulrich sah sich ... an die Arbeit eines Psychologen erinnert, mit dem ihn persönliche Beziehungen ver- banden: sie handelte davon, daß es zwei große, ein- ander entgegengesetzte Vorstellungsgruppen gebe, von denen sich die eine auf dem Umfangenwerden vom Inhalt der Erlebnisse, die andere auf dem Um- fangen aufbaue, und legte die Überzeugung nahe, daß sich ein solches 'In etwas Darinsein' und 'Etwas von außen Ansehn', ein 'Konkav-' und 'Konvexemp- finden' 424, ein 'Raumhaft-' wie ein 'Gegenständlich- sein', eine 'Einsicht' und eine 'Anschauung' noch in so vielen anderen Erlebnisgegensätzen und ihren Sprachbildern wiederhole, daß man eine uralte Dop- pelform des menschlichen Erlebens dahinter vermu- 424 Die konkave Form bezeichnet die Hohlform, die konvexe die bauchige. 2.2.1.2 Optische Inversion, Raum und Zeit _____________________________________________________________ 365 ten dürfe. ... Und dann muß die doppelte Möglichkeit des gebenden und des nehmenden Sehens einmal von außen empfangen worden sein, als ein Doppelgesicht der Natur, und irgendwie ist alles das viel älter als der Unterschied der Geschlechter, ..." (S. 688-689) Bei dem 'befreundeten Psychologen' dürfte es sich nach den Aus- führungen von Heydebrand425 und Hoffmann426 um den Musik- wissenschaftler und Gestaltpsychologen Erich Moritz von Horn- bostel handeln427. Ulrichs Ausführungen erscheinen tatsächlich als die fast wörtliche Wiedergabe bestimmter Textabschnitte aus Hornbostels Arbeit Über optische Inversion428. Die optische Inversion (s. auch Abschnitt 2.1.34.3) wird von Ulrich hier so ausführlich beschrieben, weil sie eine bedeutende Rolle für das Verständnis der späteren 'Zwillingsbeziehung' zwi- schen Ulrich und Agathe spielt. Ulrichs 'Zwillingsschwester' Agathe ist ja offensichtlich, wie Wagner-Egelhaaf429 schreibt, die Verkörperung eines brachliegenden Teils seiner selbst: Ge- schwister haben "eine leise verzerrende Spiegelwirkung aufein- ander". Musil hatte zwar keine Zwillingsschwester aber eine vor ihm geborene Schwester Elsa, die allerdings nur 11 Monate leb- te. In seinen Tagebüchern heißt es dazu: Aber sie hieß auch Elsa so wie meine vor meiner Ge- burt gestorbene Schwester, mit der ich einen gewis- sen Kult trieb. Ersichtlich sind das Zusammenhänge! Ich trieb in Wahrheit keinen Kultus; aber diese Schwester interessierte mich. Dachte ich manchmal: wie, wenn sie noch am Leben wäre; stünde ich ihr am nächsten? Setzte ich mich an ihre Stelle? Es bestand kein Anlaß dazu. Ich erinnere mich allerdings aus der 'Kittelzeit', daß ich manchmal auch ein Mädchen sein wollte. Ich möchte das für eine Reduplikation der Erotik halten. Am wahrscheinlichsten aber ist mir ein Zusammenhang mit dem späteren Verhalten auf den Bällen. (tg1 S. 953-954) Wagner-Egelhaaf fährt in ihrem Kommentar folgendermaßen fort: ... schließlich bringen sie ihr Verhältnis auf die Formel, 425 Heydebrand, S. 99-103. Im ihrem Literaturverzeichnis erscheint aber ein falscher zweiter Vorname Hornbostels. 426 Hoffmann, S.175-184 427 Hornbostel wird auch in Musils Tagebüchern namentlich erwähnt: Zu Beginn dieser Zeit mit Hornbostel u. Wertheimer einmal zusammengewesen, ein bißchen Heimweh nach der Psychologie bekommen. (tg1 S. 240; Anmerkungen 158-159 in tg2 S. 147) 428 Erich Moritz von Hornbostel Über optische Inversion Psychologische Forschung 1 (1921/22), S. 130-156 429 Wagner-Egelhaaf Mystik der Moderne S. 126 2.2.1 Morgen in einem Trauerhaus (3) _____________________________________________________________ 366 Agathe sei Ulrichs verlorene Eigenliebe. Die Schwester läßt Ulrich also eine Beziehung zu sich selbst finden; ... Agathe hat "etwas Hermaphroditisches", was sie für Ulrich begehrenswert macht, stellt sie doch die ursprüngliche Einheit in Aussicht, ... Agathe verkörpert ... nicht den ruhenden Pol gesicherter Positi- vität. "Ich bin in nichts sicher", sagt sie von sich selbst. Sie ist vielmehr eine Frau ohne Eigenschaften, die nie "ganz in etwas darin" ist und sich von einer Umgebung abhängig fühlt, die nir- gends anfängt und nirgends begrenzt ist. Auch sie entzieht sich falschen Identitäten, den "Eigenschaften" im negativen Sinn, und sehnt sich danach, eins mit sich zu sein. Diese Einheit scheint am Horizont als Position aus dem Zusammentreffen der beiden Negationen auf als Perspektivenwechsel, ein "Umstülpen", das die Ziellosigkeit des Lebens in eine positive Qualität umschlagen läßt. (Wagner-Egelhaaf Mystik der Moderne S. 126-127) Im Nachlaß Musils gibt es eine sinnverwandte Textstelle, in der Ulrich die geheimnisvolle Beziehung zwischen Agathe und sich selbst im Sinne der optischen Inversion zu erklären sucht. Es heißt dort: Es scheint, daß alle geheimnisvollen Entdeckungen zwischen Agathe u mir u alle geheimnisvollen Bezie- hungen, die wir gemeinsam zu den Dingen haben, auf diese Weise eine natürliche Erklärung finden: Ein- sicht u Anschauung. Umfangenwerden u Umfangen. In etwas darin sein u etwas von außen sehen. Das konkave u konvexe, gebende u nehmende Sehen u Empfinden. Das Prinzip des weiblichen und des männlichen Erlebens, der Göttinnen u der Götter. (nl V/4/68) An anderer Stelle im Nachlaß wird zum Begriff der Inversion der Gegenbegriff der Extraversion gesetzt, ohne ihn jedoch weiter zu erklären. Vielleicht ist ein Nachaußenkehren des Empfindens gemeint430. Ulrich spricht dort außerdem von 'konvexer Schön- heit', wobei sicher an weibliche Schönheit gedacht ist: Steigerungsunfähiges Erleben der Schönheit u. be- sonders konvexe Schönheit (Vollkommenheit, Insich- genügen). Schließt aus. Spiel mit Körpertausch (d.i. ein gefühlsmäßiges sich hinüber verlegen). Bild, in das man eingeschlossen ist. Ulrich hatte dafür die Begriffe ... erfunden. Beschreibung der Extraversion. Eine Extraversion. (nl II/3/138) 430 Später im Nachlaß (nl II/3/136) verbindet Musil die folgenden Ausdrücke mit der Extraversion: Entgrenzung - Hinauswendung - mit den Augen an etwas anderem hängen - Hinausgekehrtheit - Ekstase. 2.2.1.2 Optische Inversion, Raum und Zeit _____________________________________________________________ 367 Wie stark Musil dieses Phänomen der umkehrenden Vorstellung beschäftigte, ersieht man daraus, daß es nicht nur im Roman beschrieben wird. In der bereits besprochenen Rahmenerzählung Die Amsel (siehe Abschnitt 2.1.35.1) wird gleich in der ersten Binnengeschichte eine Inversion beschrieben, als der Binnener- zähler A2 gerade die wunderbaren Gesangstöne einer Amsel (oder Nachtigall) vernommen hat. Es heißt dort: Ich lag in meinem Bett wie eine Figur auf ihrer Grabplatte und wachte ... aber wenn ich daran denke, ist mir, als ob mich etwas umgestülpt hätte; ich war keine Plastik mehr, sondern etwas Eingesenktes. Und das Zimmer war nicht hohl, sondern bestand aus einem Stoff, den es unter den Stoffen des Tages nicht gibt, einem schwarz durchsichtigen und schwarz zu durchfühlenden Stoff, aus dem ich bestand. (pr S. 552) In Hornbostels Artikel über die optische Inversion liest man fol- gendes über die Betrachtungsweise eines Vexierbilds: Von der Hohlform ausgehend ist es viel schwerer, den äußeren Ring zu- erst und die 'Spitze' zuletzt zu invertieren. Wenn du die Spitze für sich 'hervorhebst', so ist das Feld deiner Betätigung ... einge- schränkt, die Peripherie wird vernachlässigt, 'tritt zurück'. Dann dehnst du das Feld bis zum jeweils nächsten Ring aus, das Zen- trum wächst, du überschaust einen weiteren Bezirk. Die umge- kehrte Reihenfolge der Teilinversion verlangt zu Anfang Hervor- hebung des Randes, Vernachlässigung der Mitte; du sollst dich auf die Peripherie 'konzentrieren', aufs Zentrum nicht; du sollst die Aufmerksamkeit ringförmig einstellen, ein Bewußtseinsfeld erzeugen mit einem Loch in der Mitte. Die Inversionen sind we- der 'Täuschungen', die wir uns 'machen', sondern Dinge, die wir, unter bestimmten Bedingungen, wahrnehmen. Das Konvexe ist gegen mich geschlossen, schließt mich aus, verwehrt meinem Blick das Eindringen durch Undurchsichtigkeit, meiner Hand durch Undurchdringlichkeit. Ich kann es umfassen, umgreifen, umgehen. Es hebt sich hervor, kommt auf mich zu, dringt auf mich ein, ist gegen mich gerichtet. Das Konvexe ist gegenständ- lich. Gegenstände sind konvex. Das Konkave ist vor mir offen, schließt mich ein, läßt meinen Blick, meine Hand, mich eindrin- gen. Es umfaßt, umgreift mich, 'geht' um mich herum. Es weicht von mir weg, flieht, ist Hintergrund, leer. Das Konkave ist raum- haft. Räume sind konkav. Invertieren heißt: Konvexes konkav, Konkaves konvex machen; das Von-außen und Von-innen ver- 2.2.1 Morgen in einem Trauerhaus (3) _____________________________________________________________ 368 tauschen; gegen mich Geschlossenes öffnen und eindringen, vorn Offenes schließen und mich ausschließen.431 Optische Inversion läßt sich dem Wesen nach mit Hilfe der fol- genden beiden 'Umklappfiguren' der Abbildung 79 vorführen: Abbildung 79 Zwei Demonstrationsbeispiele zur opti- schen Inversion. Die obere Figur stellt den Neckerschen Würfel dar, die untere den Rubinschen Pokal. Zur opti- schen Fixierung der einzelnen Zeichnungen deckt man am besten jeweils eine der beiden Figuren ab. Das 'Um- klappen' der Wahrnehmung, welches meistens schon nach kurzer Zeit eintritt, kann dann einfacher nachvollzogen werden. Hofstätter, S. 163-164 Konzentriert man sich zunächst auf die Figur des Würfels der Abbildung 79, so nimmt man diesen anfänglich auf einer Seiten- fläche liegend wahr, plötzlich aber auf einer Ecke stehend, und umgekehrt. Sieht man lange genug (möglichst den Anweisungen Hornbostels folgend) auf das Pokalbild, so 'verwandelt' es sich in ein 'komplementäres' mit zwei schwarzen Gesichterprofilen, und umgekehrt. Die verschiedenen Sehweisen können spontan ab- wechseln, ohne daß sich Zwischenstufen einstellen (Hofstätter, S. 163). 431 Hornbostel, S. 154; siehe auch Heydebrand, S. 103 2.2.1.2 Optische Inversion, Raum und Zeit _____________________________________________________________ 369 Anscheinend findet Musil in der optischen Inversion eine Mög- lichkeit, das Vorkommen zweier 'komplementärer Zustände' ein und desselben Körpers (Doppelgesicht der Natur) psycholo- gisch-wissenschaftlich zu untermauern432. Honold will sogar Musils Romantext unmittelbar als eine Art Inversionsphänomen lesen. Er schreibt: Hornbostels Argumentation ... war für Musil nicht allein aufgrund ihrer psychologischen Problematik von Interesse. ... (Sie) rührte an sein eigenes Ideal eines unmittelba- ren Ereignistextes und Textereignisses, bei dem die ästhetische Wirkung aus der Untrennbarkeit von dargestellter Geschichte und diskursivem Medium hervorgehen sollte. Der von Hornbo- stel erwähnte Punkt des Umschnappens ... gleicht der optischen Inversion darin, daß weder die Materialität der Zeichen noch die von ihnen bedeutete Bildsituation sich substantiell verändern, sondern lediglich die rezeptive Priorität sich schlagartig um- kehrt. Der desillusionierende Blick sieht nun statt der Erzählung das Buch, statt der handelnden Charaktere die Schauspieler. Der Umschlagspunkt selbst aber ist nicht fixierbar, bleibt eigentüm- lich gestalt- und extensionslos: ein blinder Fleck, dessen Wirk- lichkeit niemals darstellbar und darum immer authentisch ist. Musils Fiktion provoziert derlei Inversionspunkte geradezu - nicht durch Verzicht auf raum-zeitlich kohärente Situierung der Handlung, sondern durch die Selbstaufhebung dieses Situations- bezugs 'auf offener Szene', ... (Honold Die Stadt und der Krieg S. 478) Musil war aber vor allem an den damit verbundenen physika- lisch-psychologischen Fragestellungen interessiert, wie die fol- gende Stelle aus den Tagebüchern bezeugt: Es gibt Funktionen des Verstandes, ein kategoriales Denken, logische Kategorien. Raum und Zeit jedoch sind nicht a priori. Man hielt sie deswegen dafür, weil man sie für seelische Continua hielt. Das sind sie aber nicht. Raum ist eine abgeleitete Vorstellung und Zeit ist kein Continuum, sondern in der sinnli- chen Wahrnehmung stets nur etwas Singuläres. Wir denken überhaupt nicht diskursiv sondern sprungwei- se. Die Täuschung ist dieselbe wie bei einem Kinema- tographen. Die willkürliche Aufmerksamkeit ist dis- kontinuierlich. Die passive scheinbar kontinuierlich. Da die Fähigkeit des Aufmerkens, des sich denken Fühlens die Wurzel aller cogito ergo sum = Erkennt- nistheorie ist, so sind diese psychologischen Aufga- ben von größter Wichtigkeit. (tg1 S. 117) 432 Siehe dazu ausführlicher: Heydebrand, S. 102 2.2.1 Morgen in einem Trauerhaus (3) _____________________________________________________________ 370 Die Kritik an Kant ist unüberhörbar. Das Bestehen der logischen Kategorien433 Kants wird nicht bezweifelt, wohl aber Kants a- priori-Forderung für die Anschauungsformen von Raum und Zeit. Es heißt bei Kant: In der transzendentalen Ästhetik also werden wir zu- erst die Sinnlichkeit isolieren, dadurch, daß wir alles absondern, was der Verstand durch seine Begriffe da- bei denkt, damit nichts als empirische Anschauung übrigbleibe. Zweitens werden wir von dieser noch al- les, was zur Empfindung gehört, abtrennen, damit nichts als reine Anschauung und die bloße Form der Erscheinungen übrigbleibe, welches das einzige ist, das die Sinnlichkeit a priori liefern kann. Bei dieser Untersuchung wird sich finden, daß es zwei reine Formen sinnlicher Anschauung, als Prinzipien der Erkenntnis a priori gebe, nämlich Raum und Zeit, mit deren Erwägung wir uns jetzt beschäftigen werden.434 Musil hat sich sehr kritisch mit Kants Überlegungen zu 'Raum' und 'Zeit' als Formen der Anschauung auseinandergesetzt, wie eine weitere Tagebuchstelle bezeugt: Wir denken im Begriff des Raums den der Unendlich- keit mit; das ist leicht einzusehen. Der endliche Raum ist ein begrenzter Raum. Jede Grenze hat aber auch eine andere Seite und auf der muß wieder Raum lie- gen. Die Linie ist ja ein Phänomen im Raum. Raum- grenzen gibt es nicht. Sie sind vielleicht denkbar, aber nicht vorstellbar. Andrerseits können wir uns eine unendlich ausge- dehnte Materialität nicht vorstellen. Warum dies? Zum Teil wahrscheinlich Überbetonung der Alltags- erfahrung, daß Materie im Raum ist. Andrerseits un- terschieben wir für die Vorstellung Nichts die: leerer Raum. Wenn wir überzeugt sind, daß der leerste (Binnen=) Raum von materiellen Phänomenen erfüllt ist, dann gibt es keinen leeren irdischen Raum. Wäre die Gesamtmaterie begrenzt, so könnte sie nur an ei- nen leeren Raum stoßen. Das ist aber ein wahrhafti- ges Nichts, vorausgesetzt, daß die Eigenschaft des Raumbegriffs, den der Unendlichkeit zu enthalten, gar keine materielle Bedeutung hat, sondern nur mit der Weise zusammenhängt, in der dieser Begriff zu- stande kommt. (Als eine Abstraktion aus materiellen 433 Kant Kritik der reinen Vernunft S. 107-125 434 Kant Kritik der reinen Vernunft, S. 65, siehe auch: S. 66-93 2.2.1.3 Prousts 'mémoire involontaire' _____________________________________________________________ 371 Phänomenen. Auseinandersetzung mit der Kantschen Ästhetik also unerläßlich). (tg1 S. 454-455) Dazu fügt sich eine längere Abhandlung im Nachlaß über den damaligen Stand der Philosophie. Ein kleiner Ausschnitt aus die- sem Text soll hier als Hinweis genügen: Die Philosophie ist hinter den Tatsachen ein wenig (!) zurückgeblieben und das verführte zu dem Glauben, daß der auf Tatsachen gerichtete Sinn et- was Antiphilosophisches sei: es ist aber die richtige Philosophie der gegenwärtigen Zeitspanne, daß wir keine Philosophie haben! Man dürfte das nicht aus- sprechen, wenn nicht die Hoffnung bestünde, mit der Zeit über kardinale Fragen der Spekulation auf dem Wege der Erfahrung hinaus zu gelangen ... Den Pro- blemen des Raums und der Zeit sind von der Psycho- logie wie von der Mathematik und Physik neue An- sichten abgewonnen worden, die Struktur der Materie wurde in ein Netz neuer Beziehungen aufgelöst, die Probleme des Lebens und der Individualität sind z. T. aus dem Dunkel gerückt, ... (nl VII/11/53) 2.2.1.3 Prousts 'mémoire involontaire' Auffällig an dem zu Anfang des Abschnitts zitierten dmoe-Text sind die Bemerkungen des Erzählers über das Erinnern, bevor Ulrich sich intensiv über die beiden Zustände des 'Kohlenstoffs' und des 'Menschen' Gedanken macht: Er erinnerte sich dunkel, ... Doch gibt es ein Erinnern, das nicht das Wort, sondern die Luft, worin es ge- sprochen worden, zurückruft, und so dachte Ulrich auf einmal: "Kohlenstoff ..." und bekam gleichsam aus dem Nichts heraus den Eindruck, ... (S. 687) Dieser Romantext läßt sich mit der Beschreibung von Erinne- rungszuständen bei Proust vergleichen, auf welche bereits in ei- ner Fußnote des Abschnitts 2.1.35.1 aufmerksam gemacht wor- den ist. In Marcel Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit lassen sich mehrfach Textstellen nachweisen435, in denen die Rede von plötzlichen, 'eigenartigen' Erinnerungen ist, die in ein rätselhaftes, ekstatisches Glücksgefühl einmünden, und dabei die Sinne des Protagonisten 'Marcel' gefangen nehmen. Zwei der deutlichsten Beispiele für eine solche unwillkürliche Erinnerung 435 Vergleiche: Angelika Corbineau-Hoffmann Marcel Proust: A la recherche du temps perdu Tübingen 1993, S. 140 ff 2.2.1 Morgen in einem Trauerhaus (3) _____________________________________________________________ 372 (mémoire involontaire) des Protagonisten dürften diejenigen beim Eintauchen einer Madeleine in eine Tasse Tee und beim Anblick der Kirchtürme von Martinville sein. Wir zitieren diese beiden Textausschnitte im folgenden: ... als meine Mutter an einem Wintertage ... mir vor- schlug, ich solle entgegen meiner Gewohnheit eine Tasse Tee zum mir nehmen. ... Gleich darauf führte ich, bedrückt durch den trüben Tag und die Aussicht auf den traurigen folgenden, einen Löffel Tee mit dem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, als dieser mit dem Ku- chengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gau- men berührte, zuckte ich zusammen und war wie ge- bannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. ... Wieder frage ich mich, was das für ein unbekannter Zustand sein mag, der keinen logischen Beweis, wohl aber den Augen- schein eines Glücks mit sich führte, einer Wirklich- keit, der gegenüber alle andern verblassen.436 Man hatte mich zum Kutscher auf den Bock sitzen lassen, und wir fuhren wie der Wind, ... An einer Wegbiegung hatte ich auf einmal jenes besondere Lustgefühl, das keinem anderen glich, beim Anblick der beiden Kirchtürme von Martinville, auf denen der Widerschein der sinkenden Sonne lag und die infolge der Wagenbewegung und der Windung der Straße den Platz zu wechseln schienen; es kam dann noch der von Vieuxvicq hinzu, der, von den beiden anderen durch einen Hügel und ein Tal getrennt, etwas höher in der Ferne liegt und ihnen dennoch ganz nahe benachbart schien. ... Die Kirchtürme wirkten so fern437, und es sah aus, als ob wir uns ihnen nur wenig näherten, so daß ich ganz erstaunt war, als wir gleich darauf vor der Kirche von Martinville hielten. Ich wußte nicht, weshalb es mich glücklich gemacht hatte, sie am Horizont zu erblicken, und der Zwang, nach dem Grunde zu forschen, lastete quälend auf mir; ich hatte Lust, die Erinnerung an die sich ver- schiebenden Linien in meinem Kopfe aufzubewahren und im Augenblick nicht mehr daran zu denken. ... 436 Marcel Proust Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. In Swanns Welt. Eva Rechel-Mertens (Übers.), Originaltitel: A la recherche du temps perdu. Du côté de chez Swann. Frankfurt a. Main 1981, S. 63-64 437 Scheint allerdings eine unrichtige Beobachtung zu sein: in der Regel wirken Kirchtürme nah, und man wundert sich, daß man sie noch nicht erreicht hat. 2.2.1.3 Prousts 'mémoire involontaire' _____________________________________________________________ 373 blieb mir nichts anderes übrig als ... mir meine Kirchtürme nochmals vorzustellen. Bald darauf war es, als ob ihre Umrißlinien und besonnten Flächen wie eine Schale sich öffneten und etwas, was mir in ihnen verborgen geblieben war, nunmehr erkennen ließen; ... und die Lust, die mir soeben der Anblick der Türme bereitet hatte, war so gesteigert dadurch, daß ich, von einer Art von Rausch erfaßt, an nichts anderes dachte. ... 438 Renner schreibt zum zweiten Text den folgenden Kommentar, der in transponierter Form partiell auch für Musils Romantext gelten könnte: ... während der Fahrt mit Dr. Percepied (be- schreibt Marcel) die Kirchtürme von Martinville und Vieuxvicq unter sich verändernden Perspektiven ... Die Überlagerung unterschiedlicher Perspektivbilder folgt Marcels Bewegung durch den Raum; (es) entsteht eine Abfolge von Bildern, deren Verknüpfung einen geschlossenen Wahrnehmungs- und Erzähl- raum schafft ... Seine vorher nur momenthaften Erinnerungen an Lichtreflexe ... werden jetzt durch eine zusammenhängende Bilderfolge ersetzt, die das visuell Wahrgenommene bereits in sprachliche Bilder und Metaphern verwandelt, die eine Deutung nahelegen. ... Der Text, den er zu schreiben beginnt, tritt schließ- lich an die Stelle von bildhaften Erinnerungen, ... Die Beziehung von Gedächtnis und Erfahrung, von Text und Textphantasie er- schließt so aus der Perspektive Marcels psychologisch eindring- lich das Gesetz der Intertextualität, ... 439 In Links Monographie440 werden die 'Erinnerungszustände' bei Proust und 'der andere Zustand' bei Musil als Darstellungsweisen besonderer 'Intensitäten' angesehen, in denen 'Eindimensionalität' überwunden wird. Das erscheint plausibel. Dennoch muß be- dacht werden, daß es sich im ersten Fall um Zustände handelt, die unwillkürlich erreicht werden, im zweiten um einen willent- lich, durch Kontemplation erzeugten 'Inversionszustand'. 438 Proust In Swanns Welt S. 239-240 439 Rolf Günter Renner Marcel Proust. Das Thema der Kunst in 'Auf der Suche nach der verlorenen Zeit' Mainz 1992, S. 146-148 440 Link Versuch über den Normalismus S. 53-54 2.2.2 Familie zu zweien (8) _____________________________________________________________ 374 2.2.2 Familie zu zweien (8) 2.2.2.1 Schicksal und Statistik Ulrich und seine Zwillingsschwester Agathe haben sich im elter- lichen Haus zur Beerdigung ihres Vaters, dem Universitätspro- fessor der Jurisprudenz, wiedergetroffen. Als alleinige Erben441 müssen sie viele Dinge in Zusammenhang mit dem Begräbnis und dem Nachlaß gemeinsam erledigen. Nach der Beerdigung tritt eine große Stille im Haus ein, so daß sich viele Anknüp- fungspunkte für Gespräche zwischen den Geschwistern ergeben. Nur ein Berufsfreund des Vaters, Professor Schwung, erstattet ihnen einen Besuch ab und erkundigt sich, ob von seinem toten Kollegen nicht noch ein Manuskript zur eventuellen Veröffentli- chung hinterlassen worden sei. Es heißt im Roman: Die Geschwister ... kannten in dieser Stadt außer Wal- ters altem Vater keinen, den sie hätten besuchen mö- gen, und in Berücksichtigung der Trauer wurden sie auch von niemand eingeladen, und bloß Professor Schwung war nicht nur zum Begräbnis, sondern auch noch am nächsten Tag erschienen, um sich zu erkun- digen, ob sein toter Freund nicht ein Manuskript über die Frage der verminderten Zurechnungsfähigkeit hinterlassen habe, dessen posthume Veröffentlichung man erwarten dürfe. Dieser unvermittelte Übergang von einer Bewegtheit, die unaufhörlich Blasen gewor- fen hatte, zu der auf sie folgenden bleiernen Stille übte nun geradezu einen körperlichen Stoß aus. (S. 719) Offensichtlich ist der Fakultätskollege Schwung der einzige, der mit Ulrichs Vater - wenn auch nur über die Wissenschaft - enger verbunden war. Schwungs Besuch wirkt sich auf Ulrich in be- sonderer Weise aus, wie aus einer späteren Bemerkung hervor- geht, in welcher Ulrich von neuem erwägt, seinen akademischen Beruf als Mathematiker wieder fortzusetzen. Der Text lautet an dieser Stelle: Er erblickte die Möglichkeit, daß man den Gedanken ... auch auf weitaus größere Fragen anwenden könne ... und fühlte sich ... sogar von der Einflüsterung Pro- fessor Schwungs versucht, doch noch zu seinem Beruf zurückzukehren und den Weg zu suchen, der zu Gel- tung und Einfluß führt. Als er sich aber nach wenigen 441 In Kapitel 3 des zweiten Buches wurde vom Erzähler schon erwähnt, daß Ulrichs und damit auch Agathes Mutter früh verstarb. 2.2.2.1 Schicksal und Statistik _____________________________________________________________ 375 Minuten dieses intellektuellen Behagens nüchtern vergegenwärtigt hatte, welche Folgen es haben wür- de, wenn er seinem Ehrgeiz nachgäbe und jetzt noch als Nachzügler den akademischen Weg einschlüge, begegnete es ihm zum erstenmal, daß er sich für ein Unternehmen zu alt fühlte, ... (S. 720) Von Musil wissen wir, daß er zu einer Zeit, die in etwa mit dem Zeitraum der Anfertigung seiner Dissertation zusammenfällt, immer wieder darüber nachdachte, ob er eine akademische Lauf- bahn einschlagen oder Dichter werden solle442. Für beide Tätig- keiten fühlte er sich einerseits begabt genug, andererseits zwei- felte er daran. Mehrere Textstellen in seinen Tagebüchern bele- gen dies. Eine daraus soll beispielgebend folgen: Ich hatte den Ingenieurberuf aufgegeben, war von Stuttgart nach Berlin gekommen, hatte mich an der Universität inskribiert, bereitete mich auf die Gymna- sialmatura vor oder hatte sie schon bestanden, be- suchte jedenfalls wenig die Vorlesungen und hatte die Zeit genutzt, um die in Stuttgart begonnenen "Verwir- rungen des Zöglings Törleß" zu vollenden. Als ich fer- tig war, wurde mir das Manuskript von mehreren Verlagen mit Dank zurückgestellt und abgelehnt. ... Es bestürzte mich etwas, daß alle drei (Verlage) ... nachgeprüft und abgelehnt hatten. Ich wollte damals sowohl Dichter werden als auch die Habilitation für Philosophie erreichen und war unsicher in der Beur- teilung meiner Begabung. So bin ich zu dem Ent- schluß gekommen, eine Autorität um ihr Urteil zu bit- ten. Meine Wahl fiel auf Alfred Kerr ... . (tg1 S. 912) Nach seiner Promotion bei Carl Stumpf ist Musil laut eigener Aussage eine Assistentenstelle mit Habilitationsmöglichkeit an der Universität Graz von dem damaligen Philosophie- und Psy- chologieprofessor Alexius Meinong angeboten worden443. Musil lehnte das Angebot dann aber doch zugunsten seiner Dichtertä- tigkeit ab. Vieles von diesem Zwiespalt dürfte in die Darstellung 442 Siehe: Uwe Baur, Dietmar Goltschnigg Musils Beziehung zu Graz. In: Vom "Törless" zum "Mann ohne Eigenschaften" Musil-Studien, Bd. 4, München 1973, S. 9-18. Auch: Kaiser-El-Safti, S. 128 ff, S. 156 ff 443 Alle Feststellungen stammen nur von Musil selbst. Die betreffenden beiden Brie- fe an Meinong finden sich in: Robert Musil. Briefe 1901-1942. Adolf Frisé (Hg.), Murray G. Hall (Mitarb.), Reinbek b. Hamburg 1981, S. 61-64. Antwortschreiben von Meinong sind nicht nachweisbar. Skeptisch äußert sich auch Kaiser-El-Safti (S. 155-157) über das angebliche, nur mündlich von einem 'Vetter' Musils überbrachte Habilitationsangebot Meinongs. 2.2.2 Familie zu zweien (8) _____________________________________________________________ 376 des Romans eingeflossen sein, wie der oben zitierte dmoe-Text zeigt444. Die im Trauerhaus geführten Gespräche zwischen Ulrich und Agathe leiten Ulrich im Zusammenhang mit der Erörterung des Begriffes Schicksal wieder zu einem seiner Lieblingsthemen, die Statistik. Es heißt dort im dmoe: Sie wollte wissen, was 'Schicksal' ist. "Ein Mittelding zwischen 'Meine Zahnschmerzen' und 'König Lears Töchter'!" erwiderte Ulrich. ... "In spä- teren, besser unterrichteten Zeiten wird das Wort Schicksal wahrscheinlich einen statistischen Inhalt gewinnen." Agathe ... erwiderte: "Altwerden ist wohl selbst schon ein Schicksal!" und war sehr unzufrieden mit dieser Antwort, ... die ihr nichtssagend vorkam. ... Ulrich (erwiderte) "was man persönliches Schicksal nennt, ... kommt auf etwas auffallend Unpersönliches hin- aus." ... "Was man heute noch persönliches Schicksal nennt, wird verdrängt von kollektiven und schließlich statistisch erfaßbaren Vorgängen" wiederholte Ul- rich. Agathe dachte nach, dann mußte sie lachen. "Ich verstehe das natürlich nicht, aber wäre es denn nicht wunderbar, wenn man von der Statistik aufgelöst würde; die Liebe bringt das ja doch längst nicht mehr zustande!" meinte sie. (S. 720-723) Was der Protagonist des Romans mit statistischem Inhalt bezeichnet, kann man erst im Zusammenhang mit der darauf- folgenden Äußerung über kollektive Vorgänge einigermaßen erschließen. Betrachtet man das Schicksal jedes einzelnen als zeitliche Folge von zufälligen Ereignissen von der Geburt bis zum Tod, so läßt sich anhand geeigneter statistischer Erhebun- gen die Häufigkeit bestimmter Ereignisse für bestimmte Zeit- intervalle des Lebens eines Individuums ermitteln. Aus den ent- sprechenden Häufigkeiten ließe sich dann das 'Schicksal einer Normalperson' als Folge bestimmter Modalwerte schätzen. Notwendig wäre allerdings die Erhebung riesigen Datenmengen, und man versteht, warum es Ulrich vermieden hat, genaueres über diesen statistischen Inhalt des Schicksals zu sagen. Einen Hinweis auf eine gewisse Ironisierung der Aussagen Ulrichs gibt auch das Wort wahrscheinlich, mit welchem er seine Erklärun- gen beginnt. 444 Vergleiche mit den Ausführungen in Abschnitt 2.2.7.3 in bezug auf Freud. 2.2.2.2 Normalismus und Zerlegung durch Statistik _____________________________________________________________ 377 2.2.2.2 Normalismus und Zerlegung durch Statistik Interessanter sind vielleicht Agathes Antworten auf Ulrichs Aus- führungen. Ihre Feststellung über das Altern dürfte nicht so lapi- dar sein, wie sie von ihr angesehen wird. Gerade das Altwerden kann sehr gut von einem statistischen Aspekt aus betrachtet wer- den. Sieht man in ganz grober Näherung den menschlichen Kör- per als abgeschlossenes thermodynamisches System445 an, so gilt für ihn der zweite Hauptsatz der Thermodynamik. Dieser besagt (s. Abschnitte 2.1.23.3 u. 2.1.29.7), daß jeder Nichtgleichge- wichtszustand (gewisser Unordnungsgrad) in einen Gleich- gewichtszustand (größtmöglicher Unordnungsgrad) übergeht, wobei die Entropie des Systems ständig zunimmt. Das Altern stellt in diesem statistischen Sinne nichts anderes dar als das fortwährende irreversible Ansteigen der ungeordneten Strukturen und Vorgänge des 'Körpersystems' auf Kosten der geordneten, und damit ein ständiges Anwachsen der Entropie. Die zweite Bemerkung Agathes kann mehrfach verstanden wer- den. Wahrscheinlich will Agathe Ulrichs Ausführungen indirekt dadurch unterstreichen, daß sie sich übertreibend vorstellt, sogar die eigene Persönlichkeit könne in statistisch erfaßbare Vorgän- ge (Eigenschaften) zerlegt werden und dadurch vollständig ver- schwinden, so wie man durch die Liebe in gewisser Weise selbst aufgelöst werde. Man könnte aber auch an ein normalistisches Verständnis den- ken. Das Individuum (Subjekt) sieht sich dabei - ganz grob ge- sprochen - nur noch als ein Bündel von Funktionswerten, die in Abweichung oder Nichtabweichung von geschätzten Modal- werten liegen, welche ihrerseits Ergebnisse einer statistischen Behandlung 'globaler Datenmengen' sind. Musil scheint in der Tat etwas ähnliches vorausgesehen zu haben, wie aus entspre- chenden Bemerkungen im Nachlaß hervorgeht, die im Anschluß an Fragen General Stumms gemacht werden: Wenn der Mensch - wie Anders (Ulrich) zuweilen behauptete - sich in ein psychographisches Schema oder in Typen, Statistik usw. auflösen läßt, wenn es in jedem Regiment ebenso viele hervorragend tapfere Soldaten u. ebenso viele Feiglinge u. Diebe gibt wie in jedem anderen Regiment, was wenn das Leben von einem gewissen Durchschnitt abhängt u. dieser Durchschnitt wirklich existiert, was zum Teufel, macht dann in der Melee (Mischung, Schlacht) den 445 Man kann durch Hinzunahme weiterer umgebender Systeme bessere Modelle erhalten. 2.2.2 Familie zu zweien (8) _____________________________________________________________ 378 guten Soldaten u. das siegreiche Regiment?! Mit anderen Worten: wenn die letzte Säule aller Ordnung der unkontrollierbare Einzelmensch ist, was zum Teufel macht dann überhaupt Unterschiede? ... Da gibt es vor allem einen Unterschied zw. einer geschlossenen konservativen Ordnung, u. einer, die in die Zukunft hinein offen ist. Es ist wichtig, ob man etwas Unverrückbares in unverrückbare Vorschriften bringt oder ob man alles, was man hat, in jedem Augenblick auf das Genaueste ordnet, um es in jedem Augenblick gegen das austauschen zu können, was man noch nicht hat. (nl VII/1/170) Es kann hier nicht schwerfallen, in der geschlossenen konserva- tiven Ordnung den 'Protonormalismus' und in derjenigen, die in die Zukunft hinein offen ist, den modernen 'flexiblen Normalis- mus' wiederzuerkennen. Unter Protonormalismus wird im wesentlichen ein hegemonialer normalistischer Gesellschaftscharakter verstanden, der sich an festen, der biologischen Evolution entnommenen Bezugsmittel- werten (Durchschnittswerten) orientiert. Im Laufe der Evolution haben sich für Leben und Gesellschaft bestimmte langzeitstabile, nur schwachen Schwankungen unterliegende Größen herausge- bildet, deren Mittelwerte ('Normen') sich in einfacher Weise mit statistischen Methoden berechnen und tabellieren lassen. In wei- teren Schritten lassen sich anhand geeigneter Laborexperimente die zugehörigen generativen Bedingungen dafür auffinden. Demgegenüber orientiert sich der moderne flexible Normalis- mus446 nicht mehr an vorgegebenen 'festen' Größen und Mittel- werten, sondern an 'dynamischen' Variablen und deren Modal- werten. Die moderne Gesellschaft unterliegt derartig großen (ex- ponentiellen) Wachstums- und Veränderungsraten, daß besonde- re Strategien zur Stabilisierung notwendig erscheinen. Mit Hilfe von statistischen Erhebungsmethoden, Datenspeicherung und Schätzungsmethoden der Statistik werden ständig aktuelle dyna- mische Bezugsmittelwerte der 'interessierenden Größen' berech- net, prognostiziert und veröffentlicht. 446 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit läßt sich weder eine detaillierte Beschrei- bung des Protonormalismus noch des flexiblen Normalismus liefern. Ausführliche- res findet man jedoch bei Link Versuch über den Normalismus, S. 185-345; S. 202- 274. Siehe auch: Jürgen Link Normalismus: Konturen eines Konzepts. In: kultuR- Revolution 27 (1992), S. 50-70. In Links Monographie ist der auf S. 285 vorgeschlagene Ansatz zu beachten, das dmoe-Projekt Musils als ein Tauziehen zwischen protonormalistischen und flexibel- normalistischen Tendenzen zu verstehen. Nach den hier vorliegenden Erfahrungen wäre es in der Tat lohnend, das Romanfragment mit diesem Ansatz zu untersuchen. 2.2.2.2 Normalismus und Zerlegung durch Statistik _____________________________________________________________ 379 Ein berühmt gewordenes Beispiel für die Prognostizierung von Wachstums- und Veränderungsraten ist die 1972 erschienene Veröffentlichung der Studien des Club of Rome zur Lage der Menschheit447. In diesem Bericht sind die vielfältigen Risiken der unvernünftigen Ausbeutung der Vorräte der Erde und der Atmosphäre durch eine exponentiell ansteigende Zahl von Men- schen anhand glaubhafter wissenschaftlicher Modellen beschrie- ben. Die folgende Abbildung 80 zeigt eine Grafik des Club of Rome zur Entwicklung des für die Ernährung der Erdbevölke- rung notwendigen und des tatsächlich nutzbaren Ackerlands: Abbildung 80 Die Grafik zeigt die ansteigende Kurve der Fläche des Ackerlandbedarfs und die gleichzeitig absin- kende Kurve der Gesamtfläche des praktisch nutzbaren Ackerlands. Die Gesamtfläche des nutzbaren Landes sinkt aufgrund des Anstiegs der Bevölkerung, des Städtebaus und der Industrialisierung. Der Landbedarf steigt infolge des Bevölkerungsanstiegs. Die abfallende Kurve der prak- tisch für die Landwirtschaft nutzbaren Fläche sowie die ge- strichelten Linien sind Ergebnisse von Hochrechnungen. Danach wäre ab 2000 mit großen Hungersnöten zu rech- nen. Siehe: Meadows et al., S. 40 Nach diesen Modellrechnungsergebnissen wäre selbst bei starker Produktionssteigerung noch im Laufe dieses Jahrhunderts mit schlimmsten Hungersnot-Katastrophen zu rechnen gewesen. Al- lerdings beruhen die in Abbildung 80 gezeigten Trendextrapola- 447 Dennis Meadows, Donella Meadows, Erich Zahn, Peter Milling Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Originaltitel: The Limits to Growth Hans-Dieter Heck (Übers.), Reinbek b. Hamburg 1973 2.2.2 Familie zu zweien (8) _____________________________________________________________ 380 tionen auf Randbedingungen, die anders gewählt, auch zu etwas anderen Ergebnissen führen.448 Grundvoraussetzung solcher statistischer Schätzmethoden ist eine Reihe von Bedingungen, von denen hier nur die wichtigsten genannt werden sollen: i) Datenerhebung, 'Verdatung' des Einzelnen im Netz bestimmter Randbedingungen ii) Homogenisierung, Schaffung von Vergleich- barkeit für entstandene Zahlenfolgen iii) Anpassung, Glättung von Zahlenfolgen zur Unterdrückung sprunghafter Änderungen. Mit einem derartig aufgebauten und genügend umfangreichen Datennetz lassen sich unter Zuhilfenahme geeigneter statistischer Schätzmethoden und schneller Computer für jeden Zeitabschnitt Berge von 'Mittelwerten' für Wachstum oder Schrumpfung jegli- cher interessierender Größe erzeugen. Zusätzlich können, wenn es gewünscht wird, korrespondierende mittlere Tendenzen oder prognostische Durchschnittsentwicklungen zur Verfügung ge- stellt werden. Eine Konsequenz daraus ist, daß auch das Indivi- duum, welches sich ständig solchen geschätzten oder berechne- ten Durchschnittswerten und Tendenzgraphiken von Durch- schnitten ausgesetzt sieht, für sich selbst eine korrespondierende Bewertung vornimmt und sich entsprechend normalistisch ein- reiht und einregelt. Schon einige Anfangsüberlegungen im dmoe-Roman dürften in diese Richtung weisen. Dort steht unter anderem: ... Vielleicht ist es gerade der Spießbürger, der den Beginn eines ungeheuren neuen, kollektiven, amei- senhaften Heldentums vorausahnt? Man wird es rationalisiertes Heldentum nennen und sehr schön finden. Wer kann das heute schon wissen? (S. 13) Agathes oben zitierte Bemerkung kann andererseits auch mit dem Doppelgesicht der Natur zu tun haben, das Ulrich im Anschluß an ihre Antwort erläutert: ... diese gesteigerte Anspannung des Erlebens bei ge- steigerter Fremdheit, die noch durch die Überzeu- gung verstärkt wird, daß es auf einen nicht ankomme, 448 Siehe dazu: Walter Krämer So lügt man mit Statistik Frankfurt a. Main 1997, S. 82-85; Walter Krämer und Gerald Mackenthun Die Panikmacher München 2001, S. 326-329 2.2.2.2 Normalismus und Zerlegung durch Statistik _____________________________________________________________ 381 sondern nur auf diese Summen von Gesichtern, ... vermag das Gefühl zu wecken, daß man sich als noch ganz und geschlossen für sich wandelnder Mensch schon geradezu unsozial und verbrecherisch vor- kommt; ... Mit diesen Worten beschrieb Ulrich seiner Schwester, was vielleicht ... die Folge herabgemin- derter Persönlichkeitseinbildung (war), vielleicht aber auch nichts anderes als der 'Urmythos der Göt- ter', jenes 'Doppelgesicht der Natur', jenes 'gebende' und 'nehmende Sehen', wohinter er nachgerade drein war wie ein Jäger. (S. 723) Zwar dürfte in dem letzten Text vor allem ein hermaphroditi- scher Zustand, ein ständig zwischen konkaven und konvexen Strukturen wechselnder Zwillingszustand der Persönlichkeit, angesprochen sein, aber vielleicht sieht Agathe gerade darin zwei statistisch gleich wahrscheinliche Formzustände, in welche man aufgelöst würde. 