'Muster ohne Wert' Zur Funktionalisierung und Marginalisierung des Musters Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Doktor der Philologie im Fachbereich 16 der Universität Dortmund vorgelegt von Kerstin Kraft Bochum 2001 Inhaltsverzeichnis Das Mustern des Musters 5 Das Muster als Suchkategorie 6 Die Holzwege der Etymologie 6 Die Muster der Natur 8 ‘Was, wenn überhaupt etwas, ist ein Muster?’ 9 Limitrophie – Vom methodischen Umgang mit Mustern 10 Musterbildungsprozesse als Zeichen manueller Intelligenz 12 Das textile Modell 12 Musterbildungsprozesse als Zeichen visueller Intelligenz 15 Der Beobachter 15 Das Ordnen der Ordnung – Zum Forschungsstand des Themas 16 Musterbücher 17 Handbücher 21 Ornamenttheorie 28 Die Dimensionen des Musters – Eine performative Gliederung 33 Die strukturelle Dimension des Musters 36 Repetition 36 Mimesis und Repräsentation 39 Die dynamische Theorie der weltlichen Muster 43 Ordnung 44 Symmetrie 45 Mathematisierung des Symmetriebegriffs 45 Symmetriebrüche 49 Symmetrie und Schönheit 51 Rhythmus 53 Die textile Dimension des Musters 59 0,5-d Textile Fraktalität 63 1-d Textile Eindimensionalität 64 String Revolution 64 Nodologie 66 Enfilade 69 Der Faden in Metaphern und Mythen 71 1,5-d Textile Fraktalität 75 2-d Textile Zweidimensionalität 75 Flächenerzeugende textile Muster 76 Maschenstoffe 76 Textile Notationen 78 Geflechte 80 Ethnomathematik 81 Kettenstoffverfahren 84 Bildwirken 84 Gewebe 86 Gewebebindungen 87 Streifen und Karos 90 Kleinmuster 91 Binarität der Weberei 92 Die Dominanz des Gewebes 93 Textilverbundstoffe 95 Filzen 96 Flächenverzierende textile Muster 101 Färbeverfahren 100 Stoffbemalung 103 Leonardo und Dürer 104 Stoffdruck 106 Patchwork 109 Applikationstechniken 110 Stickerei 110 Der Kreuzstich 110 Nadelmalerei 112 Nadelspitze 112 Musterbücher und Mustertücher – Notationen textiler Techniken 114 2,5-d Textile Fraktalität 117 3-d Textile Dreidimensionalität 118 Doppel- und Florgewebe 119 Orientteppiche 120 TechnoTextiles 123 3,5-d Textile Fraktalität 124 4-d Textile Vierdimensionalität 125 Die Muster der Tarnung 125 Das Abbilden und Beschreiben von Mustern 126 Das Muster als Differenzierer 128 Das Muster als Mittel der Distinktion 130 Mustergerechtigkeit 133 ‘Kleidsame’ Muster 134 4,5-d Textile Fraktalität 139 Die kognitive Dimension des Musters 140 0,5-d Literale Fraktalität 141 1-d Die Linearisierung des Denkens und Handelns 141 Die Sprache 141 Die Schrift 143 Das Muster in Sprache und Schrift 146 1,5-d Literale Fraktalität 152 2-d Die zweidimensionale Herstellung der Wirklichkeit 152 Das Bild 156 Perspektive 157 Escher, Thomkins, Hucleux 158 Das Muster in der Bildwissenschaft 160 Arabesken 162 Der Text 164 Textuelle Wissensmuster 164 Textilunterricht mit Jacques Derrida 167 Hypertextualität 173 Die Karte 176 Mapping 177 Tanzschriften 184 Architekturale Karten 189 Mnemotechnische Karten 190 Geometrie 193 Cybergeographie 196 Die Zahl 198 Quantität und Qualität 198 Musiknotationen 198 Die bunte Welt der Zahlen 202 2,5-d ‘Neue Medien’ 206 3/4-d Die Magie hinter der Magie ist das Muster 207 Konstruktive Wahrnehmung 208 Mathematische Morphologie 209 Konchyliomanie 210 Das Muster als Modell 212 Die Muster der Masse 214 Kalkulationismus 218 Komplexität 221 Die seltsame Schleife 223 Abbildungsverzeichnis 227 Erfassungsbogen 231 Literaturverzeichnis 233 Abbildungen 5Das Mustern des Musters ‘Muster ohne Wert’ sind Waren, die „zollamtlich als Waren ohne Wieder- veräußerungswert angesehen werden und zollfrei bleiben (z.B. Stofflappen).“1 Ich stelle diese sehr spezielle Definition des Musters meinen Ausführungen voran, da sie symptomatisch für den Umgang mit dem Muster und dessen Marginalisierung ist. Ziel der Untersuchung ist es, zu zeigen, daß das Muster – und auch der ‘Stofflappen’ – einen benennbaren Wert besitzt. Dieser Wert äußert sich in vielfältigen Funktionalisierungsweisen: Der Mensch macht sich das Muster zunutze. Meine zentrale These bezieht sich auf die Funktion des Musters: Mustererkennung und -produktion sind Teil der kognitiven Grundausstattung des Menschen und dienen als Mittel der Weltstrukturation/-aneignung. Die Instrumentalisierung des Musters durch den Menschen ist Bestandteil der kul- turellen Praxis und verweist auf das Muster als Bedeutungsgenerierendes. Das Muster als Ausdruck manueller und visueller Intelligenz ist ein vom Menschen Konstruiertes und somit auch Historisches, das Muster ist ein kulturelles Artefakt. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist, daß die menschliche Wahrnehmung sowie natur- und kulturwissenschaftliche Darstellungsmodi der Muster dieser Kon- struktivität und Historizität unterworfen sind. Die konstruktivistische Sicht ermöglicht die Ausführung der limitrophen, grenz- überschreitenden Bewegungen zur Erschließung und Zusammenführung neuer Handlungsfelder. Hierdurch lassen sich strukturelle Gemeinsamkeiten des Musters erkennen: die Repetition, die Dimensionalität, die Symmetrie und der Rhythmus. Die Materialität der Muster verweist auf die Relation von Mensch und Muster: Der Mensch erkennt und produziert Muster. Das Textile ist eine mögliche Form der Materialisierung des Musters. Wie zu zeigen sein wird, ist das Textile mit seinen Mehrfachcodierungen besonders geeignet, den Trägerbegriff der Ornamentwissenschaft zu erweitern. Durch eine genuin textile Sicht auf das Muster wird es von einem akzidentiellen Ornamentum zu einem mehrdimensionalen Substantiellen, das das Textile konstituiert. Diese Konstituierung zeigt sich in den technomorphologischen Darstellungen. Die Mehrfachcodierung bezieht sich demzufolge auf das Technische des Textilen, auf dessen Trägerfunktion für das Muster und auf den Menschen als Erfinder und Nutzer dieser Techniken und als Träger der Textilien. Die Teilhabe des Musters am Erfahrungs- und Erkenntnisprozeß des Menschen und somit seinen ‘Wert’ zu bestimmen, ist Ziel der Untersuchung. Die zentrale Fragestellung richtet sich dementsprechend auf die bedeutungskonstituierende Funktion des Musters. Ich werde nun mein Vorgehen und den Aufbau der Untersuchung ausführlich be- schreiben, Referenzwerke und -systeme einführen und eine eigene Definition des Musters entwickeln, die seine Strukturelemente benennt. 1 dtv-Lexikon (1997): s.v. ‘Muster’ 6Das Muster als Suchkategorie Für die Suche nach dem Muster wird der Begriff in zweifacher Weise operationali- siert. Zum einen wird das Wort Muster auf seine Reichweite, seine Bedeutung und seine Herkunft hin befragt. Zum anderen wird die Erscheinung des Musters, seine materielle Ausformung gesucht. Diese beiden Suchrichtungen begrenzen das Feld. Die anschließend zu treffende Auswahl aus diesem sehr weiten Feld geschieht hin- sichtlich der beabsichtigten Funktionsbestimmung des Musters. Die Holzwege der Etymologie Die Sichtung verschiedener Lexika zeigt, daß das Wort ‘Muster’ im Deutschen eine zweifache Bedeutung hat. Das Muster kann einerseits Modell oder Vorbild und andererseits ein Mittel der Flächenverzierung sein.2 Beide Bedeutungen sind im alltäglichen Gebrauch zu finden. In anderen Sprachen wird diese Differenz durch unterschiedliche Wörter gekennzeichnet. Im Englischen unterscheidet man ‘pattern’ von ‘model’ und im Französischen ‘modèle’, ‘patron’ und ‘dessin’. Diese Wörter finden wiederum als Fachbegriffe wie Dessinierung, Patrone oder Patternpraxis Eingang ins Deutsche. Wie ich noch ausführen werde, besteht der innere Zusammenhang der Begriffe in der Idee der Repetition. Das Muster als Modell, Vorlage oder Vorbild findet kaum wissenschaftliche Beachtung. Als Warenprobe, Gebrauchsmuster oder ‘Muster ohne Wert’ ist es Be- standteil wirtschaftlicher Prozesse und der Wirtschafts- und Technikgeschichte. Das ‘flächenverzierende’ Muster wird meist der Ornamentik einverleibt, um dort als Motiv kategorisiert zu werden. Unter dem Stichwort ‘Ornament’ findet man in Nachschlagewerken der Kunst die Definition als Schmuckwerk, als einzelnes Ver- zierungsmotiv.3 Diese Motive werden wiederum als Muster benannt: Tannenzweig- muster, Schachbrettmuster, Granatapfelmuster etc.4 Eine Folge dessen ist der synonyme und vermischende Gebrauch der beiden Begriffe, den ich an den ent- sprechenden Stellen kennzeichnen werde. Das in der Literatur nicht explizit formulierte, aber als trennendes zu interpretierende Moment ist das Flächenhafte des Musters. Dies läßt sich auch im Sprachgebrauch nachweisen: Die ‘Verzierungen’ von Flächen wie Tapeten, Teppichen und Stoffen werden als Muster bezeichnet. Das Muster ist jedoch – wie ich zeigen werde – weder ausschließlich flächenhaft (zweidimensional) noch ist es zwingend als Verzierung, als rein Schmückendes zu verwenden. Ein Blick auf die Herkunft der Wörter ‘Muster’ und ‘Ornament’ erschließt weitere Bedeutungen. Das lateinische Verb ‘monstrare’ bedeutet ‘zeigen, weisen, be- zeichnen’, von ihm leitet sich das Muster ab.5 Demnach hat das Muster verweisenden 2 Zedler (1739); Grimm (1885); Meyer (1976); dtv-Lexikon (1997): s.v. ‘Muster’ 3 vgl. beispielsweise: Jahn (1989) oder Lexikon der Kunst (1975): s.v. ‘Ornament’ 4 Lexikon der Kunst (1975): s.v. ‘Ornament’ 5 Kluge (1995); Pfeifer (1989); Duden (1963): s.v. ‘Muster’, ‘Monstranz’, ‘demonstrieren’. Auch die Wörter ‘Monstranz’(14. Jh.), ‘Demonstration’ (16. Jh.) oder ‘Monster’ (16. Jh.) leiten sich von dem Verb ‘monstrare’ ab. Gezeigt wird Unterschiedliches (die geweihte Hostie, die öffentliche 7Charakter, zeigt oder bezeichnet etwas. Dies legt es nahe, das Muster als ein zu lesendes, zu dekodierendes, als eine Art Schrift zu verstehen. Eine solche Zuordnung zu Sprache und Schrift wird jedoch nur für das Ornament vorgenommen.6 Diese dem Ornament zugeschriebene Eigenschaft wird für das Muster nicht in die Definition übernommen. Das Entscheidende für das Muster ist nicht, was es zeigt, sondern daß es etwas zeigt. Eine Etymologie des Ornamentes führt zum Lateinischen ‘ornare’, das ‘ordnen, ausrüsten, schmücken’ bedeutet.7 Im allgemeinen wird das Ornament in seiner Be- deutung als Schmückendes verwendet – der synonyme Gebrauch des ‘Deko- rationsmotives’8 verweist hierauf – und als eine Grundform künstlerischen Ausdrucks begriffen.9 Der Rekurs auf die Herkunft des Wortes läßt den Ordnungsgedanken Eingang in die Interpretation finden. Der Kunsthistoriker Günter Irmscher expliziert die griechische Herkunft des Ornaments in Verbindung mit dem Kosmos- als Ordnungsbegriff.10 Das Standardwerk zur Ornamentik von Ernst H. Gombrich vereint diese Aspekte schon in seinem Titel ‘Ornament und Kunst. Schmucktrieb und Ordnungssinn in der Psychologie des dekorativen Schaffens’. Das Ornament ist demnach dem Schmuck und der Verzierung zuzuordnen. Die Kunstwissenschaft schließt das Ornament aus ihren Gattungen aus, betrachtet es als „ein der Schönheit additiv angestücktes Beiwerk“11, das für sich nicht existieren kann. Trotz dieser akzeptierten Trägergebundenheit wird innerhalb der Kunst- und Kulturwissenschaft die Funktion des Trägers entweder gar nicht thematisiert oder marginal in den Bereichen Kunstgewerbe und Kunsthandwerk allein unter materialtechnischen Aspekten angesprochen. Das Ornament und damit implizit das Muster werden als solches betrachtet und ungeachtet ihres Vorkommens klassifiziert und systematisiert.12 Sollten sie doch mit einer Deutung bedacht werden, so beschränkt sich diese meist auf eine Ornamentkritik, so daß „eine zusammenfassende Darstellung der europäischen Ornament-Deutung seit langer Zeit im Desideraten- Katalog kunstwissenschaftlichen Forschens“ steht.13 Die Sichtung der kunst- und kulturwissenschaftlichen Literatur wird zeigen, daß die Eigenschaft des Schmückens beim Ornament in den Vordergrund gestellt und daß das Muster dem Ornament in dieser Interpretation und ohne eigenen Stellenwert subsumiert wird. Die Sprachwissenschaft ist nicht in der Lage, eindeutige Hinweise auf die Definition des Musters zu geben. Wie der Sprachkritiker Hans-Martin Gauger nachweist, ist dies Meinung, das Abnorme), der Gestus verbindet die Wörter. Die historischen Zuordnungen sind unsicher und führen im Zusammenhang mit dem Muster nicht weiter. 6 Wersin (1953), auf dessen Publikation noch eingegangen wird, beschreibt das Ornament als eine Art Vorstufe der Schrift. (S. 25) Bei anderen Autoren sind diese Verbindungen zur Sprache durch die Verwendung von Begriffen wie ‘Syntax’ (Gardin: 1978) und ‘Grammatik’ (Jones: 1997) impliziert. 7 vgl. Kluge (1995); Duden (1963): s.v. ‘Ornament’, ‘ordnen’ 8 Wilson (1996): S. 11 9 Lexikon der Kunst (1975): s.v. ‘Ornament’ 10 Irmscher (1984): S. 1 11 Kroll (1987): S. 7. Kroll weist auf das Bemühen einzelner (er nennt Hermann Bauer und F. Piel, die das Ornament als Kunstgattung resp. als Kategorie einführen) hin, das Ornament als eigene Kategorie zu veranlagen. Als Kategorie der Kunst würde das Ornament eine andere Stellung einnehmen. (S. 154) 12 Die Lexika nehmen meist nur den Begriff des Ornaments auf, das Muster findet keinen Eintrag. Vgl. Jahn (1989); Lexikon der Kunst (1975) 13 Kroll (1987): S. 8, 1 8kein Einzelfall.14 Das Wort und auch seine etymologische Herleitung können jedoch dazu dienen, Assoziationen aufzurufen und Verbindungen herzustellen. In dieser Weise habe ich den Begriff des Musters genutzt. Die Verwendung der Etymologie als Beweis oder als Ausgangspunkt von Analogiebildungen und Metaphorologien ist hingegen kritisch zu sehen. Dies wird an verschiedenen Stellen der Untersuchung gezeigt. Dieses Benennen schiefer Analogien oder Metaphern und ihrer Herkunft bezieht sich ausschließlich auf das textile Feld und soll auf den sprachlichen Umgang mit Textilien, auf die philologisch-etymologische Vereinnahmung textiler Techniken und Produkte aufmerksam machen. Wie zu zeigen sein wird, steht dieser textilsprachliche Gebrauch den elementaren Funktionen textiler Techniken entgegen. Die Muster der Natur Muster begegnen uns in der Natur in vielfältiger Weise. Tiere und Pflanzen können Muster ‘tragen’, aber auch Wolken, Sand oder Steine bilden Muster. Das Muster spielt in den Naturwissenschaften – im Gegensatz zu den Kunst- und Kulturwissenschaften – eine wichtige Rolle. Die Verwendung des Begriffs erscheint jedoch diffus, eher intuitiv und durch die Alltagssprache geprägt. Synonyme Begriffe sind die ‘Struktur’ oder auch das ‘Strukturmuster’. Im Schlußwort der Tagung an der Akademie Leopoldina zur ‘Musterbildung und Mustererkennung’ macht Braun-Falco auf die Schwierigkeiten einer Definitions- findung aufmerksam und begründet dies mit der Diversifikation von Muster- bildungen.15 Anhand der Beiträge von Medizinern, Chemikern, Biologen, Physikern und Mathematikern auf dieser Tagung gewinnt man einen ersten Einblick in die Vielfalt naturwissenschaftlicher Muster. Der Mensch beobachtet die Muster der Natur und versucht, Muster zu erkennen und Musterbildungsprozesse zu begreifen. In gewisser Weise wird das Muster je neu definiert, so daß eine Schneckenschale, eine chemische Reaktion oder auch Herzrhythmen Muster aufweisen können. Die Mathematik beansprucht für sich, das System schlechthin zu sein, Muster er- kennen, klassifizieren und ausnutzen zu können.16 Der Mathematiker Keith Devlin schreibt: „Erst in den letzten zwanzig Jahren ist eine Definition aufgekommen, der wohl die meisten heutigen Mathematiker zustimmen würden: Mathematik ist die Wissenschaft von den Mustern.“17 Die Erkenntnisse der Mathematik, ihr Umgang mit Mustern wird dementsprechend Gegenstand meiner Untersuchung sein. Die Frage, ob ein alleiniger Anspruch auf das Muster geltend gemacht werden kann, soll abschließend beantwortet werden. Schon die Mustersuche jedoch macht deutlich, daß sich die Disziplinen zu mischen beginnen: Bio-Mathematik, Geophysik, Ethnogeometrie, Bionik, Geoinformatik etc. Auch die Kognitionswissenschaft beschäftigt sich eingehend mit Mustern, die kognitive Dimension wird deshalb auch in der vorliegenden Untersuchung viel Raum 14 Gauger (1995): S. 62–81, ‘Der etymologische Holzweg’. Gauger führt dies vor allem auf die Historizität der Wortbedeutungen zurück. 15 Köhler (1992): S. 382 16 Stewart (1998): S. 11; Grünbaum/Shephard (1989): S. 11 17 Devlin (1998): S. 3. Auch Stewart (1998) schreibt wörtlich: „Mathematik ist die Wissenschaft der Muster, [...].“ (S. 29) 9einnehmen. In bezug auf eine Definition des Musters bzw. der ‘pattern recognition’ ist sie jedoch weniger hilfreich: „Mustererkennung ist die Erkennung von Objekten anhand typischer Merkmale, der Muster.“18 Immer wieder stößt man auf Erklärungen wie diese, die das Wissen um das zu Erklärende, das Muster, schon voraussetzen. Nun kann man entweder Nicht-Definieren und sich mit der Unschärfe der Um- gangssprache abfinden oder von einer dem Menschen angeborenen Empfänglichkeit für Muster ausgehen.19 Für eine Untersuchung, die sich explizit und zentral mit Mustern beschäftigt, ist eine Definition unerläßlich. ‘Was, wenn überhaupt etwas, ist ein Muster?’20 Das Muster ist kein Ornament. Ex negativo wäre hiermit zumindest die Existenz des Musters gesichert. Darüber hinaus ist eine distinkte Definition zu formulieren. Die Durchsicht der Literatur und der (Muster-)Sammlungen dient zunächst dazu, das Muster definitorisch, inhaltlich und in der Folge disziplinär vom Ornament zu trennen. Das Muster, und zwar jedes Muster, wird im folgenden als kulturelles Artefakt begriffen. Diese konstruktivistische Sicht wird noch expliziert, hier gilt es, den kulturwissenschaftlichen Betrachterstandpunkt zu definieren: Die kunst- historische Sicht wird verlassen, um das Muster vom Ornament zu lösen und die Mustersuche zu erweitern. Die Betrachtung der Muster21 offenbart Gemeinsamkeiten, die sich als wesentliche strukturelle Elemente des Musters benennen lassen. Das Muster ist im Gegensatz zum Ornament trägerungebunden. Die Behandlung des Ornaments als Akzidenz bedeutet den Verlust der Materialität. Das Muster hingegen ist ein Substantielles. Wie die Ausführungen zum textilen Muster zeigen werden, wirkt das Muster konstituierend, kann Akzidenz und/oder Substanz sein. Das bedeutet, daß das Muster mehrdimensional ist. Die Wiederholung ist das entscheidende strukturelle Element des Musters. Eine beliebige zu isolierende kleinste Einheit wird in ein, zwei oder mehr Dimensionen wiederholt. Diese kleinste Einheit, der Rapport, kann ein Motiv, ein Ornament, eine definierte Lage von Fäden, ein Ton oder eine Bewegung sein. Die Wiederholung bedingt die potentielle Unendlichkeit des Musters. Der Begriff der Wiederholung umschließt gleichermaßen die zweite Bedeutung des Musters als Vorlage oder Patrone. Auch hier ist es die Idee der Wiederholung: Das Modell erlaubt ein Wieder-holen in der Zeit. Um aus dem Rapport ein Muster zu machen, muß die Form der Wiederholung bestimmt werden. Die Wiederholungsvorschrift definiert die Lage der Rapporte zueinander. Die Symmetrie und der Rhythmus sind als Systeme in der Lage, diese Raum-Zeit-Relationen zu beschreiben. Sie werden von mir als Wiederholungs- vorschriften in die Definition eingeführt und als strukturelle Elemente benannt. 