2.2.3 Wirf alles, was du hast, ins Feuer, bis zu den Schuhen (21) _____________________________________________________________ 382 2.2.3 Wirf alles, was du hast, ins Feuer, bis zu den Schuhen (21) 2.2.3.1 Arsenik und Cyankali Das Kapitel ist eines der ganz wenigen, welches überhaupt keine Ironie zu enthalten scheint. Ulrichs Schwester Agathe bleibt bis auf ein noch anwesendes Dienerpaar des verstorbenen Vaters allein im Trauerhaus zurück, während ihr Bruder schon abgereist ist. Agathe befindet sich in einer eigenartig gelösten Stimmung, in der sie einerseits die noch zu erledigenden Nachlaßgeschäfte leicht und sicher weiterführt, andererseits über ihr 'neues Leben' zusammen mit ihrem Bruder nachdenkt. Sie schaut im Spiegel ihren noch jungen und schönen Frauenkörper an, bewundert ihn, versteht aber eigentlich nicht mehr, daß das, was sie dort sieht, Frau Hagauer sei, also die Frau des mit ihr noch verheirateten Professors Hagauer. Dadurch wird sie unmittelbar an ihre Vor- sorge erinnert, die sie schon seit ihrer Verheiratung mit Hagauer getroffen hat, ihr Leben - wenn nötig - freiwillig zu beenden. Es heißt im dmoe-Roman: In diesem Augenblick kam es Agathe wirklich sonderbar vor, daß sie Frau Hagauer sei, ... daß sie selbst ohne Körper dazustehen und ihr Körper zu der Frau Hagauer im Spiegel zu gehören schien, ... und das erste, wozu sich Agathe ... entschloß, führte sie in ihr Schlafzimmer, eine Kapsel zu suchen, ... Diese kleine luftdichte Kapsel, die sie beinahe ebenso lange besaß, wie sie mit Hagauer verheiratet war, und von der sie sich niemals trennte, enthielt eine winzige Menge einer mißfarbigen Substanz, von der man ihr versprochen hatte, daß sie ein schweres Gift sei. Agathe erinnerte sich an gewisse Opfer, die sie hatte bringen müssen, um sich in den Besitz dieses verbote- nen Stoffes zu setzen, von dem sie nichts wußte, als was man ihr von seiner Wirkung erzählt hatte, und einen jener wie eine Zauberformel klingenden chemi- schen Namen, die sich ein Uneingeweihter merken muß, ohne sie zu verstehen. (S. 854-855) Der Erzähler macht keine genauen Angaben über das verbotene, tödlich wirkende Gift, welches Agathe besitzt. Es lassen sich aber aus den Beschreibungen gewisse Schlüsse ziehen, die an- zeigen, um welches Gift es sich dabei handeln könnte. Aus der Bemerkung, daß die Substanz mißfarbig und nur in winziger Menge in einer Kapsel vorhanden sei, läßt sich mit einiger 2.2.3.1 Arsenik und Cyankali _____________________________________________________________ 383 Wahrscheinlichkeit auf Arsenik oder Cyankali schließen449. Arsenik ist chemisch das Arsentrioxyd As2O3, das z.B. aus Arsen durch Verbrennung an der Luft entsteht450. Technisch stellt man es durch Oxidation arsenhaltiger Erze her. Die Bruttoumset- zungsreaktion lautet: 2FeAsS + 5O2  Fe2O3 + 2SO2 + As2O3 . Gereinigt kommt Arsentrioxyd gewöhnlich als farbloses, glasi- ges Produkt in den Handel (Arsenglas), so daß Musils Beschrei- bung des Aussehens dieses Stoffes ganz gut zutreffen könnte. Arsenik stellt in der Tat ein starkes Gift dar. Schon weniger als 1/10 Gramm wirkt vom Magen aus tödlich. Die im Roman ange- sprochene 'Zauberformel', die Agathe kannte, könnte also Arsentrioxyd für Arsenik sein. In Musils Tagebüchern wird aber Cyankali als tödliches Mittel erwähnt (tg1 S. 523), deshalb dürfte hier eher an dieses Gift gedacht worden sein. Cyankali ist chemisch das Kaliumsalz der äußerst giftigen Blausäure HCN451, nämlich Kaliumcyanid KCN ('Zauberformel' für dieses Gift). Es setzt unter Einwirkung gerin- ger Mengen Salzsäure des Magens sofort die tödlich wirkende Blausäure frei. Cyankali ist anfänglich eine weiße Substanz, die sich an der Luft schnell durch CO2 zersetzt. Sie muß deshalb in gut verschließbaren Flaschen (oder entsprechenden Kapseln) aufbewahrt werden452. Die in Musils Text beschriebene Mißfar- bigkeit der Substanz würde dann passen, wenn die Aufbewah- rung in der erwähnten Kapsel nicht vollständig luftdicht gewesen wäre und dadurch geringe Mengen CO2 an die vorher weiße Substanz gelangt wären. Aufzeichnungen zu einem Kapitelentwurf des zweiten Buchs des Romans bezüglich einer Selbsttötung Agathes weisen ebenfalls deutlich auf Cyankali als Gift hin. Der Text lautet: Sie hat sich vor langem eine Kapsel mit Cyankali verschafft; war ihr Halt in vielen Stunden. Schüttet zum erstenmal in ein Glas; die Flasche mit Wasser daneben. Beschreiben, wie das gemacht wird. Ev. 449 In Frage käme auch Morphium, dazu würde allerdings der erwähnte zauberfor- melartige chemische Name nicht passen. Morphium ist ein Alkaloid des Opiums. Musil erwähnt in den Tagebüchern eine Morphiumverbindung: Morphium - Hydro- chlorid Pillen in schwarzen Kaffee getan, verändern den Geschmack nur wenig und betäuben den stärksten Mann (tg1 S. 371). Zu hohe Dosierung führt natürlich zum Tod. Tatsächlich wird in den Tagebüchern auch der durch Morphium verursachte Tod eines Mannes durch seine Frau beschrieben. (tg1 S. 237) 450 Siehe Holleman-Wiberg, S. 279-281 451 Holleman-Wiberg, S. 565. 452 Meyers großes Konversationslexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, Bd. 10, Leipzig 1905, S. 475 2.2.3 Wirf alles, was du hast, ins Feuer, bis zu den Schuhen (21) _____________________________________________________________ 384 Vertrauen, daß diese Welt, in der sich Agathe unvoll- kommen fühlt, nicht die einzige ist. Im letzten Augen- blick tritt A. (Anders = Ulrich) ein. (S. 1650) Auffallend an dem weiteren Text dieses Romankapitels ist die Art, wie Agathes Vorstellungen vom Tode beschrieben werden: Kühl dachte sie an den Tod als einen Zustand, wo man aller Mühen und Einbildungen enthoben ist, und stellte sich ihn als ein inniges Eingeschläfertwerden vor: man liegt in Gottes Hand, und diese Hand ist wie eine Wiege oder wie eine Hängematte, die an zwei große Bäume gebunden ist, die der Wind ein klein wenig schaukelt. Sie stellte sich den Tod als eine große Beruhigung und Müdigkeit vor, befreit von allem Wollen und aller Anstrengung, von jeder Auf- merksamkeit und Überlegung, ähnlich der angeneh- men Kraftlosigkeit, die man an den Fingern emp- findet, wenn sie der Schlaf von irgendeinem letzten Ding der Welt, das sie noch festhalten, vorsichtig loslöst. (S. 855) Die Stimmung der Todesvorstellung Agathes erinnert an ein Ge- dicht von Conrad Ferdinand Meyer, das zwar in der Metaphorik auf den antiken Mythos des Todesflusses weist453, aber doch in vielen der geschilderten Sinneseindrücke eine große Parallelität aufweist. Es lautet: Im Spätboot Aus der Schiffsbank mach ich meinen Pfühl, Endlich wird die heiße Stirne kühl! O wie süß erkaltet mir das Herz! O wie weich verstummen Lust und Schmerz! Über mir des Rohres schwarzer Rauch Wiegt und biegt sich in des Windes Hauch. Hüben hier und wieder drüben dort Hält das Boot an manchem kleinen Port: Bei der Schiffslaterne kargem Schein Steigt ein Schatten aus und niemand ein. Nur der Steurer noch, der wacht und steht! Nur der Wind, der mir im Haare weht! Schmerz und Lust erleiden sanften Tod: Einen Schlummrer trägt das dunkle Boot. 454 453 Kommentare zur verwendeten 'Goethe-Symbolik' findet man in: Jürgen Link Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine programmierte Einführung auf strukturalistischer Basis. München 1990, S.178-180 454 Conrad Ferdinand Meyer Sämtliche Gedichte Stuttgart 1986, S. 45 2.2.3.1 Arsenik und Cyankali _____________________________________________________________ 385 Agathe ist enger mit dem Tod verbunden als gewöhnliche Men- schen, da sie in ihrer Kindheit eine schwere Krankheit durchlebt hat. Zwar macht der Erzähler keine ausführlichen Angaben über den Charakter dieser Krankheit, es könnte sich aber um Tuberku- lose455 gehandelt haben, obgleich man zur damaligen Zeit diese Krankheit vielleicht nicht als ungewöhnlich bezeichnet hätte. Im Roman heißt es: ... überdies hatte sie aber auch noch in jener ungewöhnlichen Erkrankung, von der sie an der Grenze zwischen Kinder- und Mädchenzeit befallen worden war, eine besondere Begegnung mit dem Tode gehabt. Damals waren - in einem kaum zu überwachenden Abnehmen ihrer Kraft, das sich in jede kleinste Zeitspanne einzuschieben schien, und im ganzen doch unaufhaltsam schnell - von Tag zu Tag mehr Teile ihres Körpers von ihr abgelöst und vernichtet worden; aber in gleichem Schritt mit diesem Verfall und dieser Abwendung vom Leben ward auch ein unvergeßliches neues einem Ziel Zustreben in ihr geweckt, das alle Unruhe und Angst aus der Krankheit verbannte ... (S. 856) Agathe lebte stets mit der Absicht, ihrem Leben ein Ende zu ma- chen, sobald sie es selbst nicht mehr für lebenswert hielte. Dies geht aus späteren Bemerkungen des Erzählers in diesem Kapitel eindeutig hervor. Der Text lautet dort: ... Das angeblich voll ausgelebte Leben ist in Wahr- heit 'ungereimt', es fehlt ihm am Ende, und wahrhaftig am wirklichen Ende, beim Tod, immer etwas. Es ist - sie suchte nach einem Ausdruck dafür - wie gehäufte Dinge, die kein höheres Verlangen geordnet hat: un- erfüllt in seiner Fülle, das Gegenteil von Einfachheit, bloß eine Verworrenheit, die man mit der Freude der Gewohnheit hinnimmt! ... Es beruhigte sie, daß sie sich vorgesetzt hatte, ihr Leben zu beenden, wenn es auch nach seiner letzten Wendung, die ihr noch be- vorstand, nicht anders geworden sein sollte. ... Sie holte ... noch ihre beiden verschiedenen Kapseln hervor, und die mit dem Bild ihres unvergessenen Geliebten schob sie ... unter den Deckel einer schlecht vernagelten Kiste, ... die Kapsel mit dem Gift tat sie aber nun an die Stelle, wo sie früher das Bild getra- gen hatte. (S. 859, S. 862) 455 Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch. Berlin 1994, S. 1577-1578. Siehe auch: Corinos bald erscheinende Musil-Biographie. Dort wird erklärt, daß es sich wahr- scheinlich um eine Projektion Musils bezüglich seiner eigenen Kinderkrankheit handelt. 2.2.4 Von der Koniatowski' schen Kritik des Danielli' schen Satzes zum Sündenfall. Vom Sündenfall zum Gefühlsrätsel der Schwester (22) _____________________________________________________________ 386 2.2.4 Von der Koniatowski' schen Kritik des Danielli' schen Satzes zum Sündenfall. Vom Sündenfall zum Gefühlsrätsel der Schwester (22) 2.2.4.1 Beschränkte Wissenschaftlichkeit Ulrich schaut sich in der Stadt die Auslagen der Geschäfte an, bleibt vor einer Anschlagfläche stehen und liest sich selbst - mit ironischen Hintergedanken - die 'Bekanntmachungen' vor. Schließlich fängt sich sein Blick im Schaufenster eines Buchla- dens, wo das neue Werk eines Dichters angepriesen wird. Der dmoe-Text lautet folgendermaßen: Er wandte sich um und blickte nach einigen Schritten in die Auslage eines Buchladens. "Das neue Werk des großen Dichters" las er auf einer Papptafel, die neben fünfzehn gleiche, aneinandergereihte Bände gestellt war. ... "Der 'große' Dichter?" dachte Ulrich. Er erinnerte sich, nur ein Buch von ihm gelesen und vorausgesetzt zu haben, er werde niemals ein zweites lesen müssen: seither war der Mann aber trotzdem berühmt gewor- den. Und Ulrich fiel angesichts der deutschen Gei- stesauslage ein alter Soldatenwitz ein: "Mortadella!" So war zu seiner Militärzeit ein unbeliebter Divisi- onsgeneral genannt worden, nach der beliebten itali- enischen Wurst, und wer nach der Auflösung des Wortspiels fragte, erhielt die Antwort: "Teils Schwein, teils Esel." (S. 864-865) Welcher vielschreibende deutschsprachige 'Schrift-Steller' ge- meint ist, läßt sich aus den spärlichen Angaben leider nicht mehr so recht entnehmen. Um welche Art 'Literatur' es sich dabei je- doch handelt, darüber läßt der Erzähler keinen Zweifel. Während sich Ulrich in seinen Gedanken noch über den ungeratenen und doch berühmten 'Dichter' ärgert, ist er bereits an einer Straßen- bahnhaltestelle angekommen, wo er einer ihm bekannten Wis- senschaftlerin Dr. Strastil, Astronomin der Universität, begegnet. Es kommt zu dem folgenden einseitigen Gespräch: Dr. Strastil fuhr auf drei Tage ins Gebirge 'ausspan- nen'. "Was sagen Sie zu der Arbeit von Konia- towski?" fragte sie Ulrich. Ulrich sagte nichts. "Kneppler wird sich darüber ärgern" meinte sie. "Aber die Kritik, die Koniatowski an der Kneppler- schen Ableitung des Danielli’schen Satzes übt, ist 2.2.4.2 Seelischer Wirkungsgrad und Fisch-Symbolik _____________________________________________________________ 387 interessant: finden Sie nicht auch? Halten Sie diese Ableitung für möglich?" Ulrich zuckte die Achseln. Er gehörte zu jenen, Logistiker genannten, Mathema- tikern, die überhaupt nichts richtig fanden und eine neue Fundamentallehre aufbauten. Aber er hielt auch die Logik der Logistiker für nicht ganz richtig. ... "Ich halte die Knepplersche Ableitung ja trotzdem nicht für verfehlt, sondern bloß für falsch" bekannte Dr. Strastil. Sie hätte ebensogut betonen können, daß sie die Ableitung für verfehlt, aber trotzdem, in wesentlichen Grundzügen, nicht für falsch halte; sie wußte, was sie meinte, aber in der gewöhnlichen Sprache, wo die Worte nicht definiert sind, kann sich kein Mensch eindeutig ausdrücken ... Ulrich stieg mit Fräulein Strastil in die Straßenbahn: wußte nicht warum. Vielleicht weil ihr die Kritik Koniatowskis an Kneppler so wichtig vorkam. Viel- leicht wollte er mit ihr über schöne Literatur spre- chen, von der sie nichts verstand. ... (S. 865-866) Abgesehen davon, daß die Namen der in diesem Textausschnitt zitierten Wissenschaftler an diejenigen berühmter Mathematiker bzw. Astronomen angelehnt sind, namentlich Minkowski, Kepler und Galilei, dürfte Musil hier den wissenschaftlichen Diskurs und die 'Fachidiotie' der Wissenschaftler in an Ironie und Spa- ßigkeit kaum zu übertreffender Weise kritisieren. Der Text er- scheint in jeder Hinsicht paradox, als Frau Doktor die genannte Ableitung nicht für verfehlt, sondern nur für falsch hält. In Wahrheit werden bloß typische Blüten der Wissenschaftssprache vorgeführt. Die Eindimensionalität der naturwissenschaftlichen Arbeitsweise wird anschließend noch zusätzlich in einem Ne- bensatz verspottet, in welchem die Rede davon ist, daß Frau Dr. Strastil nichts von schöner Literatur verstehe. 2.2.4.2 Seelischer Wirkungsgrad und Fisch- Symbolik Ulrich benutzt später eine Wartepause an der Haltestelle einer Straßenbahn, um über gewisse banale Eigenheiten des täglichen Lebens nachzudenken: Er beobachtete ... die vorbeikommenden Bahnen und wartete auf eine ... sein technisch nicht unerfahrener Blick spielte zerstreut mit den Zusammenhängen von Schmieden und Gießen, Walzen und Nieten, von Kon- 2.2.4 Von der Koniatowski' schen Kritik des Danielli' schen Satzes zum Sündenfall. Vom Sündenfall zum Gefühlsrätsel der Schwester (22) _____________________________________________________________ 388 struktion und Werkstattausführung, geschichtlicher Entwicklung und gegenwärtigem Stand, aus denen die Erfindung dieser rollenden Baracken bestand, deren sie sich bedienten. "Zum Schluß kommt dann eine Ab- ordnung der Straßenbahnverwaltung in die Waggon- fabrik und entscheidet über die Holzverschalung, den Anstrich, die Polsterung, die Anbringung der Arm- und Handstützen, der Aschenbecher und ähnliches," dachte er nebenbei "und gerade diese Kleinigkeiten machen aus, und die rote oder grüne Farbe des Ka- stens macht es aus, und der Schwung, mit dem sie über das Trittbrett hineinklettern können, macht für Zehntausende Menschen das aus, was sie behalten, das einzige, was für sie von allem Genie übrig bleibt und von ihnen erlebt wird. ...". Es war also nicht zu leugnen und schloß sich mit einemmal an das andere an, was Ulrichs Hauptgedankenzug bildete, daß zum großen Teil auch das Leben in unbedeutende Aktuali- tät mündet, oder wenn man es technisch ausdrückt, daß ein seelischer Wirkungskoeffizient sehr klein ist. (S. 869) Wenn auch die heutigen Straßenbahnwaggons nicht mehr so ganz als rollende Baracken angesprochen werden können, son- dern eher Hightechkomfortwagen sind, so bleibt doch Ulrichs Beobachtung richtig, es würden im allgemeinen nur unwichtige Kleinigkeiten in der Ausführung wahrgenommen und bewertet. Ulrich spricht zusammenfassend von einem seelischen Wir- kungskoeffizienten und fügt damit den physikalischen und tech- nischen Wirkungskoeffizienten456 einen seelischen hinzu. Heute spricht man meistens vom Wirkungsgrad anstelle des Wirkungskoeffizienten. Der mechanische Wirkungsgrad  einer Maschine ist das Verhältnis von geleisteter Nutzarbeit Ae und gleichzeitig zugeführter Energie Az :  = Ae/Az , wobei  auf Grund von 'Reibungsverlusten' immer sehr viel kleiner als 1 ist457. Elektrische Motoren bzw. Generatoren errei- chen heutzutage aber schon große Wirkungsgrade von 0.95. Für Wärmekraftmaschinen bzw. Wärmepumpen unterscheidet man einen weiteren Wirkungsgrad, den thermischen Wirkungs- grad. Dieser wird durch das Verhältnis von erhaltener Arbeit A und (im Idealfall reversibel) zugeführter Wärme Q1 bestimmt: 456 Lexikon d. Phys., Bd. 10, S. 145-146 457 Selbst bei besonders gut konstruierten Maschinen sind Reibungsverluste nicht vernachlässigbar. 2.2.4.2 Seelischer Wirkungsgrad und Fisch-Symbolik _____________________________________________________________ 389  = A/Q1 . Irreversible Vorgänge, wie Reibung, Wärmeleitung, Wärme- strahlung usw. werden soweit wie möglich vermieden. Das Prin- zip der Wärmekraftmaschine ist einfach erklärt: man arbeitet mit zwei Wärmereservoiren auf unterschiedlichen Temperatur- niveaus T1 und T2 (niedriger). Mit Hilfe eines geeigneten Arbeitsmittels wird dem heißen Behälter auf isotherme und (quasi-) reversible Weise die Wärmemenge Q1 entzogen. An- schließend wird dem kälteren Behälter diese Wärmemenge als thermisch kleinere Energie Q2 wieder isotherm und (quasi-) re- versibel zugeführt. Die Energiedifferenz kann dabei vollständig in Arbeit umgewandelt werden458. Für die Wärmekraftmaschine des idealisierten Carnotschen Kreisprozesses, der in Abschnitt 2.1.22.1 der vorliegenden Ar- beit ausführlich besprochen worden ist, läßt sich zeigen, daß der thermische Wirkungsgrad nur von der Temperaturdifferenz der gewählten Behälter abhängt:  = (T1 - T2)/T1 mit T1  T2 , wobei die Temperaturen in absoluten Einheiten, also Kelvin ge- messen werden459. Bei großen Temperaturunterschieden nähert sich  dem Wert 1, bei kleinen verschwindet er. In der Praxis läßt sich der vollkommen reversibel geführte Kreisprozeß nie- mals erreichen, so daß der thermische Wirkungsgrad immer niedriger liegt, als durch die Formel angegeben wird. Ulrich, der ja eine besondere Vorliebe für Thermodynamik und statistische Mechanik hat, bezieht sich bei seiner metaphorischen Einführung des seelischen Wirkungskoeffizienten wahrscheinlich auf diesen thermischen Wirkungskoeffizienten. Er möchte an- deuten, daß der 'Durchschnittsmensch' das hohe seelische Ni- veau, welches seine Umwelt ihm partiell anbietet, gar nicht nut- zen kann, weil er es überhaupt nicht erkennt. Statt dessen nimmt er lediglich die angehängten unbedeutenden Nebensächlichkei- ten wahr, die einem Niveau angehören, das nur geringfügig über seinem eigenen seelischen Niveau liegt, so daß am Ende bloß 458 Siehe Pohl, Bd. 1, S. 330-335 459 Die absolute Temperaturskala ist bei allen thermodynamischen Betrachtungen anzuwenden, da sie negative Temperaturwerte in Korrespondenz zur Entropie aus- schließt (siehe z. B. Pohl, Bd. 1, S. 335). Als den absoluten Temperaturnullpunkt hat man heute den Wert von -273,15 oC bestimmt (Lexikon d. Phys., Bd. 9, S. 92). Die Einheiten dieser absoluten Skala lauten Kelvin (K), nicht oK, wie oft fälschlich angegeben wird! 2.2.4 Von der Koniatowski' schen Kritik des Danielli' schen Satzes zum Sündenfall. Vom Sündenfall zum Gefühlsrätsel der Schwester (22) _____________________________________________________________ 390 eine unwesentliche Niveaudifferenz für den 'seelischen Nutzeffekt' übrig bleibt (s. vorhergehende Formel, wenn Tempe- ratur durch seelisches Niveau 'ersetzt' wird). Musil selbst scheint zu Straßenbahnen und Bussen ein leben- diges Verhältnis gehabt zu haben, da er diese Vehikel des öfteren anthropomorphisiert und ihnen einen besonders großen Leib zuschreibt. Im vorliegenden Kapitel wird davon Gebrauch ge- macht, als Ulrichs Beobachtungen beim Straßenbahnfahren be- schrieben werden. Der Text lautet: Aber gerade da hielten die mit Reißschiene und Zirkel geschaffenen Linien der rollenden Örtlichkeit, die ihn umschloß, an einer Stelle, wo sein Auge, aus dem Leib des modernen Verkehrsmittels kommend und an seiner Einrichtung unwillkürlich noch teilhabend, auf eine Steinsäule fiel, die seit der Zeit des Barock am Straßenrand stand, so daß die unbewußt aufgenom- mene technische Bequemlichkeit der vernünftigen Schöpfung plötzlich in Gegensatz zu der herein- brechenden Leidenschaft der alten Gebärde geriet, ... (S. 872) Noch deutlicher erscheinen diese Anthropomorphismen in der Erzählung Der Riese Agoag, auf die bereits in Abschnitt 2.1.1.6 der vorliegenden Arbeit im Zusammenhang mit Unfallbeschrei- bungen hingewiesen worden ist. Dort wird das folgende über den Protagonisten berichtet: Da rettete ihn ein großer Omnibus. Er wurde zufällig Zeuge, wie ein riesenhafter Omnibus einen athletisch gebauten jungen Mann überfuhr, ... Der Athlet wurde sozusagen vom Dasein abgeschält ..., wogegen der Omnibus bloß peinlich berührt zur Seite wich, stehen blieb und aus vielen Augen zurückglotzte. Es war ein trauriger Anblick, aber unser Mann nahm rasch seine Chance wahr und kletterte in den Sieger hinein. ... Für fünfzehn Pfennige durfte er, wann immer er wollte, in den Leib eines Riesen kriechen, vor dem alle Sportsleute zur Seite springen mußten. ...(pr S. 532) Am Schluß des Kapitels fällt die Symbolik des Fisches auf, die im Zusammenhang mit Ulrichs sexuellen Wünschen in gewalt- tätiger Metaphorik gebraucht wird. Ulrich sieht bei seinem Gang durch das Stadtinnere eine Frau, von der er sich angezogen fühlt. Im Roman heißt es: 2.2.4.2 Seelischer Wirkungsgrad und Fisch-Symbolik _____________________________________________________________ 391 Ohne zu überlegen, kehrte er nach wenigen Schritten um, der Frau zu folgen; es geschah noch ganz mecha- nisch als Folge der Berührung durch ihren Blick. Er sah ihre Gestalt unter dem Kleid wie einen großen weißen Fisch vor sich, der nahe der Wasseroberfläche ist. Er wünschte sich, ihn männlich zu harpunieren und zappeln sehen zu können, und es lag darin eben- soviel Abneigung wie Verlangen. An kaum merklichen Zeichen wurde ihm auch Gewißheit, daß diese Frau von seinem Hinterdreinstreichen wisse und es billige. (S. 876-877) Eine z.T. ähnliche Symbolik findet sich in einem früheren dmoe- Kapitel, das in Abschnitt 2.1.29.1 dieser Arbeit besprochen wur- de. Dort wird eine sexuelle Vereinigung von Gerda und Ulrich allein dadurch verhindert, daß Gerda schließlich einem hysteri- schen Anfall unterliegt. Der Text lautet an dieser Stelle, kurz bevor Gerda hysterisch wird, folgendermaßen: ... Ulrich, der ihre Qual und die Gefahr bemerkte, ... löste ihr Achselband. Gerda schlüpfte wie ein Knabe ins Bett. Ulrich sah einen Augenblick lang die Bewegung eines nackten jungen Menschen; es hatte mit Liebe nicht mehr zu tun wie das Aufblinken eines Fisches. (S. 621) Der Fisch könnte hier als Sinnbild dämonischer Kräfte der Liebe fungieren460. Vielleicht wird Ulrich aber bloß von Fischen heftig angezogen, so wie es von Walter im Roman (S. 611) berichtet wird. 460 Wörterbuch der Symbolik Manfred Lurker (Hg.), Stuttgart 1991, S. 209 2.2.5 Die Geschwister am nächsten Morgen (41) _____________________________________________________________ 392 2.2.5 Die Geschwister am nächsten Morgen (41) 2.2.5.1 Gewitterstimmung Ulrich und seine Zwillingsschwester Agathe unterhalten sich über den Erziehungsgelehrten, Professor August Lindner, zu dem sich Agathe hingezogen fühlt, z.T. auch deshalb weil er für ihre durch den Tod des Vaters sehr veränderte Lage Verständnis zeigt. Sie besucht ihn deshalb in letzter Zeit häufiger in seiner Wohnung. Ulrich ist infolgedessen nicht gut auf diesen Mann zu sprechen. Im Rahmen der Unterhaltung wird auch über die Mög- lichkeit geredet, das Leid eines anderen teilen zu können: ... und beinahe heftig fragte er sie: "Ich gehöre wohl nicht zu den Menschen, die auf andere teilnehmend eingehen können?" "Nein, wirklich nicht!" erwiderte sie und lächelte ihn an. "Aber gerade, was solche Menschen sich einbilden," fuhr er fort, denn erst jetzt hatte er verstanden, wie ernst ihre Worte gemeint waren, "daß man miteinan- der leiden könnte, vermögen sie so wenig wie irgend- wer. Sie haben höchstens die Geschicklichkeit von Krankenschwestern, daß sie erraten, was ein Bedürf- tiger gerne hört - " "Also müssen sie doch wissen, was ihm wohltut" wandte Agathe ein. "Durchaus nicht!" wiederholte Ulrich hartnäckiger. "Wahrscheinlich trösten sie überhaupt nur dadurch, daß sie reden: wer viel redet, entlädt das Leid des andern tropfenweise, wie ein Regen die Elektrizität einer Wolke. Das ist die bekannte Milderung eines jeden Kummers durch das Mittel der Aussprache!" (S. 1058) Sieht man davon ab, daß nicht wenige Menschen durch ständiges Aufsieeinreden gar keine Tröstung erhalten, - eine stille Umar- mung oder ähnliche Zuwendung würde besser helfen - so er- scheint Ulrichs Vergleich mit der Entladung einer Wolke durch Abregnen doch höchst rätselhaft. Vielleicht glaubt Ulrich, eine Wolke trage eine bestimmte Elektrizitätsmenge, welche durch abregnende Tropfen verkleinert werde. Zwar sind bis heute die elektrischen Verhältnisse in Wolken nicht gänzlich erklärt, aber eine derartige Vorstellung dürfte auch damals nicht dem Stand der Forschung angehört haben461. 461 Es wundert einen an dieser Stelle wirklich, daß der generell sehr genau arbeiten- de Musil solch einen laxen Vergleich wagt. 2.2.5.1 Gewitterstimmung _____________________________________________________________ 393 Unter einer Wolke wird meteorologisch ein räumlich begrenzter, aber zeitlich veränderlicher Bereich (Zustand) der wasserhaltigen Atmosphäre verstanden462. Das Wasser kann in allen drei Aggregatzuständen, also als Wasserdampf, Wassertröpfchen und Eispartikel, darin enthalten sein. Ständige Veränderung der Luft- strömung und Temperatur in der Wolke führen zu dauernder Kondensation bzw. Verdampfung. Wolken sind also keineswegs unveränderliche 'Dampfwolken', sondern Gebilde, lokale Zu- stände, die sich ständig bezüglich innerer Struktur und äußerer Form umbilden. Ähnlich veränderlich stellt sich die elektrische Ladungsvertei- lung in Wolken dar, die im allgemeinen relativ schwach ist. Erst in Gewitterwolken (Cumulonimbus) tritt beachtliche Ladungs- trennung auf, welche zu enormen elektrischen Ladungen führen kann (siehe auch: Abschnitt 2.1.2.1 dieser Arbeit). Für Gewit- terwolken gibt es auch verläßliche experimentelle Untersuchun- gen über die Art der Verteilungen. Details der örtlichen und zeit- lichen Ladungsveränderung kennt man jedoch nicht. In solchen Wolken findet man am unteren Rand zunächst positive Ladung, dann eine ausgedehnte Schicht negativer Ladung bis in die Nähe des oberen Randes und schließlich an der Wolkenobergrenze wieder eine Schicht positiver Ladung. Abbildung 81 zeigt sche- matisch die Ladungsverteilung in einer Gewitterwolke: Abbildung 81 Experimentell bestimmte Ladungsvertei- lung in einer Gewitterwolke mit einer vertikalen Abmes- sung von mehr als 10 km. Siehe: Malberg, S. 102 Verantwortlich für die Ladungstrennung sind die starken Auf- winde in der Mitte der Wolke und die seitlich auftretenden, schwächeren Abwinde. Infolge dieser unterschiedlichen Wind- geschwindigkeiten in der Wolke treten für kleinere und größere Tröpfchen ganz verschiedene Strömungsgeschwindigkeiten463 462 Lexikon d. Physik, Bd. 10, S. 150-151 463 Pohl, Bd. 2, S. 219 u. S. 298 2.2.5 Die Geschwister am nächsten Morgen (41) _____________________________________________________________ 394 auf, die zu ladungstrennenden Mechanismen führen. In moder- nen Theorien wird davon ausgegangen, daß elektrische Phäno- mene im wesentlichen erst mit der Vereisung von Tröpfchen ein- setzen464. Dabei lösen sich von den in der Wolke entstehenden Eiskristallen (Schnee, Graupel, Hagel) feinste negativ geladene Splitter ab, während die übrig bleibenden Kerne positive Ladung tragen. Die Splitter werden mit sehr großer Aufsteiggeschwin- digkeit in den oberen Teil der Wolke getrieben, gelangen dort in die Abwinde und sammeln sich schließlich im unteren Teil der Wolke. Die schweren, positiv geladenen Kristallkerne werden sehr viel langsamer nach oben getragen und können sich deshalb im oberen Teil der Gewitterwolke ansammeln. Dies führt zu ständiger Vergrößerung der Ladungsmengen in der Wolke und ergibt die in der vorhergehenden Abbildung 81 gezeigte La- dungsverteilung. Schließlich kommt es zu Blitzentladungen zwischen den entsprechenden positiven und negativen Bereichen derselben Wolke, verschiedenen Wolken oder zwischen Wolken und Erde465. Abbildung 82 zeigt eine gelungene Photographie gleichzeitiger Blitzentladungen über Wien. Abbildung 82 Photographie greller nächtlicher Blitze über Wien. Kleine Zeitung. Österreich, 11. August 1999. Bei genügend großer Raumladung in der Gewitterwolke selbst, zwischen verschiedenen Wolken oder zwischen Wolke und Erde tritt Ladungsausgleich aufgrund riesiger 464 Malberg, S. 100 ff 465 Theorien zur Ausbildung von Gewittern sind immer wieder verändert worden, weil sie bestimmte Aspekte der Gewitterforschung nicht wiedergeben konnten. An ganz ausgereiften Theorien fehlt es bis heute immer noch. Pohl, Bd. 2, S. 220; Bergmann-Schaefer Lehrbuch der Experimentalphysik. Elektrizität und Magnetis- mus. Bd. 2, Berlin 1987, S. 140-143; Bergmann-Schaefer Lehrbuch der Experimen- talphysik. Elektromagnetismus. Bd. 2, Berlin 1999, S. 635-638 2.2.5.1 Gewitterstimmung _____________________________________________________________ 395 elektrischer Feldstärken (einige Millionen Volt pro La- dungsabstand) in Form von Blitzen auf. Die Entladung ge- schieht durch enorme Stromstöße auf meterlangen Funken- strecken. In der Anfangsphase bilden sich innerhalb von hundertstel Sekunden sog. Blitzkanäle aus, über die an- schließend die Hauptentladungen in tausendstel Sekunden geschehen. Im Blitzkanal entstehen Temperaturen von ca. 30000 0C, die zu schlagartiger Luftausdehnung führen. Der darauffolgende Druckausgleich ruft dann eine Schockwelle hervor, die wir als Donner wahrnehmen. Vergleiche: Mal- berg, S. 101-102; Bergmann-Schaefer, Bd. 2, 1987, S. 142 Von einer allmählichen Elektrizitätsabnahme in der Wolke durch Abregnen, wie sie Musils Held offenbar vorschwebte, kann also im allgemeinen nicht die Rede sein. Eher wird durch Regen wei- tere Ladungstrennung erzeugt. Vielleicht gibt es aber Ausnahme- fälle, in denen eine Gewitterwolke ohne Blitzentladung innerhalb kurzer Zeit völlig abregnet, so daß auf diese Weise auch die ge- samte Elektrizitätsmenge verschwindet. Am Ende des Kapitels erlebt Agathe eine eigenartige optische Inversion (s. auch Abschnitt 2.2.1.2), in der sich das von den Fenstern niederrinnende Regenwasser scheinbar verfestigt und als Fruchtfleisch wahrgenommen wird. Offensichtlich bedeutet dies Erlebnis eine weitere Ankündigung des später im Roman eingeführten 'anderen Zustands'. Es heißt an dieser Stelle des Romans: ... Sie suchte sein (des Bruders) Auge und fand es er- starrt wie zwei Monde in dieser unsicheren Atmo- sphäre schweben. Und in demselben Augenblick ge- schah ihr nun, was nicht aus ihrem Willen zu kommen schien, sondern von außen, daß das quellende Wasser vor den Fenstern plötzlich fleischig wurde wie eine aufgeschnittene Frucht und seine schwellende Weich- heit zwischen sie und Ulrich drängte. Vielleicht schämte sie sich oder haßte sich deswegen sogar eine wenig, aber eine völlig sinnliche Ausgelassenheit - und gar nicht nur, was man Entfesseln der Sinne nennt, sondern auch, ja weit eher, ein freiwilliges und freies Ablassen der Sinne von der Welt! - begann sich ihrer zu bemächtigen; ... (S. 1061) 2.2.6 Wandel unter Menschen (47) _____________________________________________________________ 396 2.2.6 Wandel unter Menschen (47) 2.2.6.1 Menschheitsgeschichte des Zufalls Musil arbeitete an elf Kapiteln des zweiten Buches des dmoe bis zum Ende seines relativ kurzen Lebens. Das vorliegende und drei weitere Kapitel aus dieser Gruppe sollen im Rahmen dieses Kommentars behandelt werden. In ihnen offenbart sich unter anderem, welche dichten und interessanten Texte uns noch er- wartet hätten, wäre Musil nicht schon so früh gestorben. Zweiseitigkeit und Widersprüchlichkeit des menschlichen Le- bens klingen im gesamten Roman immer wieder in den ver- schiedensten Tönungen (s. Abschnitt 2.1.17.1) an. Davon ist auch zu Anfang des vorliegenden Kapitels in besonderer Weise die Rede, und zwar im Hinblick auf die sich später anschließen- de Diskussion über Zufälligkeit und Durchschnittlichkeit der Menschheitsgeschichte. Der Erzähler gibt folgendes zu beden- ken: ... es wurde ihnen (den 'Zwillingsgeschwistern') die eigentümlich zweiseitige Beschaffenheit des Lebens sehr sichtbar, die jede große Bestrebung durch eine niedrige dämpft. Sie bindet an jeden Fortschritt einen Rückschritt und an jede Kraft eine Schwäche; sie gibt keinem ein Recht, das sie nicht einem anderen nähme, ordnet keine Verwickelung, ohne neue Unordnung zu stiften ... So verknüpft ein schier unlöslicher und vielleicht tief notwendiger Zusammenhang alle hoch- gemuten menschlichen Bemühungen mit dem Zustan- dekommen ihres Gegenteils und läßt das Leben - über alle anderen Gegensätze und Parteiungen hinweg - für geistvolle, oder derart selbst nur halbvolle, Men- schen ziemlich schwer erträglich sein, ... (S. 1205) Diesen Anschauungen entsprechend macht sich Ulrich unter Heranziehung wahrscheinlichkeitstheoretischer Überlegungen weitere Gedanken über die Erzeugung und Erhaltung eines mitt- leren Lebenszustands. Der Text lautet: Er wollte nicht von der Welt verlangen, daß sie ein Lustgarten des Genies sei. Ihre Geschichte ist nur in den Spitzen, wenn nicht Auswüchsen, eine des Genies und seiner Werke; in der Hauptsache ist sie die des Durchschnittsmenschen. ... Denn mag es sogar gewiß sein, daß die menschliche Geschichte nicht gerade ihre Aufschwünge vom Durchschnittsmenschen emp- fängt; alles in allem genommen, Genie und Dumm- heit, Heldentum und Willenlosigkeit, ist sie eben doch 2.2.6.1 Menschheitsgeschichte des Zufalls _____________________________________________________________ 397 eine Geschichte der Millionen Antriebe und Wider- stände, ... auf diese Art ist sie jedenfalls eine Geschichte des Durchschnitts oder, je nachdem man es nehmen mag, der Durchschnitt von Millionen Ge- schichten, und wenn sie denn auch ewig um das Mittelmäßige schwanken müßte, was könnte am Ende unsinniger sein, als einem Durchschnitt seine Durch- schnittlichkeit zu verübeln! In diesen Gedanken schob sich aber auch die Erinne- rung an die Berechnung von Durchschnitten ein, wie sie die Zufallsrechnung versteht. - Die Regeln der Wahrscheinlichkeit beginnen schon ... damit, daß die Ereignisse bald so, bald anders, ja daß sie auch ins Gegenteil ... ausschlagen könnten, ... Zur Bildung und Festigung eines Durchschnitts gehört es sodann, daß der höheren und besonderen Werte viel weniger als der mittleren sind, ja daß sie fast niemals auftreten, und daß es auch von den unverhältnismäßig geringen gilt. Die einen wie die anderen bleiben besten- oder schlimmstenfalls Randwerte, ... Diese Erfahrung mag an Hagelversicherungen und Sterblichkeitsübersich- ten gewonnen sein; aber der geringen Wahrschein- lichkeit der Randwerte entspricht es deutlich, daß auch im Geschichtlichen einseitige Gestaltungen und die ungemischte Verwirklichung überstiegener Forde- rungen selten von Dauer gewesen sind. ... Unwillkür- lich übertrug Ulrich die Anschauung der Wahrschein- lichkeit immer weiter auf geistige und geschichtliche Ereignisse ... Denn die Schranken und der Wechsel der Ideen und Gefühle, ihre Vergeblichkeit, die rät- selhafte und trügerische Verbindung zwischen ihrem Sinn und der Verwirklichung seines Gegenteils, alles und ähnliches ist ... schon mit der Annahme gegeben, daß eins so möglich sei wie das andere. Diese An- nahme bedeutet aber den Grundbegriff, woraus die Wahrscheinlichkeitsrechnung ihren Inhalt schöpft, und ist deren Begriffsbestimmung des Zufalls; daß sie auch den Gang der Welt kennzeichnet, erlaubt also den Schluß, daß dieser nicht viel anders ausfiele, als er ist, wenn alles gleich nur dem Zufall überlassen bliebe. ... das Durchschnittliche ist immer auch etwas Wahrscheinliches, und der Durchschnittsmensch der Bodensatz aller Wahrscheinlichkeit. Verglich Ulrich aber, was er gesagt hatte, mit dem, was davon noch zu sagen wäre, so verzagte er fast an der Fortsetzung dessen, was er mit seiner Gegenüberstellung von Wahrscheinlichkeit und Geschichte angefangen hatte. (S. 1206-1208) 2.2.6 Wandel unter Menschen (47) _____________________________________________________________ 398 Ulrich ist der Auffassung, die Geschichte der Menschheit sei als diejenige des Mittelwerts (Durchschnitts) der Geschichten der Einzelmenschen zu sehen, wobei die jeweilige Einzelgeschichte als zufallsbestimmt anzunehmen sei. Die genannten 'Mittelwerte' und 'Durchschnittswerte' werden hier offenbar nicht richtig auseinander gehalten werden (s. dazu Abschnitt 2.1.29.3). Für Beobachtungsreihen spricht man am besten vom Modalwert. Der Modalwert entspricht dann dem häufigsten Wert, wobei es durchaus auch zwei oder mehrere solcher Werte geben kann. Hat man eine stetige Zufallsvariable mit stetiger Dichte im Bereich des Modalwerts, so ist für ein geeignetes kleines Intervall, das den Modalwert umgibt, auch die Wahrscheinlichkeit am größten (s. Abschnitt 2.1.29.3). Es kann aber auch in diesem Fall mehr als nur ein Modalwert auftreten. Im zweiten Teil des obigen Textes wird sehr anschaulich und allgemein verständlich erklärt, was unter den Regeln der Wahr- scheinlichkeit zu verstehen sei. Ergänzungen dazu finden sich auch im Nachlaß: Ulrichs 2 Hauptsätze waren: Die Geschichte ist die des menschlichen Durchschnitts, u. darum mit Vor- behalten die des durchschnittlichen Menschen, auch einfach deshalb: weil die der Mehrheit, der großen Zahl der Menschen. Was die Millionen an Geschichte erleben, umfaßt oder überragt das Geschick Einzel- ner; es ist das Allgemeine. (Der zweite Satz ist sub- jektiv das Frühere.) Jetzt Zusatz: Sukzessive haben sich einander also ab- gelöst: Gattung - Durchschnitt der Gattung - durch- schnittliches Individuum. Der Stamm des Geschicht- lichen spiegelt das Wachstum der Gattung wieder u ist nichts als dieses selbst. ( Ist das Ergebnis von Mil- lionen Antrieben usw.. ) Das ist richtig, wenn man hinzunimmt, daß die Epochemacher ( Heroen, Ge- nies, ..) einander zu Null aufheben, bzw. in den Durchschnitt einsinken. (nl V/5/84) Der Romanerzähler müßte nun aber auch sagen, wie die genann- ten 'Durchschnitte' und 'Mittelwerte' - besser: Modalwerte - tatsächlich numerisch zu bestimmen seien. Selbst wenn man die detaillierten Biographien sämtlicher jemals existierender Men- schen aufgezeichnet besäße und diese über Supercomputer blitz- schnell abrufen könnte, so müßte erklärt werden, in welcher Weise die Geschehnisse, Taten, u.ä. im Leben eines Menschen zahlenmäßig zu erfassen seien. Erst dann könnten vielleicht ge- eignete Schätzer für Verteilungen und Modalwerte gefunden 2.2.6.1 Menschheitsgeschichte des Zufalls _____________________________________________________________ 399 werden. Eine derartige zahlenmäßige Bewertung wird aber inso- fern besonders schwierig, als es nicht nur um die Feststellung stationärer Werte geht, sondern auch um Berücksichtigung der zeitlichen Entwicklungen. Dessen ungeachtet wird im Romantext so fortgefahren, als ob nur noch eine der Gaußfunktion (s. Abschnitt 2.1.29.3 u. Abbil- dung 59, S. 276) ähnliche relative Häufigkeitsverteilung be- schrieben werden müsse: größte Häufigkeit in der Nähe des Mo- dalwerts, nahezu verschwindende relative Häufigkeiten für die auslaufenden Zweige der Verteilung. Ulrich erscheint es plausibel, daß sich auch in der menschlichen Geschichte Mittelwerte durchsetzen und Randwerte verschwin- den (Verwirklichung überstiegener Forderungen selten von Dauer gewesen sind). Dabei dürfte auch auf das Entwicklungs- prinzip des Lebens überhaupt verwiesen sein, welches ebenfalls auf der Durchsetzung des Mittleren zu beruhen scheint. Zwar benennt man das Darwinsche Prinzip der Evolution etwas nach- lässig als dasjenige der Durchsetzung des Starken gegenüber dem Schwachen, Darwins Auswahlprinzip lautet aber genauer besehen folgendermaßen: der (die) in bezug auf die Erhaltung und Ausbreitung der eigenen Art Erfolgreiche setzt sich durch, während der (die) in dieser Hinsicht Defizitäre verschwindet. Wir zitieren aus Darwins The Descent of Man: Sexual selection depends on the success of certain in- dividuals over others of the same sex in relation to the propagation of the species; whilst natural selection depends on the success of both sexes, at all ages, in relation to the general conditions of life. The sexual struggle is of two kinds; in the one it is between the individuals of the same sex, generally the male sex, in order to drive away or kill their rivals, the femals re- maining passive; whilst in the other, the struggle is likewise between the individuals of the same sex, in order to excite or charm those of the opposite sex, generally the females, which no longer remain pas- sive, but select the more agreeable partners. 466 Das dürfte aber bedeuten, gerade diejenigen Lebewesen, die über eine große Zahl von Eigenschaften mittlerer Qualitäten verfügen, haben viel eher diesen Fortpflanzungserfolg, als solche mit nur wenigen, besonders ausgeprägten Eigenschaften. So läßt sich der Ausleseprozeß der Evolution im Grunde als ein Zufallsprozeß 466 Charles Robert Darwin The Descent of Man and Selection in Relation to Sex Princeton 1981, p. 398 2.2.6 Wandel unter Menschen (47) _____________________________________________________________ 400 unter bestimmten Randbedingungen verstehen, dessen Charakte- ristik im wesentlichen der Standard-Normalverteilung mit ent- sprechendem Erwartungswert und bestimmter Varianz genügt. Gerade das scheinen auch neuere psychologische Forschungen ergeben zu haben, in denen gezeigt wird, daß eben die 'Durch- schnittsmenschen' als sehr attraktiv eingestuft werden. Krämer und Trenkler zeigen in ihrem Lexikon467 ein 'Kunstbild' des Ge- sichtes einer jungen Frau, welches aus vielen zufällig ausgewähl- ten Frauenportraitfotos 'zusammengemittelt' wurde. Das dadurch erzeugte 'Durchschnittsfoto' wurde anschließend in einem Test unter 32 anderen Fotos als attraktivstes ausgewählt (s. Abschnitt 2.1.33.3). Aus dieser Perspektive wäre Ulrichs Schlußfolgerung am Ende des zweiten Teils des obigen Romantextes (...dieser nicht viel anders ausfiele....wenn alles gleich nur dem Zufall überlassen bliebe) durchaus nachvollziehbar, obgleich er seine Gedanken mit dem letzten Satz des zitierten Romantextes wieder in Frage zu stellen scheint, und zwar mit der Bemerkung, die Gegen- überstellung von Wahrscheinlichkeit und Geschichte sei doch nicht zu einem endgültigen Ergebnis zu führen. 2.2.6.2 Durchschnitt, Durchschnittlichkeit, thermodynamisches Paradoxon Für den Fall der Menschheitsgeschichte läßt sich vielleicht der Durchschnitt von Mengen besser vorstellen als Modalwerte be- stimmter Häufigkeitsverteilungen. Der Durchschnitt D der Mengen M1, M2, ..., Mn ist definiert durch die Menge aller Elemente, die in jeder dieser Mengen ent- halten sind. Abbildung 83 veranschaulicht den Durchschnitt zweier durch Flächenstücke dargestellter Mengen: Abbildung 83 Gezeigt wird die Durchschnittsmenge D (doppelt schraffierter Teil) zweier als Flächen dargestellter 467 Krämer u. Trenkler Das Beste aus dem Lexikon der populären Irrtümer S. 77-78 2.2.6.2 Durchschnitt, Durchschnittlichkeit, thermodynamisches Paradoxon _____________________________________________________________ 401 Mengen M1 und M2, die genau diejenigen Elemente ent- hält, welche sowohl zur Menge M1 als auch zur Menge M2 gehören. V deutet gleichzeitig die Vereinigungsmenge an. Handbuch d. Math., S. 688 Unter starker Vereinfachung ließen sich in diesem Sinne aus der Gesamtheit der Einzelbiographien der Menschheit diejenigen Geschehnisse, Taten usw. herauslösen, die einer sehr großen Zahl solcher individueller Biographien gemeinsam wären. Viel- leicht käme die entstehende 'Durchschnittsbiographie' tatsächlich derjenigen am nächsten, die Ulrich hier vor Augen hat. Die dar- aus unter Einbeziehung der sich verändernden Randbedingungen zu gewinnende 'Geschichte des Durchschnitts' würde sich wahr- scheinlich auch mit derjenigen decken, die mit Musils Ansatz der kinetischen Geschichtstheorie (siehe Abschnitt 2.1.22.2 dieser Arbeit) zu berechnen wäre. Die Textstelle in den Tagebüchern, mit welcher Musil auf seinen Ansatz der kinetischen Geschichts- theorie aufmerksam macht, lautet wie folgt: Nimm nun geschichtliche Daten und verwechsele sie beliebig. Auf die Schlacht von Cannae folgt der Frie- de von Versailles. Kaiser Max von Mexiko war der Sohn Napoleons I. udgl. Was ändert sich? Gewor- denes fügt sich fest an Gewordenes, der motivierende Übergang fällt als unnötig und vorgetäuscht weg. Die ungeheure Wichtigkeit, die wir dem Dasein beilegen, indem wir es historisch ableiten, verspottet sich selbst. Man kommt auf die kinetische Geschichts- theorie. (tg1 S. 637) Wie problematisch Ulrich allerdings solche Modellüberlegungen ansieht, zeigen die Bemerkungen des zu Beginn des Abschnitts zitierten Romantextes, in welchen Mittelwert und Durchschnitt ironisch auf Mittelmäßigkeit und Durchschnittlichkeit bezogen werden: ... wenn (die Geschichte) ... auch ewig um das Mittel- mäßige schwanken müßte, was könnte am Ende unsinniger sein, als einem Durchschnitt seine Durchschnittlichkeit zu verübeln! Aus einigen teilweise nur unvollständig aufgeschriebenen Noti- zen Musils im Nachlaß lassen sich auch philosophische Kompo- nenten seiner Überlegungen zur 'Durchschnittsmenschheitsge- schichte' entnehmen: Sie ist also eine Geschichte des Durchschnitts oder ... die (des Durchschnitts der) Schicksalsfolge ... u. sie gibt eigentlich nichts anderes als die Geschichte des ... (Zufalls) ... wieder. ... sich über die Zufallsgestal- 2.2.6 Wandel unter Menschen (47) _____________________________________________________________ 402 ten des mitspielenden Zufalls zu wundern ... dient der Erhaltung des mittelhohen ... Oder: Schicksal von Millionen Antrieben ... Dieser Sinn des menschlichen Daseins ist zugleich seine Sinnlosigkeit. Die allgegenwärtige Beteiligung der Gedankenwelt an dieser Entwicklung ist zugleich ihre Ohnmacht. Zu einer solchen Durchschnittlichkeit gehört es, daß die Entwicklung bald so bald so aus- schlägt. Aus dieser Tendenz der menschlichen Ge- schichte zur Durchschnittlichkeit wird es ohne weite- res verständlich und entspricht einfach den Gesetzen der zufälligen Verteilung, denen sie folgt, daß die Ideen nicht verwirklicht werden, sondern Leitbilder, daß allmächtig wie ohnmächtig, daß sinnlos erscheint ... (nl V/2/98) Dazu fügt sich auch eine der abschließenden Äußerungen Ul- richs in diesem Kapitel, die sich folgendermaßen liest: ... die Grundfrage, welches Wesens das Wahrscheinli- che ist, scheint auch aus anderen Gründen, und dar- unter solchen, die allgemein und geistiger Herkunft sind, immer mehr an die Stelle der Frage nach dem Wesen der Wahrheit treten zu wollen, obgleich sie ursprünglich bloß ein Handwerksmittel für die Lösung einzelner Aufgaben gewesen ist. (S. 1209) Moser bezieht sich ebenfalls auf Teile des eingangs zitierten Romantextes und sieht darin eine Übertragung von Begriffen und logischen Verfahren aus Mathematik und Naturwissenschaft auf die Geisteswissenschaften. Er schreibt: Aus der Mathematik, aus den exakten Wissenschaften entlehnt Ulrich Begriffe und logische Verfahren und überträgt sie auf die Geisteswissenschaf- ten. Die wichtigsten Herkunftsdiskurse sind die Wahrscheinlich- keitsrechnung, die statistische Mechanik, die Thermodynamik. Übertragene Elemente sind "Durchschnitt", "mittlerer Zustand", "Zufallsrechnung", "Wahrscheinlichkeit", "Gesetz der großen Zahlen". Dabei schwingt gewissermaßen als metaphorischer Hintergrund mit: die Rationalität thermodynamischer Systeme mit einerseits der Beschreibung der Molekularbewegung und anderseits dem Entropieprinzip.468 Obgleich man diesem Kom- mentar grundsätzlich folgen kann, so gerät Moser im Detail doch in zunehmende Verwirrung seiner Feststellungen. Vielleicht könnte man Wahrscheinlichkeitsrechnung, statistische Mechanik und Thermodynamik gerade noch als getrennte Fachdiskurse 468 Moser Zwischen Wissenschaft und Literatur S. 183 2.2.6.2 Durchschnitt, Durchschnittlichkeit, thermodynamisches Paradoxon _____________________________________________________________ 403 gelten lassen. In den übertragenen Elementen ist aber weder ein eigenständiges '(Diskurs-)Element' zu finden noch zu erkennen, woher es genommen und wohin es überführt sei. Was schließlich mit der Rationalität thermodynamischer Systeme gemeint sein könnte, ist ganz unklar, besonders im Hinblick auf die dabei an- gesprochene 'Molekularbewegung' und das 'Entropieprinzip'. Zunächst einige Erklärungen und Richtigstellungen: wahrschein- lich soll mit "Durchschnitt" der arithmetische Mittelwert be- zeichnet werden. Was der "mittlere Zustand" bedeuten soll, ist nicht zu erkennen, vielleicht ist an die Gleichverteilung gedacht. Eine Zufallsrechnung gibt es nicht, vermutlich sind Wahrschein- lichkeitstheorie und Statistik gemeint (s. Abschnitt 2.1.29.3). Ein 'Entropieprinzip' ist nicht bekannt, wahrscheinlich ist der zweite Hauptsatz der Thermodynamik gemeint, aus dem sich ein halber Erhaltungssatz469 für die Zustandsgröße S, die Entropie, ergibt. Dieser besagt, wie mehrfach in der vorliegenden Arbeit ausge- führt, daß die Entropie nur im Gleichgewichtszustand eines ab- geschlossenen Systems konstant und maximal ist, in allen ande- ren Fällen aber stets zunimmt. Was Moser aber möglicherweise angesprochen haben könnte gehört zu einer grundsätzlichen, wichtigen Fragenstellung der statistischen Mechanik: das thermodynamische Paradoxon. Es soll im folgenden so verständlich, wie es im Rahmen dieser Ar- beit möglich ist, erklärt werden. Ein abgeschlossenes thermodynamisches System verhält sich stets so, daß eine Annäherung an den Gleichgewichtszustand geschieht und dabei die Entropie ständig zunimmt, solange das Gleichgewicht noch nicht erreicht ist. Dadurch wird eine be- stimmte Richtung, nämlich die zeitliche Entwicklung zum Gleichgewichtszustand, ausgezeichnet. Im mikroskopischen Bild (N-Teilchensystem mit N ≈ 1020) wird die Entropie des Systems statistisch definiert. Das 'Richtungs- verhalten' ergibt sich aus dem 'Prinzip der Einstellung maximaler Unordnung'. Eine zeitabhängige Wahrscheinlichkeitsverteilung der Besetzung der zugänglichen mikroskopischen Zustände führt dann stets zur stationären Verteilung und zu einer Maximierung der Entropie unter vorgegebenen äußeren Bedingungen (s. Ab- schnitt 2.1.23.3). In der klassischen Mechanik wird ein N-Teilchensystem zeitlich und räumlich vollständig durch ein gekoppeltes System von Dif- ferentialgleichungen beschrieben, den sog. Newtonschen Bewe- 469 Falk, S. 63-64 2.2.6 Wandel unter Menschen (47) _____________________________________________________________ 404 gungsgleichungen470. Diese sind invariant bezüglich Zeitumkehr. D.h. die Bahnen der Einzelteilchen, die Trajektorien, ergeben sich als Lösungen dieser Gleichungen unabhängig davon, in welcher zeitlichen Richtung sie durchlaufen werden. Mit anderen Worten: für die einzelne Trajektorie gibt es keine zeitliche Vor- zugsrichtung. Dies scheint im Widerspruch zu dem beschriebe- nen, zeitlich gerichteten Verhalten des Vielteilchensystems zu stehen, und Boltzmann hatte zu seiner Zeit in der Tat große Mühe, diesen scheinbaren Widerspruch glaubhaft aufzulösen.471 Aus heutiger Sicht472 kann zunächst rein formal gesagt werden, daß das Zeitverhalten eines Vielteilchensystems (makroskopi- scher Größenordnung) eben nicht mehr durch die Newtonschen Bewegungsgleichungen, sondern durch die Mastergleichung be- schrieben wird. Diese Mastergleichung beinhaltet ein System von Differentialgleichungen, welches gestattet, das zeitabhängi- ge Verhalten des Teilchensystems anhand der zeitlichen Ent- wicklung von Wahrscheinlichkeitsverteilungen zu berechnen. Sie ist nicht mehr invariant gegenüber Zeitumkehr, sondern bevor- zugt mit großem Übergewicht die zeitliche Entwicklung einer Nichtgleichgewichts-Wahrscheinlichkeitsverteilung in Richtung der stationären Wahrscheinlichkeitsverteilung, der Gleichge- wichtsverteilung. Aus der Mastergleichung läßt sich z.B. das bereits in den Abschnitten 2.1.22.1 und 2.1.29.7 erwähnte Boltzmannsche H-Theorem herleiten473. Es lautet ausführlicher: Befindet sich ein isoliertes System in einem Nicht- gleichgewichtszustand, so ist seine spontane zeitliche Entwicklung von einer monotonen Abnahme der H- Funktion begleitet, und zwar solange, bis das System seinen durch die mikrokanonische Verteilung charak- terisierten Gleichgewichtszustand erreicht hat. Erst dann ist H minimal, und verändert sich nicht mehr. Plausibel wird das zeitlich gerichtete Verhalten des Vielteilchen- systems im Nichtgleichgewicht dadurch, daß seine physikalische Beschreibung rein statistischen Charakter hat und auch nur haben kann. Während man die Trajektorien einzelner Teilchen 470 Wir argumentieren der Einfachheit halber auf der Basis der klassischen Physik. Man kann diese Überlegungen aber auch aus quantenmechanischer Sicht anstellen. Siehe: Diu et al., S. 745-747 471 Vergleiche: McQuarrie, S. 415-418 472 Es wird im wesentlichen den Ausführungen von Diu et. al. S. 744-747 u. S. 766- 772 gefolgt. Hinweis: wer des Französischen mächtig ist, sollt besser die Original- version des Buches lesen. Die deutsche Übersetzung ist unzureichend. 473 Siehe dazu: Diu et al., S. 760-763. Die H-Funktion unterscheidet sich durch einen Faktor k/V und umgekehrtes Vorzeichen von der Entropie S. 2.2.6.2 Durchschnitt, Durchschnittlichkeit, thermodynamisches Paradoxon _____________________________________________________________ 405 durchaus noch auf der Basis der Newtonschen Mechanik berech- nen könnte, und deshalb auch dieselben Trajektorien in zeitlich umgekehrter Richtung durchlaufen würden, so ist dies für ein Vielteilchensystem der Größenordnung N ≈ 1020 völlig ausge- schlossen. Die Teilchenzahl eines makroskopischen Systems übersteigt um viele Größenordnungen jede Möglichkeit, das Ge- samtzeitverhalten des Systems anhand der einzelnen, durch die Newtonschen Gleichungen zu erhaltenden Trajektorien, zu be- rechnen. Schon die Angabe der Anfangsbedingungen, die not- wendig sind für die Anwendung der Bewegungsgleichungen, würden wegen der unvorstellbar großen Teilchenzahl scheitern. Aber die große Zahl der Teilchen ist nicht der alleinige Grund dafür, daß das Zeitverhalten eines solchen Systems nicht aus den Bewegungsgleichungen zu bestimmen ist. Selbst wenn man nur einige hundert Teilchen für eine derartige Rechnung betrachtete, so wäre ein identisches Zurücklaufenlassen der für ein gewisses Zeitintervall aus bestimmten Anfangsbedingungen berechneten Trajektorien ebenfalls ganz ausgeschlossen. Die Bewegungsglei- chungen reagieren äußerst instabil auf winzige numerische Än- derungen in den Anfangsbedingungen und den im zeitlichen Verlauf auftretenden Wechselwirkungen zwischen Molekülen und zwischen Molekülen und Gefäßwänden. Dadurch geht schon nach wenigen 'mikroskopischen' Zeiteinheiten die Information über die Startbedingungen teilweise verloren. Infolgedessen kann eine Zeitumkehr nicht wieder zu den Anfangsbedingungen des Systems zurückführen. In Computerrechnungen für Modell- flüssigkeiten kann man die Newtonschen Bewegungsgleichun- gen numerisch approximativ für einige hundert Teilchen lösen. Dadurch läßt sich das 'Auseinanderlaufen' der Trajektorien im Detail studieren. Zwar hat man sich dabei auf die Rechengenau- igkeit der Computer und die Genauigkeit des Lösungsalgorith- mus' der gekoppelten Differentialgleichungen zu beschränken, aber es zeigt sich, daß das beschriebene zeitlich 'nichtumkehr- bare' Verhalten der Trajektorien dem Grunde nach nicht von der Rechengenauigkeit abhängt. Zusammenfassend ergibt sich die Auflösung des 'thermodynami- schen Paradoxons' durch die Eigenschaft des Vielteilchensy- stems, sich nicht mehr in der Form der einzelnen zeitabhängigen Trajektorien der Teilchen beschreiben zu lassen, sondern nur noch anhand der zeitlichen Entwicklung von geeigneten Wahr- scheinlichkeitsverteilungen. Deshalb führt allein die statistische Behandlung des Vielteilchensystems zu physikalisch sinnvollen Ergebnissen (s. die Abschnitte 2.1.22.2, 2.1.23.3 und 2.1.29.6). 2.2.7 Eine auf das Bedeutende gerichtete Gesinnung und beginnendes Gespräch darüber. / Gn. v. Stumm über die Genialität. / Genialität als Frage (48-50) _____________________________________________________________ 406 2.2.7 Eine auf das Bedeutende gerichtete Gesinnung und beginnendes Gespräch darüber. / Gn. v. Stumm über die Genialität. / Genialität als Frage (48-50) 2.2.7.1 Spezialgenie In den zu behandelnden drei Kapiteln werden Monologe und Unterhaltungen Ulrichs mit Agathe oder General Stumm über Genie und Genialität vorgetragen. Die Reden werden wie ge- wöhnlich im Roman ironisierend und paradox geführt, zu Ender- gebnissen scheint man nicht zu kommen. Für den Militärbereich wird von der Genietruppe, für den Bereich (Natur-)Wissenschaft vom Spezialgenie, und schließlich sogar vom universalen Spe- zialisten gesprochen. Im folgenden sind mehrere Textausschnitte zusammengestellt, welche den Charakter der Erörterungen kenn- zeichnen sollten: "Man muß zwischen Genie als Art und als persönlichem Superlativ trennen" begann er (Ulrich) ... "Manchmal habe ich früher gedacht, daß es, als die einzigen wichtigen Menschenrassen, überhaupt nur die des Genies und die des Dummkopfs gebe, die sich nicht gut vermischen. Die Menschen der Genieart, oder die Genialen, müssen aber nicht schon ein Genie sein. Dieses, das bestaunte Genie, entsteht so recht erst an der Börse der Eitelkeiten; in seinen Glanz strahlen die Spiegel der umgebenden Dummheit; es ist immer mit etwas verbunden, das ihm noch ein Ansehen dazu gibt, ...ist seine Erscheinung doch eigentlich die ausgestopfte Genialität - " (S. 1254) "Es ist also wirklich beschämend für mich, dir (Agathe) die Antwort geben zu müssen, daß ich nie zu sagen gewußt hätte, was genial ist, und es auch jetzt nicht weiß, obgleich ich vor einigen Augenblicken erst unbefangen angedeutet habe, daß ich diese Eigen- schaft weniger einem besonderen Menschen als einer menschlichen Artung zuschreiben möchte." (S. 1255) "...(General Stumm) hat auf der Nützlichkeit bestan- den, daß man einen militärischen und einen zivilen Begriff Genie unterscheide. ... Die Genietruppe - al- lein als Wortverbindung schon wunderbar! - " fuhr er fort - "dient zu Befestigungs- u. ähnlichen Arbeiten und besteht aus Soldaten und Unteroffizieren und aus Offizieren, die keine besondere Zukunft haben, es sei 2.2.7.1 Spezialgenie _____________________________________________________________ 407 denn, daß sie einen 'Höheren-Genie-Kurs' bestehen, wonach sie in den 'Genie-Stab' gelangen. 'Über dem Genie steht beim Militär also der Geniestäbler' sagt St. v. B. 'Und ganz darüber natürlich noch der Generalstab, weil der überhaupt das Gescheiteste ist, was Gott getan hat'. So hat er mich ... darauf zu bringen gesucht, daß der rechte Gebrauch von Genie schließlich noch beim Militär zu finden sein wird ... Und wie er alles so verdreht, daß man der Wahrheit ordentlich auf den Grund sieht, täten wir gar nicht schlecht daran, uns an seinen Leitfaden zu halten!" (S. 1256) "Wahrscheinlich hängt das mit dem zusammen, was man 'große' Ideen zu nennen pflegt. Und dann wäre Geistesadel nichts anderes als der Besitz großer Ideen" fuhr Stumm zweifelnd fort. "Aber woran er- kennt man, ob eine Idee groß ist? Es gibt viele Genies, in jeder Branche zumindest ein paar; es gehört sogar entschieden zu unserer Zeit, daß sie zu viele Genies hat: wie soll man da ein jedes verstehen und keines übersehen!" (S. 1265) Sicherlich muß, was genial ist, zumal bedeutend sein; denn genial ist die unter besonders auszeichnenden Umständen entstehende bedeutende Leistung, aber bedeutend ist nicht nur das geringere474, sondern auch das allgemeinere. So war zuerst wieder nach diesem Begriff zu fragen. Schon die Worte Bedeutung und Bedeutend sind, wie alle, die viel benutzt werden, mehrsinnig. ... wenn ein Gedanke an Richtigkeit ge- winnt, hat das schärfer werdende Denken auf falsche Antworten verzichtet, und auf einige tiefere Fragen auch. (S. 1268, S. 1270) Weiterführende Erklärungen dazu sind in den Tagebüchern Musils zu lesen: Kombinationsfähigkeit, Fähigkeit 'mit neuen Augen zu sehn' d. h. von alten Bindungen sich unabhängig zu bewahren, dürfte wohl das eigentlich Geniale der ge- nialen Begabung sein; Merkfähigkeit, Fleiß, Konzen- trationsfähigkeit u. leidenschaftliches Interesse treten dazu, finden sich aber auch beim begabten rezenten Menschen. Die Kombinationsfähigkeit und Kombina- tionswilligkeit hat er auf seinem Interessengebiet aber auch. Also wäre das Entscheidende die Natur dieses Gebiets. Wissenschaft u. Kunst haben Genies. Nähme 474 Ist hier in bezug auf den Vergleich der beiden Begriffe "genial" und "bedeutend" zu verstehen. Musil erklärt dies genauer im Nachlaß: (nl V/1/52) 2.2.7 Eine auf das Bedeutende gerichtete Gesinnung und beginnendes Gespräch darüber. / Gn. v. Stumm über die Genialität. / Genialität als Frage (48-50) _____________________________________________________________ 408 man das Markensammeln ebenso wichtig, hätte es sie auch. ... Auf Gebieten, die große Kenntnisse erfordern, ist die Ursprünglichkeit schwerer zu bewahren (Wissen- schaft); dort spricht man vom Genie ... (tg1 S. 490) 2.2.7.2 Genie und Polarisation Auch im Nachlaß findet man zahlreiche allgemeine Abhandlun- gen zur 'Geniediskussion'. Es heißt dort z.B.: Weist es nicht schon auf etwas hin, daß wir Genie französisch u. genial lateinisch aussprechen? ... Deshalb die Frage: Was ist geistig bedeutend (u. ge- nial ist geistig u. bedeutend) ... Wir haben große wis- senschaftliche Theorien, aber mehr interessante (Re- lativitätstheorie, Quantentheorie, Psychoanalyse) als klassische, Ruhe gewährende. ... Nochmals, mit Be- rücksichtigung von Halbwirklichkeit: Alles erscheint bedeutend! So gesehn, dehnt sich die Frage aber über immer weitere Gebiete aus. Es gibt heute kein Genie. Wann kommt der Erlöser? ... (nl V/1/34) Was unter der zuvor von General Stumm angesprochenen "gro- ßen Idee" zu verstehen sei (siehe dazu auch Abschnitt 2.1.8.1 der vorliegenden Arbeit), wird ebenfalls im Nachlaß genauer ausge- führt: Eine große Idee: Was ihrem Inhalt nach große Ideen sind, weiß ich nicht - Anders (Ulrich) leugnete sie überhaupt, er behauptete, das Hauptunglück der Menschheit, die geistige Trägheit, käme von ihnen - ihrer Wirkung nach lassen sie sich mit einem physikalischen Gleichnis als ein Polarisationszustand kennzeichnen. Schwingungen, die sonst nach allen Seiten durcheinander gehen, werden auf eine Ebene gebracht. (nl II/1/252) Zum Verständnis des hier benutzten physikalischen Gleichnisses der Polarisation ist einiges über das Verhalten von Wellen zu sagen. Man unterscheidet grundsätzlich zwischen Querwellen (Trans- versalwellen) und Längswellen (Longitudinalwellen). Die Longi- tudinalwelle schwingt durch Verdichtung und Verdünnung (Kompressionswelle) nur in Ausbreitungsrichtung, ist also longi- tudinal polarisiert. Die Transversalwelle schwingt senkrecht zu 2.2.7.2 Genie und Polarisation _____________________________________________________________ 409 ihrer Ausbreitungsrichtung in allen Richtungen. Ausfilterung einer Schwingungsebene nennt man Polarisation. Als Beispiel für Transversalwellen soll die Lichtwelle (elektro- magnetische Welle) betrachtet werden (s. Abb. 10, S. 44). Im unpolarisierten Zustand schwingt die Lichtwelle in allen Ebenen senkrecht zur Laufrichtung, so daß keine Schwingungsebene im Raum bevorzugt wird. Man hat sich eine 'kranzförmige', räumli- che Verteilung von Schwingungsebenen um den Richtungspfeil des Lichtstrahls vorzustellen. Durch Polarisation werden einzel- ne Ebenen aus diesem 'Kranz' aller Schwingungsebenen heraus- gefiltert. Die folgende Abbildung 84 zeigt schematisch verschie- dene Beispiele linear polarisierten Lichts: Abbildung 84 Schematische Zeichnung von Lichtwellen, die in verschiedenen Richtungen linear polarisiert sind. (a): Polarisation in z-Richtung; (b): Polarisation in y-Richtung; 2.2.7 Eine auf das Bedeutende gerichtete Gesinnung und beginnendes Gespräch darüber. / Gn. v. Stumm über die Genialität. / Genialität als Frage (48-50) _____________________________________________________________ 410 (c): Polarisation unter 450 zur y- bzw. z-Richtung sowie in y- und z-Richtung. Die Ausbreitungsrichtung ist durch Pfeile kenntlich gemacht. Beim Licht erreicht man lineare Polarisation z.B. durch einen Quarzkristall (Kalkspat). Sie- he: Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 707; Pohl, Bd. 3, S. 120 ff Es gibt im wesentlichen drei Möglichkeiten, Lichtwellen zu po- larisieren: durch Spiegelung, durch Brechung oder durch Streu- ung. Schickt man den Lichtstrahl z.B. durch einen doppelbre- chenden Kristall (Kalkspat), so erhält man in Form des sog. or- dentlichen Strahls (linear) polarisiertes Licht. In geeigneten Ver- suchsanordnungen läßt sich die Polarisationsebene einfach nachweisen: man benutzt drehbar angebrachte, hintereinander geschaltete Kalkspate oder dichroitische Stoffe als Polarisations- filter, die entsprechend ihrer Funktion entweder als Polarisator oder als Analysator fungieren475. Zu beachten ist, daß das menschliche Auge den Polarisationszu- stand des Lichtes nicht unmittelbar wahrnehmen kann. Der Mensch ist ohne technische Hilfsmittel nicht in der Lage, polari- siertes Licht zu erkennen. Im Gegensatz dazu können Bienen und ähnliche Insekten aufgrund ihrer Facettenaugen (Komplex- augen) sehr wohl den Polarisationszustand des Lichtes feststellen und ihn zur Bestimmung ihrer Flugrichtung analysieren. Mit Hil- fe ihrer hochorganisierten Augen haben Bienen die Möglichkeit, das im Laufe des Tages sich ständig ändernde Polarisations- muster des Himmels zur Kompaßorientierung auszunutzen. Die verschiedenen Polarisationszustände des Himmellichts ent- stehen durch die Streuung des Sonnenlichts an den Luftmolekü- len der Atmosphäre. Man spricht dabei von kohärenter Streuung, der Rayleigh-Streuung476. Bei der Rayleigh-Streuung werden nicht nur bestimmte Wellenlängen des Sonnenlichts ausgefiltert (himmelsblau), sondern es tritt gleichzeitig auch Polarisation ein. Das ausgesandte Streulicht ist dann senkrecht zur Strahlrichtung (linear) polarisiert. Man kann dies in einem einfachen Laborver- such nachweisen. Ein scharf begrenzter Strahl natürlichen Lichts fällt in ein trübes Medium (z.B. eine emulgierte Flüssigkeit) und die Polarisationsebene des gestreuten Lichtes wird mit einem Analysator bestimmt. Nur in senkrechter Richtung zum Primär- strahl bekommt man dann linear polarisiertes Licht, in allen anderen Richtungen eine entsprechende Mischung aus polarisier- 475 Pohl, Bd. 3, S. 120-136; Bergmann-Schaefer Bd. 3, S. 456 ff 476 Pohl, Bd. 3, S. 157 ff 2.2.7.2 Genie und Polarisation _____________________________________________________________ 411 tem und unpolarisiertem Licht. Abbildung 85 zeigt schematisch die entsprechende Versuchsanordnung: Abbildung 85 Schematische Darstellung der experimen- tellen Anordnung zur Beobachtung linear polarisierten Lichtes durch Rayleigh-Streuung. Ein gebündelter Strahl natürlichen Lichts (P) verläuft senkrecht zur Papierebene und durchsetzt ein trübes Medium, z.B. mit Milch versetz- tes Wasser. Der Analysator zeigt dann auf der Bildebene S senkrecht zur Papierebene das linear polarisierte Streulicht an. Gezeichnet ist nur der Querschnitt des primären Licht- strahls im trüben Medium (nicht gezeichnet). Die Pfeile zeigen das unpolarisierte Licht an. Linse, Analysator (A) und Schirm (S) stehen parallel zum Lichtstrahl, also senk- recht zur Papierebene. Beobachtet wird also nur die Streu- strahlung im Winkel von 90 0 zur Ausgangsstrahlung. Wird unter einem anderen Winkel beobachtet, so erhält man ein Gemisch aus polarisiertem und unpolarisiertem Licht. Pohl, Bd.3, S. 170-171 Die Streustrahlung des Himmels enthält aufgrund der Rayleigh- Streuung ein bestimmtes Polarisationsmuster, das sich aus linear polarisierten und unpolarisierten Anteilen zusammensetzt. Nach neusten Forschungen ist es wahrscheinlich, daß Bienen und bestimmte andere Insekten mit Hilfe ihrer Komplexaugen nur dieses Polarisationsmuster des Himmels zur Kompaßorien- tierung während des Fluges ausnutzen (Hamdorf, S. 300). Auch für den bekannten Schwänzeltanz der Bienen, bei welchem ande- ren Artgenossen die Richtung eines Futterplatzes angezeigt wird, scheinen die Tiere höchstwahrscheinlich nur das durch die Sonne induzierte Polarisationsmuster des Himmels zu benötigen. Die- ses Polarisationsmuster entsteht spiegelsymmetrisch bezüglich der Ebene von Sonnenmeridian und Antimeridian, wie in Abbil- dung 86 dargestellt ist: 2.2.7 Eine auf das Bedeutende gerichtete Gesinnung und beginnendes Gespräch darüber. / Gn. v. Stumm über die Genialität. / Genialität als Frage (48-50) _____________________________________________________________ 412 Abbildung 86 Ausnutzung des Polarisationsmusters des Himmels zur Kompaßorientierung der Biene beim Schwänzeltanz. Unter C sind die Polarisationsrichtungen des Himmels bei Sonnenaufgang schematisch gezeichnet. Maximale Polarisation entsteht auf dem Großkreis senk- recht zur Sonneneinstrahlungsrichtung, der in diesem Fall genau den Zenit kreuzt. AM bedeutet Antimeridian. Im rechten Bild sind die veränderten Polarisationsrichtungen für eine Sonnenhöhe von 50 Grad gezeichnet. Das Orien- tierungsmuster der Analysatorzellen der beiden Facetten- augen der Biene entspricht in etwa dem Polarisationsmu- ster des Himmels bei Sonnenaufgang und gestattet dadurch den Tieren eine Kompaßorientierung. Vergleiche dazu: Hamdorf, S. 302 ff Maximale Polarisation wird gemäß der vorher beschriebenen Rayleigh-Streuung auf einem Großkreis senkrecht zur Sonnen- strahlungsrichtung erreicht. Bei Sonnenaufgang und Sonnenun- tergang kreuzt dieser Großkreis größter Polarisation genau den Zenit. Die Tiere brauchen zur Richtungsangabe wahrscheinlich nur die Symmetrieachse der Himmelspolarisation zwischen Sonnenmeridian und Antimeridian. Deutlich wurde dies durch eine Reihe von Experimenten, in der die Genauigkeit der Rich- tungsbezeichnung der Bienen in Abhängigkeit von der Tageszeit bestimmt wurde. Für Sonnenaufgang und Untergang ist infolge der Rayleigh-Streuung der Polarisationskontrast am größten, also die Orientierungsmöglichkeit der Tiere am besten. Mit stei- gender Sonne verringert sich dieser Kontrast erheblich, so daß größere Fehler bei der Richtungsangabe auftreten (s. Hamdorf, S. 302 ff). Zurück zur Geniediskussion. Vergleicht man die weiter vorn zusammengestellten Überlegungen Musils dazu mit denjenigen eines Zeitgenossen Otto Weininger, so erscheinen letztere doch reichlich naiv. In Geschlecht und Charakter lautet der Text z.B.: 2.2.7.3 Psychoanalyse und Alltagsrelativität _____________________________________________________________ 413 Aus der Idee des Ganzen heraus, in welcher der Genius fortwährend lebt, erkennt er den Sinn der Teile. Er wertet darum alles, alles in sich, alles außerhalb seiner, wertet es nach dieser Idee; und nur darum ist es für ihn nicht Funktion der Zeit, sondern repräsentiert ihm stets einen großen und ewigen Gedanken. So ist der geniale Mensch zugleich der tiefe Mensch, und nur er tief, nur der Tiefe genial. Darum gilt denn auch wirklich seine Meinung mehr als die der anderen. Weil er aus dem Ganzen seines das Universum enthaltende Ich schafft, während die anderen Menschen nie ganz zum Bewußtsein dieses ihres wahren Selbst kommen, werden ihm die Dinge sinnvoll, bedeuten sie ihm alle etwas, sieht er in ihnen stets Symbole. ... wenn alles, was Archimedes und Lagrange, Johannes Müller und Karl Ernst von Baer, Newton und Laplace, Konrad Sprengel und Cuvier, Thukydides und Niebuhr, Friedrich August Wolf und Franz Bopp, was noch so viele andere für die Wissen- schaft Hervorragendstes geleistet haben, selbst wenn all dies ein einziger Mensch im Laufe eines kurzen Menschenlebens geleistet hätte, er verdiente darum doch nicht das Prädikat des Genius. Denn damit ist er noch nirgends in Tiefen gedrungen. ... Der Unendlichkeit des Weltalls entspricht beim Genius eine wahre Unendlichkeit in der eigenen Brust, er hält Chaos und Kosmos, alle Besonderheit und alle Totalität, alle Vielheit und alle Einheit in seinem Innern. ... Genial ist ein Mensch dann zu nennen, wenn er in bewußtem Zusammenhange mit dem Weltganzen lebt. Erst das Geniale ist somit das eigentlich Göttliche im Menschen.477 Man beachte dabei, daß Musils Romanfragment zwar ungefähr zwanzig bis dreißig Jahre später entstand als Weiningers Dis- sertation, beide Autoren aber im gleichen Jahr geboren sind! 2.2.7.3 Psychoanalyse und Alltagsrelativität Im folgenden sollen nun General Stumms beispielgebende Aus- führungen, zwei Genies betreffend, kommentiert werden. Sie lauten: "Ich glaube, daß ich dir sagen kann, was ein Genie ist: Das ist nicht nur einer, der großen Erfolg hat, sondern er muß seine Sache gewissermaßen auch 477 Weininger, S. 220-222 2.2.7 Eine auf das Bedeutende gerichtete Gesinnung und beginnendes Gespräch darüber. / Gn. v. Stumm über die Genialität. / Genialität als Frage (48-50) _____________________________________________________________ 414 verkehrt anfangen!" Und Stumm führte es sogleich an den großen Beispielen der Psychoanalyse und der Relativitätstheorie aus: "Daß man etwas nicht gewußt hat, hat es auch früher oft gegeben" begann er in seiner Art "aber man hat sich eben demzufolge auch nichts dabei gedacht, und wenn das nicht gerade bei einer Prüfung geschehen ist, hat es auch niemand geschadet. Mit einemmal hat man aber das sogenannte Unbewußte daraus ge- macht, und jetzt hat jeder soviel Unbewußtes, wie er nicht weiß, und es gilt als viel wichtiger, zu wissen, warum man etwas nicht weiß, als was man nicht weiß! Das hat, wie man sagt, menschlich das Unterste zu oberst gekehrt; und ist wahrscheinlich auch viel einfacher." Da U. die Wirkung noch vermissen ließ, fuhr St. fort: "Der Mann, der das erfunden hat, hat aber auch das folgende Gesetz aufgestellt: Du erinnerst dich, daß man früher beim Regiment den jüngeren Herren, wenn sie untereinander zuviel Saubarteleien geredet haben, mit den Worten abgewinkt hat: 'Das sagt man nicht, das tut man bloß!' Und was ist das Gegenteil davon? Irgendwie doch die Aufforderung: Wenn du, weil du ein zivilisierter Mensch bist, nicht tun kannst, was du möchtest, so sprich wenigstens mit einem gelehrten Mann darüber; der überzeugt dich nämlich, daß alles, was es gibt, auf etwas beruht, das es nicht geben soll! Ich mag das natürlich nicht wissen- schaftlich beurteilen, aber jedenfalls sieht man auch an diesem Beispiel, daß die neuen Regeln senkrecht die Umkehrung von denen sind, die vor ihnen gegol- ten haben, und der Mann, der sie eingeführt hat, gilt heute für ein ganz großes Genie!" (S. 1259-1260) Ganz offensichtlich ist hier von Freud die Rede. Im Nachlaß wird in diesem Zusammenhang auch unmittelbar von nur einem genialen Menschen Prof. F. (vergleiche: nl V/1/37) gesprochen. Musil war kein Freund von Freud und dessen Psychoanalyse, wie aus einigen Tagebucheintragungen deutlich hervorgeht, die im folgenden zusammengetragen sind: Freud: Erkenntnisse von großer Wichtigkeit vermengt mit Unmöglichem, Einseitigem, ja Dilettantischem - S. Bd. I., daß die großen Dinge heute als Steißgeburt auf die Welt kommen. Es ist also allgemein so? Ist es das Kennzeichen der Gegenwart und müßte darum näher untersucht werden? - Oder ist das Kriterium der Genauigkeit falsch und die Fehlerhaftigkeit von einem 2.2.7.3 Psychoanalyse und Alltagsrelativität _____________________________________________________________ 415 falschen Standpunkt gesehn? (tg1 S. 749; siehe dazu auch: Anm. 436, tg2 S. 543) Psychologia phantastica: Fasse Klages, Freud, Jung .. zusammen. Meine instinktive Feindschaft: weil sie Pseudo-Dichter sind u. der Dichtung die Stütze der Psychologie vorenthalten! (tg1 S. 787) 144) Ich werde einmal sagen müssen, warum ich für die 'flache' Experimentalpsychologie Interesse habe u warum ich keines für Freud, Klages, ja selbst für die Phänomenologie habe. (30, S 110: Psychologia phan- tastica) (tg1 S. 948) Wien, am 19. September 1936. Ulrich wollte sich nicht auf Psychoanalyse einlassen, in der Hoffnung, daß ihre großen Fehler u. ihre großen Verdienste der- einst von selbst zu einem Ausgleich führen werden. Freuds medizinische u. kulturphilosophische Gedan- ken hängen eng zusammen. Es ist nicht ohne Grund, daß Psychoanalyse zwei Hauptzeitschriften hat. (tg2 S. 1193) Die beiden erwähnten Zeitschriften wurden natürlich von Freud herausgegeben (siehe Anm. g in tg2 S. 1193) und hießen: (i) Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse. Öffentliches Organ der internationalen psychoanalytischen Vereinigung. Hgg. von Sigmund Freud, unter Mitwirkung von Karl Abraham. Wien: Internationaler psychoanalytischer Verlag 1913 (ii) Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse der Geisteswissenschaften. Hgg. von Sigmund Freud. Wien: H. Heller & Cie. 1912-1937 Auch Musils Prosastück Kann ein Pferd lachen (pr S. 482-483) und die 'Unfreundliche Betrachtung' Der bedrohte Ödipus (pr S. 528-530) weisen eindeutig auf Aversionen bezüglich Freud und dessen 'Lehre' hin. Im ersten Text widerlegt Musil höchstwahr- scheinlich in ironischer Weise einen Ausspruch Freuds ... denn das Tier kennt kein Lachen und Lächeln. Zwar ist es uns bis jetzt noch nicht gelungen, diese von Musil einem angesehenen Psy- chologen zugeschriebene Bemerkung auch tatsächlich im Werk Freuds nachzuweisen478, aber die Schlußpointe in Musils Text dürfte auf Freuds Abhandlungen Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten und damit verbundene Schriften hindeuten. Es heißt am Ende des Musilschen Textes: 478 Immerhin kann man bei Keller folgendes lesen: Da lob ich mir die