18 Wörterbuch der Kognitionswissenschaft (1996): s.v. ‘Mustererkennung’ 19 Dies tut beispielsweise John Barrow (1997): S. 143. 20 Diese Überschrift ist analog zu einem Essaytitel des Geologen und Zoologen Stephen Jay Gould gebildet, der über das Zebra und seine strittige Zugehörigkeit zu einer Evolutionseinheit schreibt. Auf das Zebramuster wird in anderem Zusammenhang zurückzukommen sein. Gould (1991): S. 351 21 Das Muster wurde hierfür in unterschiedlichen Disziplinen als Kategorie aufgesucht. Das Vorgehen der limitrophen Bewegungen wird expliziert. 10 Hieraus ergibt sich folgende Definition: Ein Muster besteht aus kleinsten zu isolierenden Einheiten, die gemäß der Wiederholungsvorschrift zu einem Ganzen, potentiell Unendlichen zusammengesetzt werden. Die Definition beinhaltet die strukturellen Elemente des Musters der Repetition, der Symmetrie, des Rhythmus und der Dimension. Hieraus ergibt sich eine Markierung dieser Begriffe, die für die Untersuchung von zentraler Bedeutung ist und der in einem gesonderten Kapitel Rechnung getragen wird. Gemäß dieser Definition ist das Muster weder an ein Material, einen Ort, eine Disziplin oder Zeit gebunden, das heißt, es ist nicht nur als Muster unendlich, sondern auch in der Vielzahl seiner Vorkommen. Diese Unendlichkeit mußte für eine Bearbeitung des Themas begrenzt werden. Mein weiteres Vorgehen ist dem- entsprechend von der Beschäftigung mit Grenzen geprägt. Limitrophie – Vom methodischen Umgang mit Mustern Das Limitrophe bezeichnet im Französischen das Angrenzende. Derridas sprachliche Operation macht es zu einem Vorgang des Angrenzens, das Überschreiten der Grenzen betonend.22 Ich werde nun anhand dieses Derridaschen Begriffs und der Benennung weiterer Referenzwerke meinen methodischen Umgang mit den Mustern erläutern und eine Verortung des Beobachters vornehmen. Jacques Derrida formuliert für das Collège International de Philosophie einen Teil des Gründungsberichtes, der sich mit der Stellung der Philosophie, den Diszipli- nengrenzen und Hierarchien auseinandersetzt.23 Das von ihm vorgestellte Konzept verweist vor allem auf die Notwendigkeit, die Philosophie in einem ‘Dazwischen’ zu situieren. Ein Raum-Begriff, den Derrida nicht in dieser Form verwendet, aber durch die Benennung der ‘intersection’, der ‘interscience’ und der ‘interdisciplinarité’ evoziert und zudem durch weitere Lokalisierungen festigt. „Ces zones d’instabilité peuvent paraître sauvages et inhabitables au regard d’une certaine représentation sociale de la recherche organisée. Elles sont en fait des lieux de grande circulation, les lieux privilégiés pour la formation de nouveaux objets ou plutôt de nouveaux réseaux thématiques.“24 Um diese instabilen Zonen, das Wilde und Unbewohnbare zu erreichen, gilt es, sich neue Wege zu bahnen, quer zu gehen, Verstecktes aufzufinden. Derrida spricht nicht von Transdisziplinarität, jedoch von Transferierungen im weitesten Sinne, von der ‘Limitrophie’. In Absetzung zur Interdisziplinarität, die er als nicht ausreichend empfindet, da sie lediglich um ein bestehendes Thema neue Kompetenzen gruppiere, nennt er die ‘intersection transversale’, deren Aufgabe es sei, neue Themen und neue Methoden der Recherche und der Vermittlung zu kreieren.25 Demzufolge müsse man nicht nur Disziplinengrenzen überschreiten, bzw. ignorieren, sondern darüber hinaus die Darstellung, die Sprache aus der Wissenschaft lösen und die Möglichkeiten der 22 Derrida (1990a): S. 565 23 Derrida (1990a): S. 551–576 24 Derrida (1990a): S. 565 25 Derrida (1990a): S. 569 11 Performativität nutzen.26 Derrida benennt das singuläre Ereignis und die Kunst im weitesten Sinne als Darstellungsmittel und öffnet hiermit dem Akteur, dem Handelnden die Tür. Dieses Konzept Derridas betrifft die Philosophie als Disziplin und ihre institutio- nellen Ausformungen. Dementsprechend werden die Begriffe bei ihm nicht als Theorien oder Methoden ausgearbeitet. Die Konzepte der Inter- und Transdisziplinarität, die die Ausführungen Derridas aufrufen, schließe ich bewußt aus.27 Die Interdisziplinarität hat die Trennung der Disziplinen zur Voraussetzung, die Transdisziplinarität sucht die Einheit der Wissenschaft wiederherzustellen.28 Das Konzept der limitrophen Bewegung, das ich vorschlage, verfolgt ein Phänomen (das Muster) mit einem definierten, auf das Textile gerichteten Blick. Im Verlauf dieser Bewegung verschieben sich die Grenzen zwischen den Disziplinen und den Quellengattungen, das Ziel ist das Eröffnen neuer Dimensionen. Der Begriff der Limitrophie erscheint für die Entwicklung eines Vorgehens, daß dem Muster gerecht wird, geeignet. Da es mir um Methodisches, um das Vor-gehen, den Weg, geht, dynamisiere ich die Limitrophie und werde im folgenden von limitrophen Bewegungen sprechen. Hierin kommt auch zum Ausdruck, daß man sich von einem Angrenzenden zu einem Nächsten bewegt. Jede Bewegung für sich ist linear und erfordert an jeder ‘Grenze’ eine Entscheidung. Das Zusammenführen der Einzelbewegungen erzeugt eine bestimmbare Dimension, analog zu der Vorstellung, daß die Ausdehnung in x Richtungen eine x-dimensionale Fläche erzeugt. Die Polysemie des Wortes Muster führt zu einer ersten limitrophen Bewegung. Die Handlungsfelder der künstlerischen, handwerklichen, im weitesten Sinne kulturellen Produktion sowie des wirtschaftlich-merkantilen lassen sich aufrufen. Die Erscheinung des Musters macht es möglich, Muster in allen Bereichen der Natur- wissenschaft, des Sports, der Psychologie, der Soziologie etc. aufzufinden. Diese zweite limitrophe Bewegung in Verbindung mit der ersten erweist sich als wirksames Mittel der Recherche, der Eröffnung einer neuen Dimension. Als ungeordnetes Material, als vorübergehend erzeugtes immenses Handlungsfeld, erschließen sich strukturelle Gemeinsamkeiten aller Muster, deren Kondensat zu einer Definition führt. Die strukturellen Elemente des Musters – Repetition, Symmetrie, Rhythmus, Dimension – werden einer weiteren limitrophen Bewegung unterzogen, so daß neue Felder entstehen. Die Verschränkung der beiden limitrophen Bewegungen machen Überlagerungen, Konzentrationen und Disparitäten sichtbar und ermöglichen eine begrenzende Auswahl hinsichtlich der Frage nach der Funktion des Musters. Gemäß meiner zentralen These gehört die Fähigkeit des Menschen, Muster zu erkennen und zu bilden, zu seiner kognitiven Grundausstattung. Um dies zu überprüfen, werden Musterbildungs- und Mustererkennungsvorgänge als der manuellen und visuellen Intelligenz zugehörig getrennt untersucht. 26 Derrida (1990a): S: 566 27 Welsch (1995) bezieht sich auf Derrida und verweist auf Mittelstraß. (S. 946) 28 Mittelstraß (1992) ersetzt den Begriff der Interdisziplinarität durch den der Transdisziplinarität, die sich nicht zwischen den Disziplinen bewege, sondern in der Lage sei, die ursprüngliche „Einheit der wissenschaftlichen Rationalität“ wiederherzustellen. (S. 101) 12 Musterbildungsprozesse als Zeichen manueller Intelligenz Die Hand ist das Organ der manuellen Intelligenz, sie ist Wahrnehmungs- und Ausdrucksorgan, sowie Werkzeug des Menschen. Der ‘aufrechte Gang’ des Menschen befreit seine Hand von der Aufgabe der Fortbewegung. Die Folgen dieser veränderten Körperorganisation sind von elementarer Bedeutung für die Entwicklung des Menschen. Der Paläontologe André Leroi-Gourhan, dessen Werk ich in verschiedenen Zusammenhängen referiere, beschreibt diese Entwicklung, die über den Werkzeuggebrauch und erste rhythmische Äußerungen zur Sprachentwicklung geführt hat. Dietrich Harth versteht in diesem Sinne Kultur als Verkörperung, den aufrechten Gang als notwendige Bedingung der Kultur des Menschen.29 Die Hand diente zunächst unmittelbar als Werkzeug, zu einem Gefäß geformt, schöpft sie Wasser, die „Finger der beiden Hände, die sich ineinander verflechten bilden den ersten Korb.“30 In diesen Operationen sind Geste und Werkzeug nicht zu trennen, der entwickelte Werkzeuggebrauch führt zu einer Trennung, die Leroi-Gourhan als die „Aktivität der Hand in direkter Motorik“ beschreibt.31 Von hier aus läßt sich die Entwicklung über die indirekte Motorik hin zur Auslösung eines motorischen Prozesses und schließlich zur Auslösung eines programmierten Prozesses in der Gegenwart verfolgen. Solche Rekonstruktionen lassen sich nur mittels experimentellen Nachvollzugs und anhand weniger Quellenfunde überprüfen. Leroi- Gourhan schreibt, daß die Technologie als einzige es zulasse, menschliche Akte kontinuierlich in allen Zeiten zu beobachten. Er entwickelt eine Technomorphologie, die von den primären Materialien, zu denen auch das Textile gehört, ausgeht.32 Die Musterbildungsprozesse als menschliche Akte können demzufolge anhand von Technik und Material untersucht werden. Für die vorliegende Untersuchung werden die textilen Techniken als Modell gewählt, das dazu genutzt wird, das Denken sichtbar zu machen. Der Begriff der Technik wurde eingeführt, die Gründe für die Wahl des Textilen und die Verwendung des Modells werden im folgenden erläutert. Das textile Modell Ein interdisziplinäres Kolloquium an der Technischen Universität Magdeburg be- schäftigte sich mit dem ‘sichtbaren Denken’, den „Modellen und der Modellhaftigkeit in der Philosophie und den Wissenschaften“.33 Ich übernehme die zentrale These des Kolloquiums, die der Philosoph Jörg Maas einleitend wiedergibt. Er schreibt, daß „Denken – und zwar das wissenschaftliche Denken reiner Erkenntniszwecke – ohne Denkformen oder -modelle, die gedacht und damit immer schon benutzt werden, nicht auskommt und daß diese Modelle trotz des intelligiblen Verwendungsbereichs sinnliche Valenz besitzen, also der Wirklichkeit entstammen oder zumindest einen engen Bezug zu ihr aufweisen.“34 Es geht also nicht darum, das Modell im Sinne einer Vorlage, wie es die umgangs- sprachliche Verwendung nahelegt, zu verstehen: Der praktische Nachvollzug von 29 Assmann/Harth (1991): S. 75f 30 Canetti (1980): S. 240 31 Leroi-Gourhan (1988): S. 302 32 Leroi-Gourhan (1971): S. 9f 33 Maas (1993) 34 Maas (1993): S. 3 13 (textilen) Mustern ist nicht intendiert. Maas unterscheidet drei Typen von Modellen: das isomorphe, das paradigmatische und das Analogiemodell. Für die Untersuchung der Muster ist das letztere von Bedeutung, da hiermit „die Parallelität und Analogie von Prozessen aus unterschiedlichen und auf den ersten Blick nicht unmittelbar kompatiblen wissenschaftlichen Kontexten“35 gezeigt wird. Dies bedeutet konkret, daß das Phänomen des Musters, seine strukturellen Elemente der Dimension, des Rhythmus’, der Symmetrie und der Repetition anhand eines Modells sichtbar gemacht werden. Das Modell wird zur „erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretischen Kategorie“.36 Das Textile ist als Modell geeignet, da seine Mehrdimensionalität die sinnliche Valenz gewährleistet. Weitere Gründe für die Wahl des Textilen als Material und als Technik können benannt werden: Leroi-Gourhan nimmt in seiner Untersuchung ‘L’homme et la matière’ im Kapitel über die Herstellungstechniken eine Binnengliederung gemäß der körperlichen Eigenschaften der Materialien vor. Die ‘solides souples’, die weichen Körper, sind durch ihre permanente Flexibilität charakterisiert, ihnen werden Kork, Papier, Filz und Leder, sowie Lamellen, Fasern und Fäden zugeordnet.37 Dies entspricht einer weitgefaßten Definition des Textilen, die sich auf Herstellungstechniken, Bekleidung und Wohnformen ausdehnt, so wie ich sie verwende.38 Die Verengung der Definition, die sich etymologisch nachvollziehen läßt,39 auf Textilien als Stoffe und im besonderen gewebte Stoffe geht einher mit einer Dominanz der Gewebe im Bekleidungsbereich. Metaphorologisch läßt sich gleichermaßen diese Dominanz nachweisen. Diese besondere Stellung der Gewebe innerhalb der Textilien und die Nähe zum Text unter Berücksichtigung der linearen Schrift als Weltbeherrschende werden in die Betrachtungen miteinbezogen. Das Vorhandensein textiler Materialien und das Grundbedürfnis des Menschen nach Bekleidung sind entscheidende Hinweise auf die Eignung des Textilen als Modell für ein elementares Phänomen wie das Muster, das thetisch als Teil der kognitiven Grundausstattung des Menschen bestimmt wurde. Die Ursprünge textiler Tätigkeit sind nur spekulativ zu benennen, der Vergleich mit anderen Techniken läßt die Formulierung einer anthropologischen Konstante zu. Die Linguistin und Archäologin Elizabeth W. Barber geht davon aus, daß die Textilproduktion älter ist als die Töpferei und wahrscheinlich auch als Agrikultur und Lagerhaltung, in jedem Fall schon immer (bis zur industriellen Revolution) gegenüber anderen Tätigkeiten (auch der Nahrungsproduktion) die meiste Zeit in Anspruch nahm.40 Dauer und Intensität der Beschäftigung mit textilen Materialien bedingen die enorme Vielfalt textiler 35 Maas (1993): S. 9 36 Maas (1993): S. 4 37 Leroi-Gourhan (1971): S. 234 38 Laut DIN 60000 werden mit Textilien Faser-, Fäden- und Flächengebilde bezeichnet. Die Einbeziehung natürlich gewachsener Flächen wie Leder, Fell oder Kork bezieht sich auf typisch textile Verarbeitungstechniken. 39 Die Wörter ‘textil’ und ‘Text’ leiten sich vom Lateinischen ‘texere’ ab, das bedeutet neben weben und flechten auch sehr viel allgemeiner ‘kunstvoll zusammenfügen’. Die enge Verbindung von Text und Gewebe entspringt demzufolge einer etymologischen Verkürzung. Vgl. Pfeifer (1989) und Duden (1963): s.v. ‘Text’, ‘textil’ 40 Barber (1991): S. 4 14 Techniken und Muster. Die Verarbeitung zu Bekleidung und das Tragen derselben sind ein weiterer Multiplikator: „Patterned cloth in particular is infinitely variable and, like language, can encode arbitrarily any message whatever.“41 Das gewählte Modell hat dementsprechend eine große Reichweite, sowohl historisch als auch räumlich: Das Textile ist mehrdimensional. In bezug auf das Muster ist festzuhalten, daß das Verhältnis zum Textilen ein unmittelbares ist. Um die Funktion des Musters für das Textile zu bestimmen, werden die textilen Techniken als Musterbildungsprozesse untersucht. Dies entspricht nicht der üblichen Sicht auf textile Muster, so daß das vorhandene Quellenmaterial neu befragt und fachfremde Literatur hinzugezogen werden muß. Ausgangspunkt für die jeweilige Betrachtung ist die textile Technik mit ihrer der Fachliteratur entnommenen üblichen Bezeichnung und Ausführung. Die Analysen von Textilien und Abbildungen sowie die die Einbeziehung fachfremder Sichtweisen bilden die Grundlage der Beschreibungen. Diese detaillierten Beschreibungen textiler Musterbildung beziehen den Raum und den Produzenten mit seinen Händen und Gesten ein, denken das Textile immer vom Muster her. Die elementaren Erfahrungen, die der Mensch anhand dieser Tätigkeiten macht, lassen die Formulierung einer ontogenetischen Funktion zu. Henri Focillon widmet dem ‘Lob der Hand’ einen Essay, der ihre Bedeutung zentralisiert. Ich zitiere die letzten Sätze dieses Essays, da sie den Umfang der Aus- formungen manueller Intelligenz, denen ich nachgehen werde, formulieren. „Der Geist bildet die Hand, die Hand bildet den Geist. [...] Die Hand reißt den Tastsinn aus seiner aufnehmenden Passivität, sie befähigt ihn zur Erfahrung und zur Tat. Sie lehrt den Menschen, den Raum, das Gewicht, die Dichte und die Zahl in Besitz zu nehmen. Sie erschafft eine nie dagewesene Welt, und alles darin trägt ihr Gepräge. Sie mißt sich mit der Materie, die sie verwandelt, mit der Form, die sie umbildet. Sie ist Erzieherin des Menschen und gibt ihm in Raum und Zeit tausendfältige Gestalt.“42 Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget fundiert diese Betrachtungen durch em- pirische Untersuchungen. Für die Darstellung der Zusammenhänge werden vor allem seine Schriften herangezogen. Die Untersuchungen zeigen, daß die Wahrnehmung der räumlichen Beziehungen aus der Handlung am Gegenstand hervorgehen, also unmittelbar mit der tätigen Hand in Verbindung stehen.43 Das Gegenständliche des Textilen, bzw. generell die Verwendung von Modellen der Tätigkeit, bieten die Möglichkeit, den Beobachter einzuschließen. Heinz von Foerster gelangt anhand eines Kognitionsmodells von Piaget zu einer Definition des Gegen-Standes als „Zeichen für stabile Verhaltensweisen“ bzw. als „(be-)greifbares Zeichen für Eigenverhalten“.44 In diesem Sinne ist die Veranlagung eines Modells im folgenden zu verstehen: Die Stabilität verweist auf historische Kontinuität und das Verhalten auf ein Aktives, den Akteur Berücksichtigendes. Die Beschreibung der textilen Dimension schafft eine neue Sicht auf das Textile, die die Schlußfolgerung zuläßt, daß das Muster das Textile konstituiert. Der Blick auf das Prozessuale eröffnet die Möglichkeit, das Textile nicht als Objekt der Kunst- und Kulturwissenschaft zu verstehen, sondern als Ausformung abstrakten Wissens um 41 Barber (1994): S. 149 42 Focillon (1958): S. 52 43 Piaget (1975): S. 13 44 Foerster (1993): S. 103 15 darstellbare Zusammenhänge. Demzufolge ist der Ausgangspunkt nicht das textile Produkt, sondern seine Herstellung, die u.a. von arithmetischem und geometrischem Wissen zeugt. Die Behandlung des Musters als Materielles am Modell des Textilen verweist auf seine Konstruktivität und Historizität. Diese Parameter gilt es für die weitere Untersuchung der Mustererkennung zu bedenken. Mustererkennungsprozesse als Zeichen der visuellen Intelligenz Das Wahrnehmungsorgan der visuellen Intelligenz ist das Auge, das eine besondere Stellung im Körper einnimmt, da es unmittelbar mit dem Gehirn verbunden ist. Die Bedingungen der visuellen Rezeption von Mustern sind in verschiedenen Disziplinen von Bedeutung. Dem gegenwärtigen Stand in den Kognitionswissenschaften, der Wahrnehmungspsychologie, den Neurowissenschaften und verwandten Disziplinen zufolge ist die menschliche Wahrnehmung ein Konstrukt.45 Das Erkennen eines Musters ist demnach auch individuell geprägt.46 Meine Beschreibung unterschiedlichster visueller Mittel der Weltstrukturation konzentriert sich auf den jeweiligen Gebrauch des Musters. Das Erkennen des Musters ist die Voraussetzung seiner Instrumentalisierung, die benannt wird. Ich werde zeigen, daß alle Muster eine Funktion erfüllen, nicht sinnloser Zierat sind. Das Vorgehen zur Beschreibung der kognitiven Dimension des Musters unterscheidet sich von dem im vorangegangenen Kapitel. Für die Musterbildung wurde das Textile als Modell gewählt und somit eine Untersuchungsgrundlage geschaffen. Eine Reflexion der Mustererkennung muß notwendig nach dem Erkennenden fragen. Zunächst treffe ich eine Auswahl an Mustern, die ich als solche erkannt habe. Die Quellen und die Handlungsfelder sind heterogener Art. Die weitere Beschreibung, die der Bestimmung der Funktion des Musters dient, stellt Verbindungen zu anderen Mustern her – und hier wiederum bevorzugt Muster textiler Art – oder zieht Literatur heran, die diese Muster auch als Muster erkennt und wiederum als Modell nutzt. In diesem Fall nutze ich nicht ein Modell wie das Textile, sondern benenne die Funktionalisierung des Musters als Modell. Die Beobachtung der Muster und die Beobachtung der Beobachter dienen als Grundlage zur differenzierten Bestimmung der Instrumentalisierung der Muster. Der Beobachter Die Bedingungen der Beobachtung können technischer Natur sein (das Beobachten von Mustern auf makro- oder mikroskopischer Ebene) oder sozio-kultureller Art, wobei das Technische als Kulturelles dem auch einverleibt werden kann. „Der Beobachter ist ein lebendes System, und jede Erklärung der Kognition als eines biologischen Phänomens muß eine Erklärung des Beobachters und seiner dabei gespielten Rolle beinhalten.