ruhige Wahl eines stillen, sanften, abhängigen Weibchens, das uns nicht des Verstandes beraubt! Aber freilich, das sind meist solche, die rot werden, wenn sie küssen, aber nicht lachen! Zum Lachen braucht es immer ein wenig Geist; das Tier lacht nicht! Gottfried Keller Das Sinngedicht Stuttgart 1995, S. 195 2.2.7 Eine auf das Bedeutende gerichtete Gesinnung und beginnendes Gespräch darüber. / Gn. v. Stumm über die Genialität. / Genialität als Frage (48-50) _____________________________________________________________ 416 So schränkt sich der gelehrte Zweifel an der Fähig- keit des Tieres darauf ein, daß es nicht über Witze zu lachen vermag. Das aber ist dem Pferd nicht immer zu verübeln. (pr S. 483) Im zweiten Essay macht sich Musil generell über die Psycho- analyse und deren Ödipuskomplex lustig, meint aber damit ins- besondere Freud. Im letzten Teil seiner Ausführungen schreibt er mit bissiger Ironie: Denn soviel ich weiß, steht heute der vorhin erwähnte Ödipuskomplex mehr denn je im Mittelpunkt der Theorie; fast alle Erscheinungen werden auf ihn zu- rückgeführt, und ich befürchte, daß es nach ein bis zwei Menschenfolgen keinen Ödipus mehr geben wird! Man mache sich klar, daß er der Natur des klei- nen Menschen entspringt, der im Schoß der Mutter sein Vergnügen finden und auf den Vater, der ihn von dort verdrängt, eifersüchtig sein soll. ... Wenn ich mir die psychoanalytische Sehnsucht, embryonal zu ihm (den weiblichen Schoß) zurückzufinden, an den lau- fenden und crawlenden Mädchen- und Frauenkörpern vorzustellen versuche, die heute an der Reihe sind, so sehe ich, bei aller Anerkennung ihrer eigenartigen Schönheit, nicht ein, warum die nächste Generation nicht ebensogern in den Schoß des Vaters wird zu- rückwollen. Was aber dann? Werden wir statt des Ödipus einen Orestes bekom- men? Oder wird die Psychoanalyse ihre segensreiche Wirkung aufgeben müssen? (pr S. 530) Wagner-Egelhaaf führt dazu aus: Die Abwehr mütterlicher Ur- sprünglichkeit wird auch in einem kleinen Prosatext ... "Der be- drohte Ödipus" deutlich, in dem sich Musils ablehnende Haltung gegenüber der Psychoanalyse auf ironische, fast aggressive Wei- se ausspricht. Gleich zu Beginn qualifiziert er die Psychoanalyse als infantil, weil sie, genauso wie kleine Kinder Beschimpfungen aus Verlegenheit, bessere zu finden, mit "selbst" zurückgäben, jeden, der sich weigere, an die Psychoanalyse zu glauben, als eben psychoanalytischer Behandlung bedürftig erkläre. Auf sehr intellektuelle Weise und mit (zurück)schlagender Logik wird da- mit das Ansinnen analytischer Selbstbefragung abgewehrt, er- scheint die Psychoanalyse doch in der verkürzenden Darstellung Musils zudem als prototypisches Beispiel des indizierten (mo- no)kausalen, d. h. infantilen Denkens. Es sei, schreibt Musil, in der modernen Zeit schwer, an den Ödipuskomplex zu glauben.479 479 Martina Wagner-Egelhaaf "Wirklichkeitserinnerungen" S. 247-248 2.2.7.3 Psychoanalyse und Alltagsrelativität _____________________________________________________________ 417 Corino bemerkt mit Recht: Was man ... von Musil lernen kann, ist der Argwohn gegen Theorien mit Absolutheitsanspruch. Jeder wissenschaftliche, speziell jeder psychoanalytische Versuch muß sich seines hypothetischen Charakters bewußt sein.480 Der vorausgehende Kommentar Corinos zu Einzelheiten des Musilschen Ödipus-Essays läßt sich allerdings kaum verstehen. Er schreibt: Sehr scharfsinnig und ironisch moniert Musil die Immunisierungsstrategien der Psychoanalyse, die zum System perfektionierte "Retourkutsche" 481. Dann folgt ein Zitat aus dem Essay, welches sinnigerweise eine Fußnote enthält, in der genau der unmittelbar vor diesem Zitat liegende Text Musils erscheint, und zwar zusammen mit einem Text Freuds und der Bemerkung, daß im ersteren eine Anspielung auf den letzteren vorliege. Andererseits wird Musils wunderschöne ironische Benutzung des Freudschen Wortes von der "Retourkutsche" einfach unter- schlagen! Im Zusammenhang gelesen lauten die Texte von Freud und Musil folgendermaßen: Eine Reihe von Vorwürfen gegen andere Personen läßt eine Reihe von Selbstvorwürfen des gleichen In- halts vermuten. Man braucht nur jeden einzelnen Vorwurf auf die eigene Person des Redners zurückzu- wenden. Diese Art, sich gegen einen Selbstvorwurf zu verteidigen, indem man den gleichen Vorwurf gegen eine andere Person erhebt, hat etwas unleugbar Automatisches. Sie findet ihr Vorbild in den "Retour- kutschen" der Kinder, die unbedenklich zur Antwort geben: "Du bist der Lügner", wenn man sie der Lüge beschuldigt hat. Der Erwachsene würde im Bestreben nach Gegenbeschimpfung nach irgendeiner realen Blöße des Gegners ausschauen und nicht den Haupt- wert auf die Wiederholung des nämlichen Inhalts legen.482 ... daß man allen Personen, die vorgeben, daß sie nicht an die Unfehlbarkeit der Psychoanalyse glau- ben, sofort nachweist, daß sie ihre Ursachen dazu hätten, die natürlich wieder nur psychoanalytischer Natur seien. Es ist das ein schöner Beweis dafür, daß auch die wissenschaftlichen Methoden schon vor der Pubertät erworben werden. Erinnert die Heilkunde aber durch diesen Gebrauch der "Retourkutsche" an die herrliche alte Zeit der Postreisen, so tut sie das zwar unbewußt, doch beilei- 480 Corino Ödipus oder Orest S. 230 481 Corino Ödipus oder Orest S. 225 482 Sigmund Freud Bruchstück einer Hysterie - Analyse SA, Bd. VI, S. 111-112 2.2.7 Eine auf das Bedeutende gerichtete Gesinnung und beginnendes Gespräch darüber. / Gn. v. Stumm über die Genialität. / Genialität als Frage (48-50) _____________________________________________________________ 418 be nicht ohne tiefenpsychologischen Zusammenhang. Denn es ist eine ihrer größten Leistungen, daß sie inmitten des Zeitmangels der Gegenwart zu einer gemächlichen Verwendung der Zeit erzieht, geradezu einer sanften Verschwendung dieses flüchtigen Natur- produkts. Man weiß, sobald man sich in die Hände des Seelenverbesserers begeben hat, bloß, daß die Behandlung483 sicher einmal ein Ende haben wird, ... (pr S. 529) Corino führt seinen Kommentar folgendermaßen fort: Die Emanzipation der Frau, die Angleichung des weiblichen an den männlichen Habitus durch Beruf, Kleidung, Sport hat nicht, wie von Musil erwogen, zu einer Verdrängung des Ödipus-Komple- xes durch den Orestes-Komplex geführt. Dem ist zu entgegnen, daß erstens der hochironische Ton dieses betreffenden Text- stücks berücksichtigt werden muß, und zweitens im Prosastück lediglich davon gesprochen wird, es sei nicht einzusehen, warum es in der folgenden Generation nicht ebenso der Schoß des Vaters sein könne, in den man (frau) zurückwolle. Die offensichtliche Abneigung Musils gegenüber Freud und des- sen Lehre, die sicherlich auch in umgekehrter Richtung bestan- den haben wird, dürfte auch das scheinbare Rätsel lösen, vor welchem Corino zu stehen glaubte, als er schrieb: Es gehört zu den Rätseln der Geistesgeschichte, wie es möglich war, daß die psychoanalytische Gilde - Freud, Rank, Reik, um nur drei Namen zu nennen, die Musil selbst erwähnt - am "Törless", der im "Wiener Verlag" erschienen war, und am gesamten übrigen Werk vorbeiging. Ein unaufgeklärtes Tabu verbannte Musils Oeuvre, ein Arsenal einschlägiger Sujets, aus dem Gesichtskreis der Analyse484. In 'Wissenschaftlerkreisen' dürfte es zu den unge- schriebenen Regeln zählen, daß Nichterwähnung eine Form der Ablehnung und Geringschätzung bedeutet. Otto Rank und Theo- dor Reik waren natürlich Bewunderer und treue Gefolgsleute Freuds.485 In etwas verborgener Weise scheint die Aversion Musil - Freud auch aus dem Anfangstext des dmoe hervorzugehen, als im Zu- sammenhang mit Ulrichs 'Karriere' vom genialen Rennpferd die Rede ist. Der Text lautet: 483 Vergleiche dazu: M. Masud u. R. Kahn Erfahrungen im Möglichkeitsraum. Psy- choanalytische Wege zum verborgenen Selbst Frankfurt a. M. 1993, S. 133 484 Corino Ödipus oder Orest S. 152 485 Paul Roazen Sigmund Freud und sein Kreis. Eine biographische Geschichte der Psychoanalyse. G. H. Müller (Übers.), Titel der amerikanischen Originalausgabe: Freud And His Followers Herrsching 1976, S. 321 u. S. 380 ff 2.2.7.3 Psychoanalyse und Alltagsrelativität _____________________________________________________________ 419 Und eines Tages hörte Ulrich auch auf, eine Hoffnung sein zu wollen. Es hatte damals schon die Zeit begon- nen, wo man von Genies des Fußballrasens oder des Boxrings zu sprechen anhub, ... da las Ulrich irgend- wo ... das Wort "das geniale Rennpferd". Es stand in einem Bericht über einen aufsehenerregenden Renn- bahnerfolg, ... Ulrich aber begriff mit einemmal, in welchem unentrinnbaren Zusammenhang seine ganze Laufbahn mit diesem Genie der Rennpferde stehe. Denn das Pferd ist seit je das heilige Tier der Kaval- lerie gewesen, und in seiner Kasernenjugend hatte Ulrich kaum von anderem sprechen hören als von Pferden und Weibern und war dem entflohn, um ein bedeutender Mensch zu werden, und als er sich nun nach wechselvollen Anstrengungen der Höhe seiner Bestrebungen vielleicht hätte nahefühlen können, begrüßte ihn von dort das Pferd, das ihm zuvor- gekommen war. (S. 44) Diese plötzliche Erkenntnis Ulrichs, die ihn offensichtlich sehr betroffen macht, erfordert einige zusätzliche Erklärungen, die wir anhand der Ausführungen Honolds beibringen486. Der Text scheint eigentlich nur der Vorführung des wundersamen Ge- brauchs des Begriffes genial zu dienen, doch weist der unent- rinnbare Zusammenhang zwischen der Laufbahn Ulrichs und dem Genie der Rennpferde darüber hinaus. Die Suche nach auto- biographischen Motiven für das Bild des genialen Rennpferds kann helfen. Das Geschilderte läßt sich mit der Metaphorik des Umsattelns verknüpfen, wovon einige Seiten vorher die Rede ist. Die Rennpferd-Überlegung kann als eine Art Verarbeitung der Musilschen Karrierewünsche für das Gebiet der Psychologie gelesen werden. Durch die Zeitungsmeldung erfährt Ulrich, daß ihm gerade auf der Höhe seiner Bestrebungen das Pferd ... zu- vorgekommen war. Setzt man für das Pferd Sigmund Freud und für Ulrich Musil ein, so läßt sich die Enttäuschung Musils über das Zuvorkommen Freuds auf dem Gebiet der Psychoanalyse und vielleicht sogar sein Ausstieg aus diesem Berufsgebiet er- kennen, auf dem er selbst doch größte Ambitionen hegte. Ulrich sieht, daß es bei einem solchen Wettlauf letztlich keinen festen Sieger geben kann, daß Runde um Runde in wechselnden Ren- nen und mit wechselnden Reitern weitergerannt wird. Auch Mu- sils Desillusionierung durch die stark unterschiedliche und meist wenig positive Kritik seiner Werke dürfte hier durchscheinen (s. 486 Honold Die Stadt und der Krieg S. 374-382. Honold baut auf Arbeiten von Corino und Henninger auf, die von ihm auch nachgewiesen werden. 2.2.7 Eine auf das Bedeutende gerichtete Gesinnung und beginnendes Gespräch darüber. / Gn. v. Stumm über die Genialität. / Genialität als Frage (48-50) _____________________________________________________________ 420 auch Abschnitt 2.2.2.1 der vorliegenden Untersuchung). Daran anknüpfend schreibt Honold schließlich wörtlich: Beim Bild der Rennbahn respektive des Rundkurses, zu der im Roman das Pferd weniger aufgrund seiner artspezifischen Bedeutungs- merkmale als durch sein Auftreten im pragmatischen Zusammen- hang von Sport- und Wettveranstaltungen Anlaß gibt, ist die soziokulturelle Tradition circensischer Volksbelustigungen stets mitzudenken. ... Wie die Beteiligten merkt auch der Leser erst nach und nach, daß er sich in einem Zug befindet; die unheimliche Entdeckung besteht hier, analog zum "genialen Rennpferd", darin, daß jeder Versuch des Vorwärtskommens im Grunde sinnlos ist, da einer Illusion unterworfen. Die Wände bewegen sich mit, wie auch das Pferd Ulrich immer schon voraus war. Das Koordinatensystem, in dem Fortschritt noch meßbar wäre, ist selbst Teil der Gesamtbewegung geworden.487 Schlösse man unmittelbar daran an, was bisher über das Verhält- nis Musils zu Freud gesagt wurde, so könnte man Stumms Be- trachtungen über den 'genialen Psychologen' und Ulrichs Ergän- zungen einfach als Polemik gegen Freud lesen. Bei genauerem Studium erschließt sich der Text jedoch außerdem noch als zwar grobe, aber doch treffende Beschreibung dessen, was Freud in der Traumdeutung und der Psychopathologie des Alltagslebens bezüglich des 'Unbewußten' zusammengetragen hat. Eine sehr gute Zusammenfassung der theoretischen Grundlagen der Traumdeutung findet man bei Freud selbst, und zwar in der Ab- handlung Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten488. Es soll an dieser Stelle ein Auszug daraus vorgestellt werden, um damit die Verbindung zu den von Stumm und Ulrich geäußerten Bemerkungen zu verdeutlichen. An was wir uns aus einem Traum erinnern, nennt Freud den manifesten Trauminhalt. Dieser wirkt oft völlig verworren und kann mit logischen Mitteln allein nicht verstanden werden. Er geht aber hervor aus den durchaus verständlichen latenten Traumgedanken. Die Umwandlung der latenten Traumgedanken in den manifesten Trauminhalt geschieht durch die Traumarbeit. Innerhalb dieser Traumarbeit wird das am Tage gewobene Gedankennetz, das Unvollständigkeiten und Brüche enthält, ins Unbewußte verlegt und umgearbeitet, und zwar mit dem Ziel, eine gedankliche Weiterbeschäftigung mit diesen ungelösten Punkten zu verhindern und einen ruhigen Schlaf zu ermöglichen. 487 Honold Die Stadt und der Krieg S. 378 u. 382 488 Freud Psychologische Schriften. Die Beziehung des Witzes zum Traum und zum Unbewußten. SA, Bd. IV, S. 149-158 2.2.7.3 Psychoanalyse und Alltagsrelativität _____________________________________________________________ 421 Die weitgehend im Unbewußten ablaufende Traumarbeit bedient sich zwar des Rohmaterials der Traumgedanken, aber nicht der zwischen ihnen bestehenden Denkbeziehungen, um zu den ge- träumten Darstellungen (Bildern) zu kommen. Dabei erfährt das Material der Traumgedanken eine starke Verdichtung. Die Ver- dichtung entsteht aber nicht nur durch natürliches Zusammen- drängen, sondern auch durch zusätzliche künstliche Zusammen- ziehungen, beispielsweise aufgrund von Worten mit verschiede- nen Bedeutungen. Ein Traumelement entspricht dann sozusagen einem Kreuzungs- oder Knotenpunkt eines Traumgedankens. Eine weitere fundamentale Veränderung des Traumgedankenma- terials geschieht durch die Verschiebung. Dabei wird das, was in den Traumgedanken noch große Wichtigkeit hat, zur Nebensäch- lichkeit im manifesten Traum verschoben und umgekehrt. Einerseits bewirken Verdichtung und vor allem Verschiebung, daß einem später der manifeste Traum unverständlich und fremdartig erscheint, andererseits wird aber erreicht, die auf- grund der 'Eigenzensur' bestehende Hemmung in den Traumge- danken zu umgehen und den Traum in einen Wunschtraum um- zuändern. Ein im Unbewußten herrschender Wunsch (verdräng- ter Wunsch), der im Widerspruch zur (eigenen) 'Zensur' steht, kann durch Verschiebung leicht der Einschränkung durch diese 'Zensur' entgehen und erfüllt werden. Wie sich die latenten Traumgedanken rückwärts aus dem mani- festen Trauminhalt auffinden lassen, und welche Verdichtungen und Verschiebungen stattfanden, läßt sich mehreren Beispielen entnehmen, welche Freud in seiner Schrift Die Traumdeutung489 dargelegt und erklärt hat. Hier soll nicht weiter darauf eingegan- gen werden. Ähnliche Mechanismen der Einwirkung verdrängter Wünsche im Unbewußten herrschen nach Freud auch bei 'Alltagsfehlleistun- gen' vor, wie das Vergessen von Eigennamen, das Vergessen von Namen und Wortfolgen, das Versprechen, Verlesen und Ver- schreiben. Freud hat diese Analysen in seiner Abhandlung Zur Psychopathologie des Alltagslebens490 dargelegt. Freuds Untersuchungen des Einflusses des Unbewußten wurden später von seinem Schüler Jacques Lacan fortgeführt. Lacan be- tont in seinen Arbeiten, daß das Unbewußte ähnlich wie eine Sprache strukturiert sei. In seinem Aufsatz "Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud" kommentiert Lacan die wesentlichen Ergebnisse der Freudschen 489 Freud Die Traumdeutung. Das Traummaterial und die Traumquellen. Die Traumarbeit SA, Bd. II, S. 234-414 490 Sigmund Freud Zur Psychopathologie des Alltagslebens Frankfurt a. Main 1973 2.2.7 Eine auf das Bedeutende gerichtete Gesinnung und beginnendes Gespräch darüber. / Gn. v. Stumm über die Genialität. / Genialität als Frage (48-50) _____________________________________________________________ 422 'Traumdeutung' im Hinblick auf seine eigenen Forschungsergeb- nisse491. Der Inhalt des Aufsatzes ist von Meisel verständlich zusammengefaßt worden. Meisel will Musils Gebrauch von Me- tapher und Metonymie im Licht dieser Erkenntnisse Lacans se- hen. Er schreibt: Die Deckungsgleichheit der Prozesse von Ver- schiebung und Verdichtung mit der sprachlichen Struktur von Metapher und Metonymie ... wird fünfzig Jahre später Freuds schillerndster Schüler Jacques Lacan nachweisen. Lacan ver- knüpft die Rhetorik des Unbewußten mit den Beobachtungen Roman Jakobsons, dessen Untersuchungen aphasische Störun- gen Similaritäts- und Kontiguitätsbildungen als fundamentale Operationen herausstellen: die Similaritätsbildung als 'metapho- rischer Weg', die Kontiguitätsbildung als 'metonymischer Weg'. ... Wie Musil im Text insistiert auch Lacan in der Theorie gegen eine instinkthafte Naturalisierung des Unbewußten und bestimmt vielmehr, "daß das Unbewußte strukturiert ist wie eine Sprache". Zusammen fallen Unbewußtes und Sprache in der gleichen pa- radigmatischen Ordnung, der Ordnung der differentiellen Arti- kulation, die, Lacans Aufsatztitel weist buchstäblich darauf hin, kraft ihrer "Signifikantenstruktur" wirksam wird. Weil "Bezie- hungen des Signifikanten auf sich selbst gar nicht möglich sind, da es ja eine Eigenschaft des Signifikanten ist, sich selbst nicht signifizieren zu können", verknüpft die Sprache die für sich sinn- losen Elemente in einer Signifikantenkette. In deren Brüchen und Diskontinuitäten erscheint aber auch das immer wieder, was das Subjekt während des "Spiegelstadiums" 492 zu leugnen sucht: Mangel an Sein und die traumatische Erfahrung des zerstückel- ten Körpers. (Meisel, S. 34-35) Corino bezieht sich ebenfalls auf die Ausführungen Stumms über "ein ganz großes Genie" und schreibt: In dem Entwurf von ca. 1939/40 unterhält sich Ulrich mit General von Stumm über die Genialität. Der Offizier glaubt ohne weiteres definieren zu kön- nen, was Genie sei: (Es folgt das zu Anfang des Kapitels angeführte dmoe-Zitat493.) Im Roman steht dies aber etwas anders. Erstens begründet Stumm, warum er einiges über 'Genialität' sagen kann, und zwei- tens drückt er sich sehr vorsichtig aus, indem er den Satz mit "Ich glaube" beginnt: 491 Jacques Lacan Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud (1957). In: Theorie der Metapher, Anselm Haverkamp (Hg.), Darmstadt 1983, S. 175-215 492 Jacques Lacan Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion (1949). In: Schrif- ten I, Jacques Lacan Norbert Haas, (Hg.), Weinheim 1986, S. 62-70 493 Ödipus oder Orest, S.222-224 2.2.7.3 Psychoanalyse und Alltagsrelativität _____________________________________________________________ 423 "Bei deiner Kusine habe ich viel Gelegenheit gehabt, solche Leute kennen zu lernen, die man als Genies bezeichnet" erklärte Stumm nachdenklich und fuhr fort: "Ich glaube, daß ich dir sagen kann, was ein Genie ist: ..." (S. 1259) Corino kommentiert dann weiter: Musil klärt seine Einstellung zur Psychoanalyse mittels der von Freud entdeckten Methode, "sein Ich durch Selbstbeobachtung in Partial-Ichs zu zerspalten und demzufolge die Konfliktströmungen seines Seelenlebens in mehreren Helden zu personifizieren". Die plumpere Kritik wird dem dilettierenden, liebenswürdig bornierten Offizier in den Mund gelegt, die differenzierteren, freilich immer noch bloß phy- siognomischen Vorbehalte formuliert Ulrich, ... (Corino Ödipus oder Orest S. 224) So einfach sollte man es sich aber nicht machen. Da Corino nicht angibt, auf welche speziellen Aussagen im Text er sich bezieht, läßt sich auch nur eine allgemeine Widerlegung seiner Argumen- tation formulieren. Zunächst sei der betreffende Abschnitt aus Freuds Abhandlung Der Dichter und das Phantasieren494 in Form einer sehr kurzen Inhaltsangabe wiedergegeben. Der Text enthält neben Selbstverständlichkeiten495 hauptsächlich die fol- genden zwei Gedanken. In Fortsetzung des Spielens in der Kindheit beschäftigt sich der erwachsene Mensch zeitweise mit seinen Phantasien, ist sozusa- gen ein Tagträumer. Eine Phantasie umfaßt im wesentlichen drei Zeitstationen der Vorstellung. Ein aktueller Eindruck (Gegen- wart) löst zunächst ein Wunschdenken aus. Dabei wird an ein früheres Ereignis zurückerinnert, meist an ein Kindheitserlebnis (Vergangenheit), in welchem der Wunsch bereits erfüllt war. Schließlich entspringt daraus die Phantasie einer zukünftigen Wunscherfüllung, der eigentliche Tagtraum. Dieses Modell kann auf den Dichter als Tagträumer übertragen werden, der sich die Wunscherfüllung ersatzweise durch sein Dichtwerk beschafft. Das Werk enthält dann sowohl Elemente der Erinnerung als auch solche des aktuellen Ereignisses. In einem Nebengedanken, auf welchen Corino seine Behauptungen hauptsächlich stützt, macht Freud einige Bemerkungen über den 'psychologischen Roman': Noch in vielen der sogenannten psychologischen Romane ist mir aufgefallen, daß nur eine Person, 494 Freud Bildende Kunst und Literatur SA, Bd. X, S. 171-179 495 Z. B.: ... Wenn aber der Dichter uns seine Spiele vorspielt oder uns das erzählt, was wir für seine persönlichen Tagträume zu erklären geneigt sind, so empfinden wir hohe, wahrscheinlich aus vielen Quellen zusammenfließende Lust. Wie der Dichter das zustande bringt, das ist sein eigenstes Geheimnis; .. (Freud Der Dichter und das Phantasieren Bd. X, S. 179) 2.2.7 Eine auf das Bedeutende gerichtete Gesinnung und beginnendes Gespräch darüber. / Gn. v. Stumm über die Genialität. / Genialität als Frage (48-50) _____________________________________________________________ 424 wiederum der Held, von innen geschildert wird; in ihrer Seele sitzt gleichsam der Dichter und schaut die anderen Personen von außen an. Der psychologische Roman verdankt im ganzen wohl seine Besonderheit der Neigung des modernen Dichters, sein Ich durch Selbstbeobachtung in Partial-Ichs zu zerspalten und demzufolge die Konfliktströmungen seines Seelen- lebens in mehreren Helden zu personifizieren.496 Es erscheint jedoch erstens keineswegs klar, daß es sich beim dmoe-Roman um einen geradlinigen psychologischen Roman handelt, für den die Freudsche Charakterisierung gültig wäre. Zweitens ist der hier untersuchte Romantext mit einem feinen ironischen Unterton versehen, so daß es schwerfallen dürfte, die genannte Aufspaltung in Partial-Ichs überhaupt zu verifizieren. Drittens stellt der von Corino als dilettierender Offizier bezeich- nete Stumm seine Fachkenntnis ganz gut unter Beweis, wie vor- her gezeigt wurde. General Stumm gibt im Anschluß an seine Ausführungen zur Psychoanalyse noch ein zweites großes Beispiel dafür, daß ge- niale Wissenschaftler die Sache gewissermaßen auch verkehrt anfangen. Er meint Einsteins spezielle Relativitätstheorie: Da U. anscheinend noch immer nicht überzeugt war, und Stumm sich selbst noch nicht am Ziele fühlte, wiederholte er seine Beweisführung an der 'Relativi- tätstheorie' so, wie diese sich ihm darstellte: "Du hast doch gleich mir auf der Schule gelernt, daß alles, was sich bewegt, in 'Raum und Zeit' geschieht" war der Ausgangspunkt seines Denkens. "Aber wie steht es damit in der Praxis? Erlaube, daß ich etwas ganz Gewöhnliches sage: Du sollst mit der Tête deiner Eskadron497 um so und soviel Uhr an einem auf der Karte bestimmten Punkt gestellt sein. Oder du sollst deine Reiter aus einer Aufstellung auf Kommando in eine neue Front bringen, ... Es geschieht in Raum und Zeit; aber es gelingt nie ohne Zwischenfall und stimmt nie so, wie du es haben willst. ... Auch hat es mir schon in der Schule sozusagen immer widerstanden, ... eine mechanische Bewegung in Raum und Zeit aus- zurechnen. Darum habe ich es sofort als einen wirk- lich genialen Einfall begriffen, ... daß Raum und Zeit sehr relative Begriffe sind, die sich augenblicklich mitverändern, wenn ernsthaft Gebrauch von ihnen 496 Freud Der Dichter und das Phantasieren SA, Bd. X, S. 177 497 Eskadron = Schwadron: kleinste Taktische Einheit der Kavallerie, der Kompanie entsprechend 2.2.7.3 Psychoanalyse und Alltagsrelativität _____________________________________________________________ 425 gemacht wird, obwohl sie seit Erschaffung der Welt für das Festeste vom Festen gegolten haben. Deshalb ist dieser Mann, auch meiner Ansicht nach mit Recht, mindestens ebenso berühmt wie der andere. Aber auch von ihm kann man sagen, daß er das Pferd beim Schwanz aufgezäumt hat, was also, wenigstens heute, fast so etwas wie die fixe erste Idee eines Genies zu sein scheint! ... " schloß Stumm. (S. 1260-1261) Den Text kommentiert Honold in folgender Weise: die hier sati- risch beleuchteten Disziplinen relativieren auf durchaus unironi- sche Weise jene Wirklichkeit, die zuvor als verläßliche Realität galt ... Wenn die Zonen der wissenschaftlichen Ungewißheit dennoch als genialisch verbrämter Dilettantismus karikiert wer- den können, zeigt dies den Abstand zwischen avancierter Theorie und einer Lebenswelt, die an den demonstrierten Kategorien ob ihrer praktischen Nützlichkeit durchaus festhält. Musils Roman sucht, kontrastierend zum halbgebildeten Weitblick des Genera- listen Stumm, das Problem der Auflösung des Ich und raumzeit- lich verfaßter Gegenstandswelt in konkreten Wahrnehmungs- und Sozialverhältnissen auf. (Honold Die Stadt und der Krieg S. 146) Honold hält es offenbar für ganz überflüssig zu erklären, wovon in Stumms Ausführungen zur Relativitätstheorie implizit gespro- chen wird. Statt dessen sieht er Zonen der wissenschaftlichen Ungewißheit und die Karikatur des genialisch verbrämten Dilettantismus. Es erscheint deshalb notwendig, an dieser Stelle noch einige ergänzende Bemerkungen zu der bereits in Abschnitt 2.1.14.2 dieser Arbeit grundsätzlich erläuterten speziellen Relativitätstheorie anzufügen. Insbesondere auch deshalb, weil Musil ein sehr guter Kenner dieser Theorie gewesen ist, wie man Äußerungen im Nachlaß entnehmen kann. Es heißt dort z.B.: ... Im besonderen die Zeit: Schon für die ältere Kritik nur eine Variable. Ersetzbar durch andre Bestim- mungsstücke. Durch Lorentz Zeit u. Raum relativiert worden. Konsequenz aus der Vergeblichkeit in der klass. Mechanik absoluten Raum u. absolute Zeit physikalisch zu fixieren. Zunächst also aus Not eine Tugend gemacht. Dann durch Relativitätstheorie erweitert. Heute noch nicht ganz physikalisch geklärt und keineswegs philosophisch. (nl VII/11/166) Die neuartige Definition der Zeit-Koordinate durch einen Physi- ker wird von Stumms gesundem Menschenverstand als geniale Großtat angesehen und in ihren Auswirkungen richtig be- schrieben, dabei aber paradoxerweise gründlich mißverstanden. 2.2.7 Eine auf das Bedeutende gerichtete Gesinnung und beginnendes Gespräch darüber. / Gn. v. Stumm über die Genialität. / Genialität als Frage (48-50) _____________________________________________________________ 426 Einsteins Relativitätstheorie hat tatsächlich überhaupt keinen Einfluß auf die Belange von Raum und Zeit des Alltagslebens. Ausgehend von dem, was in Abschnitt 2.1.14.2 über die spezielle Relativitätstheorie (die allgemeine Relativitätstheorie kann in diesem Zusammenhang nicht gemeint sein) gesagt wur- de, gelten nach Einstein die relativistischen Lorentz-Einstein- Transformationsgleichungen für den Übergang von einem In- ertialsystem zu einem anderen. Diese Gleichungen enthalten in scharfem Gegensatz zu den klassischen Transformationsglei- chungen die Zeit ebenfalls als eine transformierbare Koordinate. Aber die neuen Transformationsgleichungen gewährleisten zu- gleich, daß sie sich für vernachlässigbar kleine Relativgeschwin- digkeiten der bewegten Bezugssysteme (im Vergleich zur Licht- geschwindigkeit) wieder in die alten Galileischen Transfor- mationsgleichungen überführen lassen498, und dadurch Raum und Zeit wieder als das Festeste vom Festen angesehen werden können, wie General Stumm sagt. Zur Veranschaulichung dessen, was in diesem Sinne unter 'ver- nachlässigbar kleinen Relativgeschwindigkeiten' zu verstehen sei, soll die folgende kleine Abschätzung dienen. Maßgeblich für die Unterschiede zwischen den beiden Transformationen (s. Abschnitt 2.1.14.2 der vorliegenden Arbeit) ist im wesentlichen der Quotient u/c, gebildet aus der Geschwindigkeit des bewegten Systems und der Lichtgeschwindigkeit (ca. 300000 km/s). Als Beispiel sei angenommen, daß man sich in einem Linienflugzeug befinde und mit einer heute noch unerreichbar hohen Geschwin- digkeit von 10000 km/h (ungefähr 3 km/s) relativ zum erdfesten System fliege. Es gilt dann überschlagsmäßig: u/c = 0,00001 . D.h. die beobachtbaren relativen Zeit- oder Längenunterschiede (s. Abschnitt 2.1.14.2) wären selbst für diesen extremen Fall sehr hoher Fluggeschwindigkeit nur von der Größenordnung eines Hunderttausendstels und könnten auch mit feinen Meßgeräten nicht nachgewiesen werden. Im Alltag gibt es infolgedessen kei- ne relativistischen Effekte, wie auch das folgende Zitat aus der Monographie von Lindsay und Margenau unterstreicht: The practical consequences of these results (diejenigen der spe- ziellen Relativitätstheorie), i.e., their possible application to or- dinary phenomena, are negligible, since the contraction can never be observed directly in any ordinary terrestrial measure- 498 In einer mathematischen Entwicklung läßt sich exakt zeigen, daß für sehr kleines u/c die Unterschiede zwischen beiden Transformationen verschwinden. 2.2.7.3 Psychoanalyse und Alltagsrelativität _____________________________________________________________ 427 ment and will play a role only in experiments in atomic and cos- mic domains. 499 Tatsächlich existiert unseres Wissens bisher noch kein direkter Nachweis der Zeitdilatation in bewegten Systemen. Robert Pohl überschätzte hier sicher das Potential der modernen Technik er- heblich, als er 1963 in diesem Zusammenhang schrieb: Trotzdem wird es nicht mehr lange dauern, bis man z.B. die Zeitdehnung auch mit technischen Hilfsmitteln (Quarzuhren in Raketen) nachweisen kann. (Pohl, Bd. 2, S. 245) Man beachte aber eines der neueren Experimente, in denen die Ganggeschwindigkeit modernster Atomuhren in einem gewöhn- lichen Verkehrsflugzeug, das einmal in östlicher und dann in westlicher Richtung die Erde umkreist, untersucht worden ist500. Atomuhren, wie z.B. die Caesium-Atomuhr, ermöglichen heute die genauste Zeitmessung mit einer außerordentlich kleinen Un- sicherheit von 10-10 % (bezogen auf die Sekunde). Allerdings wird eine Cäsium-Atomuhr durch eine Reihe größerer Apparatu- ren repräsentiert, in denen mit Maser-Technik (Maser: micro- wave amplification by stimulated emission of radiation) eine Caesiumatomstrahlung ganz bestimmter Frequenz emittiert wird, welche auf einen geeigneten Hohlraum abgestimmt ist. Die große Konstanz dieser Strahlungsfrequenz von etwa 10 GHz erlaubt schließlich die präzise Zeitmessung.501 Unter Einsatz von Atomuhren konnte der Einfluß der Relativ- geschwindigkeit auf die Ganggeschwindigkeit gemessen und da- durch die Zeitdilatation in annähernd direkter Weise nachgewie- sen werden. Erschwerend wirkt sich bei diesem Experiment aber aus, daß sich das Gravitationspotential im Flugzeug von dem auf der Erde unterscheidet, und dadurch eine zusätzliche Änderung der Ganggeschwindigkeit zu berücksichtigen ist. General Stumm kann sich also ganz entgegen seinen Befürch- tungen in allen praktischen Belangen auf die alten Begriffe von Raum und Zeit als das Festeste vom Festen verlassen. 499 Lindsay and Margenau, S. 341 500 Bergmann - Schaefer, Bd. 3, Berlin 1993, S. 1165 501 Vogel, S. 617; Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 57-58 2.2.8 Agathe stößt zu ihrem Mißvergnügen auf einen geschichtlichen Abriß der Gefühlspsychologie (52) _____________________________________________________________ 428 2.2.8 Agathe stößt zu ihrem Mißvergnügen auf einen geschichtlichen Abriß der Gefühlspsychologie (52) 2.2.8.1 Analyse der Gefühle, der Hang zur Einfachheit, DNA-Doppelhelix Ulrichs Zwillingsschwester Agathe liest heimlich in ihres Bru- ders Aufzeichnungen und stellt fest, daß er eine längere Abhand- lung über die Psychologie der Gefühle geschrieben hat. In dieser Untersuchung erachtet Ulrich alle bisherigen Betrachtungswei- sen als unzulänglich und empfiehlt, sie durch neue, genauere zu ersetzen. Er ist vor allem mit der Darstellungsweise der älteren Lehrbücher nicht zufrieden. Das drückt sich in dem entsprechen- den Text seiner Aufzeichnungen folgendermaßen aus: " ... Betont oder leise wird dabei meist auch voraus- gesetzt, daß alle menschlichen Handlungen Trieb- handlungen seien, oder Verbindungen zwischen sol- chen, und alle unsere Gefühle, Affekte oder Teile oder Zusammensetzungen von Affekten. Ich habe heute mehrere Lehrbücher der medizinischen Psychologie durchblättert, um mein Gedächtnis aufzufrischen, aber in ihrer aller Sachverzeichnissen ist das Wort Gefühl auch nicht ein einzigesmal vorgekommen, und es ist wahrhaftig keine geringe Eigenheit einer Ge- fühlspsychologie, wenn in ihr keine Gefühle vorkom- men!" (S. 1143-1144) Aber auch die moderne Psychoanalyse erscheint Ulrich - milde ausgedrückt - nicht in der Form, wie er selbst sie sich wünschen würde. Es heißt an zwei verschieden Stellen des dmoe-Kapitels: Soviel Agathe sehen konnte, hatte er die Psychoanaly- se dabei außer Betracht gelassen, und sie wunderte sich anfangs darüber, denn wie alle literarisch ange- regten Menschen hatte sie mehr von ihr sprechen hö- ren als von der übrigen Psychologie; aber Ulrich sag- te, er ließe sie nicht deshalb beiseite, weil er die Ver- dienste dieser bedeutenden Theorie nicht anerkenne, die voll neuer Begriffe wäre und als erste vieles zu er- fassen gelehrt habe, was durch alle vorangegangene Zeit gesetzlose Privaterfahrung gewesen sei, sondern es hänge damit zusammen, daß gerade bei dem, was er vorhabe, ihre Eigenart nicht so zur Geltung kom- me, wie es ihres immerhin auch sehr anspruchsvollen Selbstbewußtseins würdig wäre. (S. 1138-1139) 2.2.8.1 Analyse der Gefühle, der Hang zur Einfachheit, DNA-Doppelhelix _____________________________________________________________ 429 " ... Ich habe eine Darstellung vor mir gehabt, worin die 'Triebgruppen' der Nahrungsaufnahme, der Sexu- alität und des Schutzes vor Gefahr unterschieden worden sind; eine andere, die ich mit ihr verglich, hat einen Lebenstrieb, einen Geltungstrieb und fünf ande- re aufgeführt; die Psychoanalyse, die nebenbei wohl auch als eine Triebpsychologie bezeichnet werden darf, schien lange Zeit nur einen einzigen Trieb zu kennen; ... " (S. 1145) Nimmt man Ulrichs Feststellungen über die Psychoanalyse wört- lich, so scheint er ihr doch einiges zugestehen zu wollen. Ande- rerseits lassen sich alle seine Bemerkungen auch ironisch lesen und zeigen dann eine gewisse Geringschätzung der Freudschen Psychoanalyse an (... wie es ihres ... sehr anspruchvollen Selbst- bewußtseins würdig wäre. ... schien lange Zeit nur einen einzi- gen Trieb zu kennen;). Dies mag als weiterer Beleg dafür gelten, was über die Aversion Musil - Freud schon im Abschnitt 2.2.7.3 gesagt wurde. Von Interesse sind Ulrichs nachfolgende Ausführungen über die menschliche Grundeinstellung, Phänomene der Natur und des menschlichen Lebens so einfach wie möglich erklären zu wollen: "Woran liegt der Reiz, die besondere Versuchung für den Geist, ... die Welt der Gefühle auf Lust und Unlust oder auf die einfachsten physiologischen Vorgänge zurückführen zu müssen? Warum billigt er einem psy- chologischen Etwas umso mehr Erklärungswert zu, je einfacher es ist? Warum einem physiologisch-chemi- schen noch mehr als einem psychologischen, und schließlich der Zurückführung auf die Bewegung phy- sikalischer Atome den allermeisten? Es geschieht ... eher halbbewußt, aber auf irgendeine Weise ist dieses Vorurteil gewöhnlich wirksam. Worauf beruht also dieser Glaube, daß das Geheimnis der Natur einfach sein müsse? ... Die Zerlegung des Zusammengesetzten in das Einfache und Kleine ist im Alltag eine durch nützliche Erfahrung gerechtfertigte Gewohnheit; ...