“47 Meine Beobachterposition ist eine nachmoderne, textilwissenschaftliche und durch die Frage nach der Funktion des Musters 45 Hofmann (2000) 46 Den physiologischen Implikationen dieser Aussage werde ich nicht nachgehen, entscheidend für die Funktionalisierung des Musters, um die es hier geht, ist die Feststellung als solche. 47 Maturana (1998): S. 26 16 motivierte. Die Positionen anderer ‘Musterbeobachter’ werden jeweils benannt. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu konstatieren, daß die Gesamtüberlegungen von der Konstruktivität und Historizität unserer Umgebung ausgehen.48 Demzufolge begreife ich auch Wissenschaft als kulturelles Artefakt.49 Die Auswahl der Muster ist deshalb notwendig kontingent. Diese Kontingenz ist jedoch nicht das Thema der weiteren Ausführungen. Der Begriff der Konstruktivität ist hingegen entscheidend. Der Physiker Heinz von Foerster, ein Vertreter des Radikalen Konstruktivismus, hat bereits in den frühen 1960er Jahren Wegweisendes zur Selbstorganisationstheorie formuliert. Er schreibt, daß die Eigenschaften, die angeblich in den Dingen gegeben sind, sich als Eigenschaften des Beobachters erweisen. „Aus konstruktivistischer Sicht entsteht Notwendigkeit durch die Fähigkeit, unfehlbare Deduktionen zu machen, während der Zufall sich aus der Unfähigkeit ergibt, unfehlbare Induktionen vorzunehmen. Zufall und Notwendigkeit spiegeln daher einige unserer Fähigkeiten und Unfähigkeiten und nicht die der Natur.“50 Sprache, Schrift und Bilder werden gemeinhin als Leistungen menschlicher Kognition betrachtet. Die Mathematik als wichtiges Instrument der Beobachtung des Musters ist nach Foerster auch ein konstruiertes System: Zahlen und Symmetrie werden nicht entdeckt, sondern erfunden. Jean Piagets Untersuchungen, die in diesem Zusammenhang einzuführen sind, haben Piaget schon früh zu der Überzeugung geführt, daß die Kognition adaptive Funktion hat und sich nicht die Abbildung der objektiven Wirklichkeit zur Aufgabe macht. Erkennen ist demnach vor allem ein selbstbezüglicher Prozeß. Diese Selbstreferentialität, die sich beim Mustern des Musters und beim Ordnen der Ordnung einstellt, soll hier bedacht, kann aber nicht aufgelöst werden. Dieses Be- denken drückt sich u.a. in einer noch zu explizierenden performativen Gliederung aus. Wenn man das Muster als ein von der visuellen Intelligenz Konstruiertes betrachtet, verhindert diese Selbstreferentialität die Erkenntnis. Der Kognitionswissenschaftler Douglas B. Hofstadter denkt intensiv über das Nachdenken nach: Er möchte die Natur des Denkens erforschen. Das Bild, das er für diese Reflexion verwendet, ist das der seltsamen Schleife.51 Sein Ausgangspunkt war der Gödelsche Unvollständigkeitssatz, dem er einen kurzen Essay widmen wollte. Es kamen Escher und Bach dazu, es entstand ein dickes Buch und er ‘flicht daraus ein endloses Band’.52 Ich gehe den umgekehrten Weg: Das textile Motiv nimmt ein ganzes Kapitel ein, Escher und Bachs Werke offenbaren Muster und die Konstruktivität führt zu Gödel. Ich übernehme den Begriff der seltsamen Schleife als textiles Bild der Unendlichkeit selbstbezüglicher Systeme. 48 Für diese Überlegungen war u.a. die Schrift von Dux (2000) von Bedeutung. 49 Berg/Fuchs (1995): S. 16 50 Foerster (1993): S. 145 51 Foerster (1993) beschäftigt sich intensiv mit diesen Formen der Selbstreferenz. Sein Bild ist das der Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt: Die Kognition errechnet ihre eigenen Kognitionen. (S. 108) 52 Hofstadter (1985). Der Untertitel des mehr als 800 Seiten umfassenden Buches ist ‘ein endlos geflochtenes Band’. 17 Das Ordnen der Ordnung – Zum Forschungsstand des Themas Der an dieser Stelle zu beschreibende Forschungsstand betrifft vor allem die Referenzsysteme Kunst- und Kulturwissenschaft. Dies geschieht zum einen aufgrund der Forschungslage, die das Muster als Teil der Ornamentik behandelt. Zum anderen ist dies dem Verständnis der Textilwissenschaft als kulturwissenschaftliche Disziplin geschuldet. Die naturwissenschaftlichen Hauptreferenzwerke werden abschließend benannt. Eine Einordnung der weiteren Literatur erfolgt jeweils im Zusammenhang. Der Forschungsstand wird bewußt in dieser Weise beschrieben, um auf den Aus- gangspunkt, das Vorgehen und das Ziel der Arbeit zu verweisen. Der Ausgangspunkt ist das Muster als Teil der Ornamentik und als Gegenstand der kunsthistorischen Aufarbeitung. Die Beschreibung der Literatur dient als Hintergrund, den es zu verlassen gilt. Da sich die Arbeit nicht als interdisziplinäre versteht, werden die Forschungsstände anderer Disziplinen nicht dargestellt. Das Muster als kulturelles Artefakt wird mit einem kulturwissenschaftlichen Blick bzw. mit einem das Textile fokussierenden beobachtet. Die zitierte etymologische Herleitung des Ornamentbegriffs betont neben dem Schmückenden das Ordnende. Das Bilden von Systematiken, Kategorien, Klassen, Typen etc. ist demnach ein die Ordnung ordnendes. Die meisten Publikationen, die sich explizit53 mit Ornamenten und Mustern be- schäftigen, bemühen sich um eine solche Ordnung. Monographien über einzelne Motive – z.B. das Granatapfelmotiv – zeugen von diesem Klassifizierungsdrang. Diese Publikationen verfolgen vor allem zwei Ziele: Die Muster- und Ornament- sammlungen dienen entweder als Vorlagen, als ‘Motiv-Schatz’, oder der Bestimmung eines Ornamentstils. Die umfangreichen Handbücher, die im 19. Jahrhundert veröffentlicht wurden oder in ihrer Tradition stehen, verbinden diese beiden Ziele, indem sie einleitend Gedanken zu Ursprung und Entwicklung des Ornaments anführen und die Sammlung im Anschluß entsprechend geordnet vorstellen. Als Reinform der Vorlagensammlung können die Musterbücher bezeichnet werden, die ich zuerst darstelle. Aufgrund ihrer traditionellen Zuordnung zu den Gewerben läßt sich hier eine Materialorientierung konstatieren, die sich in der Sammlungstätigkeit der Museen fortsetzt. Die ornamenttheoretischen Schriften suchen nach Begründungszusammenhängen und bilden hierfür andere Kategorien aus, die meist der jeweiligen Wissenschaft54 zuzuordnen sind. Der traditionelle Sprachgebrauch von Musterbuch und Ornamenttheorie, wie er hier für die Darstellung übernommen wurde, verweist ein weiteres Mal auf die Sub- ordination des Musters. Eine Mustertheorie existiert nicht. Die im folgenden vorgenommene Zuordnung zu Musterbuch, Handbuch oder Ornamenttheorie dient dem leichteren Umgang mit der Materialfülle, die Grenzen sind – wie meistens – fließend, bzw. sind die Zuordnungen vom Betrachterstandpunkt abhängig. Trotz des Umfangs ist die Auswahl exemplarisch zu verstehen, eine 53 Publikationen, die sich innerhalb einer bestimmten Epoche, Ethnie oder Technik mit der Thematik befassen, bleiben an dieser Stelle unberücksichtigt. 54 Ornamenttheorien entstehen u.a. innerhalb der Philosophie, der Kunst und Kunstgeschichte, der Psychologie, sowie den Kulturwissenschaften. 18 historische Darstellung des Ornaments und des Musters ist nicht beabsichtigt. Eine umfassende Bibliographie zum Ornament hat Dietmar Debes zusammengestellt, auf andere Werke mit Spezialbibliographien wird hingewiesen.55 Musterbücher Der Begriff des Musterbuchs rekurriert auf die Bedeutung des Wortes Muster als Vorlage, als Warenprobe. Das Ornament oder das Textilmuster sind ein möglicher Inhalt eines solchen Musterbuches. Dementsprechend bildet sich eine Differenzierung gemäß der Funktionen der Musterbücher heraus. Diesen Büchern gemein ist das strukturelle Element der Wiederholbarkeit. Ein Musterbuch, das Warenproben enthält, ist immer dem Merkantilen zuzuordnen. Das Muster, das als Teil eines Ganzen einen Ausschnitt bedeutet, bietet die Möglichkeit der Mobilität (Messen), der Übersicht und des Vergleichs der Waren. Bedingung dieser Möglichkeit ist die Wiederholbarkeit: Der Teil muß für das Ganze stehen und dabei die Verhältnismäßigkeit aufzeigen. Die Stoffproben dienen hierbei dem qualitativen und ästhetischen Nachweis und sind nicht als Vorlage der Produktion gedacht. Die Wiedergabe des ganzen Rapports, der dies ermöglichen würde, wäre zu aufwendig und kostenintensiv. Lexikalisch wird das Muster in diesem Zusammenhang als „Gegenstand, der die Beschaffenheit einer Ware kennzeichnet“ definiert, textile Muster sind „unselbständige Teile eines ganzen Stückes.“56 Die mit der Industrialisierung zunehmende Massenproduktion, die auch eine Form der Repetition darstellt, bringt eine neue Form des Musterbuchs, bzw. seinen Nachfolger hervor: den Warenkatalog. Die Untersuchung solcher Musterbücher ist meist wirtschaftshistorischer Art, eine technische Untersuchung der jeweiligen Waren kann dem hinzugefügt werden.57 Das Historische Museum in Frankfurt besitzt eine kleine, unbearbeitete Sammlung von Musterbüchern aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die mir zugänglich gemacht wurde. Im historischen Kontext dienen diese Bücher, die mit Bestellnachweisen versehen sind, vor allem als Beleg für die rege Handelstätigkeit und die zentrale Stellung der Stadt Frankfurt als Messeplatz. Eine technische Untersuchung könnte Datierungshilfen liefern sowie Hinweise auf historische Bezeichnungen von Techniken und Materialien geben. Die andere Funktion von Musterbüchern ist ihr Gebrauch als Vorlage, als zu Imitierendes.58 Diese Art von Musterbüchern findet sich im Kontext von Handwerk, Kunstgewerbe, musealer Sammlungstätigkeit und auch im häuslichen Bereich. Ihre Differenzierung ist entsprechend und unterteilt sich ein weiteres Mal in diverse Techniken59 und Materialien60. Das Zeichnen der Muster hat im 19. Jahrhundert, in 55 Debes (1956) hat fast 2000 Titel zusammengestellt, wobei er Ornamentvorlagensammlungen unberücksichtigt läßt. 56 Meyers Enzyklopädisches Lexikon (1976): s.v. ‘Muster’ 57 Zwei Ausstellungen und die zugehörigen Kataloge beschäftigen sich mit dem Thema des Musterbuchs und des Katalogs. Dascher (1984); Deutsches Klingenmuseum Solingen (2000) 58 Lexikon der Kunst (1975): s.v. ‘Musterbuch’. Die Definition bezieht „alle in den bildenden Künsten, vor allem im Kunsthandwerk, verwendeten Zusammenstellungen von Vorlagen“ mit ein. 59 Stephenson/Suddards (1897) 60 Ashenhurst (1892); Hefner-Alteneck (1870); (1895) 19 dem der Bedarf an Mustern immens war, einen eigenen Musterzeichnerstand hervorgebracht.61 Die von mir vorgenommene Sichtung zahlreicher Musterbücher in der Parish- Kostümbibliothek, dem Museum für Kunsthandwerk in Frankfurt, der Kunst- bibliothek Berlin und der Lipperheideschen Kostümbibliothek dient vor allem dem strukturellen Vergleich. Die häufig auch als Ornamentsammlung62 oder Vorlage- werk63 bezeichneten Musterbücher sind ausdrücklich zur Nachahmung bestimmt, sie richten sich an Fabrikanten64, Musterzeichner65, Handwerker66, Kunsthandwerker67 und Hausfrauen68. Einige der Werke verfolgen didaktische Ziele: Die Betrachtung der unter bestimmten Gesichtspunkten zusammengestellten Sammlungen sollen dem Erlernen des Zeichnens69, der Geschmacksbildung, dem Erkennen von Stilen und Entwicklungslinien70 und dem Erfassen von Kompositionsprinzipien71 dienen. Die Bedeutung, die das Musterzeichnen im 19. Jahrhundert hatte, läßt sich auch durch die Existenz von Zeitschriften wie ‘Der Musterzeichner’ oder der ‘Allgemeinen Musterzeitung’ belegen. Die Sekundärliteratur bietet zu diesem Thema keine umfassende Darstellung. Die Sammelbände ornamentaler Vorlageblätter von Berliner und Jessen führen in das Thema ein, beschäftigen sich jedoch vorrangig mit dem Ornamentstich und seiner technischen Entwicklung.72 Eine Dissertation von 1993 bearbeitet eine Auswahl an Musterbüchern des 18. und 19. Jahrhunderts im Kontext mit zeitgenössischen Ornamenttheorien.73 Annika Waenerbergs Dissertation verfolgt die ornamentale Rezeption der botanischen Morphologie im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit Goethes Urpflanzen-Gedanken.74 Im Rahmen ihrer Fragestellung werden Vorlagewerke, Musterbücher, Kunsttheorien und Abhandlungen zur Pflanzen- 61 Gurlitt (1890): S. 8. Gurlitts Darstellung ist nationalistisch motiviert. Ihm geht es darum, dem deutschen Musterzeichner eine praxisorientierte Ausbildung anzubieten, um den ‘Franzosen gleichkommen zu können’. (S. 56) Sano (1980): S. xii–xiv. Hier findet sich ein kurzer historischer Überblick von Wendy Hefford: „The pattern-drawers and their trade“. 62 Lessing (1900) dokumentiert die Gewebesammlung des Kunstgewerbemuseums in einer für das 19. Jahrhundert typischen Form. Die großen Tafeln (ca. 40x50 cm) sind mit Angaben versehen, die sie als Vorlage brauchbar machen. Die Kurzbeschreibungen enthalten meist keine Hinweise auf die Gewebebindung, woraus sich schließen läßt, das dieses Wissen vorausgesetzt werden konnte. Bossert (1924) möchte mit seinem ‘Ornamentwerk’ nicht einen zu kopierenden Motivschatz bieten, sondern das Empfinden der Gegenwart treffen und anregend wirken. 63 Leipziger Kunstgewerbemuseum (1880) 64 Dupont-Auberville (1881) behandelt das Gewebeornament, das er der ‘art industriel’ zuordnet. 65 Schulze (1886); Lieb (1900) übersetzt die Publikation von R.T. Lord ‘Decorative and fancy textile fabrics’, sein ‘Handbuch für Musterzeichner’ beschäftigt sich also ausschließlich mit Textilmustern. 66 Müller (1896) 67 Blount (1899) möchte mit seinem Buch die ‘ornamentalen Kunsthandwerke’ fördern. Der Entwurf eines Musters müsse sich nicht an der physischen Natur, sondern an der Klassifikation der Natur orientieren. (S. 14) 68 Die ‘Allgemeine Musterzeitung’ trägt den Untertitel: „Album für weibliche Arbeiten und Moden“. 69 Fischbach (1874). Der erklärte Zweck seiner Veröffentlichung war, ‘Industriellen und Ornamentisten’ brauchbares Material zu liefern und die historische Entwicklung der ‘Webeornamente’ zu erhellen. (S. 5) 70 Bock (1859) betont das chronologische Erarbeiten der Mustervorlagen, das dem Schüler die Möglichkeit biete, die Prinzipien der Muster zu erkennen und umzusetzen. 71 Reichelt (1956) trifft eine Auswahl von Textilornamenten nach gestalterischen Gesichtspunkten. Anhand der Anschauung (der einführende Text ist nur eine Seite lang) sollen sich die Gesetze der Flächenkomposition erschließen. (S. 5) 72 Jessen (1920); Berliner/Egger (1981) 73 Tzeng (1993) 74 Waenerberg (1992) 20 morphologie ausführlich befragt. Für die vorliegende Arbeit wurde vor allem die hergestellte Verbindung zwischen naturwissenschaftlichen Errungenschaften und Gestaltungsideen und -prinzipien rezipiert. Margaret Abegg stellt in einer Monographie gedruckte Musterbücher für Stickerei, Weberei und Spitzen von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert dar.75 Der erste Teil des Buches rekurriert auf eine Zusammenstellung der Modelbücher des 16. und 17. Jahrhunderts von Arthur Lotz aus dem Jahr 1933.76 Eine Publikationsreihe aus den 1970er Jahren führt die Tradition der Dokumentation musealer Gewebesammlungen fort.77 Einleitend wird angemerkt, daß die ‘histoire des motifs de tissu’ noch zu schreiben sei. Ein Ziel der Publikation sei demnach, hierauf aufmerksam zu machen und neue Horizonte zu öffnen.78 Auch wenn es nicht Ziel der vorliegenden Arbeit ist, diese Geschichte zu schreiben, war die Durchsicht der Musterbücher notwendig. Folgende Ergebnisse sind festzuhalten: Eine trennende Sicht auf Muster und Ornament kann nur implizit erkannt werden. Das für das Muster charakteristische Wiederholungsmoment wird jedoch sichtbar, sowie eine unausgesprochene Zuordnung des Musters zum Technischen im Gegensatz zum Schmückenden und Künstlerischen des Ornamentes.79 Die Reduktion des Musters auf zwei Dimensionen wird bei der Betrachtung der Musterbücher, die als Vorlagen dienen, besonders deutlich. Das Zeichnen macht das Muster zu einem Zweidimensionalen und enthebt es seiner Materialität. Die vermittelnde Position des Zeichnens zwischen Material und Technik setzt Kenntnisse des Musterzeichners voraus, bzw. wird in den didaktisch orientierten Publikationen die Notwendigkeit konstatiert, dem Musterzeichner ‘Material- gerechtigkeit’ beizubringen. Georg Bötticher schreibt 1892 in der Musterzeitung: „Und der Function des zu verzierenden Gegenstandes durch das Muster so zum Ausdruck zu verhelfen, dass man sogleich erkennt: dies ist eine Tapete und nur eine Tapete, dies ist ein Möbelstoff und nichts als ein Möbelstoff – das ist doch schließlich das Wichtigste und Haupt- sächlichste, was einem Musterzeichner beigebracht werden muß.“80 Die Flächigkeit des Musters wird besonders im Zusammenhang mit der Konstruktion betont: „Die Kunst des Musterzeichnens könnte man wohl als die Anwendung unseres konstruktiven Sinns auf eine Ebene bezeichnen.“81 In diesen Anweisungen und Trennungen spiegelt sich die Ausdifferenzierung der Berufe im 19. Jahrhundert wider. Gleichzeitig liegt in ihnen eine Entwicklung begründet, die immer heftiger kritisiert wurde: die Beliebigkeit des Ornaments. Diese Entwicklung beginnt mit dem Zeichnen von Ornamenten in vereinheitlichender Weise, die Farbe, Größe, Technik und Materialität unberücksichtigt läßt. Ein Musterzeichner, der sich eines 75 Abegg (1978) 76 Abegg (1978): S. 5. Arthur Lotz: Bibliographie der Modelbücher, Leipzig 1933 77 Die Sammlungen des Musée Historique des Tissus in Lyon und des Musée de l’impression sur étoffes in Mulhouse werden in jeweils drei sehr aufwendig hergestellten Bänden dokumentiert. Sano (1976 und 1978) Zwei entsprechende Bände liegen für das Victoria and Albert Museum in London vor. King (1980) 78 Sano (1978): S. 18 79 Berliner/Egger (1981): S. 11f 80 Georg Bötticher in: Der Musterzeichner, Nr. 11, II. Jg., Juni 1892, S. 70 81 Walter Crane, in: Zeitschrift für Musterzeichner, Nr. 13, VI. Jg., Juni 1896, S. 99 21 Vorlagenwerkes bedient, kann also die Form eines Eisenbeschlages aus dem 16. Jahrhundert zu einem Gewebeornament umgestalten. Die Kenntnisse, die im Laufe des 19. Jahrhunderts von den Musterzeichnern gefordert wurden, bezogen sich meist auf die Technik, wie zum Beispiel die Weberei oder das Bedrucken von Stoffen.82 Meine Durchsicht der Musterbücher83 hatte neben ihrer Beurteilung als Quellen- gattung die Absicht der visuellen Anhäufung von Mustern und Ornamenten. Hierfür ist das Flächenhafte, als Zeichnung oder Fotografie, von Vorteil: Es bedingt eine schnelle Handhabung – ein Aspekt, der noch anzusprechen sein wird. Der Verlust des Originalen, des Materiellen, des Räumlichen (bei sogenannten textilen Flachwaren die Rückseite) muß hierbei immer bedacht werden. Die Sichtung unterschiedlicher Sammlungen (Deutsches Textilmuseum Krefeld; Privatsammlung russischer Textildrucke; Gewebesammlung des Rheinischen Industriemuseums) diente zum einen gleichermaßen der visuellen ‘Anhäufung’ und zum anderen der Erfahrung der Materialität.84 Hierbei wurde jedoch deutlich, daß sowohl Sammlungs-, Aufbewahrungs- und Ausstellungspraxis von dem genannten Verlust zeugen bzw. ihn befördern. Eine Trennung zwischen sogenannten Flachwaren und Kostümen erscheint aus rein pragmatischen Gesichtspunkten hinsichtlich ihrer Aufbewahrung einleuchtend.85 Diese Praxis hat jedoch dazu geführt, die Flachwaren nicht nur als Zweidimensionales aufzubewahren, sondern auch zu untersuchen und auszustellen. Das Textile wurde seinem Funktionszusammenhang entnommen, um es zu ikonisieren. Die von mir vorgeschlagene dimensionale Betrachtung der textilen Muster wird sich als ein Weg erweisen, das Textile als Eigenständiges, zwischen den Dimensionen oszillierendes zu bestimmen. Handbücher Die Untersuchung der Handbücher richtet sich zunächst auf den (definitorischen) Umgang mit Ornamenten und Mustern. Das von Franz Sales Meyer 1888 ver- öffentlichte ‘Handbuch der Ornamentik’ stelle ich exemplarisch vor. Die Aufgabe dieses Handbuch sei es, „das Wichtigste aus dem Gesamtgebiet (der Ornamentik, Anm. K.K.) in irgend einer systematisch geordneten Reihenfolge zusammen- zustellen.“86 Meyer möchte sich von anderen Werken, die die Ornamente nach „Zeiten und Völkern“ ordnen, absetzen und ein „synthetisches System“ erstellen.87 Er unterscheidet hierfür zunächst zwischen geometrischen Formen und Naturformen und stellt anschließend die Funktion und die Anwendung der Ornamente vor. Die Kapitel, die der Funktion und der Anwendung gewidmet sind, sind von starken formalen Kategorisierungen, von Konventionalismus und Traditionalismus geprägt, typische Züge dieser Art von Literatur. Eine Definition des Ornaments wird, außer seiner 82 Lieb (1900) 83 Dem Mustertuch als einer textilen Form des Musterbuches wird im Kapitel ‘Die textile Dimension des Musters’ ein kurzer Abschnitt gewidmet. 84 Die Ergebnisse dieser systematischen Sichtung fließen in die Untersuchung ein, sie sind nicht Gegenstand der Untersuchung und werden nicht dargestellt. Die genannte Privatsammlung wird im folgenden als ‘russische Sammlung’ bezeichnet. 85 Die Gewebesammlung des Deutschen Textilmuseums Krefeld wird flachliegend in Objektschränken, nach Größe und Erhaltungszustand der Fragmente sortiert, aufbewahrt. 86 Meyer (1990): S. 1 (Unveränderter Nachdruck der 12. Auflage von 1927) 87 Meyer (1990): S. 2 22 Einführung als „künstlerischer Schmuck“, nicht gegeben. Die explizierte Differenzierung zwischen geometrischer Form und Naturform kann jedoch in Hinblick auf eine distinkte Definition von Ornament und Muster interpretiert werden. „Entweder wird das Ornament dadurch hervorgerufen, daß nach den Gesetzen der Rhythmik, der Regelmäßigkeit und Symmetrie Punkte und Linien gereiht und verbunden, geometrische Figuren gebildet und zerlegt werden, oder es entsteht in der Weise daß der ornamentierende Mensch Dinge der Außenwelt wiederzugeben versucht.“88 Demnach ist das geometrische Ornament, das ich als Muster definiere, von Rhythmus, Reihung (Wiederholung) und Symmetrie abhängig. Meyer spricht von ‘Netzen’, ‘Bändern’ und ‘Flachmustern’.89 An anderer Stelle spricht er von ‘un- begrenztem Flachornament’, zu dessen Wesen es gehöre, daß es nach allen Seiten hin beliebig ausgedehnt werden könne, „indem die einzelnen Bestandteile der Zeichnung, das sog. Muster, eine stete Wiederholung zulassen.“90 Diese Trennung von Ornament und Muster entspricht dem allgemeinen Sprachgebrauch und findet sich implizit in vielen Abhandlungen zum Ornament. Die Beschreibung Wersins bestätigt diesen Sachverhalt: „Wenn im folgenden von Ornament gesprochen wird, so ist damit stets die rhythmische Einheit gemeint, die man als Muster zu bezeichnen pflegt. Das Muster selbst besteht, wie der Vers aus Versfüßen, aus den ornamentalen Einzelgliedern, denen das Motiv entspricht, als dasjenige, was sich im Muster wiederholt.“91 Demzufolge ist das Motiv, also das Ornament, austauschbar. Das Entscheidende ist das, was Wersin ‘rhythmische Einheit’ nennt. Entsprechend der von mir formulierten Definition des Musters ist die rhythmische Einheit die Wiederholungsvorschrift. In dieser Lesung verkehrt sich das Verhältnis von Muster und Ornament gegenüber der klassischen Hierarchie: Das Ornament wird zu einem untergeordneten Element des Musters. Christie etwa folgt einer solchen Gewichtung, ohne dies zu kommentieren. In seinem Handbuch ‘Pattern designs’ werden die Begriffe Muster und ‘designs’ synonym verwendet, bzw. wie im Titel von ‘Pattern design’ gesprochen. Das Ornament wird dem Muster untergeordnet, es ist lediglich ein Musterelement, dessen Entwicklungsformen beschrieben werden.92 Gegenüber der deutschsprachigen Literatur scheint das Muster im angelsächsischen Raum zumindest nominell höher geschätzt zu werden. Joan Evans, die 1931 ein grundlegendes Werk vorgelegt hat, schreibt: „Pattern is an art not only of representation, but also of rhythm; it tends to exclude illusion in favour of symmetry. But paradoxically, just because of this stylization, the relation between the perception that inspired its creation and the pattern created is often more obvious than it can be in the more representational ‘fine’ arts.“93 Den untersuchten Handbüchern ist zum einen dieser undifferenzierte Gebrauch der Begriffe gemein, zum anderen das Anliegen zu klassifizieren. Die Klassifizierungen können sich an unterschiedlichen Merkmalen orientieren. Audsley nimmt beispielsweise eine Klassifizierung aufgrund der Formen – ohne Berücksichtigung der Farbgebung – vor. Er stellt Mäander-Ornamente zusammenfassend vor und be- 88 Meyer (1990): S. 12 89 Meyer (1990): S. 13 90 Meyer (1990): S. 303 91 Wersin (1953): S. 15 92 Christie (1929): S. 25f; 45f 93 Evans (1976): S. XXXV 23 zeichnet sie im beschreibenden Text immer wieder als Muster.94 Eva Wilson ordnet ihr Handbuch der Ornamente nach Motiven, wobei auch sie die Einzelmotive wie Tier- und Fabelwesen mit dem Begriff des Ornaments in Verbindung bringt und ‘Spiralen und andere laufende Motive’ als Muster bezeichnet.95 Andere Zuordnungen sind auf Epochen oder Ethnien ausgerichtet. Diese Auflistung soll nicht weitergeführt werden, sondern anhand eines zweiten Aspektes, der Dimension, die von mir postulierte Differenz von Ornament und Muster belegt werden. Die Betrachtung der Dimension ist eng mit dem Medium verbunden, entsprechend wurde die Darstellungsform der Ornamente und Muster in den Handbüchern berücksichtigt. Die Trägergebundenheit wurde bereits als ein wichtiges definitorisches Moment des Ornaments gekennzeichnet. Kroll beschreibt das Ornament als „appliziertes Artefakt [...], das immer an eine vorhandene Trägersubstanz gebunden ist“.96 Dieser Trägersubstanz kommt im allgemeinen keine Bedeutung zu, findet höchstens summarische Aufmerksamkeit.97 Durch die Vernachlässigung des Trägers und der Materialität des Ornamentes wird es möglich, das Ornament als ein Abstraktes – als reine Form – und der Flächenkunst Zugehöriges zu behandeln. Der Kunsthistoriker Günter Irmscher definiert: „Ornamente und ornamental verwendete Motive existieren ausschließlich in der Flächendimension.“98 Diese Definition läßt sich im- oder explizit auch an anderer Stelle finden, so ist vom reinen ‘Flachornament’ die Rede, dessen völlige Zweidimensionalität durch keinerlei Schraffur oder Schatten zerstört werden dürfe.99 Die Durchsicht der Abbildungen zahlreicher Handbücher liefert die visuelle Bestätigung: Mit wenigen Ausnahmen handelt es sich um Schwarz-Weiß- Abbildungen, meist als technische Zeichnung, seltener als Skizze ausgeführt, die das Charakteristische des jeweiligen Ornamentes zeigen sollen, das gleichzeitig kategorienbildend wirkt. Audsley ordnet die Ornamente in „Fret Ornament, Diaper Ornament, Interlaced Ornament, Powdered Ornament“ und Mischformen. Schwarz- Weiß-Zeichnungen, die die Grundform des jeweiligen Ornamentes zeigen, illustrieren seine Erklärungen.100 Ähnliches findet sich bei Ward (oder auch Day und Christie)101, der neben den Zeichnungen, die auf das Wesenhafte reduziert sind (z.B. Ornament- variationen aus der Kreisform abgeleitet), zusätzlich Zeichnungen von ornament- tragenden originalen Flächen beifügt (z.B. ornamentierte Buchdeckel) oder Foto- grafien derselben.102 Auch Hein, der ‘künstlerische Wirbeltypen’ klassifiziert, ver- fährt in dieser Weise: Die Vorlagen für seine Schwarz-Weiß-Zeichnungen sind unterschiedlichster Art und umfassen Objekte wie Fayence-Schüsseln, eine Bast- jacke, Manuskriptmalereien, historische Musterbücher oder Ornamenthandbücher.103 94 Audsley (1968). Der Originaltitel von 1882 lautete ‘Outlines of Ornament in the Leading Styles’. 95 Wilson (1996): S. 33 96 Kroll (1987): S. 153 97 Wörterbuch der Kunst (1989): s.v. ‘Ornament’. Das Ornament „kann aus dem gleichen Material bestehen oder auch materialverschieden sein.“ 98 Irmscher (1984): S. 6 99 Hänselmann (1889): S. 43 100 Audsley (1968) 101 Day (1887); Christie (1929) 102 Ward (1896): S. 34, 97, 102 103 Hein (1929) 24 Das Zeichnerische des Ornamentes, seine Planarität, wird durch diese Form der Darstellung über die Sehgewohnheit veranlagt. Materialität und Objekthaftigkeit treten in den Hintergrund, bis sie in völlige Vergessenheit geraten. Das Abzeichnen eines abgezeichneten Ornamentes wird in den genannten Publikationen nicht thematisiert, da das Wesentliche des Ornamentes ja seine Form ist. Das Klassifizieren und Zeichnen der Ornamente und Muster offenbart hierin seine Konstruktivität. Auch neuere Publikationen verfahren in dieser Weise, beispielsweise Eva Wilsons Ornament-Geschichte104, so daß die Form der technischen Reproduzierbarkeit von Abbildungen nicht als Grund für die Vernachlässigung des Materialitätsaspektes angeführt werden kann. Eine Ausnahme bildet die Publikation von Snodin und Howard, die jedoch als erklärte Absicht eben nicht die Klassifikation von Orna- menten haben, sondern eine Sozialgeschichte anhand des Ornamentes verfolgen. Dementsprechend erfahren die Ornamente keine zeichnerische Verkürzung oder Interpretation durch die Autoren, sondern werden als Objekte, Teile von Muster- büchern, Zeichnungen und Fotografien gezeigt.105 Die vorgestellten Handbücher, deren häufig didaktisches Anliegen in meiner Dar- stellung vernachlässigt wurde, stellen nur eine kleine Auswahl dar106, die vor allem den Klassifikationsdrang in bezug auf das Ornamentale demonstrieren. Das Attri- butive und das Zweidimensionale als zwei Merkmale des Ornaments wurden sichtbar. Die Vereinzelung solcher Aspekte kann zu Übernahmen in andere Disziplinen führen, z.B. in die Geschlechterforschung, die ein Zusammendenken von Ornament und Geschlecht vorschlägt. Ein Lesepapier des Zentrums für Frauen- und Geschlechterforschung stellt das Attributive in den Vordergrund, um es als ver- bindendes Moment – das Geschlecht haftet dem Körper an wie das Ornament dem Träger – zu instrumentalisieren.107 Die Flächigkeit des Ornaments in den Vorder- grund stellend, ist das Ornament Untersuchungsgegenstand der Kunst- und Kulturwissenschaft, wobei letztere sich methodisch in bezug auf das Ornament an ersterer orientiert. In diesen Zusammenhängen wird das Muster als Teil der Ornamentik behandelt. Mit den folgenden Beispielen möchte ich die Auswirkungen dieser Sicht markieren und anschließend ein definitorisches Trennungsmoment einführen. Die Einleitungen vieler Handbücher versuchen sich häufig in der Bestimmung des Wesens und Ursprungs der Ornaments. Kunstdrang und Schmucktrieb werden als Ursache für die Entstehung des Ornaments genannt, dessen Ausformungen oft entwicklungsgeschichtlich hergeleitet werden. Zur Bestimmung des Wesens werden Symmetrie, Proportion, Maß und Rhythmik angeführt.108 Die Symmetrie ist hiervon der Aspekt, dem die meisten Untersuchungen gewidmet wurden. Die Schriften des 104 Wilson (1996) 105 Snodin/Howard (1996) 106 Das Schriftenverzeichnis von Debes wurde schon erwähnt, es bietet einen umfassenden Überblick. Eine wissenschaftliche Bearbeitung der Handbücher steht noch aus. 107 Unveröffentlichtes Lesepapier als Vorbereitung zum Symposion zum Verhältnis von Dekoration und Abstraktion anläßlich der 300-Jahr-Feier der HdK in Berlin im Sommer 1996. 108 Ross (1907) erwähnt ‘harmony, balance and rhythm’ schon im Untertitel seines Werkes. Wornum (1860) möchte durch seine Ornamentanalyse die Prinzipien desselben aufdecken, Symmetrie und Repetition spielen hierbei eine wichtige Rolle. 25 19. Jahrhunderts spiegeln hierbei die verkürzte Auffassung der Symmetrie als Spiegelsymmetrie, die eine „Zweiheit in der Einheit“109 bilde. Hänselmann wendet die Symmetrie nur an, um die Motive, die sich in bezug auf die Lage ihrer Hälften zu einer Achse gleichen, beispielsweise Tiere, zu charakterisieren.110 Eine Zusammen- führung des mathematischen Symmetriebegriffs mit der darstellenden Kunst und Kulturgütern findet erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts statt. Da die Symmetrie als Strukturelement des Musters im nächsten Kapitel ausführlich behandelt wird und die Hauptreferenzwerke dort eingeführt werden, möchte ich zunächst nur auf zweierlei hinweisen. Ein Blick auf die Titel der Publikationen zeigt ein weiteres Mal die synonyme Verwendung der Begriffe Ornament und Muster, wobei eine Tendenz besteht, im Zusammenhang mit Symmetrieanalysen von Mustern zu sprechen.111 Den Publikationen gemein ist die Behandlung des symmetrischen Musters/ Ornaments als Flächenphänomen. Ungeachtet der drei Symmetriegruppen wird im Zusammenhang mit angewandter oder darstellender Kunst immer nur von ein- oder zweidimensionalen Symmetrien gesprochen. Sogenannte Bandornamente besitzen eine eindimensionale Symmetrie, Flächenornamente eine zweidimensionale, materialiter zeigen sich solche Symmetrien flächig, da auch das Band zwei Dimensionen aufweist. Die Muster oder Ornamente, die sich auf dreidimensionalen Objekten befinden, werden in die Fläche zurückgelesen, um ihre Symmetrieform zu bestimmen. Der ungarische Chemiker und Symmetrieforscher István Hargittai hat das Textile als Modell gewählt, um seinen Studenten die verschiedenen Symmetriegruppen nahezubringen.112 Anhand von traditionellen ungarischen Stickmustern zeigt er die sieben eindimensionalen und siebzehn zweidimensionalen Symmetrietypen (Ab- bildung 3 und 4). Für ihn ist der nachgewiesene, erzieherische Effekt der Anwendung fachfremder Analogien wichtig, nicht das Sticken.113 Demzufolge sucht er gezeichnete Stickmustervorlagen aus, keine textilen Stickereien. Er merkt an, daß man leider für die dreidimensionalen Symmetrien der Kristallographie keine ‘need- lework analogies’ anführen könne.114 Hätte er nicht die ‘notierte’, zweidimensionale Form des Textilen, sondern die materielle, dreidimensionale Ausführung als Demonstrationsmittel gewählt, wäre diese Beschränkung nicht zwangsläufig gewesen. Hiermit sollte nicht angedeutet werden, daß im folgenden die 230 möglichen dreidimensionalen Symmetrietypen in bestickten ungarischen Volks- trachten aufgesucht werden (was auch nicht möglich wäre), sondern eine mögliche Anwendung einer mehrdimensionalen Betrachtung des (textilen) Musters aufgezeigt. Mit diesem Dimensionsverlust des Musters geht der des Materials einher. Die Sich- tung der Sammlungen und Fachliteratur hat gezeigt, daß eine materialgerechte oder auch nur -berücksichtigende Betrachtung der Muster und Ornamente selten ist. Das 109 Hänselmann (1889): S. 94 110 Hänselmann (1889): S. 94 111 Müller (1985); Washburn/Crowe (1988); Woods (1936); Hargittai (1986); Walker/Padwick (1977); Stevens (1981) 112 Hargittai (1984) 113 Hargittai (1984): S. 1033 114 Hargittai (1985): S. 35 26 textile Muster als Objekthaftes verschwindet, es wird wie bereits erwähnt von der Kunstgeschichte vereinnahmt, die es als Bild behandelt. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Textilsammlung des Staatlichen Museums für angewandte Kunst in München (‘Die Neue Sammlung’). Die Publikation, die diese Textilien beschreibt, definiert das Ornament als ein an den Träger gebundenes, das aus einem Bedeutungsgrund erwachse, aus dem auch der Träger seine Aussage beziehe. Das Muster hingegen wiederhole Dekoratives nach Belieben auf irgendeinem Träger.115 Dieser wertenden Definition folgt abschließend eine Einordnung: „Textilien tragen Muster. Ob bedruckt oder eingewebt – sie haben nichts mit dem oben beschriebenen Wesen des Ornaments zu tun.