(dieser Glaube) lehrt uns, daß man ein Ding besser versteht, nachdem man es zerlegt und wieder zusam- mengeschraubt hat. Die Wissenschaft bedient sich da- gegen der Vereinfachung eigentlich nur als einer Zwi- schenstufe; ... Denn am Ende führt sie nicht das Zu- sammengesetzte auf das Einfache zurück, sondern das Besondere des einzelnen Falls auf die allgemein gül- tigen Gesetze, die ihr Ziel sind, und die sind nicht so- wohl einfach als vielmehr allgemein und zusammen- fassend. Sie vereinfachen die Mannigfaltigkeit des 2.2.8 Agathe stößt zu ihrem Mißvergnügen auf einen geschichtlichen Abriß der Gefühlspsychologie (52) _____________________________________________________________ 430 Geschehens erst durch ihre Anwendung, also in zwei- ter Hand. (S. 1145-1146) Die im ersten Teil des Textes erwähnten Stufen der psychologi- schen, physiologisch-chemischen und der atomaren Vorgänge erfordern zusätzliche Erläuterungen. Oft erleichtert man sich die Untersuchung komplex erscheinen- der psychologischer Vorgänge dadurch, daß sie teilweise auf solche zurückgeführt werden können, die man bereits kennt bzw. deren Gesetze man aus anderen 'einfacheren' Studien kennen gelernt hat. Man versucht also z.B. die Rückführung zunächst auf physiologische Vorgänge, dann auf biochemische, danach auf physikalisch-chemische und schließlich auf physikalische. Auf jeder dieser Stufen lassen sich gewisse Schlußfolgerungen und Gesetze anwenden, die man schon aufgrund anderer Zusam- menhänge aufgestellt hat. So läßt sich im Idealfall das neue und sehr kompliziert erscheinende Geschehen am Ende auf ein solches reduzieren, für das die allgemeinen Gesetze der Physik gelten. Aber der unbewußt wirkende Aberglaube des Menschen, daß es in dieser Kette tatsächlich einen letzten 'einfachen' Vorgang, ein letztes 'einfaches' Gesetz, eine letzte leicht einsehbare Erklärung geben müsse, aus der schließlich jegliches weitere Verständnis fließen könne, wird von Musil abgewiesen. Heute offenbart sich überall, daß ein solcher Glaube in der Tat nur eine Art Hoffnung sein kann. Ein Beispiel par excellence stellt die unaufhörliche Suche nach dem 'elementarsten' Elementarteilchen in der Kern- physik dar. Am scheinbaren Ende dieser Suche wird stets ein neues kleinstes Aufbauteilchen oder eine Klasse solcher Teil- chen beobachtet (s. Abb. 65, S. 304). Daran anknüpfend dürfte auch die Frage angeschnitten sein, ob das Menschenleben dadurch zu begreifen sei, daß man es auf die molekularen genetischen Gesetzmäßigkeiten zurückführt, nach welchen die Verschränkung von DNS-Riesenmolekülen verläuft. In den Zellen aller Lebewesen ist genetische Information über deren Grundbauplan auf einem wendeltreppenartig strukturierten Makromolekül, der Deoxyribonucleinsäure (DNS; englisch: DNA) gespeichert. Ein solches Makromolekül umfaßt eine Kette von vielen tausend, oft Millionen molekularen Bausteinen, den Nucleotiden. Die Nucleotide bestehen ihrerseits im wesentlichen aus einem Zuckeranteil (Deoxyribose), einer bestimmten Base (entweder Purinbase oder Pyrimidinbase) und einem sog. Phos- phat-Rest. Die Struktur dieser DNS-Fäden kann durch die be- rühmt gewordene Doppelhelix charakterisiert werden, in der je- 2.2.8.1 Analyse der Gefühle, der Hang zur Einfachheit, DNA-Doppelhelix _____________________________________________________________ 431 weils zwei DNS-Einzelstränge gegeneinander laufen. Die fol- gende Abbildung 87 enthält drei verschiedene Schemata zur Charakterisierung dieser Doppelhelixstruktur502: Abbildung 87 Schematische Darstellung der Doppelhe- lixstruktur der DNS auf drei verschiedene Weisen. Zum elementaren Verständnis kann man sich zunächst auf das unter b gezeigte Schema konzentrieren. Hier wird die Doppelhelix als Doppelspirale aus zwei Bändern gezeigt, die wie in einer Wendeltreppe durch Stufen miteinander verbunden sind. Die Bänder stellen das Rückgrat der DNS- Kette dar und lassen sich chemisch mit dem Zucker- Phosphat-Anteil der zusammengesetzten (polymerisierten) Nucleotide identifizieren. Die nach innen gerichteten Ba- sen bilden die Stufen der Wendeltreppe aus, und zwar da- durch, daß jeweils gegenüberliegende Basen (man spricht von Basen-Paarung) durch eine sog. Wasserstoff-Brücken- Bindung fest verknüpft werden. Es kommen aus chemi- schen Gründen nur die Basen-Paarungen Adenin-Thymin (A-T) und Guanin-Cytosin (G-C) vor. Dies läßt sich besser aus dem linken Schema der Darstellung entnehmen, in welchem die entsprechenden Buchstabenkombinationen zu finden sind. Die beiden Basenstränge verlaufen komple- mentär, wie das linke Schema zeigt. Kennt man also die Anordnung der Nucleotide eines Stranges, so kann man 502 Siehe: Knippers, S. 15 ff. Vergleiche auch: Roberts, Stewart, Caserio, S. 474-487 oder Bergmann-Schaefer, Bd. 7, S. 629-693 2.2.8 Agathe stößt zu ihrem Mißvergnügen auf einen geschichtlichen Abriß der Gefühlspsychologie (52) _____________________________________________________________ 432 unmittelbar auf die des gegenüberliegenden schließen. Hät- te ersterer beispielsweise die Sequenz ACCGTAT, so müß- te der Komplementärstrang TGGCATA haben. Das Sche- ma c ähnelt b, allerdings sind in c zusätzlich die tatsächlich an der DNS beteiligten Moleküle als Kugeln eingezeichnet. Die Größenunterschiede zwischen diesen Kugeln entspre- chen etwa denjenigen der Moleküle. Die eingezeichneten Pfeile weisen auf die Antiparallelität der Stränge hin; die in nm angegebenen Längen (1 nm = 10-9 m) sollen die mikro- skopische Größenordnung der Ausdehnung dieses Riesen- moleküls vermitteln. Knippers, S. 18-20 Zur Herstellung zelleigener Proteine, also der charakteristischen, aus Aminosäuren aufgebauten, langkettigen Moleküle, bedarf es der Baupläne, welche diese DNS-Makromoleküle in Form der Gene zur Verfügung stellen. Eine schematische Darstellung der Struktur des grundlegenden Bausteins der Proteine zeigt die fol- gende Abbildung 88: Abbildung 88 Schema der generellen Struktur einer Aminosäure. Das zentrale C-Atom, als sog. -C-Atom be- zeichnet, trägt entsprechend seiner 4-Wertigkeit 4 Substi- tuenten: die Aminogruppe, ein Wasserstoffatom, eine Säu- regruppe (Carboxygruppe) und die Seitengruppe (Seiten- kette), hier als rote Kugel angedeutet. Die 20 verschiede- nen, im Protein vorkommenden Aminosäuren unterschei- den sich durch die Art dieser Seitenkette. Knippers, S. 2-7 Die Sequenz (lineare Folge) der genannten Nucleotide in der DNS bestimmt dann die Sequenz der Aminosäuren im Protein. Als Gen bezeichnet man einen DNS-Abschnitt, der die gesamte Information zur Synthese eines Proteins trägt. Wir sahen bereits, daß vier verschiedene Nucleotide der DNS zur genetischen Co- dierung zur Verfügung stehen. Da es aber 20 verschiedene Ami- nosäuren im Protein gibt, muß zur Codierung einer Aminosäure eine bestimmte Folge von Nucleotiden verwendet werden. Tat- 2.2.8.1 Analyse der Gefühle, der Hang zur Einfachheit, DNA-Doppelhelix _____________________________________________________________ 433 sächlich wird eine Aminosäure durch eine Dreierfolge von Nucleotiden codiert. Aus den 4 unterschiedlichen Nucleotiden lassen sich 43 = 64 solcher Dreierfolgen bilden. Folglich stehen sogar mehrere Kombinationen für die einzelne Aminosäure zur Verfügung. Man weiß, daß insgesamt 61 dieser Dreierkombina- tionen eine Funktion für die Codierung der Aminosäuren haben. Die Dreierkombinationen werden die genetischen Codewörter genannt. Sie sind universeller Natur und gelten für alle auf der Erde lebenden Organismen (siehe Knippers, S. 74-80). Aus aktuellem Anlaß der 'Entschlüsselung' des menschlichen Genoms (Bestimmung der Zahl der Basenpaare), sollen hier die Zusammenhänge zwischen DNS, Gen, Genom und Chromosom gesondert dargestellt werden. Als Gen wird, wie oben bereits erwähnt, ein DNS-Abschnitt be- zeichnet, der die Information für die Herstellung eines Proteins trägt. Die Gesamtzahl der Gene eines Organismus wird Genom genannt. Chromosomen sind dicht gepackte Komplexe aus DNS und Protein, wobei jedes Chromosom ein DNS-Molekül enthält. Der Mensch hat 23 Chromosome, die Maus 20. Nun gilt zwar, daß die Zahl der Gene proportional mit der Größe der DNS an- wächst, aber im Gegensatz zu den Viren, deren Gene wahr- scheinlich unmittelbar hintereinandergereiht sind, liegen zwi- schen den Genen der Säugetiere503 lange Abschnitte von DNS, die keine Information zum Aufbau von Proteinen tragen. Des- halb sind auch die DNS-Moleküle in den Zellkernen der Säuge- tiere viel länger als man aufgrund der Schätzungen der Zahl der Gene erwarten würde. Mit Hilfe der modernen Gentechnik hat man inzwischen gute Kenntnisse von Größe und Aufbau des Ge- noms bei Säugetieren erhalten. Trotzdem bleiben die Abschät- zungen von Genanzahlen bisher noch unsicher. Es wird ange- nommen, daß etwa 5% - 10% des Säugetiergenoms für Gene reserviert ist, daß also das Genom für Mensch oder Maus nur zwischen 0,5x105 und 105 Genen enthält504, obwohl das gesamte haploide Genom 3x109 Basenpaare (s. Legende zu Abb. 87, S. 431) umfaßt. Gene haben aber eine äußerst unterschiedliche Größe und Struktur. Während die kleinsten lediglich aus 100 - 400 Basenpaaren bestehen, können die größten über 106 Paare 503 In der Molekularbiologie wird zwischen Prokaryoten und Eukaryoten unter- schieden. Zu den ersteren gehören Bakterien und blaugrüne Algen, zu den letzteren alle Tiere, Pflanzen, Pilze, Hefen und bestimmte Einzeller. Vergleiche hierzu: Knippers, S. 31 504 Knippers, S. 29-32; vergleiche auch: Friedrich Cramer Genom In: Vom Men- schen. Handbuch Historische Anthropologie Christoph Wulf (Hg.), Weinheim 1997, S. 417-424 2.2.8 Agathe stößt zu ihrem Mißvergnügen auf einen geschichtlichen Abriß der Gefühlspsychologie (52) _____________________________________________________________ 434 enthalten. Sie sind außerdem ganz unregelmäßig im gesamten Genom verteilt, so daß ihre Lokalisierung eine schwierige Auf- gabe für den Genetiker darstellt. Eine Methode der Vermessung eines Genoms besteht z.B. in der Aufstellung von Genkarten505. Für die Taufliege findet sich eine 'vereinfachte' Genkarte in Ab- bildung 37, S. 137 dieser Arbeit. Eine genaue Antwort auf die Frage nach der Zahl der menschli- chen Gene kann erst dann gegeben werden, wenn die gesamte Nukleotid-Sequenz des menschlichen Genoms bestimmt ist. Das ist bisher nicht geschehen. In letzter Zeit sind aber große An- strengungen unternommen worden, vor allem auch innerhalb des Human-Genom-Projektes, das Genom des Menschen vollständig zu vermessen. Mit den heutigen sehr ausgefeilten Untersu- chungstechniken können fast täglich weitere Gene lokalisiert werden, so daß das Ziel des Projektes wahrscheinlich in naher Zukunft erreicht sein wird. Genetische Information wird von Zelle zu Zelle und von Genera- tion zu Generation weitergereicht. Grundlage dieses Prozesses ist die Replikation von DNS. Aufgrund der Doppelhelixstruktur der DNS kann die Replikation auf relativ einfache Weise bewerk- stelligt werden. Die nächste Abbildung 89 und ihre Legende zei- gen und erklären diesen Verdoppelungsvorgang: Abbildung 89 Schematische Darstellung des Replikati- onsverfahrens der DNS. Zunächst entwinden und trennen sich die beiden Stränge der elterlichen DNS, dadurch ent- steht eine Y-Form mit dem doppelsträngigen DNS-Stamm und den verzweigten, einzelsträngigen DNS-Ästen. Auf- grund der strengen Komplementarität der Stränge in der 505 Knippers, S. 420-445 2.2.8.2 Grundelement und Atomismus: Mach und Wittgenstein _____________________________________________________________ 435 Doppelhelix können nun die Einzelstränge als Vorlage für Aufbau und Einflechtung eines neuen komplementären Astes zur Herstellung der neuen Doppelhelix dienen. Es entstehen wieder zwei identisch strukturierte Doppelspira- len als Nachkommen, welche jeweils einen elterlichen und einen neu synthetisierten Anteil haben. Man nennt diese Erzeugung von DNS-Doppelspiralen auch semikonservati- ve DNS-Replikation. Knippers, S. 162 ff Versteht man also das Leben schon, wenn man es im Musilschen Sinne der Vereinfachung auf den 'genetischen Fingerabdruck' zurückführen kann? Es scheint sich ähnlich zu verhalten wie das Erfassen des Himmelblaus. Durch die 'einfache' Feststellung, es sei das Streulicht der Sonne in einem bestimmten Wellenlängen- bereich von soundsoviel Mikrometern ist es eben nicht zu er- gründen (s. Abschnitt 2.1.2.4). 2.2.8.2 Grundelement und Atomismus: Mach und Wittgenstein Die zu Beginn des Abschnitts zitierten Aufzeichnungen Ulrichs über 'Gefühlspsychologie' berühren aber auch die Auseinander- setzung mit der Machschen Elementen-Lehre, die Musil in seiner Dissertation diskutiert. Mach möchte aufgrund seiner Vereinfa- chung auf 'Elemente' keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Psychischem und Physischem zulassen, wie aus These 5 der in Abschnitt 2.1.9.3 dieser Arbeit aufgeführten Thesen Machs hervorgeht. Musil erklärt in seiner Dissertation die Sichtweise Machs, wie folgt: ...Nun sieht Mach als die psychischen Grund- Elemente, in deren funktionaler Abhängigkeit von- einander das wissenschaftliche Bild des Seelenlebens erfaßt wird, die Empfindungen an. Empfindungen waren aber auch die Elemente des physischen Ge- schehens: also zeigt sich, daß Physik und Psycholo- gie ein und dasselbe Objekt haben. Das überhaupt Gegebene sind somit Elemente in mannigfachen Zusammenhängen; indem man auf be- stimmte dieser Zusammenhänge achtet, treibt man Physik, indem man auf andere achtet, Psychologie, ... Auf diesem Punkte hört für eine zu voller geistiger Freiheit gelangte und kritisch scharfe Methodologie der Dualismus auf, als Problem zu existieren, und alle seine Schwierigkeiten erweisen sich als Folgen des unberechtigten Festhaltens an einer primitiven, überholten Fragestellung. (dr S. 8-9) 2.2.8 Agathe stößt zu ihrem Mißvergnügen auf einen geschichtlichen Abriß der Gefühlspsychologie (52) _____________________________________________________________ 436 Musil wendet sich aber entschieden gegen die Machsche Verein- heitlichung von Physik und Psychologie, zumal er die Psycholo- gie als eine in den Anfängen befindliche Wissenschaft ansieht506. Es heißt deshalb am Schluß seiner Dissertation: Es fragt sich nun, ob der phänomenale Dualismus wirklich, wie Mach meint, dem positiv Gegebenen nur so äußerlich angeheftet ist, oder ob er nicht doch notwendig darin liegt? ... die Elemente A B .., von de- nen Mach spricht, sind immer an das Vorhandensein von K L M .. gebunden, denn wo es beispielsweise keine Netzhaut gibt, dort gibt es auch keine Farbe, oder diese Farbe dürfte kein Machsches Element, müßte etwas hinter dem Inhalt sein. Würde man dann Elemente A B .. in Abhängigkeit von D E .. untersu- chen, so dürfte man also nicht von K L M .. abstrahie- ren, jede physikalische Untersuchung bliebe eine psy- chologische. ... Unterschiede in der Art der Ver- knüpfung aber führen, da sie ja doch nur so weit in Betracht kommen als sie gesetzlich sind, auf eine verschiedene gesetzliche Struktur der Gebiete des Psychischen und des Physischen und ... zu einer Tren- nung beider, oder aber sie werden ignoriert ... (dr S. 118-120) Die vorher zitierten Aufzeichnungen Ulrichs im dmoe dürften des weiteren auch eine Kritik an Wittgensteins logischem Ato- mismus enthalten. Wittgenstein behauptet in seinem Vorwort zum Tractatus logico-philosophicus sehr anspruchsvoll, die phi- losophischen Probleme im wesentlichen gelöst zu haben. Er schreibt: Dagegen scheint mir die Wahrheit der hier mitgeteil- ten Gedanken unantastbar und definitiv. Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben. Und wenn ich mich hierin nicht irre, so besteht nun der Wert dieser Arbeit zweitens darin, daß sie zeigt, wie wenig damit getan ist, daß diese Probleme gelöst sind.507 Sein logischer Atomismus, den er von Russell in verfeinerter Form übernahm, ruht auf den im folgenden zusammengetrage- nen Feststellungen: 506 Im Nachlaß spricht er von einer mit sich selbst noch nicht einig gewordenen Wissenschaft. (nl II/6/104) 507 Ludwig Wittgenstein Tractatus logico-philosophicus WA, Bd. 1, Frankfurt a. Main 1989, S. 10 2.2.8.2 Grundelement und Atomismus: Mach und Wittgenstein _____________________________________________________________ 437 2.02 Der Gegenstand ist einfach. 2.0201 Jede Aussage über Komplexe läßt sich in eine Aussa- ge über deren Bestandteile und in diejenigen Sätze zerlegen, welche die Komplexe vollständig beschrei- ben. 2.021 Die Gegenstände bilden die Substanz der Welt. Dar- um können sie nicht zusammengesetzt sein.508 14. 6. 15. ... Es scheint, daß die Idee des EINFACHEN in der des Komplexen und in der Idee der Analyse bereits enthalten liegt, so zwar, daß wir ganz absehend von irgendwelchen Beispielen einfacher Gegenstände oder von Sätzen, in welchen von solchen die Rede ist, zu dieser Idee kommen und die Existenz der einfachen Gegenstände als eine logische Notwendigkeit - a priori - einsehen. 17. 6. 15. ... Gegen eine unendliche Zerlegbarkeit scheint auch nichts zu sprechen. Und immer wieder drängt es sich uns auf, daß es etwas Einfaches, Unzerlegbares gibt, ein Element des Seins, kurz ein Ding. ... 18. 6. 15. Ist die Zusammengesetztheit eines Gegenstandes für den Sinn eines Satzes bestimmend, dann muß sie so- weit im Satze abgebildet sein, als sie seinen Sinn be- stimmt. Und soweit die Zusammensetzung für diesen Sinn nicht bestimmend ist, soweit sind die Gegenstän- de dieses Satzes einfach. Sie können nicht weiter zer- legt werden.509 Wittgenstein hat sich allerdings später vom logischen Atomis- mus distanziert. 510 508 Wittgenstein Tractatus logico-philosophicus WA, Bd. 1, S. 13 509 Wittgenstein Tagebücher 1914-1916 WA, Bd. 1, S. 153; S. 155; S. 157 510 Vergleiche dazu: Peter Kunzmann, Franz-Peter Burkard, Franz Wiedmann dtv- Atlas zur Philosophie. Tafeln und Texte München 1991, S. 212-219. 2.2.9 Der Tugut singt (56) _____________________________________________________________ 438 2.2.9 Der Tugut singt (56) 2.2.9.1 Reformpädagoge Lindner Der Reformpädagoge Professor August Lindner ist mit Agathe bekannt geworden, die ihn nun mehrmals zuhause besucht. Die rosigen Vorstellungen, welche sich Lindner von Agathes Ver- hältnis zu ihm macht, werden vom Erzähler schon fast satirisch überzeichnend folgendermaßen geschildert: Er hatte eine Seele gefunden, die von verwirrendem Reichtum war, die er zu retten bemüht war, und die den Eindruck hervorrief, sich ihm anzuvertrauen; und welchen Mann entzückte es nicht, ein kaum noch er- wartetes weibliches Geschöpf zu finden, daß er nach seinem Sinn erziehen könnte! ... Denn er hielt Agathe für ein edles Wesen, wenn auch für eine "Evatochter" voll böser Unruhe. ... Es war ihm innerlich geworden, daß Agathe die verwerfliche Gewohnheit besaß, ihn mehr, als es je ein anderer Mensch zuwege gebracht hätte, in den Glauben zu versetzen, sie vermöchte sei- ne erhabensten und seine geheimsten Gefühle zu tei- len, ja sie warte in ihrer bedrängten eigenen Lage so- gar auf eine besondere Anstrengung von deren Seite, um ihn dann, wenn er die Schätze seines Inneren preisgab, höhnisch zu beleidigen. Sie beflügelte ihn! ... Er irrte sich bestimmt nicht, wenn er annahm, daß man mit solcher Teilnahme nur nach einem Leben fragt, das zu teilen man sich angezogen fühlt; ... (S. 1175, S. 1179, S. 1181) Lindners eigener Werdegang wird gleichzeitig bis ins letzte psy- chologische Detail und mit der für eine Art spinnerten Gelehrten notwendigen Herablassung beschrieben. Honold kommentiert dazu: ... (die) Untersuchung ... zeigt soziale Protagonisten, wie sie in den Gelehrtensatiren des 'Mannes ohne Eigenschaften' , von deren spezifisch kakanischen Zügen abgesehen, durchaus wiederzufinden sind. So gab Musil in den Figuren Hagauer und Lindner eine ironisch gezeichnete Darstellung der reform- pädagogischen Konzepte Georg Kerschensteiners und Friedrich Wilhelm Foersters. Exzerpte aus ihren Schriften wurden in die Charakterisierung der beiden Figuren integriert und im Falle von Kerschensteiners 1914 erschienenen Abhandlung 'Wesen und Wert des naturwissenschaftlichen Unterrichts' in die Person Hagauers wörtlich übernommen. (Honold Die Stadt und der Krieg S. 214) 2.2.9.2 Petroleumlampe u. schwarzer Körper _____________________________________________________________ 439 2.2.9.2 Petroleumlampe u. schwarzer Körper Schließlich wird Lindners Lebenslauf mit dem gesellschaftlichen Fortschritt um die Jahrhundertwende verknüpft. Musil erläutert dazu in seinen Tagebüchern: Ich will ein Weltbild, den wirklichen Hintergrund um davor meine Unwirklichkeit zu entwickeln. Ich be- trachte das Leben seit 1880, den entscheidenden Zeit- raum für die Leute zwischen 20 und 60. Ölbeleuchtung u Talgkerze eben verlassen, Petro- leum, Gas, Elektrizität, Auerlicht, Weiterentwicklung der elektrischen Beleuchtung. Hochrad, Niederrad, Motocycle und Automobil. Flugmaschine, Röntgenstrahlen, Anästhesie. Unterseeboot. Zugverkehr im Jahre 1880 und im Jahre 1914. Spei- se- und Schlafwagen. (tg1 S. 528) Im Roman liest man folgendes: ... Denn angenommen, daß jemand 1871, in dem Jah- re der Geburt Deutschlands, auf die Welt gekommen sei, so hätte er schon mit einigen dreißig Jahren ge- wahren können, daß sich während seines Daseins die Länge der Eisenbahnen in Europa verdreifacht und auf der ganzen Erde mehr als viermal vergrößert ha- be, der Postverkehr sich auf das dreifache ausge- dehnt, die Telegrafenlinien es sogar auf das sieben- fache getan hätten; und auch vieles andere hatte sich in demselben Sinne entwickelt. Der Wirkungsgrad der Kraftmaschinen war von 50 auf 90 v. H. gesteigert worden; die Petroleumlampe war in dieser Zeit der Reihe nach durch Gasbeleuchtung, Auerlicht und Elektrizität, die immer neue Beleuchtungsarten her- vorbringt, ersetzt worden; das Pferdegespann, das jahrtausendelang seinen Platz gehalten hatte, durch die Kraftwagen; und die Flugmaschinen waren nicht nur in die Welt getreten, sondern auch schon aus den Kinderschuhen. ... Der Mensch, der das miterlebte, konnte wohl glauben, daß es nun endlich zu dem lan- ge erwarteten dauernden Fortschritt der Menschheit gekommen sei, ... (S. 1184-1185) Über den Wirkungsgrad von Kraftmaschinen ist bereits einge- hend im Abschnitt 2.2.4.2 der vorliegenden Arbeit berichtet 2.2.9 Der Tugut singt (56) _____________________________________________________________ 440 worden. Zu den Ausführungen über die technische Erzeugung von Kunstlicht auf der Basis thermischer Lichtquellen sind je- doch einige Ergänzungen notwendig. Petroleumlampen, Gasbrenner, Auerbrenner und Glühlampen erzeugen Licht prinzipiell dadurch, daß ein fester Körper hoch erhitzt wird und folglich auch einen Teil seiner Energie als Licht im sichtbaren Bereich abstrahlt. In der Petroleumlampe wird das im Docht aufgesaugte Petroleum durch Flammenreaktion (che- mische Reaktion) bei hoher Temperatur verbrannt und in Koh- lenwasserstoff-Gase umgewandelt. Dabei entstehen feinst ver- teilte Kohlenstoffteilchen, gewöhnlich Ruß genannt, die die ei- gentliche Strahlung liefern. In ähnlicher Weise arbeiteten auch die alten Gaslaternen, aber mit dem Unterschied, daß hier der Brennstoff schon im Kraftwerk in Gas umgewandelt und direkt der Laterne zugeführt wurde. Diese Form der Beleuchtung hat jedoch einen großen Nachteil: die erhitzten Festkörper, die Rußteilchen, strahlen 'Licht' in einem großen Wellenlängenbereich aus. Das für uns erwünschte Licht des sichtbaren Wellenlängenbereichs ist nur zu einem Bruchteil dabei. Eine starke Vergrößerung des Anteils des sicht- baren Lichtes kann entweder durch Temperaturerhöhung bis in die Größenordnung von 6000 K erzielt werden, oder es müssen besondere Festkörper ausgesucht werden, welche in einem be- stimmten Intervall auch bei niedrigeren Temperaturen selektiv sichtbares Licht emittieren. Zum Verständnis der Strahlung erhitzter Körper vergegenwärtigt man sich am besten das berühmt gewordene Plancksche Strah- lungsgesetz für schwarze Körper. Ein sog. schwarzer Körper ist ein idealer Temperaturstrahler, der die gesamte äußere (elektro- magnetische) Strahlung absorbiert und gleichzeitig seine eigene nur von der Temperatur abhängige Strahlung emittiert. Im Ge- gensatz zu anderen Körpern absorbiert und emittiert der schwar- ze Körper maximal. Als Prototyp des schwarzen Körpers kann ein allseitig geschlossener Hohlraum gelten, der eine kleine Öff- nung aufweist. Eine solche Öffnung fängt nahezu die gesamte äußere Strahlung ein, läßt andererseits die hohlraumeigene Strah- lung anteilmäßig ungehindert austreten. Die von einem schwarzen Körper ausgesandte Strahlungsenergie zeigt dabei eine charakteristische Frequenzverteilung, welche von Planck zuerst in geschlossener mathematischer Form darge- 2.2.9.2 Petroleumlampe u. schwarzer Körper _____________________________________________________________ 441 stellt werden konnte511. Basierend auf den Grundlagen der stati- stischen Mechanik, welche in Abschnitt 2.1.34.2 dargelegt wur- den, läßt sich die Plancksche Strahlungsformel relativ einfach ableiten. Die Herleitung soll im folgenden skizziert werden512. Man betrachtet die elektromagnetische Strahlung des schwarzen Körpers als Strahlung eines Hohlraums bestimmten Volumens bei fester Temperatur im Gleichgewichtszustand. Quantenme- chanisch zu berechnen ist dann das (ideale) Photonengas bei konstantem Volumen und konstanter Temperatur. Die Besonder- heit besteht darin, daß die Anzahl der Photonen nicht als kon- stant angesehen werden darf. Wie in Abschnitt 2.1.34.2 gezeigt wurde, können die Eigenschaften dieses Gases bestimmt werden, wenn man die Zustandssumme Z berechnen kann. Sie enthält hier im wesentlichen die Vielfachsumme von Exponentialtermen der einzelnen Photonenenergien, welche jeweils mit der Anzahl der Photonen in dem entsprechenden Zustand multipliziert wird. Es gilt: Z = ∑ exp(- n1 ε1/(kT)) exp(- n2 ε2/(kT)) . . . , n1, n2, ... wobei die n1, n2, ... die Zahl der Photonen zählen, die zu den Ein- teilchenenergien (keine Wechselwirkung zwischen Photonen) ε1, ε2, ... gehören. k bedeutet die Boltzmannkonstante und T die Temperatur. Für die ni-Werte gibt es keine einschränkenden Be- dingungen bei der Summation, da die Teilchenzahl nicht wie beim idealen Gas konstant ist. Die Summierung kann nun für jeden Exponentialterm einzeln durchgeführt werden, und man erhält jeweils eine unendliche geometrische Reihe, deren Grenzwert bekannt ist. Es folgt somit: Z = [1/(1 - exp(- ε1/(kT)))] [1/(1 - exp(- ε2/(kT)))] ... . Die mittlere Teilchenzahl für einen gegebenen Einteilchen- zustand s läßt sich durch Differenzieren des logarithmierten Z nach ε gewinnen. Man erhält dadurch die Plancksche Verteilung: ‹ ns › = 1/[exp(εs /(kT)) - 1] . 511 Siehe dazu: Pohl, Bd. 3, S. 280-282 oder Bergmann-Schaefer, Bd. 3, S. 624-634. Eine Herleitung der Formel ohne Kenntnisse der statistischen Mechanik findet man in Abschnitt 2.1.14.3 der vorliegenden Arbeit. Plancks Strahlungsformel führt so- wohl zum Rayleigh-Jeans-Gesetz als auch zum Wienschen Verschiebungsgesetz und zum Stefan-Boltzmann-Gesetz. Die letzteren für schwarze Körper gültigen Strah- lungsgesetze sind in ihrer Form einfacher und wurden schon viel früher gefunden als das Plancksche. Vergleiche: Vogel, S. 574-575 512 Wir folgen hier Reif, S. 395-397; S. 405-406; S. 439-440 und Diu et al., S. 1134- 1144 2.2.9 Der Tugut singt (56) _____________________________________________________________ 442 Mit der Planckschen Verteilung läßt sich schließlich durch einfa- che Rechnung auch die mittlere Energiedichte ρ(ω,T) im Fre- quenzbereich ω und ω+dω angeben, wenn berücksichtigt wird, daß jedes Photon die Energie ħω besitzt, wobei ħ das durch 2π geteilte Plancksche Wirkungsquantum bezeichnet. Man be- kommt die in Abschnitt 2.1.14.3 bereits aufgeführte Plancksche Formel für die spektrale Verteilung der Energiedichte in Abhän- gigkeit von der Temperatur: ρ(ω,T) dω = (ħ/π2) (ω/c)3 dω / (exp( ħω/(kT)) - 1) . ω = 2πν bedeutet dabei die Kreisfrequenz und c die Lichtge- schwindigkeit. Die in Abschnitt 2.1.14.3 angegebene Formel er- hält man unmittelbar durch Umformung der kreisfrequenzabhän- gigen Glieder in frequenzabhängige. In der folgenden Abbildung wird die spektrale Strahlungsdichte des schwarzen Körpers in Abhängigkeit von Wellenlänge und Temperatur nach der Planckschen Formel gezeigt: Abbildung 90 Dreidimensionale Darstellung der relativen Strahlungsdichte (Strahlungsenergiedichte) eines schwar- zen Körpers in Abhängigkeit von Temperatur und Wellen- 2.2.9.2 Petroleumlampe u. schwarzer Körper _____________________________________________________________ 443 länge nach der Planckschen Strahlungsformel. Die Ener- gieeinheiten sind geeignet gewählt. Es kommt hier nur auf die relativen Änderungen an (siehe aber: die folgende Ab- bildung 91). Die gezeigten Strahlungsenergiedichtekurven ähneln Gaußschen Glockenkurven, deren Maxima höher und schärfer werden für ansteigenden Temperaturparame- ter. Deutlich sichtbar ist auch die Verschiebung der Kur- venmaxima mit zunehmender Temperatur zu kleineren Wellenlängen hin (gestrichelte Linie). Umrechnung der als Funktion der Wellenlänge gezeigten Strahlungsdichte in die entsprechend frequenzabhängige Funktion erfolgt durch die Verknüpfung ν λ = c (s. nachfolgende Abb. 91). Häckel, S. 152; Kamke u. Walcher, S. 531-532; Pohl, Bd. 3, S. 280-282; Bergmann-Schaefer, Bd. 2, 1987, S. 376 ff Die Abbildung 90 zeigt an, daß der schwarze Körper erst bei der höchsten dort betrachteten Temperatur größere Strahlungsener- gieanteile im Bereich   1 m, also im Wellenlängengebiet des sichtbaren Lichts, abstrahlt. Dies geht noch deutlicher aus der folgenden Abbildung 91 hervor, in welcher der Strahlungsdich- teverlauf für wesentlich höhere Temperaturen unter Kenntlich- machung des sichtbaren Wellenlängenbereichs (siehe auch Ta- belle 2, S. 45) aufgetragen ist: Abbildung 91 Die graphische Darstellung zeigt die expe- rimentell bestimmte reduzierte Strahlungsdichte eines schwarzen Körpers in Abhängigkeit von der Wellenlänge 2.2.9 Der Tugut singt (56) _____________________________________________________________ 444 für 2000 K, 3000 K und 4000 K. Erst für die beiden höch- sten Temperaturen liefert der schwarze Strahler größere Energieanteile im Bereich des sichtbaren Lichtes (gestri- chelte Linien). Außerdem wächst die Gesamtstrahlungslei- stung mit ansteigender Temperatur gewaltig an. Dies läßt sich auch durch Vergleich der beiden Abbildungen 90 und 91 feststellen: während die 2000-K-Kurve relativ zu den Kurven niedriger Temperatur eine schon beachtliche Peak- höhe aufweist, stellt sie im Bereich der höheren Tempera- turen nur noch eine flache Erhebung dar. Den Maximal- wert der Strahlungsdichte unserer Sonne findet man expe- rimentell bei einer Wellenlänge von 0,48 m ( = 0,48 10-6 m), also in der Nähe des grünen Lichts (siehe Tabelle 2, S. 45). Dieses Maximum entspricht einer Temperatur des schwarzen Körpers von 6000 K. Da man die Sonne in sehr guter Näherung als schwarzen Köper ansehen kann, folgt daraus, daß die Oberflächentemperatur der Sonne ca. 6000 K beträgt. Vergleiche: Pohl, Bd. 3, S. 280; auch: Kamke und Walcher, S. 532 In Gasflammen können nicht wesentlich höhere Temperaturen als 1500 K erzielt werden. Der gewünschte hohe Anteil an sicht- barem Licht ist deshalb nicht durch schwarze Strahlung zu erzie- len (s. Abb. 90, S. 442). Man suchte deshalb nach geeigneten, haltbaren Stoffen, die bei diesen niedrigen Temperaturen selektiv wirken, und besonders stark im sichtbaren Lichtbereich strahlen. Dies wurde durch den von Musil erwähnten Auerbrenner reali- siert. Der nach seinem Erfinder Auer v. Welsbach benannte Gas- brenner enthält einen Glühstrumpf, mit dem die Brennerflamme ummantelt wird. Der Glühstrumpf besteht aus einem seidenähn- lichen Gewebe, das mit Thorium- und Cer-Oxyd getränkt ist513. In der technischen Herstellung wurde ein lockeres, zylinderkoni- sches Gewebe aus Baumwolle oder Kunstseide mit einer konzen- trierten Lösung von Thorium- und Cer-Nitrat getränkt und dann verbrannt. Das zurückbleibende, feinmaschige Oxydgerüst (99,1 % ThO2 und 0,9 % CeO2) behielt die Form des Gewebes bei und konnte mit einer Kollodiumlösung stabilisiert werden. Cer (Ce) und Thorium (Th) sind Elemente der Lanthaniden (Seltenen Er- den) bzw. Aktiniden, also der 6. bzw. 7. Periode des Perioden- systems der Elemente. Die Oxyde dieser Elemente schmelzen erst bei sehr hohen Temperaturen (ThO2: 3323 K; CeO2: 2300 K) und zeigen die gewünschten günstigen, selektiven Strahlungs- eigenschaften. 513 Holleman-Wiberg, S. 447; S. 501; S. 516 2.2.9.2 Petroleumlampe u. schwarzer Körper _____________________________________________________________ 445 Der Glühstrumpf leuchtet in der Gasflamme bei ca. 1800 K hell auf und ist hitzebeständig. Die zugehörige Strahlungsdichtever- teilung als Funktion der Wellenlänge zeigt die folgende Abbil- dung 92: Abbildung 92 Aufgetragen ist die Strahlungsdichte des Auerstrumpfes in Abhängigkeit von der emittierten Wel- lenlänge für eine Temperatur von 1800 K. Man sieht deut- lich, daß die Strahlung im Bereich des sichtbaren Lichtes von 0.4 m - 0.8 m sehr stark ansteigt und für größere Wellenlängen im Infraroten minimal ist. Erst bei sehr viel größeren Wellenlängen ( ≈ 7 µm ) nimmt die Strahlung wieder zu. Gestrichelt eingezeichnet ist zusätzlich die Strahlungsdichte des schwarzen Körpers bei gleicher Tem- peratur (siehe Abbildung 90, S. 442). Etwa im blauen Spektralbereich fallen beide Kurven zusammen, so daß hier der Auerstrumpf fast ideal wie der schwarze Körper strahlt. Es läßt sich auch andeutungsweise erkennen, wie enorm groß der Anteil an Strahlungsenergie unerwünschter Wellenlänge wäre, den der schwarze Körper erzeugen würde. Pohl, Bd. 3, S. 283 Im Auer-von-Welsbach-Museum von Treibach-Althofen (Kärn- ten, Österreich) sind Auerbrenner verschiedener Bauart ausge- stellt. Der aus einem sackartigen Gewebe bestehende Glüh- strumpf umhüllt den oberen Teil eines Brenners über dem Gas- austritt. Bei Zündung leuchtet der Glühstrumpf auf und erzeugt ein helles Licht. Die folgende Abbildung 93 zeigt eine Photo- graphie eines solchen Auerbrenners: 2.2.9 Der Tugut singt (56) _____________________________________________________________ 446 Abbildung 93 Photographie eines Auerbrenners aus dem Auer-von-Welsbach-Museum in Treibach-Althofen (Kärn- ten). Benannt wurde der Brenner nach dem österreichi- schen Chemiker Carl Auer von Welsbach (1858-1929). In einer österreichischen Museumsankündigung 1999 wird Carl Auer von Welsbach als größtes Genie Österreichs be- zeichnet. Die heute noch überall gebräuchlichen, mit elektrischem Strom betriebenen Glühbirnen, auf die der Romanerzähler anschließend hinweist, enthalten einen Metallglühfaden, der durch den hohen Stromfluß sehr stark erhitzt wird. Für den Glühfaden werden Metalle mit sehr hohem Schmelzpunkt eingesetzt. Ideal wären nach dem Planckschen Strahlungsgesetz Temperaturen von 4000 K und höher, wie oben gesehen. Dann hätte man das Strah- lungsmaximum in der Nähe des sichtbaren Lichtes. Aber selbst Metalle wie Wolfram514 halten nur etwa 2700 K ohne allzugroße Verdampfungsverluste aus. Deshalb spenden die gewöhnlichen Glühbirnen auch nur ein gelbliches Licht anstelle des weißen. 514 Das Metall Wolfram (W) gehört chemisch zur sog. Chromgruppe und hat den höchsten Schmelzpunkt aller Metalle: 3683 K. Vergleiche: Holleman-Wiberg, S. 529-532 2.2.9.3 Metaphorische Abwege _____________________________________________________________ 447 Inzwischen hat man jedoch noch andere Möglichkeiten gefun- den, weißes Licht unter höheren Wirkungsgraden zu erzeugen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann darauf jedoch nicht näher eingegangen werden515. Im Roman wird jedenfalls mit Recht festgestellt, daß die Elektrizität immer neue Beleuchtungs- arten hervorbringt. 2.2.9.3 Metaphorische Abwege Das Erleben und Beobachten der damals schon vehementen technischen Entwicklung führte offenbar zu einem uneinge- schränkten Fortschrittsglauben oder Fortschrittswahn, wie der Romanerzähler mitteilt. Der Erzähler macht aber gleichzeitig darauf aufmerksam, daß der Student Lindner eine Abneigung gegen derartige Fortschrittsgläubigkeit hatte und eher das Ver- hängnis darin witterte. Es heißt im dmoe: ... und es ist heute schier unmöglich, noch einmal begreiflich zu machen, wie natürlich es damals war, an die Dauer dieses Fortschritts zu glauben ... Gegen diese Vertrauensseligkeit, diesen Gedeihniswahn, ... besaß der ... geplagte Student Lindner eine natürliche Abneigung, und es war ihm ein natürliches Ahnungs- vermögen für alle Fehler und eine wache Aufnahme- bereitschaft für jedes Lebenszeugnis zu eigen, das dagegen aussagte. ... umso hellsichtiger war er aber für die andere Seite der Entwicklung und die sich dort vollziehende Fäulnis einer Gesinnung, die im Anfang den freien Handel im Namen eines freien Geistes an die Spitze der menschlichen Tätigkeiten gesetzt und dann den freien Geist dem freien Handel überlassen hat, und Lindner witterte den geistigen Zusammen- bruch, der ja auch nicht ausgeblieben ist. Dieser Glaube an das Verhängnis, inmitten einer sich ihre Fortschritte behagen lassenden Welt, war die kräftig- ste von allen seinen Eigenschaften; ... (S. 1185-1186) Diese etwas boshafte, ironische Darstellung des Mannes mit den auserwählten Eigenschaften, jenes Tuguts Professor Lindner, wird schon vorher im Roman verwendet, und zwar während ei- nes Besuchs von Agathe bei Lindner. Der Text des Kapitels trägt 515 Man denke z.B. an Halogenlicht oder Neonröhrenlicht. Vergleiche auch: Pohl, Bd. 3, S. 284; Bergmann-Schaefer, Bd. 2, 1987, S. 106 2.2.9 Der Tugut singt (56) _____________________________________________________________ 448 die bezeichnende Überschrift Eine gewaltige Aussprache. Es heißt dort: Er sah eine junge Frau vor sich, an der Erregung und gespielte Gleichgültigkeit, ja selbst Keckheit verdäch- tig zu wechseln schienen: und da er ein genauer Ken- ner der Frauenseele zu sein glaubte, ließ er sich da- von nicht beirren, sondern wußte, daß die Versuchung zu Hochmut und Eitelkeit für schöne Frauen außeror- dentlich groß sei. ... Und Lindner wurde nun ... ge- wahr, daß die Form von Agathes Antlitz und Körper jene liebliche Ruhe besitze, die nur dem Großen und Edlen zu eigen ist, ja das Knie in den Falten der Um- hüllung erschien ihm sogar als das einer Niobe. ... Er bemerkte nun auch den Busen, der in raschen, kleinen Wellen atmete. Es wurde ihm schwül zumute, ... seine Weltkenntnis ... flüsterte ihm aber im Augenblick der höchsten Verfänglichkeit zu, daß dieser Busen etwas Unausgesprochenes umschließen müsse, und daß die- ses Geheimnis ... mit der Scheidung von seinem Kollegen Hagauer zusammenhängen dürfte; und das rettete ihn aus beschämender Torheit, indem es ihm augenblicklich die Möglichkeit bot, sich die Enthül- lung dieses Geheimnisses an Stelle der des Busens zu wünschen. ... Sie sah ihn wieder mit einem sanften Lä- cheln an, das sozusagen abscheulich tief ausgeschnit- ten war und den inneren Busen entblößte, als läge nur noch ein schwarzes Spitzentuch darüber. Unwillkür- lich schützte Lindner davor das Auge mit einer Bewe- gung der Hand, die seine Brille zu richten vorgab. (S. 1074-1076) Honold sieht den obigen Text als beispielhaft für die Erzählkunst Musils im gesamtem Roman an und schreibt: ... so stellt sich zu guter Letzt wieder die Ausgangsfrage, für die Art und Weise, wie dieses Erzählwerk Wirklichkeit organisiert? Welches Bild bei- spielsweise sehen wir, wenn aus der Perspektive des Tugutes Lindner die Versuchung des Fleisches, die ihn in Gestalt Agathes lockt, wie folgt illustriert wird: "Sie sah ihn wieder mit einem sanften Lächeln an, das sozusagen abscheulich tief ausgeschnit- ten war". Die poetische Magie, die im Lächeln zugleich das Dekolleté erscheinen läßt, verdankt sich der Macht jenes Wörtchens "sozusagen", das den logischen Aussagefluß auf metaphorische Ab- und Umwege bringt und durch seine Indirekt- heit zeigt, was es verhüllt - "als läge nur noch ein schwarzes Spitzentuch darüber." ... dem Schauen und Denken werden Hin- dernisse in den Weg gelegt, die unmittelbaren Erfolg zugunsten 2.2.9.3 Metaphorische Abwege _____________________________________________________________ 449 erotisch aufgeladener Phantasie ausschalten. ... In der poeti- schen Sprache ... ist das Spiel mit dem Schleier, ist der Miß- brauch der Metapher ihr vornehmstes Ziel.516 Obgleich in Honolds zutreffendem Kommentar dem Wörtchen sozusagen vielleicht doch zuviel Gewicht beigemessen wird - "die metaphorischen Ab- und Umwege" stellen sich unwillkür- lich auch ohne dieses Wörtchen ein - so scheint Musil aber in der Tat eine besondere Vorliebe dafür gehabt zu haben, dieses Wört- chen an Stellen einzusetzen, wo derartige Ab- und Umwege ei- gentlich schon selbsttätig erfolgen. In einem früheren Kapitel des Romans (siehe auch Abschnitt 2.1.7.1 der vorliegenden Arbeit) heißt es über Graf Leinsdorfs "schöne Freundin Diotima": Sie verstand auch die Tatsache darunter (unter Kultur), daß ihr in diesem Lande ein so großer Herr wie Graf Leinsdorf seine Aufmerksamkeit schenkte und seine eigenen kulturellen Bestrebungen in ihr Haus verlegte. Sie wußte nicht, daß Se. Erlaucht das auch deshalb tat, weil es ihm unpassend erschien, sein eigenes Palais einer Neuerung zu öffnen, über die man leicht die Aufsicht verliert. Graf Leinsdorf war oft heimlich entsetzt über die Freiheit und Nachsicht, mit der seine schöne Freundin von menschlichen Leidenschaften und den Verwirrungen sprach, die sie anrichten, oder von revolutionären Ideen. Aber Diotima bemerkte es nicht. Sie hielt eine Trennung ein, zwischen sozusagen amtlicher Unkeuschheit und privater Keuschheit, wie eine Ärztin ... (S. 101-102) 516 Honold Die Stadt und der Krieg S. 483-485 3 Ergebnisse und Schlußbemerkungen _____________________________________________________________ 450 3 Ergebnisse und Schlußbemerkungen Bevor wir zu den Hauptergebnissen der Untersuchung kommen, soll die Stellung Musils zu Freud, die sich anhand der zahlrei- chen Hinweise unserer Forschungsstudie ergeben hat, abschlie- ßend erörtert werden. Nach allem, was aus der Bearbeitung des hier zugrunde liegen- den Textkorpus' hervorgegangen ist, kann als sicher gelten, daß Musil sowohl Freuds Auftreten selbst als auch dessen Psycho- analyse nicht schätzte (s. Abschnitt 2.2.7.3). Wichtige Gesichtspunkte Musils dürften dabei folgende gewesen sein: Freud verlieh der Psychoanalyse, eigentlich nur ein kleiner Zweig der gesamten psychologischen Forschung, ein unange- messen großes Gewicht und versuchte dadurch die Richtung der Forschung auf dem gesamten Gebiet der Psychologie zu bestimmen. Freuds Thesen waren zu einseitig und zu reduktioni- stisch, um das komplexe psychologische Geschehen 'richtig' wiedergeben zu können. Ein Unbewußtes im Sinne Freuds er- schien lediglich als Hilfskonstruktion für einfache Erklärungen von Phänomenen, die in Wahrheit auf wesentlich verwickelteren Vorgängen beruhen. Musils Vorbehalte gegen die einseitige 'Wissenschaft' Freuds haben sich in der Tat zum großen Teil bestätigt. 