“116 Das Textile wird hier auf seine Trägereigenschaften reduziert, eine Auffassung, die sich – wie zu zeigen sein wird – bestenfalls für bedruckte Stoffe aufrecht erhalten ließe, die aber vor allem der kunsthistorischen Betrachtung zuzuschreiben ist. Die Katalogisierung der Gewebesammlung, die Vorhänge, Teppiche, kleine Kleidungsstücke, Dekorationsstoffe, Fragmente, Tücher, Decken, Borten und Bänder umfaßt, zeugt gleichermaßen von dieser kunsthistorischen Einverleibung: Die Stoffmuster werden gemäß ihrer Entwurfsherkunft, d.h. alphabetisch nach Künstlernamen, mit Karteikarten versehen. Die Kurzbeschreibung der Muster folgt keiner einheitlichen Systematik. Die Publikation von Barbara Markowsky, die gleichermaßen aus einer kunst- gewerblichen musealen Sammlung hervorgegangen ist, weist dem Textilen zumindest einleitend eigenständigen Charakter zu.117 Das Besondere des Textilen – im Gegensatz zu anderen künstlerischen Ausdrucksformen – sei die Unabhängigkeit des textilen Ornaments von seinem Träger.118 Diese Aussage stimmt jedoch nur bedingt, da der Entwurf des Musters technischen Vorgaben gerecht werden muß und somit gewisse Einschränkungen erfährt. Die Katalogisierung und Klassifizierung der Textilien erfolgt bei ihr nach historischen und kunsthistorischen Gesichtspunkten, die die Ikonographie in den Vordergrund stellen. Ein Blick auf andere Publikationen zeigt, daß diese Art der Zuordnung weit verbreitet ist. Viele Monographien beschäftigen sich mit einem bestimmten Motiv oder Muster, häufig mit dem Ziel einer entwicklungsgeschichtlichen Darstellung.119 Stil- oder Epocheneinteilungen, die der Kunstgeschichte entnommen sind wirken gleichermaßen leitend in bezug auf Ausstellungen oder Publikationen.120 Erfolgt die Kategorienbildung gemäß des Materials oder einer bestimmten Technik, ist die Binnengliederung meist trotzdem an Stilen und Perioden interessiert.121 Ansätze zu einer genuin textilen Sicht weisen die Publikationen von Carol Bier und Brigitte Klesse auf. Carol Bier untersucht die ‘Persian Velvets at Rosenberg’, also eine vorgefundene Sammlung von Textilien.122 Einer Darstellung der Webtechniken und verwendeten Materialien folgt eine Beschreibung der Muster. Das Muster wird 115 Wichmann (1990): S. 20 116 Wichmann (1990): S. 21 117 Markowsky (1976) bearbeitet die Seidengewebesammlung des Kunstgewerbemuseums Köln. 118 Markowsky (1976): S. 5 119 Reilly (1987); Reichelt (1956); Muthmann (1982) 120 Thornton (1965) 121 Rothstein (1990); Meller/Elffers (1991) 122 Bier (1995) 27 einleitend über seine Symmetrieeigenschaft definiert, woraus Bier folgert, daß jedes Muster anhand seiner Symmetriegruppe beschrieben werden könne.123 Den Hauptanteil der Dokumentation der Samte bildet trotzdem eine detaillierte ikonographische Beschreibung der Motive der Muster, u.a. auch in bezug auf ihre räumliche Wirkung, nicht auf die Dreidimensionalität des Textilen. Es folgen – typographisch durch eine kleinere Schriftgröße untergeordnet – eine beschreibende Symmetrieanalyse des Musters, die Benennung der Gewebestruktur, die Beschaffenheit der Kanten und eine technische Beschreibung der Stoffrückseite. D.h. genuin textile Eigenschaften des Objektes werden wahrgenommen und beschrieben, sind jedoch von der Interpretation ausgeschlossen. Brigitte Klesses Publikation zur Seidenweberei des 14. Jahrhunderts stellt insofern eine Ausnahme dar, als daß textile Muster und Malerei sich wechselseitig als Referenz dienen sollen. Ziel der aufwendig recherchierten und dokumentierten Untersuchung ist die Datierung und Lokalisierung von Seidenstoffen des 13. und 14. Jahrhunderts. Als Hilfsmittel hierfür wurde die zeitgenössische italienische Malerei mit dem Hinweis auf die „wirklichkeitsgetreue Wiedergabe“ der Stoffmuster nutzbar gemacht.124 Auch wenn sich hier eine hierarchische Verkehrung andeutet – die italienische Trecento-Malerei als Hilfsmittel – bleibt die Untersuchung der Kunstgeschichte verpflichtet und fokussiert das Ikonographische des Musters. Das ‘Stoffliche’ des Textilen wird nur einleitend angesprochen und hierbei vor allem auf das Gesetz des Rapports hingewiesen und die Weberei als die reinste Form der Flächenkunst bezeichnet.125 Der ca. 500 gemalte Muster umfassende Katalogteil klassifiziert die Muster, bildet ‘Mustergattungen’, die auch die Gliederung der Kapitel bestimmen. Für die Wiedergabe der Muster wurden diese „auf ihr graphisches Gerüst in Schwarz-Weiß [...] reduziert“.126 Das heißt die – ohnehin ihrer haptischen Qualität beraubte – (gewebte) Textilie wird durch die zeichnerische Reduktion auf eine zu klassifizierende Musterform reduziert. Die Begriffe des Musters und des Ornaments definiert Klesse nicht, ihr Gebrauch hierarchisiert jedoch in der üblichen Weise, indem das Gewebeornament die Musterformen umfaßt. Die Publikation kann zum einen der Einordnung von Originalstoffen hinsichtlich Entstehungszeit und Herkunft anhand des Kataloges und zum anderen das ‘gemalte Textilornament’ der kunsthistorischen Stilkritik dienen. Datierung, Werkstatt- zuordnungen, Stilkritik sind genuin kunsthistorische Anliegen, die sich dem Vor- haben, eine ‘Kunstgeschichte der Seidenweberei’ zu schreiben, natürlich zur Seite stellen.127 An manchen Stellen jedoch findet das Textile Berücksichtigung, beispiels- weise wenn die malerische Darstellungsform des Musters beschrieben wird, ob das Muster den stofflichen Falten folgt oder nicht. Des weiteren werden textile Elemente, insbesondere ihre Musterung, als raumkonstituierend identifiziert128, ein Aspekt, den ich aufgreifen werde. 123 Bier (1995): S. 32 124 Klesse (1967): S. 483 125 Klesse (1967): S. 22 126 Klesse (1967): S. 163 127 Klesse (1967): S. 17 128 Klesse (1967): S. 26 28 Mit Blick auf die untersuchten Handbücher zum Thema Ornament/Muster läßt sich somit abschließend feststellen, daß ein Übersichtswerk zum Textilornament oder - muster, das einen eigenen Zugang schafft, ein Desiderat bleibt. Die vorhandenen Arbeiten verfolgen technische oder didaktische Ziele, zollen dem textilen Charakter der Muster mehr oder weniger Beachtung.129 Da ich im folgenden nach den Funktionen des Musters frage und das Textile ‘nur’ als Modell für Musterbildung nutze, wird dieses Desiderat ein solches bleiben. Die Darstellung der Literatur hat jedoch gezeigt, daß die Notwendigkeit einer Materialorientierung im Sinne einer eigenständigen Textilwissenschaft besteht. Dem wird an dieser Stelle zum einen Rechnung getragen durch genuin textile Zugangsweisen und Hinweise auf textiltypische Eigenschaften und zum anderen durch einen Entwurf für einen Erfassungsbogen textiler Muster.130 Diese Hinweise auf textile Ubiquität sollen den Blick schärfen, aber nicht einen ‘textile turn’ beschwören, der die Wahrheit in der Transparenz eines Organdy sucht... Ornamenttheorie Neben den vorrangig an der Praxis orientierten Hand- und Musterbüchern be- schäftigen sich zahlreiche Publikationen mit der Theorie des Ornaments.131 Da das Muster gemeinhin als Teil der Ornamentik begriffen wird, dient die von mir vor- genommene Sichtung der Literatur der Mustersuche und der abgrenzenden Definition. Wie schon erwähnt steht es noch aus, eine „Geschichte der Ornamentforschung“ zu schreiben, und die Forschungslage erweist sich als „eher dürftig“.132 Eine Dissertation von 1983 bietet eine umfassende Dokumentation der deutschen Ornamentkritik des 18. Jahrhunderts mit einer Auswahl der wichtigsten Schriften im Katalogteil.133 Kroll trifft in seiner Publikation eine Auswahl von Ornamenttheorien, die vorwiegend aus dem 19. Jahrhundert stammen. Diese Auswahl umfaßt Texte aus Kunst- und Architekturtheorie sowie der Ästhetik und Philosophie. Kroll benennt zwei Gründe für den Rückgang des Interesses am Ornament und an seinen theoretischen Bestimmungsversuchen im 20. Jahrhundert. Zum einen habe Loos’ Schrift großen Einfluß gehabt und zu einer „Ent-Aktualisierung“ des Themas geführt, und zum anderen seien Gesamtdarstellungen zugunsten der Erforschung einzelner Grundfragen aufgegeben worden.134 Eines der bekanntesten und schönsten Bücher zum Ornament ist die von dem Architekten und Kunstschriftsteller Owen Jones 1856 veröffentlichte ‘Grammatik der 129 Wilckens (1991) verfolgt die technische Entwicklung der Textilproduktion. Reichelt (1956b) möchte anhand der textilen Ornamente die Gesetze der Flächenkomposition veranschaulichen, hätte also auch Tapeten wählen können. 130 Dieser Erfassungsbogen wurde als Ergebnis der Literatur- und Objektanalysen in den Anhang aufgenommen und nicht im Text als Darzustellendes eingeführt. Er ist im Sinne einer Anregung für den Umgang mit textilen Mustern zu verstehen. 131 Umfangreiche Bibliographien finden sich bei Lüttichau (1983), Kroll (1987) und Waenerberg (1992). 132 Kroll (1987): S. 1 133 Lüttichau (1983) 134 Kroll (1987): S. 136 29 Ornamente’.135 Die Schönheit des Buches, die zum einen auf der hohen Druckqualität der Tafeln136 und zum anderen auf der künstlerischen Gestaltung und Anordnung der Muster- und Ornamentbeispiele beruht, hat seinen Text-Inhalt in der Rezeption zurücktreten lassen.137 Eine Würdigung seiner Theorien wird Jones durch Ernst H. Gombrich zuteil, der die ‘Grammatik der Ornamente’ als „grundlegendes Buch unseres Themas“ bezeichnet.138 Jones beginnt seine Grammatik – ein Begriff auf den zurückzukommen sein wird – mit 37 Propositionen, die die „anempfohlenen Principien zur Anordnung der Form und der Farbe in der Architektur und den decorativen Künsten“ darlegen. Die erste Proposition bezieht sich auf den Ursprung der dekorativen Künste in der Architektur und die daraus abgeleitete Weisung, weiterhin als ‘Begleitung’ der Architektur zu fungieren.139 Des weiteren besteht Jones auf einer geometrischen Konstruktion des Ornaments und einer konventionalisierten Darstellung von Naturgegenständen.140 Ziel seines Werkes ist es, das Publikum zu einer Kenntnis der der Kunst zugrundeliegenden allgemeinen Prinzipien zu führen.141 Die sich anschließenden 20 Kapitel sind nach epochalen und ethnisch-geographischen Gesichtspunkten erstellt worden. Auch hier steht das Einordnen, das Klassifizieren, das Entdecken von Stilen und Prinzipien im Vordergrund. Die Abbildungen zeigen sowohl isolierte Einzelmotive als auch fragmentarische Ausschnitte oder Gesamtdarstellungen von Ornamenten. Die Vorlagen für die Zeichnungen sind unterschiedlichster Art: Glasfenster, Musterbücher, Teppiche, Illuminationen, Möbel, Metallarbeiten, Porzellan etc. Ihre Materialität und Dimensionen werden in der Darstellung vernachlässigt. Diese nivellierende Vernachlässigung schafft für Jones eine neue, zweidimensionale, Ebene, die er kreativ nutzt. Die textilkünstlerische Auseinandersetzung von Silke Radenhausen mit Jones’ Werk führt seine Tafeln in die Dreidimensionalität. Diese „plastische Reartikulation“ diene jedoch weniger dem Zweck, „der Abstraktion Körperlichkeit zu reinjizieren“, als vielmehr immer schon Dagewesenes sichtbar zu machen.142 Die Künstlerin rekurriert auf eine Auffassung von Geschichte, die nicht linear, sondern geschichtet ist. Die Möglichkeit, solche Schichtungen zu entdecken und zu bearbeiten, bietet nicht jedes Ornamentwerk, um nicht zu sagen: kein anderes. Radenhausens Interpret sieht das anders und schreibt über Jones ‘Ornament-Kompendium’, das es sich durch nichts von einem Tapetenmusterbuch eines Raumausstatters unterscheide.143 Der Vergleich mit anderen Kompendien und Warenmusterbüchern zeigt jedoch, daß Jones’ Auswahl und 135 Diese ‘Grammar of Ornament’ wurde in England bis 1910 aufgelegt und wird gegenwärtig als Nachdruck wieder veröffentlicht, aus dem hier zitiert wird. Jones (1997) 136 Das Original erschien im Folioformat mit 112 chromolithographischen Tafeln, deren Farbqualität heute noch kaum zu übertreffen sei, so Hanebutt-Benz in der Einführung des Nachdrucks von 1997. Jones (1997): S. 13 137 Bspw. gibt es Faksimile-Drucke, die ausschließlich die farbigen Tafeln wiedergeben. 138 Gombrich (1982): S. 62. Eine Dissertation von 1984 beschäftigt sich ausschließlich mit Jones’ Grammatik und bewertet sie als beste Ornamenttheorie aller Zeiten. Jespersen (1993) 139 Jones (1997): S. 20 140 Jones (1997): S. 20f, Proposition 8 und 13 141 Jones (1997): S. 23, Proposition 37 142 Radenhausen (1997): S. 15 143 Radenhausen (1997): S. 13. Darin: Knut Nievers: „Grammatik des Ornaments“, S. 12–17 30 Zusammenstellung erst den (künstlerischen) Mehrwert erzielt, der die Bedingung der Möglichkeit einer interpretativen Rückübertragung ist.144 Jones’ Schrift und ihm strukturell und inhaltlich verwandte Schriften145 finden über diese Darstellung hinaus nur illustrativen Eingang in die vorliegende Arbeit. Die Ornamenttheorien Gottfried Sempers, Alois Riegls und Wilhelm Worringers begründen auf je verschiedene Art eine Aufwertung des Ornaments innerhalb der Kunsttheorie. Bei Riegl (1858–1905) ist das Ornament ein mögliches Ausdrucks- mittel menschlichen, epochentypischen Kunstwollens, anhand dessen er eine Stil- geschichte schreibt.146 Eine spätere Schrift Riegls stellt das Ornament als objektiven Ausdruck des Kunstwollens schließlich über das Kunstwerk, das immer individualistisch sei.147 Diese Form der Hierarchisierung ist für meine Fragestellung nicht von Interesse, da es nicht darum geht, das Muster als Ornament kunsthistorisch zu behandeln. Die Hierarchisierung an sich zeugt von einem Bedeutungszuwachs des Ornaments, und die postulierte Objektivität verweist auf synchronisch und diachronisch zu bestimmende Merkmale. Ich greife diese positive Lesung des Ornaments auf, um für das Muster in einem weiteren Schritt die Strukturelemente zu benennen. Worringer (1881–1965) folgt Riegl methodologisch, übernimmt die Idee des Kunstwollens, die sich bei ihm in einem Abstraktionsdrang äußert und der sich in der Ornamentierung verwirklicht.148 Das Ornament wird hierdurch zur historisch ältesten Kunstform, die Worringer als ‘höchste, reichste gesetzmäßige Kunstform’ aufgrund der strengen ‘Lebensausschließung’, wie sie ‘den Völkern auf ihrer primitivsten Kulturstufe zu eigen’ sei, beschreibt.149 Sich gegen Semper wendend, sieht er Entstehungszusammenhänge nicht durch Technologie und Herstellungsverfahren bestimmt, sondern in den jeweiligen ‘psychischen Zuständen’ eines Volkes be- gründet.150 Kroll interpretiert das Ornament bei Worringer als Mittel der Seins- vergewisserung und Selbsterhaltung, als von ‘lebensexistientieller Bedeutung’.151 Meine Rezeption Worringers richtet sich auf diese existentiellen Fragen, nicht auf die Entwicklungsthese von der Abstraktion hin zu einem Naturalisierungsbedürfnis.152 Die Publikationen von Lewis F. Day werden im folgenden exemplarisch vorgestellt. Sie sind einerseits der (Design-)Theorie zuzuordnen und andererseits als Anleitungen zum Entwerfen gedacht. Ihre Detaillesung erwies sich als fruchtbar und in Hinblick auf die formulierte Definition bestätigend. Days mehrbändige Publikation widmet dem Muster den ersten Band und trennt es eindeutig vom Ornament. Von besonderem Interesse ist die Einleitung, die um eine Definition bemüht ist. Day definiert als Schlüsseleigenschaft des Musters die Repetition. „[...] Wherever there is ordered 144 In gewisser Weise ist diese Darstellungsform mit Ernst Haeckels ‘Kunstformen der Natur’ vergleichbar. Die ästhetisierte Präsentation von Quallen und Borstenwürmern inspirierte Muster- zeichner, Künstler und Naturwissenschaftler. Haeckel (1899) 145 Racinet (1873); Hulme (1893) 146 Riegl (1923) 147 Kroll (1987): S. 68 148 Worringer (1921): S. 10, 19 149 Worringer (1921): S. 22 150 Worringer (1921): S. 74 151 Kroll (1987): S. 73f 152 Worringer (1921): S. 81 31 repetition there is pattern.“153 An anderer Stelle schreibt er, daß es unmöglich sei zu weben, stricken, flechten oder andere mechanische Herstellungsarten auszuführen, ohne Muster zu produzieren. Day verfolgt im weiteren das Ziel, eine systematische Methode für den Entwurf von Mustern, von Designs zu entwickeln. Demzugrunde liegt die angenommene Konstruktivität des Musters, die es wie die Anatomie zu erkennen gilt, um Klassen, Familien und Strukturen zu bilden. Ziel seines Buches ist also die Ausbildung des Designers, die Begriffe der Repetition und die Musterproduktion im Sinne mechanischer Tätigkeit werden nicht explizit weiter ausgeführt. Ein Blick auf zwei weitere angelsächsische Publikationen zeugt von einem ähnlichen Sprachgebrauch, der das Muster als ‘pattern-design’ der Fläche zuordnet und das Ornament als Motiv innerhalb einer Gesamtornamentik behandelt. William Morris’ Vorlesung richtet sich gleichermaßen an Designer und gibt Hinweise auf Grundformen, Funktion und Konstruktion der Muster.154 Die bereits erwähnte Publikation von Christie richtet sich nicht an ein definiertes Publikum. Die von ihm vorgenommene Klassifikation der Muster verfolgt jedoch ein ähnliches Ziel wie Morris’ oder Days. Einleitend bemüht er sich um eine Herleitung des Designs aus dem menschlichen Bedürfnis nach „Informative and Imitative as well as the Decorative“.155 Im Zusammenhang mit den ‘information-giving patterns’156 werden die Begriffe Sprache und Schrift verwendet. Christie führt dies nicht weiter aus, der Grundgedanke, das Muster als Schrift oder Sprache zu verstehen, findet sich jedoch auch an anderer Stelle. Die Titel ‘The Language of Pattern’157 und ‘A Pattern Language’158 verweisen auf das Muster als Sprache, die Inhalte und der Umgang mit Mustern ist jedoch je sehr unterschiedlich. Ohne die Werke an dieser Stelle näher zu betrachten, kann das Fehlen einer Definition und einer Theorie konstatiert werden. Auch Jones’ bereits erwähnte ‘Grammar of Ornament’ impliziert die Auffassung des Ornaments als Sprache, die eine Grammatik besitzt, ähnlich wie Schubert von Soldern den Ornamentstil als aus feststehenden Typen, die eine Sprache bilden, definiert159 oder Worringer von einem „grammatikalischen Grundwesen“ spricht160 und Riegl die Metapher der ‘Historischen Grammatik’ wählt.161 Dieser Idee der Lesbarkeit des Musters und des Ornamentes werde ich nachgehen. Die von den bisher angesprochenen Publikationen vorgenommenen Klassifikationen legen die Annahme einer aufzufindenden konstituierenden Struktur, einer Grammatik, nahe. Den Höhepunkt dieser Auffassung bildet Gardins ‘Code pour l’analyse des ornements’, der sich um eine einheitliche und elektronisch verarbeitbare Beschreibung des geometrischen Ornaments bemüht. Sogenannte Zeichen, die das Ornament konstituieren, werden durch Buchstaben bzw. Silben bezeichnet, eine 153 Day (1977a): S. 2 154 Morris (1914) 155 Christie (1929): S. 26 156 Christie (1929): S. 27 157 Albarn (1974) 158 Alexander (1995), die englische Originalausgabe erschien 1977 unter dem genannten Titel. 159 Schubert von Soldern (1896): S. 5 160 Kroll (1987): S. 72 161 Riegl (1966) geht von einer Kunstsprache aus, die jedes Kunstwerk spreche. Folglich gebe es auch eine historische Grammatik dieser Sprache, metaphorisch gesprochen. (S. 9) 32 definierte Syntax gibt Auskunft über die Ausrichtung. Aus einem einfachen linearen Muster kann hierdurch „+fiximuli KA’“ werden.162 Neben dieser ‘inneren’ Ähnlichkeit läßt sich gleichermaßen eine äußerliche ent- decken: die lineare Form. Es wird zu zeigen sein, daß eine solche Analogie nicht haltbar ist, daß das Muster keine Schrift und auch kein zu dekodierender Code ist.163 Auch Wolfgang von Wersin wählt den Vergleich zu Schrift und Sprache. Er schreibt wörtlich: „Ornament ist eine Art Sprache, die dort, wo sie lebt, gesprochen und verstanden wird.“164 Und: „Es wird daher angenommen, daß sich das Ornament ursprünglich als eine Art Vorstufe der Schrift entwickelt hat, als ein erstes Stadium der Mittel, mit denen der Mensch versucht, sein geistiges Verhältnis zur Umwelt zu fixieren.“165 Ein Teil seiner Untersuchung ist der Sprache und der Schrift verpflichtet, ein anderer – der für uns interessante – rekurriert eher auf den zweiten Teil des Zitats, das den schlichten Begriff des ‘Mittels’ verwendet. Das Muster (Wersin trennt Muster und Ornament definitorisch) setzt den Menschen in den Stand, seine Beziehungen zur Umwelt zu tradieren. Wersin führt die Begriffe Rhythmus, Dynamik und Ordnung als Mittel der Beschreibung ein. Als strukturelle Elemente werde ich diese Begriffe nutzen, die Form der Tradierung näher zu untersuchen. Das als Standardwerk bezeichnete Werk des 20. Jahrhunderts zum Ornament ist das bereits erwähnte ‘Ornament und Kunst’ von Ernst H. Gombrich. Seine wahr- nehmungspsychologische Orientierung erweitert den Ornamentbegriff, so daß es als Referenzwerk herangezogen werden kann. Dies geschieht vor allem in bezug auf einzelne Begriffe wie Ordnung und Bewegung und eine Verbindung zu Musik und Tanz. Definitorisch trennt Gombrich Muster und Ornament nicht, mit dem profanen Hinweis, daß man auch über nicht Definiertes sprechen könne.166 Im Epilog wird jedoch eine Parallele gezogen, die das Mustermachen als in der Zeit Geschehendes, Strukturbildendes bezeichnet, im Gegensatz zum Ornament, das nachträglich schmückt.167 Gombrich führt mit dem Begriff der Zeit das trennende Moment ein. Eine exemplarisch ausgewählte kunsthistorische Definition des Ornaments impliziert dies: „[...] Ornamental verwendete Motive [dürfen] sich weder in einer Handlungskontinuität (zeitliches Moment) noch in einem illusionistischen Tiefenraum (Aktionsraum) befinden [...]“.168 Das Zitieren einer letzten Definition des Ornaments führt zu einer abschließenden Trennung des Ornaments vom Muster, die für das weitere Vorgehen grundlegend ist. „Ornament ist eine Art der Gattung Dekor. Es wird mithin als eine Schmuckform einem Ge- genstand appliziert, es bleibt dem Gegenstand akzidentell (anders als die Struktur, die dessen ‘substantielle Form’ ist). Als Applikation eignet ihm primär reine Flächigkeit oder flach reliefierter Auftrag. Bei körperhaften Gebilden, die etwa die volle Masse des Bauwerks oder der Skulptur erfassen, sprechen wir nur uneigentlich vom Ornament.“169 162 Gardin (1978): S. 29 163 Die von dem Anthropologen Ben A. Nelson (1985) herausgegebene Publikation versteht Keramik- muster als Code und bemüht sich um eine objektive Meßbarkeit von Mustern. (S. 1) 164 Wersin (1953): S. 5 165 Wersin (1953): S. 25 166 Gombrich (1982): S. 10 167 Gombrich (1982): S. 304 168 Irmscher (1984): S. 6 169 Hans Heinz Holz: „Die Repristination des Ornaments“, zitiert nach: Müller (1977): S. 181 33 In Absetzung zu dieser Definition und der besprochenen Literatur läßt sich das Muster als ein Substantielles und Funktionelles, Mehrdimensionales und Materiales beschreiben. Die hier erwähnten und andere Ornamenttheorien werden von mir auf verschiedene Weise genutzt, argumentativ schließe ich mich ihnen nicht an. Die besondere Bedeutung der Ornamenttheorie Gottfried Sempers wird im Zusammenhang mit der Einführung des textilen Modells dargelegt. Den herangezogenen Referenzwerken fachfremder Literatur ist eine Ähnlichkeit in ihren Konzeptionen gemein. Die Komplexitätsforschung, die Synergetik, die Emergenz- und Selbstorganisationstheorien suchen nach vereinheitlichenden Prin- zipien. Das wesentlich Neue dieser Forschungen ist die Orientierung an dynamischen Prozessen, deren Kennzeichen die Rückkopplung von Wirkungen auf ihre Ursachen ist. Die Komplexitätsforschung befaßt sich mit komplexen Systemen, (die Chaos- forschung gehört in dieses Umfeld), mit Nichtlinearität und vor allem mit Ordnung und Mustern. Der theoretische Physiker Murray Gell-Mann erklärt sich unsere komplexe Welt (Oberflächenkomplexität) aus einer strukturellen Einfachheit der Tiefe.170 Diese Einfachheit ist bedingt durch ihre Musterhaftigkeit, dies implizieren die Ausführungen Roger Lewins.171 Neben diesen grundlegenden Hinweisen, sind die an gegebener Stelle einzuführenden Schriften Brian Goodwins, Klaus Mainzers, Brian Kellys, Ian Stewarts, Douglas B. Hofstadters sowie verschiedene Themenbände von Bedeutung. Die Dimensionen des Musters – Eine performative Gliederung Der Dimension kommt eine besondere Funktion als gliederungsbestimmendes Moment zu. In einer performativen Geste verweist sie auf zwei wichtige Aussagen. Zum einen auf die Bedeutung des Betrachterstandpunktes, auf den lebendigen Be- obachter. Das heißt, die dimensionale Gliederung bedenkt den Beobachter als lebendes System, das wiederum andere, lebende Systeme – Muster als Ergebnisse menschlicher Handlungen – beobachtet.172 Die postulierte Konstruktivität wird hiermit auf einer weiteren Ebene aufgenommen. Zum anderen demonstriert die dimensionale Binnengliederung der beiden Hauptkapitel die Mehrdimensionalität des Musters. Der Umfang der beiden Abschnitte zur Zweidimensionalität gibt einen Hinweis auf eine Dominanz im textilen wie im kognitiven Bereich. Für diese Dominanz bietet sich eine materialorientierte Erklärung an. Textile Flächen und Papiere sind mobil und flexibel, diese Handhabbarkeit gewährleistet die Bewegung in Zeit und Raum.173 170 Lewin (1993): S. 27 171 Lewin (1993): passim 172 Maturana (1998): S. 26; Foerster (1993): S. 116 173 Dieser Gedanke wird nicht im Sinne einer These ausgearbeitet. Die Dimensionen und Eigenschaften der Materialien, die im Text beschrieben werden, verweisen auf diese Zusammenhänge. 34 Die strukturelle, die textile und die kognitive Dimension des Musters sind in ihrer Setzung das Ergebnis der limitrophen Bewegungen. Die Binnengliederung der beiden Hauptkapitel operationalisiert den Dimensionsbegriff ein weiteres Mal. Im allgemeinen wird der Begriff der Dimension auf die Ausdehnung in die drei Raumrichtungen angewendet. „Die topologische Dimension ist 0 für isolierte Punkte, 1 für Kurven, 2 für Flächen, 3 für Volumina und so weiter.“174 Die Idee der vierten Dimension als Zeitfaktor besteht etwa seit 1800: Die Zeit tritt als vierte Koordinate zur Bestimmung der Raum-Zeit-Welt hinzu.175 Die vier Dimensionen strukturieren unsere komplexe Welt der Raum-Zeit, sie dienen wesentlich der Orientierung des Menschen. Diese vier Dimensionen dienen der Gliederung der textilen und kognitiven Muster. Hierfür wird die übliche Schreibweise von 0 bis n-dimensional in der Kurzform verwendet (z.B. 1-d für eindimensional). Die Konstruktivität einer Weltsicht in vier ganzzahligen Dimensionen trat in der Bearbeitung des Materials immer deutlicher zutage und der Analogie zunehmend in den Weg. Das Aufbrechen der Dimensionen und die Einführung gebrochener Dimensionen trägt diesem Aspekt Rechnung. Anhand des textilen Modells läßt sich dieser Gedanke illustrieren. Analog zu den genannten Dimensionen kann das Textile zugeordnet werden: der Faden als Linie, der Stoff als Fläche, die Bekleidung oder textile Architektur als Volumina und Mode und Vergänglichkeit als vierte Dimension. Die verbleibende Schwierigkeit der Nulldimensionalität führt zur Chaosforschung. Um das ‘legendäre Fraktal’ zu erklären, wählen die Autoren Briggs und Peat ein textiles Beispiel: das Wollknäuel. „Schauen wir es aus großer Entfernung an, so erscheint es als Punkt, hat also die Dimension null. aus einigen Metern Abstand erkennen wir wieder, daß das Knäuel dreidimensional ist. Was aber geschieht, wenn wir uns weiter annähern? Dann sehen wir einen aufgewickelten Faden. Die Kugel besteht aus einer verworrenen Linie und ist also offenbar eindimensional. Bei noch näherer Betrachtung verwandelt sich diese Linie in eine Säule endlicher Dicke, und der Faden wird dreidimensional.“176 Es wird deutlich, das die Bestimmung der Dimension vom Betrachterstandpunkt abhängig ist. Benoît Mandelbrot schlägt deshalb ein qualitatives statt eines quantitativen Messens vor. Das Ergebnis hiervon ist eine fraktale Geometrie mit gebrochenen Dimensionen, die den relativen Komplexitätsgrad eines Gegenstandes angeben.177 Die Aufnahme gebrochener Dimensionen in die Binnengliederung hat ausschließlich hinweisenden, performativen Charakter. Es handelt sich nicht um berechnete Dimensionen und nicht um nachweisbare Fraktalitäten im Sinne von echter Selbstähnlichkeit der textilen und kognitiven Muster. Das Kapitel ‘Die strukturelle Dimension des Musters’ dient der Erklärung der Begriffe der Repetition, der Symmetrie und des Rhythmus. Die Einführung erstreckt sich auf die Literatur und die Benennung der Hauptreferenzen. Die Reduktion auf diese Begriffe ist ein erstes Ergebnis der Untersuchung und dient der Festigung der 174 Genz (1987) 175 Abbott (1929); Rucker (1987) 176 Briggs/Peat (1995): S. 136f 177 Briggs/Peat (1995): S. 137 35 formulierten Definition des Musters. Assoziierte Begriffe, wie Ordnung, Repräsentation und Mimesis, erfahren eine Einordnung. ‘Die textile Dimension des Musters’ wird in seinen Ausprägungen analog der vier topologischen und einigen fraktalen Dimensionen beschrieben. Die Beschreibung der textilen Muster fokussiert gemäß der These der konstituierenden Funktion des Musters die Herstellung von Textilien. Die Reduktion und Zuordnung der zahllosen textilen Muster erfolgt entsprechend textiltechnischer Systematiken. Historische Kontextualisierungen werden nur in Einzelfällen vorgenommen. Der handelnde Mensch ist hierbei scheinbar abwesend, das Muster wird zum Akteur. Dieser ‘Rollentausch’ dient der Betonung der Bedeutung des Musters für das Textile und der Etablierung des Textilen als eigenständiges Ausdrucksmittel, als essentielle Kulturleistung, die es aus überkommenen Vereinnahmungen und Marginalisierungen zu lösen gilt. Das Kapitel ‘Die kognitive Dimension des Musters’ beschäftigt sich mit den Mitteln der Weltstrukturation des Menschen. Hierbei geht es insbesondere um die visuelle Erzeugung von Wirklichkeit. Anhand von Beschreibungen und Abbildungen wird die Teilhabe des Musters am Erkenntnis- und Erfahrungsprozeß des Menschen, seine Formen der Funktionalisierungen gezeigt. Der letzte Abschnitt des Kapitels deutet die erwähnte Selbstreferenz des Musters an. Das Muster als dynamisches System begriffen (deshalb als 3/4-d bezeichnet) ist Gegenstand naturwissenschaftlicher Untersuchungen. Die Darstellung vollzieht sich nun auf verschiedenen Ebenen, einerseits bezieht sie sich auf die aufzufindenden Muster und andererseits auf die Bedeutung der Muster für die Musterwahrnehmung und auf den Umgang der Wissenschaften mit den Mustern. ‘Die seltsame Schleife’ beschreibt den Zustand der unendlichen Selbstreferenz. Dieses Sich-zurück-Falten auf sich selbst kann als Aufforderung zum repetitiven Lesen verstanden werden, formal bedeutet es das Ende der Untersuchung. 36 Die strukturelle Dimension des Musters Die strukturellen Elemente des Musters wurden bereits benannt: die Repetition, die Symmetrie und der Rhythmus. Diese Begriffe dienen der Funktionsbestimmung des Musters, ihre Markierung ist das Ergebnis der limitrophen Bewegungen zur Eröffnung des Handlungsfeldes. In einer weiteren limitrophen Bewegung werden für diese Begriffe im folgenden weitere Handlungsfelder erschlossen und für die Untersuchung nutzbar gemacht. Ich werde hierfür zunächst weitere Referenzwerke und -autoren der Untersuchung benennen. Die jeweiligen Ausführungen stellen die Begriffe in ein möglichst weites Feld und zeigen die Zugehörigkeit verschiedener Definitionen zu ihren Bereichen auf. Das Ziel sind hierbei nicht abschließende Neu-Definitionen, sondern eine Erklärung der Anwendung der Begriffe auf die Muster als zusammenführende und nicht trennende Geste. Die Repetition ist als wesentliches Charakteristikum des Musters zu kennzeichnen. Die Symmetrie und der Rhythmus, die ich als Wiederholungsvorschriften bezeichne, werden zur Differenzierung eingeführt. Repetition (Wiederholung, Iteration) Die Begriffe der Repetition und der Wiederholung werden von mir synonym ver- wendet. Die Iteration, gleichermaßen mit Wiederholung zu übersetzen, wird aus- schließlich im mathematischen Sinne als wiederholte Anwendung einer Rechen- vorschrift benutzt. Ausnahmen bilden teilweise die zitierten Texte, andere werden gekennzeichnet. Derrida ersetzt beispielsweise den Begriff der Repetition bewußt durch den der Iterierbarkeit, um die Wiederholung mit der Andersheit zu verbinden.1 Die lateinische Vorsilbe ‘re-’ bedeutet ‘wieder, zurück’, also eine Bewegung in Zeit und/oder Raum. Dementsprechend gibt es viele Begriffe, die die Wiederholung als Idee in sich tragen: die Retour, der Refrain, das Revival, die Reanimation, die Reaktion, die Reflektion, die Repräsentation, die Redundanz2. Andere Begriffe bezeichnen unmittelbar die Form der Wiederholung. Das Serielle wiederholt sich reihenhaft, das Zyklische kreisförmig, das Oszillierende pendelnd und das Periodische kehrt in der Zeit wieder. Das Entscheidende hierbei ist die Rolle des Menschen: Er ist es, der sich wiederholt (Bewußtwerdung), der etwas wiederholt (Nachahmung), der Wiederholungen 1 Derrida (1988) erklärt den Begriff etymologisch: ‘iter’ leite sich von ‘itara’ ab, das im Sanskrit ‘anders’ bedeute. (S. 298) 2 Luhmann (1995) weist auf die Schönheit und Ornamentalität dieses Wortes hin, das die Wiederkehr einer Welle (unda) bezeichnet. (S. 195) Das Ornament als Schmückendes dient hier der Rehabilitierung eines Wortes, das durch sein repetitives Moment dem Muster zugehört. 37 instrumentalisiert (Regeln, Rituale), der etwas wieder-holt (Mnemosyne)3, der durch Wiederholungen in Raum und Zeit Muster erzeugt. Die Wiederholung ist gekennzeichnet durch das sich in diesen Bewegungsmodi ausdrückende Handlungsmoment. Die Bewegungsformen, ihre Gerichtetheit, werden gleichermaßen in der Untersuchung berücksichtigt. Als Grundrichtungen der Bewegungen sind die zirkuläre und die lineare zu benennen. Für die Beurteilung der Musterbildung und -erkennung leiten sich hieraus die Spiral- und Schraubenform und die Orthogonalität ab. Die Spirale als fundamentale Form der belebten Welt hat den Menschen zur Aus- einandersetzung unterschiedlicher Art angeregt.4 Als Motiv ist sie in der Ornamentik und der Mystik gegenwärtig. Als Phänomen läßt sich ihre Existenz in zahlreichen Bereichen nachweisen und untersuchen.5 Als Bewegungsrichtung, d.h. als ein aktiv Ausgeführtes, körperlich Wahrgenommenes, ist die Spirale für die Musterproduktion von Bedeutung, wie vor allem anhand des textilen Modells gezeigt wird. Die Mustererkennung nutzt die Spirale als Kategorie, z.B. der spiralförmigen Symmetrien.6 Im Gegensatz zur Spirale, die Leben und Tod symbolisieren kann, wird das Gerade meist als Ausdruck menschlicher Rationalität interpretiert, die sich in der von ihm konstruierten Welt sehend erfahren läßt. Diese Polarisierung von Spirale und Gerade ist häufig mit einer Wertung verbunden, die dem historischen Wandel unterworfen ist. „Die Engel fliegen in Spiralen, der Teufel geradeaus.“7 Diese Vision Hildegards aus dem 12. Jahrhundert steht in Opposition zur mechanistischen Sicht auf die Welt, die die Spirale als Chaotisches auszuschließen versucht. Beide Formen lassen sich jedoch als ‘natürliche’, dem Menschen zutiefst eigene nachweisen. Es sind die „Körper-Koordinaten (in der binären Zuordnung von Senkrechte und Waagerechte) [...], die das menschliche Blick- und Handlungsfeld und damit auch die Wegweiser der materiellen Kultur im Koordinatenkreuz der dualen Logik festlegen und räumlich verorten.“8 Die am Körper orientierte Wahr- nehmung legt eine Bewegungsrichtung nahe. Statistische Bildanalysen weisen ein Vorherrschen horizontaler und vertikaler Linien in unserer Umgebung nach. Neben dem Horizont und der vertikalen Wuchsrichtung der Pflanzen sind es auch die vom 3 Guarda (1980): „Hier nun tritt die Wiederholung in ihrer zweiten Bedeutung in Funktion: als Wieder- holung. Insofern Denken und Handeln durch die Faktizität des Daseins bedingt sind, muß sich das Individuum die Freiheit der Entscheidung als seine ureigenste Möglichkeit allererst aus der Vergangenheit zurückholen.“ (S. 37) Eine umfassende Rezeption von Kierkegaards Schrift zur Wiederholung kann und soll hier nicht geleistet werden, sondern lediglich auf diesen zentralen Aspekt der existenziellen Vermittlung von Denken und Handeln hingewiesen werden. Die mnemotische Funktion der Wiederholung als Verfahren der ‘Herstellung kultureller Kohärenz’, wie sie von Assmann dargestellt wird, werde ich ausführen. Assmann (1992): S. 89 4 Köhler (1992): S. 74. Archimedes, Leonardo da Vinci und auch Goethe, um vielleicht die promi- nentesten Vertreter zu nennen, haben sich intensiv mit Spiralen befaßt. 5 Spirale (1985): S. 9. Die Ausstellung mit dem Titel ‘Die Spirale im menschlichen Leben und in der Natur, eine interdisziplinäre Schau’ gibt einen umfassenden Überblick mit dem erklärten Ziel, einen Beitrag zu einer gesamtheitlichen Betrachtungsweise zu liefern, die „einzig und allein aus der Sack- gasse des geradlinigen, eindimensionalen Fortschrittsdenken neue Wege“ aufzeigen könne. 