'Die Traumdeu- tung', die Freud für seine gelungenste Arbeit hielt, hat schwer- wiegende Defizite und dürfte heute nicht mehr akzeptabel sein. Dies soll hier in knapper Form begründet werden: Ergebnisse und Schlußbemerkungen _____________________________________________________________ 451 (i) Zunächst erscheint eine Grundhypothese Freuds, die Wunscherfüllungshypothese517 unhaltbar, da die Mehrzahl der Träume (70%) als übel und bedrohlich erinnert wird. (ii) Ferner kann die Zensurhypothese nicht akzeptiert werden, da ein Teil der Traumbilder sexuelle Inhalte mit mehr oder we- niger obszönen oder sogar perversen Details enthält und damit die Annahme einer 'internen Zensur' widerlegt. (iii) Schließlich muß der wichtigste Bestandteil der Freud- schen 'Traumdeutung' abgelehnt werden: das Postulat einer 'un- bewußten Ebene' der latenten Traumgedanken. Gegen diese An- nahme spricht vor allem, das 'Unbewußte' wisse über sich und seine eigenen Regungen Bescheid und brauche deshalb in Form des Traumes nur noch zu einer kompromißhaften Einlösung sei- ner Bestrebungen zu kommen. In Freuds orthodoxer Theorie wird ungerechtfertigter Weise im wesentlichen von zwei Triebregungen ausgegangen, einer sexu- ellen bezüglich des andersgeschlechtlichen Elternteils und einer aggressiven gegenüber dem gleichgeschlechtlichen (Ödipus- komplex). So ist es nicht sehr verwunderlich, daß in diesem stark vereinfachten Bild das 'Unbewußte' über die eigenen Bestrebun- gen Bescheid weiß. Läßt man aber in einem realistischeren Bild eine größere Man- nigfaltigkeit von möglichen unabhängigen Wunschzielen zu, so erweist sich der Freudsche Traumdeutungsansatz als abwegig und unbrauchbar518. Der Traum (Traumbericht) ist dann nicht mehr als Wunscherfüllungstraum zu lesen, sondern als Darstel- lung von Regungen und Anmutungen, über die sich der Träu- mende in Beziehung zu seiner Persönlichkeit noch nicht im kla- ren ist, und die deshalb auch nicht in Form von Wünschen for- muliert werden bzw. sich auswirken können. Dadurch ver- schwindet der Freudsche latente Trauminhalt, und die Bilder des Traums stellen nicht mehr Allegorien eines begrifflich festen Sachverhalts dar. Sie sind Anhaltspunkte, mit deren Hilfe noch zu bestimmende Bestrebungen und Befindlichkeiten in einen Rahmen gefaßt werden können. Zwischen Traum und 'Traum- deutung' besteht ein Kontinuitätsverhältnis, welches der Klärung des eigenen Zustands dienen kann. 517 Es wird den Ausführungen von Hofstätter, S. 326-328, gefolgt. Siehe auch: Franz Strunz Die Traumdeutung zwischen Freud und Jung Regensburg 1995, S. 10-15 518 Strunz, S. 14-15 3 Ergebnisse und Schlußbemerkungen _____________________________________________________________ 452 Die neuere Gehirnforschung519 hat außerdem gezeigt, daß Träu- me im wesentlichen zufällig induzierte 'Ausschüttungen' von Gedächtnisinhalten darstellen. Gedächtnisinhalte der aktivierten Cortexareale, die in der Regel nur durch Wahrnehmung erregt werden können, werden dabei rein zufällig angestoßen und ins Bewußtsein transportiert. Der teilweise nicht ganz chaotische Verlauf unserer Träume scheint dadurch zu entstehen, daß zu- sammenhängende Ereignisse in unserem Gedächtnis benachbart abgelegt sind, und blockweise 'angestoßen' werden. Sprünge in den Traumgeschehnissen fallen daher in der Regel nicht allzu groß aus. Freuds hermetisch abgeschlossener, pseudowissenschaftlicher Fachdiskurs der Psychoanalyse ist ein charakteristisches Beispiel für einen institutionalisierten Spezialdiskurs, der mit entspre- chenden anderen Spezialdiskursen nicht kompatibel war und auch in modernisierter Form noch nicht ist. Offensichtlich widerstrebte Musil eine derartige, isolierte Form des 'psychologischen' Diskurses. Ihm erschien eine Vielfalt von untereinander verträglichen psychologisch-physikalischen Ein- zelmodellen (Partiallösungen) als sinnvolle Annäherung an eine - wenn auch nicht vollständig erreichbare - Gesamtdarstellung. Dies zeigt auch seine universale Verwendung der naturwissen- schaftlichen Spezialdiskurse, die im folgenden zusammenfassend besprochen wird. Unsere Untersuchung hat an vielen Beispielen zeigen können, daß im dmoe-Roman und den damit verbundenen Texten Fach- diskurse aus Physik, Chemie, Biologie, Medizin, Mathematik, usw. verwendet werden, deren Verständnis weit größere Grund- kenntnisse auf den Gebieten dieser Wissenschaften erfordert als bisher angenommen wurde. Der dominierende wissenschaftliche Diskurs ist aber unzweifel- haft derjenige der Physik. Das Bild der Physik, das im gesamten Musilschen Textkorpus zum Ausdruck kommt, ist im wesentli- chen das der klassischen und klassischen statistischen Physik, wobei jedoch verschiedene deutliche Hinweise auf quanten- mechanische Beobachtungen und Überlegungen aus dem Be- reich moderner atomarer Physik gegeben werden. Eine Sonderstellung nehmen sowohl die Gebiete der statisti- schen Mechanik und Thermodynamik aus Physik und physikali- scher Chemie ein als auch diejenigen der Wahrscheinlichkeits- theorie und Statistik aus Mathematik und anwendenden Wissen- 519 Roth Das Gehirn und seine Wirklichkeit S. 245-246 Ergebnisse und Schlußbemerkungen _____________________________________________________________ 453 schaften. Diese Gebiete werden implizit bereits im einleitenden Kapitel des Romans anhand meteorologischer, astronomischer und physikalischer Betrachtungen berührt, womit deren para- digmatische Funktion für das gesamte Romanfragment angedeu- tet wird. Ausführliche und - wie hier nachgewiesen wurde - auch fachlich richtige Darstellungen der Grundgedanken der Wahrscheinlich- keitstheorie und Statistik (Anwendung) finden sich hauptsächlich in den Kapiteln 83 und 103 des ersten Buches und im Kapitel 47 des zweiten Buches des Romans. Nach den vorliegenden Studien ist davon auszugehen, daß der Verfasser des Romans sich die genannten Spezialdiskurse kei- neswegs als Fachfremder bloß anlernte oder als interessierter Schriftsteller in Interdiskursen verwandte, sondern sie beherrsch- te. Es gibt im gesamten Textkorpus keinen Hinweis darauf, daß Musil Dinge aus den besagten Wissenschaftsgebieten nur halb- verstanden übernahm oder sich dieser lediglich in gefilterter Form bediente. Seine (natur-)wissenschaftliche Universalität erklärt auch, weshalb er die wissenschaftlichen Überlegungen, die er im Laufe seiner Dissertation über die Thesen des Physi- kers und Positivisten Ernst Mach am philosophisch-psycho- logischen Institut der Universität Berlin angestellt hatte, gar nicht explizit in den Roman einschloß. Machs Darstellung er- schien ihm zu sehr vereinfachend und zu isoliert. Im Romanwerk finden sich deshalb nur wenige thematische Anklänge an seine Doktorarbeit. Im Tagebuch wird sie überhaupt nicht erwähnt. Als Experten der genannten Fachdiskurse war es Musil möglich, diese in bildhafter Weise mit dem Alltagsdiskurs zu mischen, d.h. sie letzterem an die Seite zu stellen oder entgegenzusetzen, und dadurch größtmögliche Verständlichkeit und in gewissem Sinn auch 'Interdiskursivität' zu erzielen. Allerdings nimmt Mu- sils 'Verarbeitung' der Spezialdiskurse und des Alltagsdiskurses eine Sonderstellung ein, wie im folgenden gezeigt wird. Musil verwendet die Wissensbestände aus den Bereichen der Naturwissenschaften nicht auf der Ebene des bereits kulturell vorgefilterten, d.h. schon 'popularisierten' Spezialwissens, wie etwa Goethe in den Wahlverwandtschaften auf chemisches und physikalisches Wissen520 zurückgreift. Er bewegt sich unmittel- bar auf dem Niveau dieser wissenschaftlichen Diskurse, so daß 520 Johann Wolfgang Goethe Die Wahlverwandtschaften Gesamtausgabe in 45 Bän- den, Bd. 19, München 1963, S. 29-35 3 Ergebnisse und Schlußbemerkungen _____________________________________________________________ 454 ohne die entsprechenden Grundlagen in diesen Wissenschaften die Texte nicht ausreichend verstanden werden können. Zur Erläuterung dessen, sollen zunächst einige Grundlagen der modernen Interdiskurstheorie wiederholt und anschließend zwei Anwendungsbeispiele besprochen werden, die in etwas anderer Weise auch in einem Aufsatz von Moser behandelt wurden und zu etwa vergleichbaren Ergebnissen führten. Basierend auf Foucaults521 Untersuchungen wird unter Diskurs eine historisch-spezifische, geregelte Formation von Aussagen verstanden, die sich auf einen ausgesuchten Gegenstandsbereich beziehen. Der Diskursbegriff hebt die 'Materialität', die institu- tionellen Rahmenbedingungen und die Machtausübung der Re- deweise hervor, die durch ihre Ankopplung an die Handlungs- weisen zum Vorschein kommt. Foucault schreibt in der Archäo- logie des Wissens: ... (Der) Komplex der Beziehungen bildet ein Bestim- mungsprinzip, das innerhalb eines gegebenen Diskur- ses eine bestimmte Anzahl von Aussagen gestattet oder ausschließt: es gibt begriffliche Systematisierun- gen, Äußerungsverkettungen, Gruppen und Organisa- tionen von Gegenständen, die möglich gewesen wären (und deren Abwesenheit auf der Ebene ihrer eigenen Formationsregeln nichts rechtfertigen kann), aber die durch eine diskursive Konstellation auf höherer Ebe- ne und von größerer Ausdehnung ausgeschlossen werden. Eine diskursive Formation besetzt also nicht das ganze mögliche Volumen, das ihr die Formations- systeme ihrer Gegenstände, ihrer Äußerungen, ihrer Begriffe mit Recht öffnen. Sie ist wesentlich lückenhaft und dies durch das Formationssystem ihrer strategi- schen Wahl. ... ... Ebenso wie man die Formation der Gegenstände weder auf die Wörter noch auf die Sachen, die der Äußerungen weder auf die reine Form der Erkenntnis noch auf das psychologische Subjekt, die der Begriffe weder auf die Struktur der Idealität noch auf die Ab- folge der Ideen beziehen durfte, darf man die Forma- tion der theoretischen Auswahl nicht auf ein funda- mentales 'Vorhaben', noch auf das sekundäre Spiel der 'Meinungen' beziehen.522 521 Siehe z.B.: Michel Foucault Die Ordnung des Diskurses Walter Seitter (Übers.), Originaltitel: L'ordre du discours Frankfurt a. Main 1994, S. 9-49 522 Michel Foucault Archäologie des Wissens Ulrich Köppen (Übers.), Originaltitel L'archéologie du savoir Frankfurt am Main 1988, S. 98-99; S. 103 Ergebnisse und Schlußbemerkungen _____________________________________________________________ 455 Man unterscheidet weiterhin Spezialdiskurse, in der Regel wis- senschaftliche Diskurse, welche von höchster immanenter Kon- sistenz und Abgeschlossenheit sind. Sie werden durch eindeutige Denotationen unter Ausschaltung von Mehrdeutigkeiten oder Konnotationen bestimmt. Davon trennt man den sogenannten Alltagsdiskurs und bezeichnet ihn als Elementardiskurs, soweit er sich in seiner funktional selbständigen Form auf die elementa- re Soziokultur einer Gesellschaft bezieht. Als interdiskursive Diskurselemente und Diskursabschnitte wer- den nun solche bezeichnet, die nicht nur einem einzelnen Spezi- aldiskurs angehören, sondern in mehreren Spezialdiskursen und auch im Elementardiskurs mit etwas variierender Bedeutung auf- treten523. Weiter zu unterscheiden sind dann interspezialdis- kursive Elemente, die in mehreren Spezialdiskursen vorkommen, allerdings mit feststehender Bedeutung. Mathematik (Statistik) und Medizin wären solche Interspezialdiskurse, aus denen ande- re, z.B. Physik, Astronomie, Chemie, Sozial-, Wirtschaftswis- senschaft, bestimmte Elemente entnehmen. Die Literatur stellt einen der Hauptträger der Verarbeitung inter- diskursiver bzw. interspezialdiskursiver Diskurselemente dar, und zwar in Form eines weiteren gesellschaftlich institutionali- sierten Spezialdiskurses basierend auf Interdiskursen524. In Musils Roman geschieht diese 'Verarbeitung' allerdings in besonderer Weise, wie bereits oben angedeutet. An vielen Stel- len des Romanfragments werden naturwissenschaftliche Diskur- se und Elementardiskurs regelrecht nebeneinander oder gegen- einander gestellt, wie z.B. in der astro-meteorologischen Einlei- tung des ersten Kapitels mit der einschlägigen Überschrift Wor- aus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht und dem späteren Kapitel Die Versuchung, in welchem der professorale Akademi- ker Ulrich seiner Freundin und 'Schülerin' Gerda einen Vortrag über Wahrscheinlichkeitsrechnung und kinetische Gastheorie hält. Moser schreibt in Übereinstimmung mit den vorliegenden Unter- suchungen: Musil gilt als Romanautor, der zugleich Wissen- schaftliches darstellt, thematisiert und einen wissenschaftlichen 523 Link Versuch über den Normalismus S. 50-51; weiterführende Literatur ist dort angegeben. 524 Jürgen Link Literaturanalyse als Diskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik. In: Diskurstheorien und Literatur- wissenschaft Jürgen Fohrmann und Harro Müller (Hg.), Frankfurt a. Main 1988, S. 284-286 3 Ergebnisse und Schlußbemerkungen _____________________________________________________________ 456 Stil hat. ... sein Schreiben bringt keine einfache Bestätigung des Bestehenden mit sich, sondern stellt einen Eingriff in bestehende Verhältnisse dar und hat somit problematisierend-verändernde Wirkung. Diese Wissenschaft wird in Musils literarischer Dar- stellung in ihren Formen, Selbstverständlichkeiten, und ihrem Wahrheitsanspruch fiktional erprobt, befragt und einer eigentli- chen Kritik unterzogen. Die Aufnahme einer Art von experimen- tellem Verfahren ins Romanschreiben unterwirft die traditionelle Romanform einer Veränderung, die bis zu ihrer praktischen Ver- unmöglichung führt. ...Dazu kommt als wesentliches Moment für Musil ... die Erkenntnis, daß Sprache nicht nur durchsichtiges Instrument oder abspiegelndes Medium der objektiven Wirk- lichkeitserfassung ist, sondern daß eine solche Erfassung wesentlich an Sprache gebunden ist und überhaupt erst in Sprache stattfinden kann (Moser Zwischen Wissenschaft u. Literatur S. 169 u. S. 171). Einen hervorragenden Beleg für die- se letzteren Feststellungen bildet die 'Rahmenerzählung' Die Amsel, welche gerade auf diese Aspekte hin hier untersucht wurde (s. z.B. Abschnitt 2.1.35.1). Diese Art der Interdiskursivität des Romans soll im folgenden anhand des ersten Kapitels erläutert werden, in welchem Musil zu Beginn das Wetter eines bestimmten Tages mit Hilfe eines Gemisches aus meteorologischem, physikalischem, astronomi- schem Spezialdiskurs und dem Alltagsdiskurs darstellt. Dabei werden die Spezialdiskurse unbemerkt durch einen weiteren Spezialdiskurs in Beziehung gesetzt, nämlich jenen für den gan- zen Roman charakteristischen Diskurs der Wahrscheinlichkeits- theorie und Statistik. Das Resultat der Nebeneinander- und Ge- genüberstellungen erscheint schließlich klar: das Tatsächliche wird am prägnantesten und kürzesten durch den Elementar- diskurs wiedergegeben, wie der Romanerzähler mit einer gewis- sen 'Schadenfreude' anhand von acht Worten demonstriert. In Wahrheit wurden aber die wissenschaftlichen Diskurse ab- sichtlich nur in unvollständiger Form 'vorgeführt'. So kann der Leser am Ende doch nicht - wie an vielen anderen Stellen des Romans auch - zu einer gültigen Entscheidung darüber kommen, ob man nun zur Bestimmung und Kennzeichnung des 'Wetters' besser wissenschaftlich zu verfahren habe oder nicht. Moser kommt mit etwas anderer, nach den Erkenntnissen der vorlie- genden Studie nicht ganz korrekter Argumentation, zu einer ähn- lichen Schlußfolgerung525. 525 Moser Zwischen Wissenschaft und Literatur S. 173 Ergebnisse und Schlußbemerkungen _____________________________________________________________ 457 In analoger Weise läßt sich die Unfallbeschreibung am Schluß des Kapitels analysieren, allerdings mit einem noch radikaleren Resultat: am Ende scheint es diesen 'Unfall' gar nicht mehr zu geben. Der Unfallhergang wird zunächst sowohl in physikali- schen und ingenieurtechnischen Spezialdiskursen (Diese schwe- ren Kraftwagen ... haben einen zu langen Bremsweg526) als auch im alltäglichen Diskurs einer hinzugetretenen 'Dame' (Die Dame fühlte etwas Unangenehmes ..., das sie berechtigt war für Mitleid zu halten; ... ) dargelegt. Zum Schluß erhält man aber durch das Aufrufen des verbindenden Spezialdiskurses der Statistik den Eindruck, daß es sich bei dem 'Unfall' eigentlich um ein ganz gewöhnliches Ereignis des Straßenverkehrs handele, das schließ- lich nur einem bestimmten Punkt einer Wahrscheinlichkeits- verteilung entspreche und deshalb gar nicht der Rede wert sei. Der 'Unfall', und damit der in ihn verwickelte Mensch wird, wie es Agathe viel später gegenüber Ulrich im dmoe (S. 723) formu- liert, von der Statistik aufgelöst. Das Einzelsubjekt wird elimi- niert, an seine Stelle tritt die Menge, das Kollektive, das 'Mittel'. Das Individuum verliert seine Funktion als handelndes, sinnstif- tendes Subjekt. Ulrich faßt dies in meisterhafter Form am Ende des zweiten Ka- pitels des dmoe noch einmal zusammen: Man kann tun, was man will;... es kommt in diesem Gefilz von Kräften nicht im gering- sten darauf an! Trotzdem heißt es abschließend von der zum Unfallgeschehen hinzugetretenen Dame: "Meinen Sie, daß er tot ist?" fragte seine Begleiterin und hatte noch immer das unbe- rechtigte Gefühl, etwas Besonderes erlebt zu haben. Wieder wird der Leser ratlos darüber gelassen, ob er wissenschaftlichen oder alltäglichen Überlegungen folgen sollte. Die unmittelbare Gegeneinandersetzung von Spezialdiskursen und Elementardiskurs ist offenbar nur selten erkannt worden und hat dazu geführt, daß ein großer Teil der literaturwissenschaftli- chen und philosophischen Forschungsarbeiten das Musilsche Werk direkt aus interdiskursiver Sicht gelesen hat. D.h. man hat es im wesentlichen auf der Basis von Analogien zwischen natur- wissenschaftlichen und anthropologischen, psychologischen bzw. soziologischen, insgesamt kulturellen Phänomenen zu ver- stehen versucht. Folglich verzichten diese Arbeiten auf eine ernsthafte Lektüre und Rekonstruktion der von Musil herange- 526 Der Bremsweg hängt direkt mit der kinetischen Energie eines fahrenden Wagens zusammen: Ekin = (m/2) v2. Für einen Lastkraftwagen ist im Vergleich zum Perso- nenwagen die Masse m sehr groß. 3 Ergebnisse und Schlußbemerkungen _____________________________________________________________ 458 zogenen Spezialdiskurse. Daraus ergaben sich z.T. auch die zahl- reichen Mißverständnisse und Fehlinterpretationen der Texte, wie sie im vorliegenden Kommentar mehrfach nachgewiesen wurden. Beispiele sind das irreführende Vermischen von Ther- modynamik und klassischer statistischer Mechanik, sowie von klassischer und moderner quantenmechanischer Physik. Auf In- terdiskursebene können solche Bereiche (per analogiam) inte- griert werden, in Musils Texten müssen sie aber den Spezialdis- kursen angehörig streng getrennt berücksichtigt werden. So ist etwa in den meisten Forschungsarbeiten gar nicht bemerkt wor- den, daß Musil fast ausschließlich auf der Basis der klassischen Physik arbeitet. In extremen Fällen des interdiskursiven Analogiebildens wurden Musils Texte rein metaphorisch gelesen. 'Herausragende' Bei- spiele dafür sind Musils Vorschlag eines physikalischen Ansat- zes für eine 'kinetische Geschichtstheorie' (Abschnitte 2.1.22.2 u. 2.2.6.1) und die funktionale physikalisch-chemische Zustands- beschreibung der Materie und des Menschen (2.2.1.1). Im ersten Fall hat man ziemlich ratlos semantische Bezüge zu kinetischen und dynamischen Vorgängen hergestellt, im zweiten Verbindun- gen zu einem fernen kulturellen Wissen abgetastet. Die vorliegenden Untersuchungen haben andererseits aber auch gezeigt, daß die primär auf Interdiskursen beruhenden Arbeiten graduelle Abstufungen in den Verfahren der Analogiebildung aufwiesen, und z.T. das geforderte spezialdiskursive Wissen auch stärker berücksichtigten. Die analogisierende und metaphorisierende Vorgehensweise lite- raturwissenschaftlicher bzw. geisteswissenschaftlicher Arbeiten ist kürzlich auch in einer anderen unabhängigen Studie festge- stellt worden, in welcher der Gebrauch von physikalischen und mathematischen Konzepten bzw. Resultaten durch bekannte In- tellektuelle untersucht wurde. Darin wird gezeigt, daß physikali- sche oder mathematische Konzepte und Gesetzmäßigkeiten ganz unverstanden in geisteswissenschaftlichen (z.T. metaphorischen) Modellen erscheinen. 1996 veröffentlichte Alan Sokal in der Zeitschrift 'Social Text' einen Aufsatz527, der angefüllt war mit unsinnig zusammen- gestellten Überlegungen und Gesetzmäßigkeiten aus Physik und Mathematik, die jedoch ihrerseits den Texten moderner Intellek- tueller entnommen waren. Die daraus entstandene Monographie 527 Alan Sokal Transgressing the boundaries: Toward a transformative hermeneu- tics of quantum gravity Social Text 46/47 (1996), p. 217-252 Ergebnisse und Schlußbemerkungen _____________________________________________________________ 459 von Sokal und Bricmont soll im folgenden kurz betrachtet werden. An mehreren Beispielen wird dort allgemeinverständlich erläu- tert, in welcher Weise bekannte 'postmoderne Intellektuelle' feh- lerhaften oder sogar unsinnigen Gebrauch von Ergebnissen oder grundsätzlichen Konzepten der Physik oder Mathematik machen. Nach Sokal und Bricmont finden sich in den Texten jener Auto- ren wissenschaftliche Ergebnisse oder Konzepte aus Physik und Mathematik in Zusammenhängen wieder, die deutlich machen, daß deren Gehalt gar nicht oder falsch verstanden worden ist528. Im einzelnen werden Texte von Autoren, wie Jacques Lacan, Julia Kristeva, Luce Irigaray, Jean Baudrillard usw. betrachtet. In einem Artikel Irigarays The 'mechanics' of fluids529 steht z.B. dem Sinn nach folgendes: die mathematisch-physikalische Be- handlung der Fluide (Flüssigkeiten) habe nichts mit der spezifi- schen Dynamik realer Flüssigkeiten zu tun, da im Grunde die Eigenschaften realer Flüssigkeiten vernachlässigt und nur ideali- sierte Flüssigkeitsmodelle in die mathematische Beschreibung einbezogen würden. Die Beschreibungen an sich hätten in bezug auf die Realität ohnehin nur approximativen Charakter, da die mathematische Analyse lediglich anhand von laminaren Ebenen, homogener Strömung, Quellpunkten, Senken und Wirbeln ge- schehe. Die 'theoretische Flüssigkeit' habe ihre Beziehung zu den sich bewegenden Flüssigkeitsteilchen verloren, da beispielsweise für die Zentren dieser Teilchen unendliche Strömungsgeschwin- digkeit angenommen werden müsse. Sokal und Bricmont bemerken zu diesem Text nicht zu Unrecht, daß Irigaray die Rolle der Approximation und Idealisierung in der mathematischen (theoretischen) Physik nicht verstanden ha- be. Die Navier-Stokes-Gleichungen gelten nur für den hydrody- namischen Bereich, d.h. auf einer makroskopischen Skala. Sie vernachlässigen die molekulare Struktur der Flüssigkeit. Da das Navier-Stokes-Gleichungssystem sehr komplex ist, kann es außerdem nicht in geschlossener Form gelöst werden. Infolge- dessen können nur idealisierte Spezialfälle behandelt oder ge- wisse Approximationen zugelassen werden, für welche Lösun- gen zu erreichen sind. Die Tatsache, daß die Geschwindigkeit im Zentrum eines Vortex unendlich wird, bedeutet nur, daß die Approximation in diesem Bereich von vornherein keine Gültig- 528 Alan Sokal and Jean Bricmont Fashionable Nonsense. Postmodern Intellectuals' Abuse of Science. Originaltitel Impostures Intellectuelles New York 1999, p. 1 529 Luce Irigaray The 'mechanics' of fluids. In: This Sex Which Is Not One. Catherine Porter and Carolyn Burke (Transl.) Originaltitel Ce sexe qui n'en est pas un Ithaca, N. Y., 1985, S. 109 3 Ergebnisse und Schlußbemerkungen _____________________________________________________________ 460 keit hat. Sinnvolle Lösungen sind voraussetzungsgemäß nur für den hydrodynamischen Bereich zu erwarten. Der weitere Text Irigarays soll hier nicht mehr behandelt werden. Soweit wir aber die von Sokal und Bricmont vorgetragenen Argumente für die- sen Text nachprüfen konnten, sind sie stichhaltig. Im Fall Jacques Lacan wird dessen obskurer Gebrauch der Ma- thematik mehrfach von Sokal und Bricmont bemängelt530. Sie schreiben wörtlich: ... Lacan's 'mathematics' are so bizarre that they cannot play a fruitful role in any serious psychological analysis. To be sure, Lacan does have a vague idea of the mathematics he invokes (but not much more). ... On the other hand, he excels ... at the second type of abuse listed in our intro- duction: his analogies between psychoanalysis and mathematics are most arbitrary imaginable, and he gives absolutely no em- pirical or conceptual justification for them ...531 Zur Bestätigung dessen soll hier ein weiteres Beispiel dafür an- geführt werden, daß in einem vielgelesenen Text Lacans mathe- matischer Formalismus ohne jede Erklärung, ohne erkennbaren Zusammenhang und deshalb im Grunde sinnlos gebraucht wird. In Lacans Aufsatz Das Drängen des Buchstabens im Unbewuß- ten behauptet Lacan zunächst, daß die in der Linguistik ständig benutzte Doppelwertigkeit, symbolisch als Bruch S/s (Signifi- kant über Signifikat)532 geschrieben, einen Algorithmus darstel- le533. Ein Algorithmus ist aber ein systematisches Rechenverfah- ren, das jederzeit durch einen Rechenautomaten ausgeführt wer- den kann534. Der symbolische Ausdruck der Doppelwertigkeit S/s hat also mit einem Algorithmus überhaupt nichts zu tun. In derselben Abhandlung liest man später: Es handelt sich also darum, die Topik dieses Unbewußten zu definieren. Ich sage, es ist eben die, die definiert ist mit dem Algorithmus: S/s. Was die- ser uns über die Auswirkung des Signifikanten über das Signifi- kat zu sagen ermöglicht hat, stimmt überein mit seiner Umwand- lung in: f(S)I/s. Wir haben die Wirkung der Kopräsenz nicht nur der Elemente der horizontalen signifikanten Kette, sondern auch der vertikalen Angrenzung derselben im Signifizierten - aufge- teilt nach den zwei Grundstrukturen in der Metonymie und in der Metapher - aufgezeigt. Wir können sie so symbolisieren: 530 Vergleiche: Sokal and Bricmont, p. 25 531 Sokal and Bricmont, p 37 532 Der Kürze halber wird hier und in dem damit zusammenhängenden Text der waagerechte Strich durch einen Schrägstrich ersetzt, wobei die entsprechenden Zei- chen hintereinander und nicht untereinander geschrieben werden. 533 Jacques Lacan Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud S. 179 534 Handbuch der Math., S. 14-15 Ergebnisse und Schlußbemerkungen _____________________________________________________________ 461 f(S ... S')S  S ( / ) s also die Struktur der Metonymie, die anzeigt, daß die Verbin- dung des Signifikanten mit dem Signifikanten die Auslassung möglich macht, durch die das Signifikante den Seinsmangel manque de l'être in die Objektbeziehung einführt, wobei es sich des Verweisungswerts der Bedeutung bedient, um sie mit dem Begehren zu besetzen, das auf diesen Mangel zielt, den es unterhält. Das Zeichen "/" zwischen ( ) manifestiert dabei die Aufrechterhaltung des Balkens "/", der im ersten Algorithmus die Irreduzibilität bezeichnet, in der sich die Beziehungen des Signi- fikanten zum Signifikat der Widerstand der Bedeutung konstitu- iert. Nun die Formel: f(S'/S)S  S (+) s für die Metaphernstruktur, die anzeigt, daß in der Substitution des Signifikanten durch einen Signifikanten ein Bedeutungseffekt erzeugt wird, der poetisch ist oder schöpferisch, anders gesagt: Heraufkunft der in Frage stehenden Bedeutung. Das Zeichen "+" zwischen ( ) manifestiert hier das Überschreiten des Balkens "/" und den konstituierenden Wert, den dieses Überschreiten für das Zutagetreten der Bedeutung hat.535 Den Text schmücken die folgenden beiden Fußnoten: Das Zei- chen  bezeichnet die Kongruenz. S' bezeichnet in dem Kontext den produktiven Term der signifikanten Wirkung (oder Signifi- kanz), man sieht, daß dieser Term latent in der Metonymie, offen in der Metapher vorhanden ist. Unter 'Kongruenz' versteht man die völlige Übereinstimmung ebener geometrischer Figuren in Größe und Gestalt. Wie sich diese Eigenschaft der Geometrie hier in die aufgelisteten 'For- meln' einfügen soll, bleibt rätselhaft. Ansonsten findet sich im gesamten Aufsatz nicht eine einzige weitere Bemerkung zu diesen 'Formeln' oder irgendeine Bezug- nahme darauf. Es wird des weiteren weder erklärt, was das omi- nöse f( ), das I, das S ... S', das S'/S bezeichnen oder bedeuten soll, noch wie die Verknüpfung zwischen f und S in der Kombi- nation f( ) S geschehen soll. Ohne diese Angaben bleiben die 'Formeln' inhaltslos, in diesem Fall sogar ohne Sinn, weil nicht einmal gesagt wird, was die eigenartigen 'Beziehungen' eigent- lich besser oder anders begreiflich machen können als der Text selbst. Insgesamt befinden sich die Ergebnisse der Untersuchungen von Sokal und Bricmont in Übereinstimmung mit den Erfahrungen 535 Lacan, S. 199-200 3 Ergebnisse und Schlußbemerkungen _____________________________________________________________ 462 der vorliegenden Forschungsarbeit, insbesondere mit der gene- rellen Tendenz, daß Zusammenhänge mißverstanden werden auf Grund fehlender Grundlagen der Physik und Mathematik. Die allgemeineren Schlüsse, die Sokal und Bricmont daraus ziehen wollen, sind allerdings nicht nachvollziehbar. Zu Lacans Entlastung muß auch gesagt werden, daß die in obi- gem Beispiel von ihm verwendete 'Mathematik' offenbar nicht spezialdiskursiv gelesen werden kann. Wahrscheinlich müssen zum Verständnis seiner 'Formeln' bestimmte gleichwertige inter- diskursive Diskurspositionen gesucht werden. Leider finden sich aber in Lacans Text kaum Hinweise darauf. Musils literarisches Werk ist ohne elementares Lehrbuchwissen der naturwissenschaftlichen und mathematisch-statistischen Spe- zialdiskurse nicht adäquat zu lesen. Der Grund liegt in der direk- ten, operationalen Ankopplung der verarbeiteten Fachdiskurse. Gerade die üblicherweise in der Literatur anzutreffende sem- synthetische Vernetzung von Diskursen536 findet man in Musils Texten nur außerordentlich selten. Die Verbindungen zwischen den verschiedenen (naturwissenschaftlichen, mathematischen) Wissensbereichen werden bei Musil niemals bloß durch Meta- phorik oder Analogiebildung erzielt, sondern immer auch durch wissenschaftliche Zusammenschau der entsprechenden Spezial- diskurse, wie der vorliegende Kommentar nachgewiesen hat. Im Sinne dieser Sonderstellung des Musilschen Werks, auf der z.T. auch seine große Bedeutung beruht, fordert der Protagonist des dmoe gleich im Anfangsteil des Romans gleichsam in Form eines kategorischen Imperativs: "Der wissenschaftliche Mensch ist heute eine ganz unvermeidliche Sache; man kann nicht nicht wissen wollen! ..." 537. Der hier erarbeitete Kommentar hat an zahlreichen ausgesuchten Beispielen deutlich gemacht, welche Dimensionen das Roman- werk Musils auf naturwissenschaftlichen und mathematischen Gebieten besitzt. Er hat darüber hinaus auch die wesentlichen Richtungen und Linien aufgezeigt, die Musils generelles wissen- schaftliches Denken bestimmt haben. Ein sehr interessanter Fragenkomplex, welcher sich an den von Musil entwickelten 'anderen Zustand' für Ulrich und Agathe oder 536 Link Versuch über den Normalismus S. 51 537 Siehe: dmoe: S. 214 und Abschnitt 2.1.14.4 dieser Arbeit Ergebnisse und Schlußbemerkungen _____________________________________________________________ 463 an die 'psychologischen' Modelle für Clarisse und Moosbrugger anschließt, konnte in den Rahmen dieser Arbeit nicht aufgenom- men werden. Es ist aber zu erwarten, daß die hier gewählten Un- tersuchungsformen auch auf diese bisher vorwiegend als rein psychologisch eingestuften Modelle erfolgreich auszudehnen sind. Wahrscheinlich würde sich für diesen Bereich eine größere Anzahl naturwissenschaftlicher und kulturwissenschaftlicher Spezialdiskurse nachweisen lassen, die ineinandergreifen, aber in keiner 'Gesamtbeschreibung' aufgehen. Anhaltspunkte dafür hat dieser Kommentar bereits anhand der mathematisch-natur- wissenschaftlichen Behandlung von Zuständen und Zustands- änderungen ergeben. 4 Literatur _____________________________________________________________ 464 4 Literatur 4.1 Texte Robert Musils Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs Inaugural- Dissertation, Berlin 1908 ABKÜRZUNG: (dr S. ...) Der Mann ohne Eigenschaften Adolf Frisé (Hg.), Reinbek b. Hamburg 1952 Tagebücher Bd. 1, Adolf Frisé (Hg.), Reinbek b. Hamburg 1976 ABKÜRZUNG: (tg1 S. ...) Tagebücher und Anmerkungen Bd. 2, Adolf Frisé (Hg.), Reinbek b. Hamburg 1976 ABKÜRZUNG: (tg2 S. ...) Gesammelte Werke. Der Mann ohne Eigenschaften. Bd. I, Adolf Frisé (Hg.), Reinbek b. Hamburg 1978 ABKÜRZUNG: (S. ...) Gesammelte Werke. Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik. Bd. II, Adolf Frisé (Hg.), Reinbek b. Hamburg 1978 ABKÜRZUNG: (pr S. ...) 4.1 Texte Robert Musils _____________________________________________________________ 465 Robert Musil. Briefe 1901-1942. Mit Briefen von Martha Musil, Alfred Döblin, Efraim Frisch, Hugo von Hof- mannsthal, Robert Lejeune, Thomas Mann, Dorothy Nor- man, Viktor Zuckerkandl und anderen. Adolf Frisé (Hg.), Murray G. Hall (Mitarb.), Reinbek b. Hamburg 1981 Der literarische Nachlaß Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl u. Adolf Frisé (Hg.), CD-ROM, Philologisches Er- schließungsprogramm (PEP), Reinbek b. Hamburg 1992 ABKÜRZUNG: (nl 'Mappengruppe'/'Mappennr.'/S. …) 4 Literatur _____________________________________________________________ 466 4.2 Weitere Primärtexte Bachmann, Ingeborg Werke Bd. 1-4 Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster (Hg.), München 1984 Todesarten: Malina und unvollendete Romane Bd. 3 Essays. Reden. Vermischte Schriften. Anhang. Bd. 4 Brecht, Bertolt Gesammelte Werke in 20 Bänden Elisabeth Hauptmann (Hg.), Frankfurt a. Main 1973 Die Geschichte der Simone Machard. Schweyk im Zweiten Weltkrieg. Der kaukasische Kreidekreis. Die Tage der Commune. Turandot oder Der Kongreß der Weißwäscher. Bd. 5 Geschichten von Herrn Keuner. Me-ti / Buch der Wen- dungen. Der Tui-Roman. Bd. 12 Enzensberger, Hans Magnus Mausoleum. Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts. Frankfurt a. Main 1975 Gangarten. Ein Nachtrag zur Utopie. Kursbuch, Heft 100 (1990), S. 1-10 Foucault, Michel Archäologie des Wissens Ulrich Köppen (Übers.), Originaltitel: L'archéologie du savoir Frankfurt a. Main 1988 Die Ordnung des Diskurses Walter Seitter (Übers.), Originaltitel: L'ordre du discours Frankfurt a. Main 1994 4.2 Weitere Primärtexte _____________________________________________________________ 467 Freud, Sigmund Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum. Frankfurt a. Main 1973 Studienausgabe in 10 Bänden Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey (Hg.), Frankfurt a. Main 1982 Die Traumdeutung Bd. II Psychologische Schriften Bd. IV Sexualleben Bd. V Hysterie und Angst Bd. VI Zwang. Paranoia und Perversion. Bd. VII Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Bd. IX Bildende Kunst und Literatur Bd. X Gottfried von Straßburg Tristan Karl Marold (Hg.), besorgt von Werner Schröder, 2. Auflage, Berlin 1977 Goethe, Johann Wolfgang Gesamtausgabe in 45 Bänden München 1963 Die Wahlverwandtschaften Bd. 19 Hegel, Georg Wilhelm Friederich Phänomenologie des Geistes Hans-Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont (Hg.), Hamburg 1988 Irigaray, Luce Ethik der sexuellen Differenz Xenia Rajewsky (Übers.), Originaltitel: Éthique de la différence sexuelle Frankfurt a. Main 1991 The 'mechanics' of fluids In: This Sex Which Is Not One. Catherine Porter and Carolyn Burke (Transl.), Original- titel: Ce sexe qui n'en est pas un Ithaca, N. Y., 1985 Kant, Immanuel Kritik der reinen Vernunft Raymund Schmidt (Hg.), Hamburg 1971 4 Literatur _____________________________________________________________ 468 Keller, Gottfried Das Sinngedicht Stuttgart 1995 Kleist, von, Heinrich Sämtliche Werke. Dramen. Erzählungen. Gedichte. Briefe. K. F. Reinking (Hg.), Wiesbaden 1976 Lotze, Rudolf Hermann Logik. Erstes Buch. Vom Denken. Reine Logik. Gottfried Gabriel (Hg.), Hamburg 1989 Mechthild von Magdeburg Das fließende Licht der Gottheit Hans Neumann (Hg.), besorgt von Gisela Vollmann-Profe, Bd. 1, München 1990 Meyer, Conrad Ferdinand Sämtliche Gedichte Stuttgart 1986 Müller, Robert Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs. Stuttgart 1993 Neidhart Die Lieder Neidharts 4. Auflage, Edmund Wießner, Hanns Fischer, Paul Sappler (Hg.), Tübingen 1994 Nietzsche, Friedrich Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA) in 15 Bänden. Giorgio Colli u. Mazzimo Montinari (Hg.); München 1988 Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen. Nachgelassenen Schriften 1870-1873. Bd. 1 Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Der Antichrist, Ecce homo. Dionysos-Dithramben. Nietzsche contra Wagner. Bd. 6 Proust, Marcel Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. In Swanns Welt. Eva Rechel-Mertens (Übers.), Originaltitel: A la recher- che du temps perdu. Du côté de chez Swann. Frankfurt a. Main 1983 A la recherche du temps perdu. Du côté de chez Swann. Paris 1945 4.2 Weitere Primärtexte _____________________________________________________________ 469 Spengler, Oswald Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morpho- logie der Weltgeschichte. (Originalausgabe in zwei Bänden: 1918-1922) München 1963 Wittgenstein, Ludwig Werkausgabe in 8 Bänden Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen. Bd. 1, Joachim Schulte (Bearb.), Frankfurt a. Main 1989 Das Blaue Buch. Eine Philosophische Betrachtung (Das Braune Buch). Bd. 5, Rush Rhees (Hg.), Petra Morstein (Übers.), Frankfurt a. Main 1997 4 Literatur _____________________________________________________________ 470 4.3 Sekundärschriften Albertsen, Elisabeth Ratio und Mystik im Werk Musils München 1968 Alt, Peter-André Ironie und Krise. Ironisches Erzählen als Form ästheti- scher Wahrnehmung in Thomas Manns "Der Zauberberg" und Robert Musils "Der Mann ohne Eigenschaften". Frankfurt a. Main 1989 Basil, Otto in: Ingeborg Bachmann. Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. Christine Koschel und Inge von Weidenbaum (Hg.), München 1988, S. 101-105 Baur, Uwe Musils Novelle "Die Amsel". Figurierung der Persönlich- keitsspaltung eines Rahmenerzählers. In: Vom "Törless" bis zum "Mann ohne Eigenschaften" Uwe Baur und Diet- mar Goltschnigg (Hg.), Musil-Studien, Bd. 4, München 1973, S. 237-292 Baur, Uwe und Dietmar Goltschnigg Musils Beziehungen zu Graz. Zwei unbekannte Briefe Ro- bert Musils an Alexius von Meinong. In: Vom "Törless" zum "Mann ohne Eigenschaften" Uwe Baur und Dietmar Goltschnigg (Hg.), Musil-Studien, Bd. 4, München 1973, S. 9-18 Beicken, Peter Ingeborg Bachmann München 1988 Blasberg, Cornelia Verwirrungen eines Ingenieurs. Robert Musil in Stuttgart: 1902-1903. Marbach 1989 4.3 Sekundärschriften _____________________________________________________________ 471 Bode, Christoph Ästhetik der Ambiguität. Zu Funktion und Bedeutung von Mehrdeutigkeit in der Literatur der Moderne. Tübingen 1988 Böhme, Hartmut Anomie und Entfremdung. Literatursoziologische Unte- rsuchungen zu den Essays Robert Musils und seinem Ro- man 'Der Mann ohne Eigenschaften' Kronberg 1974 Melencholia I. Im Labyrinth der Deutung. Frankfurt a. Main 1991 Bouveresse, Jacques L' homme probable. Robert Musil, le hasard, la moyenne et l' escargot de l' histoire. Combas 1993 Corbineau-Hoffmann, Angelika Marcel Proust: A la recherche du temps perdu. Ein- führung und Kommentar. Tübingen 1993 Corino, Karl Robert Musil. 