6 Hargittai (1992a) 7 Spirale (1985): S. 12 8 Assmann/Harth (1991): S. 76 38 Menschen geschaffenen Gebäude, die diese Richtungen bevorzugen und hierdurch die Wahrnehmungspräferenz evolutionär verstärken.9 Die Untersuchungen des Entwicklungspsychologen Jean Piaget als strukturell orien- tierte kognitive Theorie eignen sich, die textile und die kognitive Dimension zu verschränken. In bezug auf die Entwicklung der Raumbegriffe sagt Piaget, daß diese von der Wahrnehmung bis zu konkreten Operationen gestuft sei.10 Diese Entwicklung werde ich nicht referieren, sondern ausgehend von der Feststellung, daß die elementare Wahrnehmung beide Bewegungsformen umfaßt, benenne ich Operationen und ihren Erkenntniswert. Die Operationen zeige ich anhand textiler Beispiele und im zweiten Hauptkapitel als Wahrnehmungsmuster in anderen Bereichen. Die getroffenen Zuordnungen verweisen auf Instrumentalisierungen, eine Wertung im Sinne einer eindeutigen Gut/Schlecht-Trennung ist jedoch ausdrücklich zu vermeiden. Das transitorische Raummoment des Einrollens einer Geraden, das sich an verschiedenen textilen Modellen zeigen läßt, kann helfen, das Hybride zu veranlagen. In bezug auf das Muster läßt sich bisher Folgendes konstatieren: Die Bewegung ist ein Parameter: Ein Passives (das Motiv) generiert durch eine ak- tive, gerichtete Handlung (die Wiederholung) etwas Neues, sich Differenzierendes (das Muster). Die Anzahl der Wiederholungen ist ein zweiter Parameter, der vor allem für Einzelbetrachtungen von Bedeutung ist. Die Wirkung der Einzelelemente ändert sich in Abhängigkeit zur Quantität der repetitiven Bewegungen.11 Die Motive, die Einzelelemente des Musters, als Benennbares oder Materielles, spielen in den Ausführungen keine zentrale Rolle, da es nicht um Klassifizierungen und Kategorienbildungen geht. Inhalt und Form des Motivs werden als sekundär gegenüber dem Vorgang der Motivproduktion angesehen. Das Erkennen eines Motivs, das wiederholt werden soll bzw. sich in der Wiederholung präsentiert, setzt die Fähigkeiten der Abstraktion, des Isolierens, des künstlichen Trennens voraus.12 Das Ergebnis ist ein statisches Motiv, anhand dessen entweder das Prinzip der Wiederholung erkannt werden kann oder das durch die Wiederholung eine Dynamisierung erfährt. Mustererkennen und -produktion sind also gleichermaßen von den Momenten der Isolation und der Wiederholung bestimmt. Die Isolation beinhaltet ein Begreifen der Welt, eine Form des Umgangs mit dem Kontinuum von Raum und Zeit. Die Wiederholung konstituiert die Stabilität, bietet die Möglichkeit der Weltstrukturation als gezielten Prozeß des Erkennens oder Produzierens. Das Ergebnis der Wiederholung ist das Muster, es zeugt von den Zusammenhängen von Bewegung und Form und ermöglicht somit Raum- und Zeiterfahrung. Die Wiederholung konstituiert das Muster, ist sein Hauptcharakteristikum und Ursache 9 „Gehirn als Spiegel der Außenwelt“, in: FAZ, 8. Juli 1998, N3 Auch Piaget benennt – damals ohne statistischen Nachweis digitaler Bildverarbeitung – diese Richtungen als die stabilsten und am wenigsten beweglichen in unserer Umgebung, die unser natürliches Bezugssystem konstituieren. Piaget (1975): S. 438 10 Piaget (1975): S. 160 11 Arnheim (1979): S. 28 12 Bewußt wird an dieser Stelle der Begriff des Reduktionismus nicht verwendet, geht es doch vielmehr um eine Wahrnehmungsleistung, die hier nur als Vorgang beschrieben und an anderer Stelle expliziert wird. 39 für seine potentielle Unendlichkeit. Die Bestimmung des Motivs als je neuer Erkenntnisvorgang begründet die postulierte Vielfalt der Muster. Um ein Muster zu generieren, muß das Motiv auf eine bestimmte Art wiederholt werden, eine Wiederholungsvorschrift muß definiert bzw. erkannt werden. Wie oben erwähnt, werden Symmetrie und Rhythmus als Wiederholungsvorschriften und in der Folge als musterkonstituierend begriffen. Die von mir postulierte unauflösliche Verbindung von Muster und Wiederholung bedingt die zentrale Rolle der Wiederholung, die weiterer Darstellung bedarf. Die Begriffe der Mimesis und der Repräsentation sind mit dem der Wiederholung verbunden. Die folgende Darstellung benennt die verbindenden und differenzierenden Momente der Begriffe, die hinsichtlich der Präferenz der Repetition ausschlaggebend sind. Mimesis und Repräsentation Der Begriff der Mimesis, häufig mit Repräsentation oder Imitation gleichgesetzt,13 bezeichnet die aktive Nachahmung eines in der Natur Vorgefundenen durch den Menschen.14 Hieraus kann eine Verbindung hergeleitet werden, die mimetische von struktureller Wiederholung trennt. Demnach entspricht eine mimetische Wieder- holung dem Verhältnis von Kopie und Original (z.B. eine Spiegelung) und eine strukturelle Wiederholung dem endlos reproduzierten Motiv z.B. einer Tapete.15 Stephen Greenblatt verknüpft die Mimesis, die Repräsentation und die Nachahmung sehr eng in Hinblick auf die ideologische Bedeutung, die er Repräsentationspraktiken zuschreibt. Marx paraphrasierend, spricht er von einem ‘mimetischen Kapital’, das in Form von ‘Repräsentationen, Bildern und Techniken zur Bildproduktion’ angehäuft und hierdurch zu einem ‘gesellschaftlichen Produktionsverhältnis’ würde.16 Der ‘Besitz’ von Schrift, und im besonderen der linearen, als Repräsentationstechnologie konstituiere den Blick der Überlegenheit auf das Fremde, auf den Anderen.17 In bezug auf die Funktionsbestimmung der Muster sind nicht die Blicke, sondern die Mittel und ihre Eigenschaften, die erst zu diesem besitzenden Blick führen, von Bedeutung. Neben der von Greenblatt erwähnten Schrift, als dem ‘zentralen Gedächtnismedium’, werde ich die Karte und das Bild ausführlich behandeln.18 Gunter Gebauer verfolgt die Idee der Mimesis in Verbindung mit den wechselnden Darstellungsmedien und konstatiert eine Entwicklung von der ‘aneignenden Wie- derholung’ zu einem ‘Prozeß der Simulation selbstbezüglicher Welten’.19 Seine Ausführungen münden in einem Mimesisbegriff, der über die Semiotik hinausgeht, und sprechen von einer ‘grundlegenden anthropologischen Fähigkeit’.20 Das Handlungsmoment, das ‘rhythmische Agieren’ und die Performanz, die mit der 13 Honderich (1995): S. 569 14 Ritter (1980): s.v. ‘Mimesis’, H. Koller, Sp. 1398 15 Naumann (1998): S. 84f 16 Greenblatt (1998): S. 15f 17 Greenblatt (1998): S. 24 18 Assmann (1999): S. 180 19 Gebauer (1993): S. 334 20 Gebauer (1993): S. 340 40 Mimesis verbunden sind, unterscheiden sie von kognitiven Erkenntnisweisen.21 Die Mimesis als Nachahmung begriffen trägt die Wiederholung in sich, betont die Handlung und verweist auf ein Ursprüngliches. Der Verwendung des Begriffs steht jedoch seine Historizität entgegen und die damit in Verbindung stehende Konzent- ration auf den Menschen. Die Wiederholung ist hingegen ein Strukturprinzip, das der Mensch in der Natur vorfindet (und als nächsten Schritt nachahmen oder aber auch nur konstatierend beobachten kann). Aus diesem Grund verwende ich den Begriff der Repetition. Jacques Derridas zentrales Konzept der Differenz macht „Repräsentation als Ver- gegenwärtigung unmöglich.“22 Die Nachahmung ordnet er gleichermaßen der Wiederholung unter. Er schreibt, daß Nachahmung zu keinem Geschmacksurteil führen könne, da ein solches spontan und autonom sein müsse. Das ‘höchste Muster’, das der Nachahmung dient, müsse deshalb einer Selbsthervorbringung entspringen. „Die Selbst-Hervorbringung des Musters (Schablone, Paradigma, Parergon) ist die Hervorbringung von dem, was Kant zuvor eine Idee nennt [...].“23 Indem Derrida den Begriff des Musters an Stelle der Idee einführt, betont er den Aspekt der Wiederholung, der dem Muster innewohnt. Derrida beschreibt weder diese Selbst- Hervorbringung des Musters, die zu einer Art Urmuster führen muß, noch verwendet er den Musterbegriff in anderen von mir untersuchten Schriften weiter. Die von ihm bevorzugten Begriffe der ‘Spur’ und der ‘Differenz’ (différance/différence) mit ihrer Affinität zur Repetition werden von mir in Beziehung zum Muster gesetzt. Derrida verwendet den Begriff der Iterabilität, um den Wiederholungsgedanken, den das Repräsentieren beinhaltet, zum Ausdruck zu bringen und gleichzeitig hieran das Zeichenhafte, das nie identisch ist, aufzuzeigen. Die ‘unaufhebbare Differenz innerhalb der Zeichen’, die immer schon Spuren anderer Zeichen in sich tragen, mache ‘Repräsentation als Vergegenwärtigung unmöglich’.24 Es wird im folgenden jedoch nicht darum gehen, die ‘Krisen der Repräsentation’ auszuloten. Deshalb führe ich den Begriff der Repräsentation nicht als Kategorie ein. Zum einen ist er historisch überlastet, so daß gar nicht mehr vom Begriff der Repräsentation gesprochen wird, sondern vom ‘Wortfeld’ oder einem ‘Sinnbezirk’ der Repräsentation25 und man in der Folge Gefahr läuft, sich in Definitionen, Ab- grenzungen und Historizitäten zu verlieren. Zum anderen, und das ist der wichtigere Grund, wird das Muster in dieser Arbeit nicht als zu dekodierende Repräsentationstechnik unter anderen verstanden, sondern als wesentlich Prozeß- haftes. Gilles Deleuze geht in seiner Schrift ‘Wiederholung und Differenz’ von dem Scheitern der Repräsentation aus. Das moderne Denken entspringe diesem Scheitern und dem Verlust der Identität. Er sieht im Spiel von Wiederholung und Differenz die Ablösung von Identischem und Negativem.26 Seinen umfangreichen Text zu 21 Gebauer (1993): S. 343 22 Ritter/Gründer (1992): s.v. ‘Repräsentation’, K. Behnke, Sp. 851 23 Derrida (1992): S. 134 24 Ritter/Gründer (1992): s.v. ‘Repräsentation’, K. Behnke, Sp. 851 25 Ritter/Gründer (1992): s. v. ‘Repräsentation’, E. Scheerer, Sp. 790 26 Deleuze (1992): S. 11 41 ‘Wiederholung und Differenz’ werde ich nur insoweit rezipieren, als daß der Begriff der Wiederholung die Umgangssprache verlassen kann und eine Differenzierung erfährt. Ich funktionalisiere die monographische Abhandlung Deleuzes, um die Wiederholung als ein strukturelles Element zu veranlagen und seine Reichweite und philosophische Bedeutung anzudeuten.27 Deleuze verwendet an keiner Stelle explizit den Begriff des Musters, die zentrale Bedeutung der Wiederholung, die Erwähnung von Symmetrie und Rhythmus und die Einführung der Differenz legen es jedoch nahe zu überprüfen, ob das Muster nicht eine Visualisierung seiner Ausführungen sein könnte und hierdurch seine Kategorien umgekehrt auf das Muster angewendet werden können. Deleuzes Fragen richten sich auf das ‘Wesen der Wiederholung’: „Es handelt sich um die Frage, warum sich die Wiederholung nicht durch die Identitätsform im Begriff oder in der Repräsentation erklären läßt – in welchem Sinne sie ein höheres ‘positives’ Prinzip verlangt.“28 Als Beispiel wählt er die ‘Wiederholung eines Schmuckmotivs’: „Eine Figur wird unter einem absolut identischen Begriff reproduziert. [...] In Wirklichkeit aber verfährt der Künstler nicht auf diese Weise. Er reiht nicht Exemplare der Figur aneinander, er kombiniert vielmehr jedesmal ein Element eines Exemplars mit einem anderen Element eines folgenden Exemplars. In den dynamischen Konstruktionsprozeß führt er ein Ungleichgewicht, eine Instabilität, eine Asymmetrie, eine Art Aufklaffen ein, die nur in der Gesamtwirkung gebannt sein werden.“29 Deleuze beschreibt die Produktion eines Musters durch einen Künstler, die der von mir formulierten Defintion entspricht: eine zu isolierende/kreierende kleinste Einheit wird gemäß einer Wiederholungsvorschrift zu einem Muster zusammengefügt. Dieses Beispiel zeige, daß es zwei Wiederholungstypen gebe: einen, der nur die abstrakte Gesamtwirkung betreffe und statisch sei und einen zweiten, der die Wirkursache betreffe und dynamisch sei. „Das Wesentliche [...], liegt für uns in der Zergliederung der Kausalität, um in ihr zwei Wieder- holungstypen zu unterscheiden, einen, der nur die abstrakte Gesamtwirkung betrifft, und ande- rerseits die Wirkursache. Die eine Wiederholung ist statisch, die andere dynamisch. Die eine resultiert aus dem Werk, die andere aber ist gleichsam die ‘Evolution’ der Geste.“30 Die von ihm vorgenommene Trennung von Werk und Geste findet eine Entsprechung in der Mustererkennung und -produktion. Studien zu Rhythmus und Symmetrie würden die Dualität der Wiederholung bestätigen31 – eine Feststellung, der Deleuze wenig Kommentar widmet, die für die Betrachtung der Muster hingegen von Bedeutung ist. Zur Definition der Wiederholung führt Deleuze die Differenz ein und entwickelt das Modell der zwei Wiederholungsformen weiter. Er schreibt, die Wiederholung sei in jedem Fall die begrifflose Differenz.32 Und an anderer Stelle wird die Bedeutung der Differenz für die Definition des Musters noch deutlicher: „Besteht das Paradox der Wiederholung nicht darin, daß man von Wiederholung nur 27 Darüber hinaus können Deleuzes (1992) Ausführungen für weitergehende Fragestellungen zu Wiederholung und Muster nutzbar gemacht werden. Er liefert ein differenziertes Modell von Modi und Typen von Wiederholungen. (S. 38, 360f, 366) 28 Deleuze (1992): S. 37 29 Deleuze (1992): S. 37 30 Deleuze (1992): S. 38 31 Deleuze (1992): S. 38f 32 Deleuze (1992): S. 42 42 auf Grund der Differenz oder Veränderung sprechen kann, die sie in den Geist einführt, der sie betrachtet? Auf Grund einer Differenz, die der Geist der Wiederholung entlockt?“33 Die Isolation, das Differenzierende wird zur Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis von Wiederholung und somit von Mustern. Über die Unterscheidung von Wiederholtem und Wiederholendem, von Subjekt und Objekt hinaus markiere die Differenz die beiden Wiederholungstypen. Die Differenz kann den Objekten äußerlich sein oder aber von der Wiederholung umfaßt werden.34 Zur Beschreibung der beiden Wiederholungstypen zählt Deleuze ihre Eigenschaften auf, die sich in Gegensatzpaaren zusammenfassen lassen: statisch/dynamisch; negativ/affirmativ; hypothetisch/kategorisch; Wiederholung der Wirkung/Wieder- holung der Ursache; extensiv/intensiv; gewöhnlich/singulär; enthüllt/verhüllt; horizontal/vertikal; Symmetrie/Asymmetrie; materiell/spirituell; nackt/bekleidet. In bezug auf das durch Wiederholung erschaffene Muster hebe ich diese struktura- listisch anmutenden Gegenüberstellungen auf, da das Muster in seiner Subjekt- Objekt-Relation, als Natur-/Kultur-Produkt je neu zu bestimmen ist. Deleuze argumentiert gleichermaßen für eine Zusammenschau unterschiedlichster Wieder- holungen (für uns: Muster aller Art), um die „Koexistenz dieser Instanzen in jeder repetitiven Struktur demonstrieren“ zu können. Er wollte zeigen, „wie die manifeste Wiederholung identischer Elemente notwendig auf ein latentes Subjekt verwies, das sich selbst über diese Elemente hinweg wiederholte und dabei eine ‘andere’ Wiederholung im Herzen der ersten ausbildete.“35 Im Schlußkapitel kommt er hierauf noch einmal zurück und sagt konkret, daß es nicht genüge, die beiden Wiederholungsformen gegenüberzustellen. „Die lebendige und bekleidete, vertikale Wiederholung, die die Differenz umfaßt, mußte die Ursache darstellen, aus der nur die horizontale, materielle und nackte Wiederholung resultiert (bei der man sich begnügt, die Differenz hervorzulocken).“36 In dieser Form läßt sich eine Verbindung zu den zu beschreibenden Mustern her- stellen: Die immateriellen Muster („tieferliegende Wiederholungen“37) und ihre materiellen Äußerungen, deren Feld Deleuze mit „Freiheits-, Natur- und Nomi- nalbegriffen“38 entsprechend weit faßt, werden zusammengedacht. In diesen Beschreibungen wird es um Konkretionen hinsichtlich des Akteurs gehen: Der Mensch produziert und erkennt Muster, nutzt deren Eigenschaft der Wiederholung auf materieller und immaterieller Ebene, und er belebt die Orte der Wiederholung. Ein Ort der Verschränkung der beiden Wiederholungsformen ist für Deleuze die Kunst. Sie ahme nicht nach, weil sie wiederhole, sie sei nicht Abbild, sondern Trugbild. „Noch die mechanistischste, alltäglichste, gewöhnlichste und völlig stereotype Wiederholung findet ihren Platz im Kunstwerk und wird dabei stets im Verhältnis zu anderen Wiederholungen verschoben, und zwar unter der Bedingung, daß man ihr eine Differenz für diese anderen Wiederholungen abzulocken vermag.“39 33 Deleuze (1992): S. 99 34 Deleuze (1992): S. 42, 363 35 Deleuze (1992): S. 44 36 Deleuze (1992): S. 359 37 Deleuze (1992): S. 360 38 Deleuze (1992): S. 359 39 Deleuze (1992): S. 364 43 Die ästhetische Reproduktion, die Repetition, habe die Erkenntnis der Differenz zum Ziel. In diesem Sinne ist die Wiederholung der Repräsentation entgegenstellt.40 Ein weiterer Begriff, der in engem Zusammenhang mit der Wiederholung steht, ist die Gewohnheit. Deleuze schreibt, die Gewohnheit sei nie eine echte Wiederholung, aber sie sei es, die der Wiederholung die Differenz entlocke.41 Die „Gründung der Zeit“ nennt er die erste Synthese, die Synthese der Gewohnheit.42 „Die zweite Synthese, die Synthese des Gedächtnisses, bildete die Zeit als eine reine Vergangen- heit, und zwar unter dem Gesichtspunkt eines Grunds, der die Gegenwart vergehen und eine andere heraufkommen läßt. In der dritten Synthese aber ist die Gegenwart nurmehr ein Akteur, ein Autor, ein zur Selbstauslöschung bestimmtes Handelndes [...] Durch die drei Synthesen hindurch offenbaren sich Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft als Wiederholung, aber in drei sehr verschiedenen Modi.“43 Die dynamische Theorie der weltlichen Muster Für den Philosophen Jan-Ivar Linden ist die Gewohnheit gleichermaßen von zentraler Bedeutung. Er stellt eine direkte Verbindung zu den Mustern der Welt her, die Dynamisierung bezieht den Menschen von Anfang an ein.44 Der Begriff des Musters erfährt bei Linden keine Definition, das Muster fungiert als Ausdruck der Gewohnheit.45 „Die Gewohnheit bedeutet die Existenz verschiedener Muster, denen der Mensch zugehörig ist, und deutet zugleich viele ungewohnte Muster an, in die wir überhaupt nicht einbezogen sind.“46 Das Muster als rein Habituelles verstanden ist ein Immaterielles und bildet nur einen kleinen Teil der von mir ausgewählten Muster. Das Prinzip der Musterbildung ist jedoch qua Definition immer das gleiche: die Wiederholung, die gleichermaßen die Gewohnheit konstituiert. Linden weist den Mustern innerhalb einer ‘Theorie der gewohnheitlichen Bestimmung’ eine zentrale Rolle zu, da erst sie das Verständnis des möglichen Erfolges des Erkennens ermöglichten.47 „Die gestaltende Kraft der Gewöhnung zeugt von einer Teilhabe an Mustern, die das stets sich verändernde und auch erkenntnismäßig akkumulierende Wesen der Erfahrung verständlich machen kann, ohne dabei von der Idee einer distanzierenden Objektivierung auszugehen.“48 Diese Teilhabe der Muster am Erfahrungs- und Erkenntnisprozeß, die bei Linden keine Konkretion im Sinne einer Exemplifizierung erhält, zu schildern, ist das Ziel der vorliegenden Arbeit. Der Begriff der Störung ist bei Linden sehr wichtig, als Singuläres, das das Habituelle unterbricht und hierdurch Reflektionsauslöser wird. 49 In bezug auf die Muster dient die Existenz der Störung als Beweis für das Fehlen eines ‘obersten Interaktions- oder Übergangsmusters’, so daß Linden von einer ‘dynamischen Theorie der weltlichen Muster’ spricht.50 Dies läßt sich mit dem bereits Gesagten insofern in Einklang bringen, als daß es auch mir um Vielfalt der Muster 40 Deleuze (1992): S. 375 41 Deleuze (1992): S. 19, 103 42 Deleuze (1992): S. 111 43 Deleuze (1992): S. 127 44 Linden (1997) 45 Linden (1997): S. 160, 225 46 Linden (1997): S. 159 47 Linden (1997): S. 33 48 Linden (1997): S. 35 49 Linden (1997): S. 167f 50 Linden (1997): S. 124f 44 und ihre Bedeutung geht und nicht um eine Hierarchisierung und Kategorisierung, die dem Muster jegliche Dynamik und Prozeßhaftigkeit nähme. Ordnung Ein letzter Begriff soll in Verbindung mit der Wiederholung und dem Muster nicht unerwähnt bleiben: die Ordnung. Bei Rudolf Arnheim ist der Ordnungsbegriff zentral, er beginnt seinen ‘Versuch über Ordnung und Unordnung’ dementsprechend: „Ordnung ist die notwendige Vorbedingung für alles, was der Menschengeist verstehen möchte.“51 In diesem Sinne steht das Muster in dienender Funktion zur Ordnung, die Wiederholung ist eine Form Ordnungserzeugung. Das Muster dient dem Ordnen der Welt, der Aneignung von Raum und Zeit, wie einleitend formuliert wurde. Arnheim verweist auf den mißverständlichen Gebrauch des Ordnungsbegriffes und definiert Ordnung folgendermaßen: „Im rein statistischen Sinne dagegen kann sich der Begriff der Ordnung auf jede Abfolge oder Anordnung beziehen, von der es unwahrscheinlich ist, daß sie aus bloßem Zufall zustande kommt.