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Bearbeitung von Helmut Hildebrandt u. a., Berlin 1994 5 Abbildungs- und Tafelverzeichnis _____________________________________________________________ 488 5 Abbildungs- und Tafelverzeichnis Abbildung 1 Robert Musil bei einem Faschingsfest in Wien. Von links: Robert Musil, Ea von Allesch, Martha Musil, ein unbekannter Harlekin. Kniend: Franz Blei. Karl Corino Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten. Reinbek bei Hamburg 1988, S. 308 ................................................ 3 Abbildung 2 Ankündigung des 1. Buches des dmoe-Romans im Jahre 1931. Die Photographie entstammt dem Robert-Musil-Museum in Klagenfurt. ........22 Abbildung 3 Wetterkarte des deutschen Wetterdienstes Essen. Bereiche hohen und tiefen Drucks sind durch H bzw. T kenntlich gemacht. Die Isobaren (Verbindungslinien gleichen Drucks) sind mit den entsprechenden Druckangaben versehen. Die dick gezeichneten Linien bezeichnen Warm- (dunkle Halbkreise) bzw. Kaltwetterfronten (dunkle Dreiecke). Der Druck ist in Hektopascal angegeben: 1000 hPa = 1 bar 1 atm. .............................27 Abbildung 4 Photographie einer Gewitterwolke, die wissenschaftlich 'Cumulonimbuswolke' genannt wird. Aus Cumulonimbuswolken fallen häufig schwere Regen-, Schnee- und Hagelschauer. Ihr typisches Merkmal ist ein schirmartiges Gebilde an ihrem oberen Rand. Von der Seite gesehen hat die Wolke etwa Amboßform. Häckel, S. 105 .............................................30 Abbildung 5 Entwicklung der Sommertemperaturen Wiens in den Jahren von 1780 bis 1992. Die Zigzag-Linie gibt Einzeljahresmittelwerte (arithmetische) an, die Wellenlinie geglättete Werte und die horizontale Linie stellt den Gesamtmittelwert über den betrachteten Zeitraum dar. Alle Angaben in Grad Celsius. Bergmann-Schaefer Lehrbuch der Experimentalphysik. Erde und Planeten. Bd. 7, Berlin 1997, S. 415-419........31 Abbildung 6 Die Zeichnung stellt schematisch ein Haarhygrometer zur Messung der relativen Luftfeuchtigkeit dar. Ein entfettetes Frauenhaar H ist in einem Metallrahmen M mit einem Ende an einer Schraube A befestigt. Am unteren Ende läuft es um die Achse B eines Zeigers Z und wird mit einem kleinen Gewicht G belastet. Verändert sich die Haarlänge, so wird dies durch den Zeiger sichtbar gemacht. Zur Eichung bringt man das Gerät in einen mit Wasserdampf gesättigten Raum und stellt nach einiger Zeit den Zeiger durch Regulieren der Schraube A auf den Wert 100 % (Sättigungswert). Siehe: Bergmann-Schaefer, Bd. 1, Berlin 1990, S. 772 ....... 33 Abbildung 7 Skizze der Schichtung der Atmosphäre. Das 'Wetter' spielt sich nur in der Troposphäre ab. Wolken können bis zur Tropopause auftreten. Die eingezeichnete, um 90 Grad gedrehte 'W-Linie' zeigt, wie die Temperatur zunächst bis zu einer Höhe von ca. 12 km ständig absinkt, dann wieder zunimmt und erneut auf etwa -100 0C abfällt. In der sog. Thermosphäre steigt die Temperatur dann wieder aufgrund der Absorption energiereicher Sonnenstrahlung an. Vergleiche: Malberg, S. 20 ff ..................35 Abbildungs- und Tafelverzeichnis _____________________________________________________________ 489 Abbildung 8 Skizziert ist die Ablenkung des Luftstroms zwischen einem Hoch- und einem Tiefdruckgebiet durch die Corioliskraft, einer Scheinkraft, die aufgrund der Erdrotation zustande kommt. Es resultiert eine Strömungsrichtung (geostrophischer Wind) senkrecht zu derjenigen der reinen Druckkraft, die durch das Druckgefälle entsteht. Die Abbildung zeigt den nur geringen Druckunterschied zwischen einem Hochdruckgebiet und einem Tiefdruckgebiet an. Malberg, S. 60........................................................36 Abbildung 9 Dargestellt ist schematisch eine Strahlenführung, die ein kontinuierliches Lichtspektrum erzeugt. Ausgehend von einer 'weißen' Lichtquelle K (Bogenlampe) wird das Licht mit einer Hilfslinse C und einer Blende gebündelt, dann durch eine Zusatzlinse und das Prisma geschickt. Die Spektralaufspaltung geschieht durch die wellenlängenabhängige Brechung des Lichtes, die Dispersion. Robert Wichard Pohl Einführung in die Physik. Optik und Atomphysik. Bd. 3, Berlin 1963, S. 19...........................44 Abbildung 10 Lichtwellen entstehen durch elektrische und magnetische Felder, die orthogonal (im rechten Winkel) zueinander und zur Bewegungsrichtung schwingen und den leeren Raum mit Lichtgeschwindigkeit durcheilen. Elektromagnetische Wellen sind den Wasserwellen entsprechend sog. Transversalwellen mit sinusförmiger Form. Die dargestellte Skizze zeigt schematisch die Lichtwelle. Eingezeichnet ist zusätzlich die Wellenlänge λ. Siehe: Kenneth R. Lang Die Sonne, Stern unserer Erde Berlin 1996, S. 13 ..................................................44 Abbildung 11 Frequenzbereich elektromagnetischer Wellen. Die Frequenz ist in der Einheit Hertz (1 Hz = 1 s-1) angegeben. Das Gebiet des sichtbaren Lichtes (schraffiert gezeichneter Bereich) macht nur einen kleinen Teil zwischen 1014 Hz und 1015 Hz aus, während sich der Gesamtbereich über 22 Zehnerpotenzen erstreckt. Vergleiche Lang, S. 13 ...........................................45 Abbildung 12 Farbkreis. Die Felder der komplementären Farben liegen jeweils gegenüber. Komplementäre Farben sind solche, die sich bei Mischung zu grau ergänzen, z.B. ein Grün und ein Rot. Pohl, Bd. 3, S. 349. Siehe auch: Johannes Itten Kunst der Farbe Ravensburg 1961, S. 34 und S. 78................. 46 Abbildung 13 Farbkreisel nach Musil..................................................................48 Abbildung 14 Bruce Morton schreibt: Rendition of Halley’s Comet (1456) as it appeared in the 'Nuremberg Chronicle'. This Illustration is commonly seen in the literature of Halley’s Comet. ..........................................................55 Abbildung 15 Photo eines Verkehrsunfalls der Allgemeinen Berliner Omnibus Aktien Gesellschaft (ABOAG) der zwanziger Jahre. Corino schreibt dazu: Wie aus der Erzählung "Der Riese Aboag" hervorgeht, hat Musil einen Unfall der Aboag, der Allgemeinen Berliner Omnibus Aktiengesellschaft, verfolgt. (Corino Robert Musil S. 347). Offensichtlich ist hier die tatsächliche Überschrift der Musilschen Erzählung beim Druck verloren gegangen. Sie lautet Der Riese Agoag, und im Text wird auch erklärt, was dies bedeuten könnte: Der Riese hieß Agoag. Das bedeutete vielleicht Allgemein - geschätzte - Omnibus - Athleten - Gesellschaft; denn wer heute noch Märchen erleben will, darf mit der Klugheit nicht ängstlich umgehen. (pr S. 532)......................................................................................... 58 Abbildung 16 Musils Zeichnung zum vorher zitierten Text einer Unfallbeschreibung aus seinen Tagebüchern (tg1 S. 821)................................61 Abbildung 17 Photographie des Palais' Salm. Karl Corino schreibt dazu: Palais Salm, Rasumofskygasse, Wien, auf das Musil aus dem Fenster hinter seinem Schreibtisch sah. Dieses Palais schwebte ihm vor als "Haus und Wohnung des Mannes ohne Eigenschaften". Corino Robert Musil S. 348 ....70 Abbildung 18 Skizze eines mathematischen Pendels. Die Pendellage ist in bestimmter Auslenkung (Abstand vom Nulldurchgang) x gezeichnet. Pendellänge und Pendelmasse sind mit L bzw. m benannt. Die auf die Pendelmasse wirkende Tangentialkraft Ft ist durch die Schwerkraft mg und eine entsprechende Winkelfunktion sinα gegeben. Unter diesen Bedingungen läßt sich auf direktem Weg die Differentialgleichung für die Schwingung und 5 Abbildungs- und Tafelverzeichnis _____________________________________________________________ 490 daraus die Schwingungsdauer des Pendels berechnen. Bergmann-Schaefer Bd. 1, Berlin 1998, S. 598-600; Kamke et al., S. 392-395 74 Abbildung 19 Bildung und Form einer Gewitterwolke (Cumulonimbus; s. auch Abb. 4, S. 30). Bei starker lokaler Erwärmung des Bodens entstehen kräftige feuchtwarme Aufwinde (Konvektion), die zur tröpfchenartigen Kondensation führen. Je höher diese feuchtlabile Luft-schichtung getrieben wird, desto stärker kühlt sie sich ab. Die Wassertröpfchen im oberen Teil der Wolke wandeln sich dadurch teilweise in Eiskristalle um. Durch Auf- platzen der Kristalle und durch Tröpfchenzerstäubung entstehen Ladungstrennung und schließlich Gewitter. Malberg, S. 99 ff .........................79 Abbildung 20 Schematische Darstellung der Eiskristallformen, die beim Übergang vom unterkühlten Tröpfchen zum Kristall auftreten. Die Formen entstehen je nach den Bedingungen der Auskristallisation, sie hängen im wesentlichen von der Keimbildung an vorhandenem Staub und der Geschwindigkeit des Festwerdens ab. Bei 0 0C bis -5 0C sind dünne Plättchen, Nadeln oder Prismen zu erwarten, für tiefere Temperaturen 'Sterne' oder hexagonale Plättchen. Siehe Malberg, S. 89-91 oder Häckel, S. 118 ...............80 Abbildung 21 Schematisierte molekulare Struktur des Eiskristalls. Große Kugeln: Sauerstoffatome (O); kleine Kugeln: Wasserstoffatome (H). Jedes Sauerstoffatom ist tetraedrisch von vier Nachbarsauerstoffatomen umgeben. Die Gitterstruktur im Eiskristall basiert im wesentlichen auf der Wasserstoff-Brücken-Bindung zwischen den Sauerstoffatomen. Dadurch ergibt sich eine offene Form, die H2O-Moleküle können ihre Orientierung im Gitter weitgehend frei einstellen und dadurch die gezeigten unterschiedlichen Kristallformen ausbilden. Moore, S. 679.............................81 Abbildung 22 Schematisierte Darstellung des Ptolemäischen Welt-Systems. Die Erde steht im Mittelpunkt. Mond, Planeten und Sonne kreisen in gleicher Weise um die Erde. DTV-Lexikon d. Phys., Bd. 10, S. 110...............90 Abbildung 23 Schematisch gezeichneter Aufbau unserer Milchstraße. Die rechte Darstellung zeigt deren spiralartige Struktur mit einem Durchmesser von 30 kpc. Links ist ein Schnitt senkrecht dazu gezeichnet, aus dem hervorgeht, daß es sich um eine relativ schmale, spiralförmige Scheibe handelt. Die gezeichneten Punkte symbolisieren sog. Sternhaufen. Der Abstand unserer Sonne vom Kern der Galaxie beträgt 8,5 kpc (1 kpc = 3260 Lichtjahre = 3,086 1016 km). Bergmann-SchaeferLehrbuch der Experimentalphysik. Sterne und Weltraum. Bd. 8, Berlin 1997, S. 59-164......90 Abbildung 24 Zweidimensionales atomares Schema einer Kristallstruktur. Charakteristisch für das Gitter ist die feste Ordnung der Molekülplätze. Man spricht von Fernordnung. Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 1007 ff .......... 98 Abbildung 25 Zweidimensionale schematische Darstellung der molekularen Struktur einer Flüssigkeit. Die Modellatome bilden eine 'dichte Kugelpackung' ohne feste Ordnung. D.h. die Moleküle können sich im Rahmen der vorgegebenen Dichte frei bewegen. Man spricht dabei von Nahordnung. Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 1008..................................98 Abbildung 26 Schematische Zeichnung des Wassermoleküls. Die Größe der H- Atome bzw. des O-Atoms ist durch die schwarzen Kreisfelder angedeutet. ..101 Abbildung 27 Ausschnitt aus dem experimentell bestimmten Phasendiagramm des Wassers. Unter dem Tripelpunkt versteht man diejenigen thermodynamischen Bedingungen, unter welchen alle drei Phasen, also Dampf, Flüssigkeit und Feststoff (Eis), gemeinsam auftreten. Als kritischen Punkt bezeichnet man die äußerste Stelle des Gebietes, in welchem die flüssige Phase überhaupt noch möglich ist. Die Druckeinheit kp/cm2 ist heute nicht mehr gebräuchlich, statt dessen benutzt man Pa (Pascal) oder bar. 1 Pa = 10-5 bar = (10-4/9.81) kp/cm2. Pohl, Bd. 1, S. 282....................................102 Abbildung 28 Stark schematisierte Darstellung der Schwerpunktsbewegung beim Gehen. Der Schwerpunkt S ist etwa in Beckenhöhe eingezeichnet, wie es dem menschlichen Körper angenähert entspricht. Bei völlig aufrechtem Abbildungs- und Tafelverzeichnis _____________________________________________________________ 491 Stand liegt der Schwerpunkt unmittelbar vor dem fünften Lendenwirbel. Vergleiche: Herbert Lippert Lehrbuch Anatomie München 1996, S. 732 ......119 Abbildung 29 Der obere Teil der Abbildung zeigt Aufbau und Strahlengang eines Prismenfernglases (Feldstecher). Das Fernglas besteht im Prinzip aus einem Objektiv, welches ein Zwischenbild auf das Okular wirft. Durch letzteres wird dann das vergrößerte Zwischenbild betrachtet. Zur räumlichen Verkleinerung des Strahlenganges und zur Erzeugung eines aufrechten Bildes schaltet man ein sog. Prismen-Umkehrsystem zwischen Objektiv und Okular. Im unteren Teil der Abbildung sind System und zugehöriger Strahlengang genauer aufgezeichnet. Die dabei entstehende Versetzung des Strahles ist deutlich zu erkennen. Vergleiche: Bergmann-Schaefer Lehrbuch der Experimentalphysik. Optik Bd. 3, Berlin 1993, S. 172-179............................ 121 Abbildung 30 Photographie einer Suspension aus Wasser und Aluminiumpulver. Die Suspension durchströmt turbulent einen Glasbehälter. Die Verwirbelungen werden durch die Seitenwand des Gefäßes gezeigt. Der Betrag der Strömungsgeschwindigkeit ist hier 12 cm/s. Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 578 ..............................................124 Abbildung 31 Bifurkationskaskade der im Text angegebenen logistischen Funktion. Der Wert von xn für n ist entweder ein eindeutiger Grenzwert oder er wechselt bei jeder Iteration zwischen geraden Iterationszahlen, also 2, 4, 8, 16 usw., oder schwankt ganz unregelmäßig im Bereich: 0 x 1. Wie dem Funktionsschaubild zu entnehmen ist, bleibt der Wert zunächst konstant gleich 0, dann steigt er monoton an, und bei Werten größer oder gleich 3 gibt es Bifurkationen an den Stellen rN. Für größere Werte als r* = 3,569945 stellen sich unendlich viele verschiedene Werte für x  ein, mit Ausnahme bestimmter 'periodischer Fenster' im Bereich r 4. Diese periodischen Fenster stellen einen Übergangszustand dar, der weder ganz regelmäßig noch ganz chaotisch ist. Der Zustand zeigt gewisse geordnete periodische Strukturen. Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 584..................125 Abbildung 32 Auf einem Rechner simuliertes fraktales Wachstum. Teilchen lagern sich zufällig mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit an einen Keim an. Die Wahrscheinlichkeit des Anlagerns wurde für das linke Bild nur um 5% gegenüber derjenigen rechts im Bild geändert. Für die Erzeugung von Fraktalen auf der Ebene des Computerbildschirms gilt eine Hausdorff- Dimension von ca. 1,5. Vergleiche: H. Vogel, S. 993-997.............................127 Abbildung 33 Photographie 'unserer' Stubenfliege (♀). Gut erkennbar ist ein Exemplar des leistungsfähigen Komplexaugenpaars. Die Stubenfliege (Musca domestica) gilt als Prototyp der Fliegen überhaupt, gehört zur Familie der Echten Fliegen und der Ordnung der Zweiflügler (Diptera). Im Gegensatz zu anderen Insekten ist das hintere Flügelpaar bei den Diptera zu Schwingkölbchen, den sog. Halteren, umgebildet. Durch diese Reduzierung auf ein einzelnes Flügelpaar werden jedoch Flugtüchtigkeit und Manövrierfähigkeit der Tiere beträchtlich gesteigert. Die Zweiflügler werden unter die besten und schnellsten Flieger der Insekten gerechnet (siehe auch Abb. 34). Vergleiche: Urania Tierreich. Insekten 3. Bd. 3, Leipzig 1994, S. 484 ff ...................................................................................128 Abbildung 34 Schaubild experimentell bestimmter Flügelschlagfrequenzen in Abhängigkeit von der Flügellänge für Insekten und Vögel. Unter den Insekten haben die Fliegen (Ordnung: Diptera) die höchsten Werte von einigen hundert Hertz. Zu beachten: doppelt-logarithmische Auftragung! Vergleiche: Physiologie der Insekten M. Gewecke (Hg.), Stuttgart 1995, S. 182 .............129 Abbildung 35 Schematische Vorderansicht eines Insektenkopfes. Die riesigen Facettenaugen (Fa) sitzen seitlich am Kopf des Tieres, während die Punktaugen (Ocellen) sich auf der Stirn befinden. Gekennzeichnet sind weiterhin: Scheitel (S); Fühler (F); Stirn (St); Wange (W); Kopfschild (Ks); Oberkiefer (Ok); Oberlippe (Ol). Das Urania Tierreich. Insekten 1. Bd. 10, S. 15 ................................................................................. 134 5 Abbildungs- und Tafelverzeichnis _____________________________________________________________ 492 Abbildung 36 Darstellung der Drosophila melanogaster. Links: ♂, rechts: ♀. Die Größe dieser Taufliegen beträgt ca. 2,5 mm. Weltweit sind etwa 3000 Arten der Taufliegen bekannt. Biologie und Ökologie der Insekten ..............136 Abbildung 37 Vereinfachte Genkarte der Drosophila melanogaster. Am Kopf der Karte befindet sich das Ideogramm der Chromosomen dieser Taufliege: große Chromosomen haben lange, kleine kurze Genkarten. Die römischen Zahlen kennzeichnen die vier Arten von Chromosomen, und zwar jeweils für das X-Chromosom. Diese biologischen Genkarten geben Lage und Reihenfolge der Gene (Erbanlagen) auf dem Chromosom an. Die aufgeführten Zahlen bedeuten 'Genkarteneinheiten'. Siehe: Rolf Knippers Molekulare Genetik Stuttgart 1997, S. 201.....................................................137 Abbildung 38 Schematische Darstellung der Energiebarriere, die überwunden werden muß, damit eine elementare Reaktion zwischen reagierenden Molekülen (Reaktanten) in Gang gesetzt wird. Moore, S. 257; Ulich-Jost Kurzes Lehrbuch der Physikalischen Chemie Darmstadt 1966, S. 288......145 Abbildung 39 Photographie Walther Rathenaus aus dem Jahre 1915. Vergleiche Corino Robert Musil S. 212. Zu Rathenaus großem 'Integrationscharakter' siehe: Rolf Parr Männer der Geschichte - historische oder semantische 'Größe'? Der Deutschunterricht, II (1995), S. 54-55 .........155 Abbildung 40 Schematische Darstellung der Benzolringstruktur. Zwischen den C-Atomen herrscht abwechselnd Doppel- oder Einfachbindung, man spricht von Resonanzbindungsstrukturen. Die Doppelbindung ist durch zwei Striche gekennzeichnet. Nur diese Ringstruktur ist sinnvoll mit der Summenformel des Benzols und der Vierwertigkeit des Kohlenstoffatoms zu vereinbaren.Siehe: Moore, S. 538-544 oder Roberts et al. ........................160 Abbildung 41 Schematische Darstellung des Quarzkri-stalls (SiO2). Links: atomare Struktur des Gitters. Rechts: Aussehen des Quarzkristalls. In der linken Zeichnung bedeuten die dunklen, bzw. schattierten Kreise Siliziumatome, die leeren Kreise Sauerstoffatome. Siehe: Jubelt, S. 207; Steinbach, S. 9-10........................................................................................... 160 Abbildung 42 Abgebildet ist Karneol in Rohform (2) und in der für die Schmuckherstellung bearbeiteten Form (3: sieben Stücke). Die meisten der heute auf dem Markt angebotenen 'Karneole' sind jedoch rötlich gefärbte Achate (ebenfalls Quarze). Siehe: Walter Schumann Edelsteine und Schmucksteine München 1981, S. 116-126 ....................................................161 Abbildung 43 Klassifizierung des Ereignisabstands im Minkowski-Raum (die Raumkoordinate in z-Richtung kann hier natürlich nicht eingezeichnet werden). Die eingeteilten Bereiche sind definiert durch die Möglichkeit, kausal mit dem Raum-Nullpunkt {ct0, x = 0, y = 0, z = 0} verbundene Ereignisse zu enthalten. Es bedeuten die Bereiche I + und I - 'absolute Zukunft' bzw. 'absolute Vergangenheit', der Bereich II 'Lichtkegel' und der Bereich III 'absolute Ferne'. Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 952...........164 Abbildung 44 Atomares, kubisch flächenzentriertes Gitter des Natriumchlorids NaCl (Kochsalz). Zu beachten ist der Größenunterschied zwischen den Chlor- und Natriumatomen (schraffierte Kreise: Chloratome). Moore, S. 660..........182 Abbildung 45 Mittlerer Bahnradius unserer Planeten. Die Asteroiden sind hier als Planeten symbolisiert. Der Abstand von einem Planeten zum nächstäußeren ist etwa doppelt so groß wie der zum nächstinneren. Vorsicht: logarithmische Skala. 1 AE = 1,496 108 km. Bergmann-Schaefer, Bd. 7, S. 434. Siehe dazu auch: Walter Krämer u. Götz Trenkler Das Beste aus dem Lexikon der populären Irrtümer Frankfurt a. Main 2000, S. 260-261............ 194 Abbildung 46 Skizze des von Lavoisier und Laplace 1780 angegebenen Eiskalorimeters. Der äußere, isolierende Teil des Kalorimeters (Bereich a) wird mit Eis angefüllt. Der Mantel der eigentlichen Reaktionskammer (Bereich b) wird ebenfalls mit Eis versehen. Die zu untersuchende Umsetzung erfolgt in der Reaktionskammer f, und das geschmolzene Eis sammelt sich im Trichterbereich d. Durch die während der betreffenden Umsetzung entstehende Wärmemenge kommt es anstelle einer Abbildungs- und Tafelverzeichnis _____________________________________________________________ 493 Temperaturerhöhung zum Abschmelzen des Eises aus Zone b bei konstanter Temperatur. Nach dem Experiment wird die Masse des Schmelzwassers bestimmt und daraus mit Hilfe der bekannten Schmelzwärme von Eis die Reaktionswärme der untersuchten Umsetzung errechnet. Durch den äußeren Eismantel verhindert man, daß während der Reaktion von außen Wärme ins Kalorimeter dringt. Es handelt sich also um ein adiabatisches Kalorimeter. Moore, S. 54 ff................................................................................................197 Abbildung 47 Figur aus konzentrischen Kreisen zum Nachweis von Scheinbewegungen. Bewegt man entweder die Abbildung oder den Kopf hin und her, so stellt man das Wandern zweier diametral durch die Figur laufender Sektoren fest. Es treten manchmal auch Farbeindrücke (gelb, rot oder blau) auf. Vergleiche: Hofstätter, S. 158-159.........................................204 Abbildung 48 Schema eines Zylinders mit beweglichem Stempel (oben). Stempel und Zylinderwände seien wärmeundurchlässig (adiabatisch). Der Zylinderboden sei aber ideal wärmeleitend (schwarz gezeichnet). In der unteren Reihe sind zwei Wärmereservoire R1 und R2 mit konstant gehaltenen Temperaturen T1 bzw. T2 (T1 > T2) und in der Mitte ein Isoliervolumen gezeichnet. Die Reservoire seien genügend groß, ihre Temperaturen nicht zu ändern, selbst bei Aufnahme oder Abgabe von bestimmten Wärmemengen. Der Zylinder mit Stempel kann mit den beiden Reservoiren in Kontakt gebracht werden oder in Mittelstellung ohne Kontakt bleiben, dann ist das Gas adiabatisch isoliert. Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 1119 ....................................................................................... 214 Abbildung 49 Im dargestellten PV-Diagramm finden sich die beschriebenen Zustandsstationen A, B, C, D, A des Carnotschen Kreisprozesses wieder. Gezeichnet sind die weniger steilen Isothermen T1 und T2 (Verbindungslinien von Zuständen gleicher Temperatur) und die sie schneidenden steiler abfallenden Adiabaten (Verbindungslinien von Zuständen mit vollständiger Wärmeisolierung). Die zu betrachtenden Zustände liegen jeweils auf dem Schnittpunkt der entsprechenden Isotherme mit der Adiabate. Anfangs- und Endzustand sind gekennzeichnet durch die Temperatur T1, das Volumen VA und den Druck PA. Des Kreisprozeß verläuft abwechselnd auf Isothermen und Adiabaten. Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 1119 ff....................................................................................216 Abbildung 50 Skizze einer elliptischen Planetenbahn um die Sonne. In einem der beiden Brennpunkte der Ellipse steht die Sonne. Der andere Brennpunkt ist durch ein 'Pluszeichen' gekennzeichnet. Der Leitstrahl Sonne - Planet ist für vier verschiedene Positionen auf der Ellipse angezeigt. Die beiden dadurch ausgeschnittenen Flächen A1 und A2 sind gleich groß. Sie werden gemäß dem zweiten Keplerschen Gesetz vom Leitstrahl in gleichen Zeiten überstrichen. Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1990, S. 122 ..................................225 Abbildung 51 Schattenriß einer Drehwaage (untere Darstellung, jedoch ohne die großen Massen) zur genauen Bestimmung der Gravitationskonstanten  (= 6,68 10-11 m3/(kg s2)). Im Prinzip wird die Beschleunigung gemessen, die eine bewegliche kleine Massenkugel gegenüber einer festen großen erfährt. Benutzt wird eine symmetrische Anordnung mit zwei beweglich aufgehängten kleinen und zwei festen großen Kugeln (obere Skizze). Im Experiment werden die beiden großen Massen umgeschwenkt, wie in der oberen Skizze angegeben. Dadurch geraten die beiden kleinen Kugeln in eine beschleunigte Bewegung, wobei der zurückgelegte Weg in bestimmten Zeiten gemessen wird. Da die Auslenkung der kleinen Kugeln außerordentlich gering ist, wird sie über einen Spiegel und einen geeignet positionierten langen Lichtstrahl in nahezu 1500-facher Vergrößerung gemessen. Vergleiche: Pohl, Bd.1, S. 40-42................................................... 226 Abbildung 52 Schematisch gezeichnet sind jeweils zwei Kästen mit der gleichen Anzahl schwarzer und weißer Kugeln, und zwar einmal nach 'Farben' geordnet, das andere Mal vollständig gemischt. Die Kästen werden 5 Abbildungs- und Tafelverzeichnis _____________________________________________________________ 494 durch eine geeignete Vorrichtung dauernd geschüttelt und können außerdem über eine Brücke in Verbindung gebracht werden. Siehe Moore, S. 246 .......232 Abbildung 53 Schematisch gezeichneter Strahlengang im Regentropfen zur Erklärung des Regenbogens. Oben: Hauptregenbogen; unten: sekundärer Regenbogen. Im ersten Fall tritt zunächst eine Brechung, dann eine Reflexion und abschließend wieder eine Brechung auf. Im zweiten Fall schließen sich an die erste Brechung zwei Reflexionen an, bevor eine weitere Brechung erfolgt. S: Sonnenstrahl; B: Brechung; R: Reflexion. Winkel in Grad. Häckel, S. 193. Siehe auch: Vielstrahlinterferenz................244 Abbildung 54 Das einfallende Sonnenlicht wird im Regentropfen in Form eines Kegelmantels der Öffnung 2 x 410 zurückgeworfen. Häckel, S. 194 ....246 Abbildung 55 Schematische Darstellung der Eindecker-Propeller-Maschine, die Louis Blériot 1909 für seinen Flug über den Ärmelkanal benutzte. Siehe: Arthur Gordon Die Fliegerei. Illustrierte Geschichte von den Anfängen bis zur Raumfahrt. Gütersloh 1964, S. 140 ....................................249 Abbildung 56 Photographie eines zur Zeit der Kanalüberfliegung durch Louis Blériot entstandenen Wandteppichs. Vergleiche: Gordon, S. 132.................. 249 Abbildung 57 Anordnung zweier Drahtspulen zur Demonstration der Faradayschen Induktionserscheinungen. Die Feldspule (Sp) ist mit einer Gleichstromquelle, einem Schalter und einem Widerstand zu einem Stromkreis verbunden. Die Induktionsspule (J) ist nur mit einem Spannungsmesser versehen. Schaltet man den Strom im Stromkreis der Spule Sp ein, so erhält die Induktionsspule J einen Spannungsstoß, der mit dem Spannungsmesser angezeigt wird. Vergleiche: Pohl, Bd. 2, S. 63..........253 Abbildung 58 Die obere Photographie zeigt in Aufsicht einen gleichstromführenden Ringleiter. Das durch den elektrischen Strom erzeugte Magnetfeld ist durch Eisenfeilspäne sichtbar gemacht. Die Magnetfeldlinien umgeben den Ring in exzentrischen Kreisen. Dadurch entseht im inneren des Ringes ein Gebiet linearer Feldlinien. Die Richtung der Magnetlinien resultiert aus der Stromrichtung. Rechtsschraubenregel: fließt in dem sichtbaren Teilstück des Ringes der Strom von unten nach oben, so zeigen die Magnetfeldlinien im linearen Gebiet nach links. Im unteren Bild ist der Stromring durch eine stromführende Spule ersetzt. Dadurch erhält man näherungsweise das homogene Magnetfeld eines Stabmagneten mit Nord- und Südpol an den Enden der Spule. Pohl, Bd. 2, S. 2; S. 56-59....................257 Abbildung 59 Links ist die Dichte der Normalverteilung (Gaußsche Glockenkurve) dargestellt. Sie entspricht einer Exponentialfunktion mit negativem quadratischem Exponenten. Die Dichtefunktion ist so normiert, daß ihr Integral, die Verteilungsfunktion (rechts gezeichnet), über den gesamten Integrationsbereich gerade 1 ergibt. Die Normalverteilung ist eindeutig durch ihren Erwartungswert µ und die Standardabweichung σ charakterisiert. Die mathematische Form der Dichtefunktion lautet: φ(x) = [1/(σ√2π)] exp[-(x-µ)2/(2σ2)]. Handbuch d. Math., S. 662 ff; Bosch, S. 252 ff ................................................................... 276 Abbildung 60 Die Graphik zeigt die relative Häufigkeit für das Zufallsexperiment des Münzwurfs. Aufgetragen ist relative Häufigkeit n1/n, 'Kopf' als Ergebnis des Experiments zu finden, in Abhängigkeit von der Gesamtzahl der Würfe. Die relative Häufigkeit wurde mit dem Computer berechnet, wobei die Zufallszahlen +1 ('Zahl') und -1 ('Kopf') durch einen Zufallszahlengenerator erzeugt wurden. Die Gesamtzahl der 'Würfe' wurde in Schritten von 500 erhöht. Die niedrigste Zählung geschah nach 100 Würfen. Es ist evident, daß die Abweichungen vom theoretischen Wert 1/2 mit wachsender Zahl der Würfe deutlich kleiner werden. Eigene Rechnungen 1997. ..........................................................................................280 Abbildung 61 Flußdiagramm für die Beziehungen zwischen mathematischer Wahrscheinlichkeitstheorie und deren Anwendung in der praktischen Statistik. Siehe: Kaizik, S. 35 .........................................................................282 Abbildungs- und Tafelverzeichnis _____________________________________________________________ 495 Abbildung 62 Übersichtstafel zur 'Kausalität' für die klassische und quantenmechanische Physik. Das mathematische Schema, mit dem die Quantenmechanik das atomare Geschehen beschreibt, liegt nicht in Raum und Zeit. Bei Angabe der Anfangswerte liefert die Theorie eindeutige Voraussagen. Innerhalb dieses mathematischen Ansatzes gilt strenge Kausalität. Der rein mathematische Ansatz liefert aber für die beobachtbaren Größen (Observablen), wie Ort, Geschwindigkeit, Strom, usw., die in Raum und Zeit liegen, lediglich statistische Aussagen (z.B. Aufenthaltswahrscheinlichkeiten). DTV-Lex. d. Phys., Bd. 4, S. 295. Lindsay u. Margenau, S. 515 ff. ..................................................................... 284 Abbildung 63 Experimentelle Maxwell-Boltzmann-Ver-teilung für die Molekülgeschwindigkeiten des Sauerstoffstoffgases (O2-Moleküle: m = 32 x 1,66 x 10-27 kg) bei zwei Temperaturen, 100 K und 400 K. Gemessen wurde die statistische Verteilung der x-Komponente der Molekülgeschwindigkeiten. Der Erwartungswertwert (arithmetischer Mittelwert) erscheint im Maximum der Kurve bei vx = 0 (durchschnittlich etwa gleich viele positive wie negative Geschwindigkeitskomponenten). Es ist deutlich, daß durch höhere Temperatur im Durchschnitt sehr viel mehr Moleküle größere Geschwindigkeitskomponenten erhalten: die Gaußsche Kurve wird breiter und weniger scharf. Oft ist man an der Verteilung für den Betrag der Molekülgeschwindigkeiten interessiert. In dem Fall erhält man eine nichtsymmetrische, Gaußartige Verteilung. Diu et al., S. 484-487; Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 1101-1102; Pohl, Bd. 1, S. 289-290.....295 Abbildung 64 Photographie Ludwig Boltzmanns (1844-1906). Seine Arbeiten auf dem Gebiet der kinetischen Gastheorie öffneten den Weg für ein Verständnis der makroskopischen physikalischen Phänomene auf der Basis molekularer Theorie. K. Huang Statistical Mechanics S. ii ...........................296 Abbildung 65 Schematischer Aufbau der Natur, so wie er sich augenblicklich in der Physik darstellt. Die in Klammern angegebene Länge entspricht dem Durchmesser des betreffenden 'Materiebausteins'. Das Atom wird durch elektrische Kräfte zusammengehalten, der Atomkern durch sog. Kernkräfte, deren Herkunft, Stärke und Reichweite nicht ausreichend bekannt sind. Die den Kern konstituierenden Quarks sind zwar im Kern selbst nachgewiesen, konnten aber als freie Teilchen bisher nicht gefunden werden. Bergmann- Schaefer, Bd. 4, S. 354. Kamke u. Walcher, S. 69-73 ....................................304 Abbildung 66 Abgebildet ist die radiale Paarverteilung g(r) für eine monoatomare Flüssigkeit. Diese Dichtefunktion gibt die relative Häufigkeit an, ein Molekül im Abstand r zu finden, wenn sich gleichzeitig ein Zentralmolekül im Ursprung befindet. Die Verteilung ist so normiert; daß sie bei Unkorreliertheit der Abstände eins ergibt. Der Abstand r ist in Vielfachen des Teilchendurchmessers (Moleküldurchmessers) σ angegeben. Es wird deutlich, daß die relative Häufigkeit ihre Maxima dort hat, wo die Mittelpunkte der nächsten, übernächsten usw. Nachbarn in dichter Kugelpackung liegen. Die Minima treten an den Berührungsstellen der Moleküle auf. Man stellt sich deshalb die Flüssigkeit schalenartig (schichtenartig) aufgebaut vor. Die Verkleinerung der Maxima und Minima als Funktion des Abstandes ist ebenfalls zu sehen. Bei einem Abstand von ca. 6 -Einheiten verschwindet jegliche Struktur der Verteilung, die Abstände der Paare sind in dieser und größerer Entfernung völlig unkorreliert. Hoheisel, S. 58 ff .......................................................................310 Abbildung 67 Photographie einer Miniatur aus der Handschrift der Bamberger Staatsbibliothek. Die Handschrift, Cod. Bibl. 140 (A II 42), stammt aus dem Kollegiatstift St. Stephan und enthält 106 Pergamentblätter. Das Werk ist höchstwahrscheinlich zur Einweihung des Stifts im Jahre 1020 als Geschenk übergeben worden. Die Handschrift enthält unter anderem die lateinische Apokalypse (Bl. 1-57r) mit 50 Miniaturen, welche auch die Bamberger Apokalypse. genannt wird. Eine der Miniaturen (Bl. 46r) stellt den hier gezeigten Engel mit dem Mühlstein dar. .313 5 Abbildungs- und Tafelverzeichnis _____________________________________________________________ 496 Abbildung 68 Die Zeichnung zeigt schematisch den Bewegungsverlauf eines Billardballes unter idealisierten Bedingungen: keine Reibungsverluste, Drehbewegung ohne Einfluß. ......................................................................... 316 Abbildung 69 Schematisch eingezeichnete Symmetrieelemente einer Elementarzelle des kubischen Kristalls. Es gibt drei verschiedene Drehachsen: eine zweifache (2), eine dreifache (3) und eine vierfache (4). Dazu lassen sich zwei unterschiedliche Spiegelebenen angeben, die schraffiert gekennzeichnet sind. Siehe z.B. Moore, S. 650-652 .....................331 Abbildung 70 Zeitliche Folge von ca. 200 Spektren der Schallwellen, die beim Sprechen von 'one', 'two', 'three' auftreten. Die in Pfeilrichtung dicht aufeinanderfolgenden Spektren haben nur eine Höhe von einigen Zehnteln Millimetern. Die Amplituden sind hier durch die Schwärzung einer photographischen Platte wiedergegeben. Siehe Pohl, Bd. 1, S. 237.............340 Abbildung 71 Schnittzeichnung des menschlichen Auges. ...............................344 Abbildung 72 Schnittbild der Netzhaut (Retina) in 400-facher Vergrößerung. Das Licht durchquert acht Schichten der Netzhaut, ehe es auf die der Lichtrichtung abgewandte photosensitive Schicht der Stäbchen und Zapfen (2) trifft. Die Lichtempfindlichkeit der Stäbchen und Zapfen wird durch die darunterliegende Pigmentschicht (1) geregelt. Die dunklen Pigmente hüllen je nach Helligkeit die Stäbchen und Zapfen verschieden tief ein. Die Stäbchen sind nur für das Helldunkelsehen verantwortlich, während die Zapfen das Farbsehen ermöglichen. Die übrigen Schichten der Retina werden wie folgt bezeichnet: Äußere Grenzmembran (3): siebartige Platte, durchbrochen von den Stäbchen u. Zapfen; äußere Körnerschicht (4): Zellkörper d. Stäbchen u. Zapfen; äußere Netzschicht (5): Synapsen; innere Körnerschicht (6): Zellkerne sind die Körner; innere Netzschicht (7): Synapsen; Ganglienzellschicht (8): Zellkörper der multipolaren Ganglienzellen; Nervenfaserschicht (9): die Nerven ziehen zum Zwischenhirn (Diencephalon); innere Grenzmembran (10): Grenzschicht gegen den Glaskörper. Lippert, S. 528-530 ....................................................344 Abbildung 73 Anfertigung der Zentralprojektion eines Gebäudes, dessen Grund- und Aufriß in der Zeichnung zu sehen sind. Beobachtungspunkt ist P, die Tafelebene steht senkrecht zur Grundrißebene. Ihre Grundrißspur ist s1. In der Tafelebene bestimmen die Spurpunkte aller Sehstrahlen nach den Eckpunkten des Gebäudes das zentralperspektivische Bild. Die Risse dieser Spurpunkte trägt man in ein Koordinatensystem ein und verbindet sie entsprechend. Die Fluchtpunkte F1 und F2 der horizontalen Kanten des Gebäudes findet man durch Konstruktion der Parallelen durch P' (Projektion von P auf die Grundrißebene) zu diesen Kanten. Ihre Schnittpunkte mit s1 ergeben die Abszissen (x-Werte) der Fluchtpunkte, während die Ordinate (y-Wert) mit der des Punktes P'' (Projektion von P auf die Aufrißebene) übereinstimmt. Handbuch der Math., S. 259 ..................................................346 Abbildung 74 Photographie zweier Fliegerpfeile in deutscher und russischer Bauart. Durchmesser und Länge der Pfeile sind etwa die eines Bleistifts. Der singende Ton, von dem Musil spricht, entsteht erst durch die 'Flügel' des Pfeils beim durchqueren der Luft. Vergleiche Corino Robert Musil S. 238 ..................................................................................... 348 Abbildung 75 Abgebildet sind die von hinten eröffneten Schädelhöhle und Wirbelkanal. Großhirn und Kleinhirn lassen sich unmittelbar unterscheiden. Zwar verfügt das Kleinhirn nur über etwa 1/10 des Großhirnvolumens, seine Rinde ist aber sehr viel feiner strukturiert, so daß es 3/4 der Oberfläche des Großhirns erreicht. ................................................................. 351 Abbildung 76 Rohdiamant in vulkanischem Gestein. Diamant ist einer der härtesten Kristalle überhaupt (Härtezahl 10). Er wird in Südafrika, Brasilien, Indien und Rußland gefunden. Aufgrund seiner Härte setzt man diesen Stein zur Metall- und Steinbearbeitung ein. Er dient z.B. als Bohrkrone bei den Tiefbohrgeräten. Wegen seiner besonderen Lichtbrechungseigenschaften wird er in geschliffener Form zu wertvollem Abbildungs- und Tafelverzeichnis _____________________________________________________________ 497 Schmuck verarbeitet. Man unterscheidet verschiedene Formen des Schliffs: z.B. Brillant-Vollschliff oder Smaragdschliff. O'Neil, S. 10 u. S. 156-157; Seim, S. 394 u. S. 419.....................................................................................360 Abbildung 77 Graphit in Sandstein. Er wird in der Steiermark und in Finnland gefunden. Der hexagonale Kristall ist als Schichtengitter aufgebaut und daher sehr weich und leicht spaltbar (Härte: 1). Aufgrund seiner geringen Härte und seiner Abfärbeigenschaften wird Graphit hauptsächlich als Farb-, Schmier- und Poliermittel eingesetzt. Große Verwendung findet er auch als Bleistiftmine oder Elektrode. Vergleiche: Steinbach, S. 38-39; Seim, S. 420 361 Abbildung 78 Schematische Darstellung der Kristallgitterstrukturen des Graphits (oben) und Diamants. ......................................................................362 Abbildung 79 Zwei Demonstrationsbeispiele zur optischen Inversion. Die obere Figur stellt den Neckerschen Würfel dar, die untere den Rubinschen Pokal. Zur optischen Fixierung der einzelnen Zeichnungen deckt man am besten jeweils eine der beiden Figuren ab. Das 'Umklappen' der Wahrnehmung, welches meistens schon nach kurzer Zeit eintritt, kann dann einfacher nachvollzogen werden. Hofstätter, S. 163-164 ...............................368 Abbildung 80 Die Grafik zeigt die ansteigende Kurve der Fläche des Ackerlandbedarfs und die gleichzeitig absinkende Kurve der Gesamtfläche des praktisch nutzbaren Ackerlands. Die Gesamtfläche des nutzbaren Landes sinkt aufgrund des Anstiegs der Bevölkerung, des Städtebaus und der Industrialisierung. Der Landbedarf steigt infolge des Bevölkerungsanstiegs. Die abfallende Kurve der praktisch für die Landwirtschaft nutzbaren Fläche sowie die gestrichelten Linien sind Ergebnisse von Hochrechnungen. Danach wäre ab 2000 mit großen Hungersnöten zu rechnen. Siehe: Meadows et al., S. 40 ................................379 Abbildung 81 Experimentell bestimmte Ladungsverteilung in einer Gewitterwolke mit einer vertikalen Abmessung von mehr als 10 km. Siehe: Malberg, S. 102 ..............................................................................................393 Abbildung 82 Photographie greller nächtlicher Blitze über Wien. Kleine Zeitung. Österreich, 11. August 1999. Bei genügend großer Raumladung in der Gewitterwolke selbst, zwischen verschiedenen Wolken oder zwischen Wolke und Erde tritt Ladungsausgleich aufgrund riesiger elektrischer Feldstärken (einige Millionen Volt) in Form von Blitzen auf. Die Entladung geschieht durch enorme Stromstöße auf meterlangen Funkenstrecken. In der Anfangsphase bilden sich innerhalb von hundertstel Sekunden sog. Blitzkanäle aus, über die anschließend die Hauptentladungen in tausendstel Sekunden geschehen. Im Blitzkanal entstehen Temperaturen von ca. 30000 0C, die zu schlagartiger Luftausdehnung führen. Der darauffolgende Druckausgleich ruft dann eine Schockwelle hervor, die wir als Donner wahrnehmen. Vergleiche: Malberg, S. 101-102; Bergmann-Schaefer, Bd. 2, 1987, S. 142.....................394 Abbildung 83 Gezeigt wird die Durchschnittsmenge D (doppelt schraffierter Teil) zweier als Flächen dargestellter Mengen M1 und M2, die sowohl die Elemente der Menge M1 als auch die der Menge M2 enthält. V deutet gleichzeitig die Vereinigungsmenge an. Handbuch d. Math., S. 688 .............400 Abbildung 84 Schematische Zeichnung von Lichtwellen, die in verschiedenen Richtungen linear polarisiert sind. (a): Polarisation in z-Richtung; (b): Polarisation in y-Richtung; (c): Polarisation unter 450 zur y- bzw. z- Richtung sowie in y- und z-Richtung. Die Ausbreitungsrichtung ist durch Pfeile kenntlich gemacht. Beim Licht erreicht man lineare Polarisation z.B. durch einen Quarzkristall (Kalkspat). Siehe: Bergmann-Schaefer, Bd. 1, 1998, S. 707; Pohl, Bd. 3, S. 120 ff ................................................................ 409 Abbildung 85 Schematische Darstellung der experimentellen Anordnung zur Beobachtung linear polarisierten Lichtes durch Rayleigh-Streuung. Ein gebündelter Strahl natürlichen Lichts (P) verläuft senkrecht zur Papierebene und durchsetzt ein trübes Medium, z.B. mit Milch versetztes Wasser. Der 5 Abbildungs- und Tafelverzeichnis _____________________________________________________________ 498 Analysator zeigt dann auf der Bildebene S senkrecht zur Papierebene das linear polarisierte Streulicht an. Gezeichnet ist nur der Querschnitt des primären Lichtstrahls im trüben Medium (nicht gezeichnet). Die Pfeile zeigen das unpolarisierte Licht an. Linse, Analysator (A) und Schirm (S) stehen parallel zum Lichtstrahl, also senkrecht zur Papierebene. Beobachtet wird also nur die Streustrahlung im Winkel von 90 0 zur Ausgangsstrahlung. Wird unter einem anderen Winkel beobachtet, so erhält man ein Gemisch aus polarisiertem und unpolarisiertem Licht. Pohl, Bd.3, S. 170-171 ............411 Abbildung 86 Ausnutzung des Polarisationsmusters des Himmels zur Kompaßorientierung der Biene beim Schwänzeltanz. Unter C sind die Polarisationsrichtungen des Himmels bei Sonnenaufgang schematisch gezeichnet. Maximale Polarisation entsteht auf dem Großkreis senkrecht zur Sonneneinstrahlungsrichtung, der in diesem Fall genau den Zenit kreuzt. AM bedeutet Antimeridian. Im rechten Bild sind die veränderten Polarisationsrichtungen für eine Sonnenhöhe von 50 Grad gezeichnet. Das Orientierungsmuster der Analysatorzellen der beiden Facettenaugen der Biene entspricht in etwa dem Polarisationsmuster des Himmels bei Sonnenaufgang und gestattet dadurch den Tieren eine Kompaßorientierung. Vergleiche dazu: Hamdorf, S. 302 ff ..............................................................412 Abbildung 87 Schematische Darstellung der Doppelhelixstruktur der DNS auf drei verschiedene Weisen. ..............................................................................431 Abbildung 88 Schema der generellen Struktur einer Aminosäure. Das zentrale C-Atom, als sog. -C-Atom bezeichnet, trägt entsprechend seiner 4-Wertigkeit 4 Substituenten: die Aminogruppe, ein Wasserstoffatom, eine Säuregruppe (Carboxygruppe) und die Seitengruppe (Seitenkette), hier als rote Kugel angedeutet. Die 20 verschiedenen, im Protein vorkommenden Aminosäuren unterscheiden sich durch die Art dieser Seitenkette. Knippers, S. 2-7 ..........................................................................432 Abbildung 89 Schematische Darstellung des Replikationsverfahrens der DNS. Zunächst entwinden und trennen sich die beiden Stränge der elterlichen DNS, dadurch entsteht eine Y-Form mit dem doppelsträngigen DNS-Stamm und den verzweigten, einzelsträngigen DNS-Ästen. Aufgrund der strengen Komplementarität der Stränge in der Doppelhelix können nun die Einzelstränge als Vorlage für Aufbau und Einflechtung eines neuen komplementären Astes zur Herstellung der neuen Doppelhelix dienen. Es entstehen wieder zwei identisch strukturierte Doppelspiralen als Nach- kommen, welche jeweils einen elterlichen und einen neu synthetisierten Anteil haben. Man nennt diese Erzeugung von DNS-Doppelspiralen auch semikonservative DNS-Replikation. Knippers, S. 162 ff ................................434 Abbildung 90 Dreidimensionale Darstellung der relativen Strahlungsdichte (Strahlungsenergiedichte) eines schwarzen Körpers in Abhängigkeit von Temperatur und Wellenlänge nach der Planckschen Strahlungsformel. Die Energieeinheiten sind geeignet gewählt. Es kommt hier nur auf die relativen Änderungen an (siehe aber: die folgende Abbildung 91). Die gezeigten Strahlungsenergiedichtekurven ähneln Gaußschen Glockenkurven, deren Maxima höher und schärfer werden für ansteigenden Temperaturparameter. Deutlich sichtbar ist auch die Verschiebung der Kurvenmaxima mit zunehmender Temperatur zu kleineren Wellenlängen hin (gestrichelte Linie). Umrechnung der als Funktion der Wellenlänge gezeigten Strahlungsdichte in die entsprechend frequenzabhängige Funktion erfolgt durch die Verknüpfung ν λ = c (s. nachfolgende Abb. 91). Häckel, S. 152; Kamke u. Walcher, S. 531-532; Pohl, Bd. 3, S. 280-282; Bergmann- Schaefer, Bd. 2, 1987, S. 376 ff......................................................................442 Abbildung 91 Die graphische Darstellung zeigt die experimentell bestimmte reduzierte Strahlungsdichte eines schwarzen Körpers in Abhängigkeit von der Wellenlänge für 2000 K, 3000 K und 4000 K. .........................................443 Abbildung 92 Aufgetragen ist die Strahlungsdichte des Auerstrumpfes in Abhängigkeit von der emittierten Wellenlänge für eine Temperatur von Abbildungs- und Tafelverzeichnis _____________________________________________________________ 499 1800 K. Man sieht deutlich, daß die Strahlung im Bereich des sichtbaren Lichtes von 0.4 m -0.8 m sehr stark ansteigt und für größere Wellenlängen im Infraroten minimal ist. Erst bei sehr viel größeren Wellenlängen ( ≈ 7 µm ) nimmt die Strahlung wieder zu. Gestrichelt eingezeichnet ist zusätzlich die Strahlungsdichte des schwarzen Körpers bei gleicher Temperatur (siehe Abbildung 90, S. 442). Etwa im blauen Spektralbereich fallen beide Kurven zusammen, so daß hier der Auerstrumpf fast ideal wie der schwarze Körper strahlt. Es läßt sich auch andeutungsweise erkennen, wie enorm groß der Anteil an Strahlungsenergie unerwünschter Wellenlänge wäre, den der schwarze Körper erzeugen würde. Pohl, Bd. 3, S. 283 ..............................................................................445 Abbildung 93 Photographie eines Auerbrenners aus dem Auer-von-Welsbach- Museum in Treibach-Althofen (Kärnten). Benannt wurde der Brenner nach dem österreichischen Chemiker Carl Auer von Welsbach (1858-1929). In einer österreichischen Museumsankündigung 1999 wird Carl Auer von Welsbach als größtes Genie Österreichs bezeichnet.......................................446 Tabelle 1 Zusammensetzung der Luft .............................................................. 28 Tabelle 2 Farben und Wellenlängen ................................................................. 45 Tabelle 3 Siedepunkte und Schmelzpunkte .................................................... 101 Tabelle 4 Eigenschaften von Hydrometeoren................................................. 190 6 Index _____________________________________________________________ 500 6 Index A Aberglaube .............115, 430 abgeschlossenes System 184, 213, 214, 231, 403 Achilles...........................159 Adenin-Thymin (A-T) ....431 adiabatisch ........................29 Agathe......46, 173, 235, 332, 334, 363, 365, 366, 374, 376, 377, 381, 382, 384, 385, 392, 395, 406, 428, 438, 447, 457 Ahornblätter....................320 Aktivierung.....................145 Alltagsdiskurs ..32, 453, 455, 456 Ambivalenz...........38, 39, 89 Ameisensäure .................181 Amsel.....301, 336, 339, 367, 456 Analogien .........14, 162, 457 Anfangsbedingungen.....315, 405 Anilin..............................160 Annäherung an den Gleichgewichtszustand .............................184, 403 antagonistische Verkehrung .............................264, 265 Approximation276, 280, 459 arithmetischer Mittelwert 42, 273, 403 Arsentrioxyd ...................383 Asteroiden.......................194 Astronomie ...25, 37, 40, 455 Atmosphäre .35, 79, 93, 189, 204, 379, 393, 395, 410 Atom.........81, 101, 114, 167 atomares Gitter ...............182 Atombahnen ...................289 Atommodell....................167 Atomuhr..........................427 Auerbrenner...440, 444, 445, 446 Auerstrumpf....................445 Index _____________________________________________________________ 501 Aufenthalts- wahrscheinlichkeit......284, 292 Auflösung der Ordnung..322 Aufreihung..............355, 356 Aufruhr ...........................322 Ausbreitungsrichtung .....410 Austen...............................38 autonomes Subjekt .........239 B Bachmann ...............208, 333 Bahnradius ..............167, 194 ballistisch........................227 Bamberger Apokalypse .313, 314 Bär ....................................77 Basenpaare......................433 Baudrillard ......................459 Baumanlagen ..........335, 343 bedingte Wahrscheinlichkeit .....................................281 Beleuchtungsarten ..439, 447 Benn..................................11 Benzolring ..............158, 160 Beobachtungsfehler ..66, 274 Bernoulli, Jakob......279, 283 Bewegungsgleichungen.404, 405 Bewertungssystem..........350 Bibliothek ...............186, 187 Bifurkation......................125 Bild der Physik ...............452 Billardball ...............222, 316 Billard-Roboter...............317 Billardspiel .............314, 315 Billroth............................174 Bindemittel .............335, 342 Bindung ...81, 101, 102, 159, 362, 363, 431 Blériot .....................248, 249 Blitz ..................79, 207, 394 Bohr ........158, 166, 167, 284 Boltzmann......157, 170, 218, 219, 221, 283, 285, 292, 293, 294, 296, 297, 325, 327, 404, 441 Boltzmann-Faktor...170, 329 Boltzmannkonstante ......170, 222, 294, 296, 327, 441 Bonadea ....................76, 118 Bouveresse......................289 Brecht ...............................11 Brechung...44, 244, 245, 410 Bricmont ...........18, 459, 461 Broch ................................11 Brown .....................223, 270 Brownsche Molekularbewegung....292 Bruchstückwelt ...............305 Buber ..............................157 C Canetti...............................11 Carnot .............214, 325, 389 Carnot-Prozeß.215, 216, 217 Chaos ......122, 123, 125, 126 chemische Bindung ........362 Clarisse ....64, 115, 117, 140, 161, 210, 322, 358, 463 Club of Rome .................379 Code..........74, 151, 349, 433 Computerphysik .....195, 294 Corino ....12, 23, 58, 70, 251, 352, 353, 354, 417, 418, 422, 423, 424 Corioliskraft......................36 Cortex ....151, 350, 351, 353, 452 Coulombsches Gesetz.......54 Curie ...............................202 D Dampfdruck......................29 Darwin ............132, 285, 399 6 Index _____________________________________________________________ 502 das ideale Gas 103, 215, 295, 296, 329 Datenerhebung................380 Däubler ...........................251 David ..............32, 34, 36, 41 Denker ..............24, 229, 302 Deoxyribonucleinsäure (DNS; englisch: DNA) 430 Der Riese Agoag.......59, 390 der zweite Hauptsatz......191, 214, 219, 220, 231, 377, 403 Descartes.........................244 Diamant .359, 360, 361, 362, 363 Dichtefunktion272, 276, 310 Dichter .11, 24, 47, 188, 208, 249, 250, 318, 375, 386, 415, 423, 473 die führenden Köpfe .......229 Diffusion.................111, 292 Diotima ....21, 92, 93, 94, 99, 148, 189, 207, 300, 318, 449 Diskurs...12, 18, 32, 41, 239, 387, 403, 452, 453, 454, 455, 456, 457, 462 Dispersion44, 246, 269, 275, 277 DNS .......147, 430, 431, 432, 433, 434 Döblin ...............................11 Doppelbindung .......159, 160 Doppelgesicht 365, 369, 380, 381 Drosophila ..............135, 136 Durchschnitt von Millionen Geschichten .................397 Durchschnittlichkeit396, 401 Durchschnittsbiographie.401 Durchschnittsmenge .......400 Durchschnittsmensch.....389, 396, 397, 400, 401 Dürer...............................347 dynamisch52, 102, 170, 183, 185, 189, 190, 195, 291, 293, 296, 315, 378, 458, 459 E Eigenvolumen.........294, 296 eindimensional..88, 355, 356 Einstein ..163, 228, 297, 424, 426 Eintauchen einer Madeleine .....................................372 Eiskalorimeter ................197 Eiskristalle ..79, 80, 190, 394 Eiswolke .........................190 elastische Bälle .......256, 257 elastischer Stoß...............242 elektrisches Feld .............252 elektromagnetisch......44, 45, 196, 252, 440, 441 Elektron ...73, 101, 166, 167, 169 Elektronengehirn ..............73 Element..112, 152, 179, 182, 235, 264, 270, 330, 359, 360, 435, 444 Elementardiskurs ...455, 456, 457 Elementarteilchen ...........430 Elsa .................................365 Energie...29, 52, 63, 75, 113, 128, 167, 170, 184, 191, 214, 257, 274, 294, 296, 315, 326, 328, 329, 364, 389, 440, 442 Energieerhaltung .....94, 191, 214, 274 Energieumwandlung95, 191, 214 Energieverteilung ...........240 Engel......312, 313, 314, 323, 324 Ensemble ........327, 328, 329 Index _____________________________________________________________ 503 Entropie ...94, 127, 131, 184, 185, 214, 217, 218, 219, 231, 232, 233, 234, 287, 290, 297, 327, 377, 402, 403 Enzensberger ..........122, 123 Enzym.............142, 145, 147 Erdbeschleunigung ..85, 194, 200, 227, 274, 307 Ereignis....65, 109, 164, 165, 166, 270, 271, 273, 348, 350 Erhaltung der geistigen Materie.........242, 243, 247 Erinnern ..................358, 371 Erinnerung .......76, 158, 176, 218, 240, 257, 342, 343, 349, 371, 397, 423 Erinnerungszustände ......373 Erkenntnisfähigkeit.........318 erotisch aufgeladen.........449 Erstarrung ...............183, 185 Erwartungswert31, 194, 271, 273, 276, 279, 327, 400 Erzählung.21, 57, 58, 59, 76, 266, 336, 339, 341, 348, 355, 357, 369, 390 Evolution162, 285, 354, 378, 399 Experiment 51, 84, 101, 105, 121, 136, 138, 158, 166, 179, 197, 219, 225, 227, 280, 295, 299, 393, 412 Exponentialfunktion ......193, 195, 276, 294 exponentiell ansteigend ..379 Extraversion....................366 F Fachidiotie ......................387 Faden der Erzählung.......355 Fallgesetze ......................200 Faraday ...................252, 253 Faradisation ............252, 253 Farbkreis ...........................46 Farbkreisel ........................48 Fassbinder.......................153 Fäulnis einer Gesinnung.447 Fechner .............................83 Feigenbaum ....................126 Feldtheorie 63, 162, 196, 228 Fermi-Statistik ................304 Fernglas ..................120, 121 Fernordnung .......97, 98, 309 Festkörper ......185, 220, 240, 309, 330, 440 Fisch .......260, 261, 267, 390 flexibler Normalismus....378 Fliege .....128, 131, 132, 134, 136, 137 Fliegerpfeil .....337, 338, 347 flimmerndes Organ.131, 139 Fluchtgeschwindigkeit....227 Fluchtpunkt.............345, 346 Fluoreszenz.....135, 136, 138 Flüssigkeit52, 53, 97, 98, 99, 100, 103, 125, 139, 157, 181, 185, 195, 220, 291, 292, 309, 310, 330, 358, 410, 459 Foerster ...........................438 Fortschritt ......142, 168, 172, 174, 218, 270, 353, 420, 439, 447 Foucault ....................18, 454 Fraktale ...................126, 127 Frank...............................359 Frau von Stein ........193, 198 Frauenkörper ..141, 382, 416 Freiheitsgrad ...........123, 326 Frequenz ...........................45 Freud....11, 18, 72, 105, 116, 177, 263, 264, 265, 267, 303, 352, 414, 415, 417, 418, 419, 420, 421, 423, 424, 429, 450, 451, 452 Frisé ..................................64 6 Index _____________________________________________________________ 504 Fundamentalsatz .............193 G Galaxie........................90, 91 Galilei .....................163, 201 Galileo Galilei ..........89, 200 Galton .............................283 Gang122, 123, 142, 147, 189 Gang der Welt.................397 Gas.......29, 56, 97, 104, 116, 215, 218, 439, 440, 441, 444, 455 Gasflamme......................445 gasförmig103, 213, 293, 360 Gasteilchen .....221, 294, 330 Gauß276, 277, 286, 327, 399 Gaußverteilung ......193, 277, 298 Gedächtnis .....151, 152, 204, 238, 308, 343, 349, 350, 352, 357, 360, 373, 428, 452 Gefühlsvernichtung ........262 Gehirn 73, 74, 150, 305, 343, 344, 349, 350, 452 Gehirnforschung ....151, 352, 353 Gehirnmodell ..................352 gekoppelte Differentialgleichungen .....................................405 geladener Stromkreis ......257 Gen .........................432, 433 Genauigkeit....13, 19, 47, 71, 103, 104, 167, 176, 179, 206, 207, 208, 228, 266, 412, 414 genetische Codewörter ...433 Genie......247, 388, 396, 398, 406, 407, 408, 413, 414, 419, 422, 446 Genie-Stab ......................407 Genietruppe ....................406 Genom ............................433 Genom-Projekt ...............434 geometrische Reihe 159, 441 George ............................250 Gerda .....241, 260, 262, 268, 286, 306, 391, 455 Gesamtenergie ........274, 326 Gesamtimpuls .........242, 296 Geschichte des Durchschnitts......222, 397, 401 Geschwindigkeit ..53, 72, 75, 124, 159, 162, 184, 196, 229, 242, 316, 459 Gesetz ....54, 63, 67, 68, 147, 162, 178, 212, 224, 226, 242, 268, 278, 287, 311, 359, 414, 430, 458 Gesetz der großen Zahlen66, 283, 402 Gestaltpsychologie .202, 203 Gewitter .....29, 79, 393, 394, 395 Gewitterwolken ........79, 393 Gitter....81, 98, 99, 160, 182, 185, 241, 309, 330, 331 Gitterplätze .............241, 330 Gitterstrukturen ..............361 Glättung von Zahlenfolgen .....................................380 Glaube an das Verhängnis .....................................447 Gleichgewicht104, 123, 131, 145, 170, 183, 217, 220, 232, 261, 294, 297, 310, 325, 329, 352, 403, 441 Gleichgewichtsverteilung .....................233, 297, 404 Gleichgewichtszustand..183, 184, 217, 328, 377, 403, 404 Gleichungssystem..210, 211, 459 Index _____________________________________________________________ 505 Gleichverteilung ....233, 272, 403 gleichwahrscheinlich ......327 Glockenkurve 193, 276, 277, 286, 443 Glücksgefühl...335, 371, 372 Glühstrumpf............444, 445 Goethe.............................453 Gottfried von Straßburg..129 Graf Leinsdorf ..92, 174, 449 Graphit ....360, 361, 362, 363 Gravitation.....110, 162, 226, 228, 307, 427 Gravitationsgesetz ..227, 228 große Idee .............96, 97, 99 große Männer..................192 große und ewige Gedanken .....................................413 Großschriftsteller .....92, 157, 242 größtmögliche Unordnung .............................220, 234 Grundriß .................345, 346 Grundzustand..................167 Guanin-Cytosin (G-C) ....431 H Haar ..................................34 Habilitation .....................375 Häckel.............................244 Hagauer...................382, 448 Halbwissen .....................191 Hale-Bopp.........................56 Halley .........................53, 55 Hamdorf..................139, 411 Hauptsatz .94, 127, 183, 184, 191, 213, 214, 218, 219, 231, 232, 234, 328, 377, 403 Hausdorff ........................127 Hegel...................11, 38, 230 Helmholtz .49, 217, 329, 330 Heroismus des Geistes....251 Herr im eigenen Haus......72, 263, 356 Heydebrand.....................365 Hoch .................................26 Hoffmann.......15, 60, 63, 64, 337, 338, 339, 340, 365 Hofmannsthal ...................11 Holzwurm.......................153 Honold .....10, 15, 16, 25, 40, 41, 63, 66, 68, 70, 85, 120, 121, 130, 140, 141, 173, 206, 238, 290, 291, 292, 322, 324, 334, 336, 343, 347, 356, 369, 419, 420, 425, 438, 448, 449 Honold, Helga ................299 Hornbostel .....365, 367, 368, 369 H-Theorem .....219, 297, 404 Husserl ............................298 Hydrodynamik..................52 Hygrometer.......................33 hysterisch.......261, 263, 264, 266, 267 hysterische Neurose........265 hysterischer Anfall 264, 265, 391 I Identitätssatz ...........144, 303 Im Spätboot ....................384 Impuls ......52, 141, 151, 219, 221, 242, 296, 314 Individuum ......67, 115, 172, 212, 288, 299, 376, 377, 380, 398, 457 Induktionsspule ......252, 253 Inertialsystem .162, 163, 426 Inspiration...............117, 318 instabil ............................405 intellektuelle Verzweiflung .......................................22 6 Index _____________________________________________________________ 506 Interdiskurs ......18, 453, 454, 455, 456, 457, 458 Interspezialdiskurs..........455 invariant bezüglich Zeitumkehr ..................404 Irigaray ...........................459 Ironie....24, 37, 84, 157, 188, 237, 382, 387, 416 irreversibel ......127, 214, 232 Isobare ..............................27 Isothere .............................31 Isotherme ..........................30 J Jackson ...........................353 Jakobson .........................422 Joyce .................................38 K Kafka ................................11 Kaizik ..14, 67, 68, 171, 173, 282 Kaliumcyanid .................383 Kalorimeter.....................196 kanonisch........................329 Kant 150, 238, 324, 370, 371 Kassung ............................18 Katalysator.....142, 145, 146, 147, 363 Katastrophe.56, 88, 123, 379 Kategorien ......369, 370, 425 Kausalität .......109, 111, 143, 212, 283, 284, 285, 288, 357 Keimbildung .............80, 189 Keller ................................38 Kepler .............167, 225, 387 Kerr.................................375 Kerschensteiner ..............438 Kindheit .105, 177, 260, 265, 334, 385, 423 kinetische Gastheorie ....157, 218, 221, 290 kinetische Geschichtstheorie .............221, 291, 401, 458 klassische Mechanik......291, 326, 403 klassische Physik ......19, 114 Kleiner ............................357 Kleist.........................77, 118 Knabe.....122, 261, 278, 281, 335, 336, 391 Kohlendioxyd .................185 Kohlenstoff ....159, 358, 359, 360, 362, 371, 440 Kometen ...........................55 Kometenschweif ...............56 Kompaßorientierung......410, 411, 412 komplementäre Zustände369 Komplexaugen........128, 134 kongruent........................230 konkav ............366, 367, 381 Konstrukt .66, 112, 150, 152, 339, 343, 346, 349 konvergente Reihe ..........159 konvex ............366, 367, 381 Konzepte der Physik.......459 Kopernikus .......................89 Krämer....................281, 400 Krankheit .......117, 209, 265, 308, 385 Kreisprozeß.............214, 389 Kristallklassen ................330 Kristeva...........................459 L Lacan .....239, 263, 421, 422, 459, 460, 462 Ladungsverteilung ..393, 394 laminare Strömung .124, 126 latente Traumgedanken .420, 421, 451 latentes Bild ....................255 Index _____________________________________________________________ 507 Lehrbuchwissen..............462 Leibniz ............................173 Lewin..........................60, 63 lichtempfindlich......255, 344 Lichtspektrum...................43 Lichtwelle .........................44 Liebesverhältnis..............300 limbisches System ..........355 Lindenblätter...................320 Lindner ..392, 438, 439, 447, 448 Lindsay ...........................426 Link.................................373 Logik der Seele...............302 logischer Atomismus ......436 Lorentz............162, 163, 425 Lorentz-Einstein .............426 Lotze .......................144, 303 Luftdruck ..........................28 Luftfeuchtigkeit ................32 Lyrismus .................248, 249 M Mach .10, 143, 435, 436, 453 Mädchen 173, 254, 262, 266, 267, 278, 365, 385, 416 Magnetfeld64, 252, 257, 258 makroskopisch.......114, 218, 220, 241, 292, 293, 294, 297, 325, 405, 459 makroskopisches Verhalten .....................................298 Malberg.............................34 Mann, Otto......................250 Mann, Thomas................157 Margenau........................426 Mastergleichung .............404 Mathematik....10, 50, 86, 87, 88, 89, 192, 195, 235, 314, 374, 402, 455, 458, 460 Maximierung der Entropie .....................................403 Maxwell ..........................219 Maxwell-Boltzmann.......294 Maxwell-Boltzmann- Statistik ........................297 Maxwell-Boltzmann- Verteilung....294, 296, 297 mechanische Arbeit ........213 mehratomig.....................195 Meinong..........................375 Meisel ......11, 13, 42, 72, 73, 143, 214, 218, 219, 229, 239, 263, 265, 283, 285, 286, 290, 334, 357, 358, 422 Meßgenauigkeit ..............198 Metaphernstruktur ..........461 Meteor.............................307 Methode der konstanten Fehler.............................84 Meyer, Conrad Ferdinand .....................................384 Michelson-Morley ..........162 mikroskopisch219, 220, 291, 293, 298, 311, 325, 329, 403, 432 Milchstraße .......................90 Minkowski..............164, 387 Mischwolke ....................190 Mittelwertbildung ..219, 285, 293, 320 mittlere freie Weglänge ..294 mittlere kinetische Energie .....................................294 mittleres Verschiebungsquadrat .292 Modalwert......276, 281, 376, 377, 378, 398, 400 Modellrechnung.......53, 195, 294, 379 Molekül56, 97, 98, 101, 145, 184, 195, 287, 294, 295, 296, 309, 405, 432, 433 Molekularbewegung......290, 291, 402 6 Index _____________________________________________________________ 508 Molekularphysik....156, 157, 288 Molekülgeschwindigkeit184, 294 Mond....25, 31, 90, 201, 224, 395 Moosbrugger..180, 206, 209, 238, 240, 463 Morton ..............................55 Moser .......68, 325, 402, 403, 454, 455 Münzwurf .......270, 279, 280 Mutter ......86, 335, 336, 337, 339, 341, 342, 372 N Nahordnung ..............98, 309 narrativ..17, 66, 68, 156, 355 Natriumchlorid ...............182 Naturgesetze ..108, 110, 306, 311 Navier-Stokes ...........53, 124 Navier-Stokes-Gleichungen .....................................459 Netzhaut..........172, 344, 436 Neuerscheinungen ..........312 neuronaler Code......151, 349 Newton ....54, 100, 110, 187, 226, 227, 403, 405 Newtonschen Mechanik .405 Nichtgleichgewicht157, 217, 222, 232, 233, 328, 377, 404 Nietzsche .....11, 38, 50, 251, 289, 319, 320 Nobel ......................199, 202 Nolte .................................37 Normalwert.............269, 276 N-Teilchensystem..184, 326, 403 Nullpunkt164, 165, 185, 213 O Observable..............168, 284 Ödipus.....415, 416, 418, 451 Ödipuskomplex ..............416 optische Inversion..365, 367, 395 ordentlicher Mensch .......253 Ordnungsgrad 127, 131, 184, 185, 231, 232, 234, 377 Ordnungsrelationen ........235 Ordnungssysteme ...........229 organisches Denken........305 P Paarverteilung.................310 Papez-MacLean-Modell 354, 355 paradox ..68, 72, 88, 89, 132, 179, 186, 224, 237, 289, 299, 318, 387, 406, 425 Parallelaktion.......64, 86, 96, 142, 188, 200, 248, 252, 312, 322 Partial-Ich ...............423, 424 Partiallösung ...210, 236, 452 Pendel .......75, 185, 200, 274 perspektivische Verkürzung .....335, 347, 350, 356, 357 perspektivisches Bild.....345, 347, 349 Petroleum........229, 439, 440 Pferd 72, 132, 415, 419, 425, 439 phänomenologisch.183, 213, 220, 291, 330 Phasenraum ............326, 330 Phasenübergang99, 103, 330 philosophisch.....73, 89, 109, 113, 186, 189, 200, 208, 230, 371, 401, 415, 425, 436, 453, 457 Index _____________________________________________________________ 509 Photographie29, 70, 71, 124, 161, 254, 335, 342 physiologische Psychologie .............................200, 202 Planck ....167, 168, 169, 170, 440, 446 Plancksche Strahlungsformel .....................................441 Plancksche Verteilung ....441 Planeten .25, 31, 57, 90, 167, 194, 224, 225 Platon..............................148 Pohl.................................427 Polarisation ....408, 409, 410, 411, 412 Polarisationsmuster des Himmels ......410, 411, 412 Pompeji...........................140 Proteine...................432, 433 Proton .............114, 166, 167 Protonormalismus...........378 Proust ........................38, 371 Psychoanalyse107, 158, 176, 177, 263, 408, 414, 415, 416, 419, 423, 424, 428, 450 psychologische Analyse .300 Punktaugen .....................134 punktförmig .....75, 305, 326, 345 Q Quantenphysik................284 Quantentheorie ......162, 168, 169, 196, 408 Quantenzahl ............167, 326 Quarks.....................304, 305 Quarz ......160, 309, 410, 427 Queue......................314, 315 R Rahmenerzählung ......57, 76, 301, 336, 456 Randwerte.......................397 Rank................................418 Rasch ................................39 Rathenau .154, 155, 156, 243 Raumkoordinaten ...164, 292 Rauschen.........................340 Rayleigh-Streuung.410, 411, 412 Reaktion.....58, 63, 179, 196, 198, 255, 363 Reaktionsgeschwindigkeit .....................................145 Reaktionswärme .....197, 198 Regeln der Wahrscheinlichkeit .....397, 398 Regen...29, 30, 79, 190, 245, 392, 395 Regenbogen ............243, 244 Reibung..185, 201, 242, 274, 315, 316, 388 Reik.................................418 Rekonstruktion ...............457 relative Häufigkeit ...65, 273, 279, 280, 285, 310, 376 relative Sterbehäufigkeit.281 relativistisch...163, 164, 166, 196, 426 Relativitätstheorie..158, 162, 164, 408, 414, 424, 426 Renner12, 24, 131, 212, 213, 218, 219, 222, 260, 261, 262, 334, 343, 373 Retina..............................344 reversibel ................388, 389 revolutionär.....................449 Rilke .................................11 Roth 150, 152, 349, 350, 354 6 Index _____________________________________________________________ 510 S Sauerstoff...28, 81, 161, 196, 295 Schätzer ..273, 275, 281, 398 Schätzfunktion273, 275, 281 Scheinbewegung.....203, 204 Schicksal..69, 130, 173, 210, 285, 308, 364, 376, 401 Schmidt.............................11 Schnitzler ..........................11 Schock ......................66, 395 schöne Freundin..............449 Schopenhauer .................231 Schrödinger.....168, 287, 288 Schwänzeltanz ................411 schwarzer Körper...169, 440, 442 Schwerpunkt ....58, 108, 118, 119, 122, 226, 271, 272 Schwingung .......74, 75, 168, 185, 240, 408, 409 Seele ....57, 72, 74, 110, 148, 153, 170, 177, 206, 300, 301, 302, 359, 418, 423, 424, 435 seelischer Wirkungskoeffizient....389 sekundärer Regenbogen 244, 246 Selbsterzählung...............301 Selbstsucht......................306 Silberbromid ...........255, 342 Sokal .................18, 459, 461 Sonne .......25, 55, 56, 90, 91, 201, 225, 247, 307, 308, 372, 411, 412, 435, 444 sozusagen.59, 105, 113, 143, 153, 157, 230, 235, 237, 287, 293, 298, 300, 323, 345, 363, 390, 423, 424, 448, 449 Spannungsmesser ...........253 Spektralbereich ...............445 Spengler ................10, 50, 51 Spezialdiskurs..12, 453, 455, 457, 462, 463 Spezialisten....210, 211, 305, 406 Spezialistentum ..............212 Spielbein .........................119 Standardabweichung .....220, 234, 272, 275, 298 Standard-Normalverteilung ....193, 272, 273, 276, 399, 400 Standbein ........................119 stationär ...34, 145, 233, 234, 269, 294, 297, 325, 399, 403, 404 stationäre Verteilung .....294, 297, 310 Statistik ..14, 42, 60, 66, 172, 193, 273, 277, 278, 282, 285, 297, 304, 376, 377, 378, 455 statistisch erfaßbar ..376, 377 statistische Mechanik ....285, 292, 294, 389, 402 statistischer Inhalt...........376 Stichproben.....................270 Stichprobenfunktion .......273 Stickstoff...................28, 196 Strahlenkegel ..................247 Strahlenverlauf ...............245 Strahlungsgesetz ....168, 169, 440, 446 Straßenbahn ...231, 386, 387, 388, 390 Stroboskop................15, 203 Strom ................................93 Stromkreis.93, 253, 257, 258 Stromring................257, 258 Strömungsmechanik .52, 195 Stumpf ...108, 203, 204, 205, 375 Swedenborg ............323, 324 Symmetrieoperation .......331 Index _____________________________________________________________ 511 T Tafelebene ..............345, 346 Tagträumer .....................423 Tanzspiele.......................268 technische Entwicklung.188, 447 Teilchenzahl ..170, 220, 234, 294, 298, 327, 405, 441 Terror ..............................341 thermischer Wirkungsgrad .....................................389 Thermodynamik 42, 94, 128, 183, 213, 217, 231, 291, 325, 377, 389, 402, 452, 458 thermodynamisches Paradoxon....................403 Thörig .....................135, 139 Tief ...................................26 Timerding .......................277 Tod.131, 132, 238, 337, 339, 348, 384, 385 Töne........................338, 339 Torbogen.........................334 Totalreflexion .........245, 246 Trajektorie .....270, 298, 404, 405 Transformation 11, 162, 163, 286, 426 Transportgleichung.219, 297 Transportkoeffizienten ...297 Transporttheorien ...........157 Transporttheorien. ..........292 Transversalwellen.....44, 408 Traum ...............87, 178, 264 Traumdeutung420, 421, 422, 450, 451 Trenkler ..........................400 Triebpsychologie ............429 Tristan.............................129 Tröpfchengröße ..............190 Turbulenz..........41, 124, 189 Turing-Test .......................73 U Überfall.............................77 Umwandlung .....79, 94, 144, 179, 185, 216, 218, 363, 364, 420, 460 Unfallstatistik .........286, 312 universale Spezialisten ...406 Universitätsdozent ............77 Unkeuschheit ..................449 Unmoralisches ................191 Unordnung.....104, 123, 187, 220, 232, 236, 287, 396, 403 Unschärferelation ...219, 292 unvernünftig Überströmendes...322, 331 Urform eines Blattes.......320 V van der Knaap132, 133, 135, 137 van Kampen....................283 Varianz ...........194, 272, 400 Vektor .....................196, 316 Verbindung....100, 144, 160, 179, 181, 182 Verdoppelung .239, 333, 434 Verkehrsunfall ..................58 Verständigung ................301 Versuchung.....268, 429, 448 Verteilungsfunktion.......269, 272, 276 Vexierbild .......................367 Vielteilchensystem 184, 325, 326, 404, 405 vollständige Induktion....236 W Wagner-Egelhaaf.......37, 71, 121, 148, 176, 180, 342, 365, 416 6 Index _____________________________________________________________ 512 Wahrheit ....66, 86, 180, 199, 209, 236, 283, 299, 301, 308, 309, 311, 319, 338, 341, 364, 402, 407, 436, 450, 456 Wahrheit über Moosbrugger .....................................308 Wahrscheinlichkeits- rechnung .......42, 143, 219, 283, 285, 286, 397, 402, 455 wahrscheinlichkeits- theoretisch ...........234, 396 Wahrscheinlichkeitstheorie ......42, 172, 184, 214, 270, 277, 278, 285, 290, 292, 298, 403, 452, 456 Wahrscheinlichkeits- verteilung......67, 271, 298, 329, 403, 404 Wärmebewegung......29, 294 Wärmepumpe .........216, 388 Wärmereservoir ......213, 389 Waschzwang...................177 Wasser25, 26, 28, 30, 32, 98, 101, 124, 177, 179, 183, 245, 358, 359, 393, 411 Wasserstoff ......81, 101, 159, 160, 166, 167, 182, 431 Wasserstoff-Brücken 81, 431 Wassertröpfchen 79, 80, 189, 393 Weg der Geschichte212, 222 Weininger .......................412 Wellenfunktion .......168, 325 Wellenlänge......................44 Wellner .............................82 Welsbach ................444, 445 Weltkrieg ....69, 99, 247, 347 Weltsystem ...............89, 201 Widersprüchlichkeit 67, 175, 396 Wirbel ......63, 124, 189, 302, 351, 459 Wirkungsgrad 147, 191, 217, 388, 389, 439, 447 wissenschaftlicher Stil ....456 Wittgenstein....320, 436, 437 Wolken .............................34 Wolkenfeld .....................223 Wundt .............................203 Z zeitabhängige Verteilung297 Zeitabhängigkeit .............352 Zeitdilatation ..................427 zeitliche Entwicklung ....222, 223, 403, 404 Zentralnervensystem .....151, 349, 352 Zentralprojektion ...343, 344, 345, 346, 347 Zentralwert .............269, 276 Zerlegung........303, 305, 429 Zima..................................38 Zufallsbewegung ............233 Zufallsexperimente ..82, 270, 279 Zufallsprozesse ...............286 Zufallsvariable.......193, 220, 271, 272, 276, 279, 282, 398 zugängliche Zustände .....327 Zungenbiß.......................267 Zusammengesetztheit .....437 Zustand ......79, 97, 101, 119, 124, 126, 146, 167, 176, 189, 213, 216, 219, 233, 287, 323, 324, 325, 328, 331, 332, 337, 363, 372, 373, 381, 393, 409, 441, 451, 458 Zustände des Kohlenstoffs .....................................360 Zustandsänderung....51, 213, 232, 291, 323, 363, 463 Zustandsdiagramm .........216 Index _____________________________________________________________ 513 Zustandsgleichung.100, 102, 103, 218, 222, 296, 324, 358, 359 Zustandsgleichung für das ideale Gas ....................116 Zustandsgröße184, 217, 221, 232, 324, 328, 403 Zustandsparameter..222, 325 Zustandsvariable.....217, 325 Zwangshandlung ............177 zwei einander entgegengesetzte Unwahrheiten ..............299 Zwillingsschwester ..21, 332, 334, 363, 392, 428 Zwillingszustand ............381