“52 Eine darüber hinausgehende Konkretisierung des Zusammenspiels von Ordnung und Unordnung im Prozeß der Muster- und Strukturbildung schildert Heinz von Foerster mit seiner paradigmatischen Formel ‘Order from order and disorder’.53 Wie bereits erwähnt, hat sich von Foerster schon zu Beginn der 1960er Jahre mit Selbstorganisationstheorien beschäftigt. Die Entstehung und Differenzierung von Ordnung ist der Untersuchungsgegenstand dieser Theorien. Der Begriff des Musters wird in diesen Zusammenhängen meist nur implizit gebraucht. Das Muster ist jedoch insofern elementar für die Theorien der Selbstorganisation, als daß es Ordnung anzeigt. Ein chaotischer Zustand definiert sich über das Fehlen von Ordnung: es ist kein Muster erkennbar. Die Chaosforschung als Teil dieser Theorien beschäftigt sich gleichermaßen mit Ordnung und Unordnung, die Übergänge von einem Zustand in den anderen sind hier von besonderem Interesse. Durch Iterationen, wiederholte Anwendungen derselben Rechenvorschrift, lassen sich Selbstähnlichkeiten erzeugen, d.h. skaleninvariante Formen. Ob diese Formen dann Julia-Mengen, Apfelmännchen oder Mandelbrot- Mengen heißen, ihnen gemein ist die Bedingung der Möglichkeit ihres Erkennens: das Muster. Die Funktion des Musters in bezug auf die Theorien der Selbstorganisation läßt sich schon an dieser Stelle benennen: Die Erkenntnis des Musters als Muster und somit als Ordnung ist ein wissenschaftlicher Attraktor. Anhand der Texte von Derrida, Deleuze und Linden konnte der Begriff der Wie- derholung als Musterkonstituierendes veranlagt werden. Die Relevanz der Repetition für die Bestimmung der Funktionen der Muster werden die einzelnen Analysen zeigen. 51 Arnheim (1979): S. 9 52 Arnheim (1979): S. 26 53 Foerster (1993): S. 224f 45 Symmetrie „Symmetrie spricht Künstler und Wissenschaftler gleichermaßen an, sie ist mit dem den Menschen angeborenen Sinn für Muster aufs engste verbunden.“54 Die Symmetrie als Phänomen in Natur, Wissenschaft und Kunst hat in den letzten zwanzig Jahren eine umfassende Bearbeitung erfahren.55 Einführend werde ich diverse Definitionen sowie eine kurze Beschreibung der grundlegenden Symmet- riebewegungen, die für die späteren Musteranalysen vorausgesetzt werden, geben. Anschließend wird der Begriff der Symmetriebrechung eingeführt, der eine Betonung des Prozessualen bedeutet. Die Symmetrie wird gemäß meiner Definition als ein musterbildendes Prinzip be- griffen. Ein Prinzip, das der Mensch erkannt hat und anwendet. Barber schreibt, dieses Erkennen von Symmetrien geschähe auf einem weit niedrigeren Bewußt- seinslevel als die Wahrnehmung von Motiven und der Gebrauch von Farbe.56 In den Naturwissenschaften wird ein Umgang mit Symmetrien nahegelegt, der diese als ein Gegebenes, als ein zu Entdeckendes voraussetzt. Diese Differenz ist entscheidend und begründet die Bedeutungsverschiebung des Symmetrieprinzips in bezug auf das Muster, die im folgenden erläutert wird. Hermann Weyl, der 1951 das – nach wie vor – als Standardwerk geltende Buch zur Symmetrie geschrieben hat, beginnt mit folgender Annäherung: „Wenn ich nicht irre, wird das Wort Symmetrie in unserer Umgangssprache in zwei Bedeutungen gebraucht. In dem einen Sinn bedeutet symmetrisch etwas wie wohlproportioniert, ausgeglichen, und Symmetrie bezeichnet jene Art der Konkordanz mehrerer Teile, durch welche sie sich zu einem Ganzen zusammenschließen.“57 Dies entspricht der Kurzdefinition, die als Ergebnis einer Begriffsbestimmung von Rudolf Wille gegeben wird: „Symmetrie (griech. Ebenmaß): Gleichheit von Teilen als Ausdruck eines Ganzen.“58 Auf die mit Ebenmaß und Proportion hingewiesene ästhetische Bedeutung der Symmetrie wird später zurückzukommen sein. Mathematisierung des Symmetriebegriffes Zunächst geht es um die Symmterie als mathematisches, als geometrisches Phänomen. Das Entscheidende für die Mathematik ist, die Symmetrie nicht als Sache, sondern als Transformation, als einen Prozeß zu begreifen.59 „Symmetrie ist eine Bewegung.“60 Die Art der Transformation, der Bewegung im Raum bezeichnet die Symmetrieform. Man unterscheidet bilaterale Symmetrien (Spiegelungen), translative 54 Stewart/Golubitsky (1993): S. 39 55 Die Sichtung der Literatur geschah hinsichtlich einer Beschreibung der Symmetrie als strukturelles Element des Musters. Umfassende Darstellung des Themas haben andere geliefert: Weyl (1955); Müller (1985); Daidalos (1985); Stork (1985); Hargittai (1986); Symmetrie in Kunst, Natur und Wissenschaft (1986); Genz (1987); Mainzer (1988); Washburn/Crowe (1988); Hargittai (1992a+b); Stewart/Golubitsky (1993); Field/Golubitsky (1993) 56 Barber (1994): S. 297 57 Weyl (1955): S. 11 58 Symmetrie in Kunst, Natur und Wissenschaft (1986): S. 458 59 Stewart/Golubitsky (1993): S. 41, 44 60 Field/Golubitsky (1993): S. 5 46 Symmetrien (Verschiebungen), rotative Symmetrien (Drehungen) und sogenannte ornamentale und kristallographische Symmetrien, die sich in Fläche und Raum ausdehnen.61 Die Betrachtung anderer Geometrien und der Gruppentheorie würde zu weit führen, einzelne Formen von topologischer oder hyperbolischer Geometrie werden im Text an entsprechender Stelle erläutert. Analog zur dimensionalen Gliederung der Arbeit werden die Symmetrien in Dimensionen vorgestellt und das Vokabular mit dem der Musterbeschreibung verschränkt. 0-d Als Identität bezeichnet man die ‘triviale’ Symmetrie einer Form, die sie in Ruhe besitzt. Mathematisch erzeugt Ruhe, also die Negation von Bewegung, Identität.62 Durch eine der Transformationen kann diese Identität verändert werden. Man spricht auch von Selbstabbildungen oder Automorphismen. Eine solche Figur (Motiv) kann nun im Raum bewegt werden. 1-d Von einer eindimensionalen Symmetrie spricht man bei Wiederholungen des Motivs in eine Richtung. Es entstehen Streifen- oder Bandornamente, auch lineare Friese genannt. „Natürlich ist das wirkliche Bandornament nicht im strengen Sinn eindimensional; aber seine Symmetrie, soweit wir sie jetzt beschrieben haben, bezieht sich einzig auf seine longitudinale Dimension.“63 Die symmetrische Grundoperation zur Erzeugung von ‘Bandornamenten’ ist die Translation. In Kombination mit den anderen Symmetrieoperationen (Spiegelung, Reflexion, Dreh- und Gleitspiegelung) können maximal sieben (algebraisch) verschiedene Muster entstehen.64 Die Abbildungen 1 und 2 zeigen diese Symmetrieoperationen. „Wenn wir also eine Translation t durch die von ihr ausgeübte Verschiebung a kennzeichnen, dann wird die Iteration oder Potenz tn durch das Vielfache na gekennzeichnet. Alle Translationen, die ein gegebenes Muster von unendlichem Rapport auf einer Geraden in sich überführen, sind in diesem Sinn Vielfache na einer Grundtranslation a.“65 Diese Ausführungen Weyls entsprechen der von mir formulierten Definition des Musters: Die Translation, als eine Symmetrieoperation (Wiederholungsvorschrift), konstituiert durch Iteration (Wiederholung) das potentiell unendliche Muster, das sich aus den Rapporten zusammensetzt. Die Symmetrie als mathematisches Problem ist demnach ein Zeugnis der Muster- erkennung: Eine Wiederholung wird wahrgenommen, der Rapport isoliert und die Wiederholungsvorschrift erdacht und überprüft. Menschliche Artefakte zeugen von einem experimentellen Umgang mit den Symmetrieoperationen. Die Muster, die sich auf Gebrauchsgegenständen oder Architekturen der Antike finden lassen, zeugen von einem Symmetrieverständnis avant la lettre.66 Müller bezeichnet die Bandornamente als die „wohl historisch ersten mathematischen Kunstformen. [...] Die ersten Beispiele fallen etwa in die Zeit der Erfindung der Schrift.“67 Hier deutet sich die 61 Weyl (1955). Eine Symmetrie der Ausdehnung ist die Dilatationssymmetrie, die beispielsweise die Beziehung zwischen einer Karte und dem Territorium, das sie darstellt, beschreibt. Stewart/ Golubitsky (1993): S. 280 62 Stewart/Golubitsky (1993): S. 42 63 Weyl (1955): S. 54. Weyl verweist hier auf die eingangs beschriebene Relativität des Dimensions- begriffes. 64 Müller (1985): S. 38f 65 Weyl (1955): S. 52 66 Washburn/Crowe (1988): S. 3 67 Müller (1985): S. 29 47 Nähe des Musters zur Mathematik und zur (linearen) Schrift ein weiteres Mal an. Müller geht hierauf nicht ein, da es ihm um die mathematische Theorie der Symmetrie und nicht zentral um Muster geht. Auch Washburn/Crowe fokussieren die Symmetrie, nutzen die Mathematik zur stilistischen Analyse von Design in materieller Kultur.68 Die Symmetrie dient in diesem Grundlagenwerk zur angewand- ten Symmetrieforschung der Kategorienbildung und Klassifizierung von Mustern (engl. designs). „Although the designers saw the rhythm and repetition inherent in the patterns, they never discovered that patterns could be more systematically, precisely, and objectively described by their symmetries.“69 Die Autoren liefern ausführliche Erläuterungen und materielle Beispiele für die verschiedenen Symmetrieoperationen und somit die methodische Grundlage für Symmetrieanalysen.70 Die präzise Darstellung und Anwendung der Begriffe bei Washburn/Crowe soll kurz erläutert und in der Folge übernommen werden. Der Begriff des Musters (pattern) wird ausschließlich für potentiell unendliche ‘figures’ verwendet.71 In bezug auf Symmetrieeigenschaften werden nur Designs mit translativer Symmetrie als Muster bezeichnet. Die Autoren erstellen eine Hierarchie, die das Muster zu einem speziellen Design und das Design wiederum zu einer speziellen Figur macht.72 Eine Figur besitzt demzufolge keinerlei Symmetrie. Durch eine Symmetrieoperation kann sie zu einem Design werden, das wiederum durch Translationen in eine oder mehrere Richtungen zu einem Muster werden kann. Die Symmetrie, als mathematische Eigenschaft, die Muster generiert, dient den Autoren Washburn und Crowe als Mittel des Kulturvergleichs, der Stilanalyse und der Datierung.73 Sie benennen ‘patterns as manifestations of ideas’74 und führen unterschiedlichste materielle Muster zusammen, die sie auf ihre Symmetrie hin analysieren. Das methodische Vorgehen wurde im Erfassungsbogen übernommen.75 Eine Auswertung des Materials wird hier wie dort nicht vorgenommen – im Sinne einer durchgeführten Untersuchung/Feldforschung. Washburn und Crowe gehen von einer fundamentalen Bedeutung der Muster aus und nutzen den mathematischen Begriff der Symmetrie als kategorienbildendes Moment, als Grundlage strukturalistischer Untersuchungen. Die Neutralität des Symmetriebegriffs wird hierfür postuliert: im Gegensatz zu beispielsweise der Idee der Zentralperspektive sei die Symmetrie nicht partikularistischen Stilkriterien verschrieben.76 Ein textiles Modell für eindimensionale Symmetrie sind die schon erwähnten ungarischen Stickereien. (Abbildung 3) 68 Washburn/Crowe (1988): S. 3 69 Washburn/Crowe (1988): S. 7 70 Die Untersuchungen von Washburn (1986), Crain/Block (1991) und Bier (1995) sind Untersuchungen von materieller Kultur (Textilien), die die Symmetrie als ‘Werkzeug’ einführen und sich methodisch auf Washburn/Crowe beziehen. 71 Washburn/Crowe (1988): S. 45 72 Der Begriff des Ornaments wird von den Autoren nur zitierend verwendet. Die in der Einleitung als allgemein übliche dargestellte Verwendung des Ornamentbegriffes ließe einen synonymen Gebrauch zu allen drei Begriffen zu. 73 Washburn/Crowe (1988): S. 269 74 Washburn/Crowe (1988): S. 41 75 Der Erfassungsbogen wurde vollständig aus dem Fließtext entnommen und wird im Anhang einge- führt und anhand eines Beispiels erläutert. (Anhang S. 36, 37) 76 Washburn (1983): S. 6 48 2-d Neben den sieben verschiedenen eindimensionalen ‘Bandornamenten’ unter- scheidet man siebzehn unterschiedliche zweidimensionale Flächenmuster (Abbildung 4). Die Anzahl der möglichen Variationen bezieht sich in allen Fällen auf einfarbige Muster. D.h. die Form wird in den Vordergrund gestellt, das Augenmerk auf Repetition und Symmetrie gelenkt. Um ein Muster beschreibbar zu machen, bzw. zunächst seine Symmetrien erkennen zu können, wird ihm ein Gitter, eine Art Koordinatennetz unterlegt, dessen Grundform nicht orthogonal sein muß. Die Zellen eines solchen Gitternetzes können fünf verschiedene Grundformen besitzen, die die beiden Bewegungsrichtungen der Translation (diskrete Bewegungsgruppe) enthalten (Abbildung 5). Eine international festgelegte Notation gibt zusätzlich Information über die Drehung und die Spiegelachsen.77 Das Gitternetz als Hilfsmittel veranschaulicht die Idee der geschlossenen Fläche. Damit wird die Unterscheidung von Motiv und Grund aufgehoben: das Motiv bildet gemeinsam mit dem Grund eine Einheit (Rapport), die durch Symmetrieoperationen in sich überführt wird (Wiederholung). Die mathematische Auseinandersetzung mit diesen Mustern wird daher häufig als Parkettierungsproblem bezeichnet. Grünbaum und Shephard haben das Standardwerk zu diesen Problemen geschrieben.78 In der Kunst beschäftige man sich schon lange mit Mustern, die Wissenschaft der ‘tilings and patterns’ – hiermit ist die Beschäftigung mit den mathematischen Eigenschaften der Muster gemeint – sei verhältnismäßig jung und unabgeschlossen.79 Die Publikationen der letzten Jahre (vor allem der 1980er) zeugen von den hergestellten Verbindungen: Die Kunst erfährt mathematische Analysen, und die Mathematik nutzt die Kunst als Illustration ihrer Theorien.80 Die textile Auseinandersetzung mit Parkettierungen erzeugt Patchworkdecken und andere textile ‘Flächen’, die im Kapitel zur textilen Zweidimensionalität vorgestellt werden. 3-d Die Beschäftigung mit dreidimensionalen Symmetrien wird als Kristallo- graphie bezeichnet. Im Gegensatz zu den zweidimensionalen Symmetrieaus- formungen, die eine reichhaltige Rezeption in der Geisteswissenschaft gefunden haben, werden räumliche Muster vorwiegend in der Naturwissenschaft analysiert. „Wir schmücken Flächen mit ebenen Ornamenten; die Kunst hat sich nie mit räumlichen Ornamenten abgegeben; sie finden sich jedoch in der Natur. Die Atomanordnungen im Kristall sind solche Muster.“ Abgesehen von dem ver- mischenden Gebrauch des Ornament- und Musterbegriffs gibt Weyl den Hinweis auf die Existenz dreidimensionaler Muster, die die Kristallographie mit Hilfe des Symmetriebegriffs beschreibbar macht. Analog zu den oben gezeigten fünf Gitter- netzen gibt es vierzehn Raumgitter (Bravaisgitter), die 230 verschiedene ‘Muster’ zulassen.81 Ziel der Kristallographie ist es, diese ‘Muster’ zu erkennen, zu be- 77 Washburn/Crowe (1988): S. 58f 78 Grünbaum/Shephard (1989) Hier finden sich ausführliche Erklärungen mit Bildbeispielen, Washburn/Crowe beziehen sich in ihren Ausführungen vor allem auch in bezug auf die Notation hierauf. 79 Grünbaum/Shephard (1989): S. 11 80 Der Begriff der Kunst wird hierfür meist in einem sehr weiten Sinn verstanden. Beispielhaft für eine solche Zusammenführung sei hier die Ausstellung und Publikation ‘Symmetrie in Kunst, Natur und Wissenschaft’ (1986) in Darmstadt genannt. Siehe auch: Daidalos (1985) 81 Mainzer (1988): S. 157 49 schreiben und Erkenntnisse hinsichtlich der chemischen und physikalischen Eigen- schaften der Kristalle (kristallisierter Zustand fester Materie) abzuleiten.82 Der Begriff des Musters wird auch hier nicht explizit und durchgängig verwendet, die Definition der dreidimensional periodisch angeordneten Bausteine verweist jedoch auf die Kategorien Symmetrie und Repetition.83 Das Textile kann auch hier als Modell fungieren und zeigen, daß es zumindest in diesem Bereich der Kunst ‘räumliche Ornamente’ gibt. 4-d Die vierte Dimension wird hier nicht als mathematisch Höherdimensionales verstanden, sondern wie oben erwähnt als Zeitliches und Bewegtes begriffen werden. Ergänzend zu den drei Symmetrien im Raum, kann man auch von Zeitsymmetrien sprechen.84 Anhand des Zeitpfeils, einer gängigen Visualisierung der Zeit, läßt sich das Symmetrieverhalten verdeutlichen: Ein bestimmtes Intervall, z.B. eine Minute, wird als Distanz auf der Linie dargestellt, die Translation verschiebt dieses Intervall, weitere Wiederholungen ergeben eine Zeitskala in Minuten. Das Einbeziehen der Zeit in die Beobachtungen bedeutet, daß man ein System nicht als Statisches, in einer Momentaufnahme definiert, sondern als ein Dynamisches begreift. Ähnlich wie für die räumlichen Dimensionen ist auch hier der Betrachterstandpunkt wichtig. Im Vergleich zu der Dauer eines menschlichen Lebens besitzt ein Felsen eine sehr hohe Zeitsymmetrie, einen quasi stationären Zustand.85 Ein in die Luft geworfener Ball beschreibt den sehr häufig vorkommenden und leicht zu beobachtenden Typ von Zeitumkehrsymmetrie. Es handelt sich hierbei um eine Zeitspiegelung und eine räumliche Transformation: Der höchste Punkt, den der Ball erreicht, markiert die Spiegelachse. Das Leben als Wachstum und Verfall begriffen ist gleichermaßen ein dynamisches System, das Symmetrien und Muster aufweist. Symmetriebrüche Die Symmetrie spielt in den Naturwissenschaften eine entscheidende Rolle, da sie für die Formulierung einer einheitlichen Theorie als grundlegend angesehen wird.86 Die Vorstellung einer vollkommenen Symmetrie als einziger Urkraft und ihrer Brechung durch den Urknall ist beispielsweise entscheidend für die Superstringtheorie.87 Für die folgenden Betrachtungen ist hier lediglich die Annahme der Symmetrie als vereinheitlichendes Prinzip von Bedeutung, die naturwissenschaftlichen Theorien werden nicht behandelt.88 Die Symmetrie wird sich hierbei als ein von den Naturwissenschaften genutztes Mittel erweisen, Muster zu beschreiben, und die Symmetriebrechung als ein mustererzeugendes. Dementsprechend wird die Symmetrie immer nur in Hinblick auf das Muster befragt. 82 Borchardt-Ott (1987): S. 1 83 Borchardt-Ott (1987): S. 6 84 Stewart/Golubitsky (1993): S. 74 85 Stewart/Golubitsky (1993): S. 76 86 Mainzer (1988): S. 1 87 Kaku/Trainer (1993): S. 144. Eine umfassende Darstellung der Superstringtheorie gibt Greene (2000). 88 David Peat entwirft beispielsweise das Gegenbild einer dynamischen Komplexität, die Formen und Strukturen relativer Dauer hervorbringt. Er vermutet, daß die Wahrheit wahrscheinlich zwischen diesen beiden Entwürfen von absoluten Gesetzen und Kontingenz zu finden ist. Peat (2000): S. 11 50 Der Mathematiker Ian Stewart geht davon aus, daß wir in einem Universum voller Muster leben und das Denksystem, das in der Lage sei, diese Muster zu analysieren, die Mathematik sei. „Jedes Verständnis der Natur muß ein Verständnis für diese vorherrschenden Muster einschließen. [...] Es muß ein allgemeines Prinzip geben, das sich hinter diesen Mustern verbirgt; [...].“89 Abgesehen von Stewarts Grundannahme der Ubiquität von Mustern ist das Verhältnis von Muster und Symmetrie von Interesse. Das Muster wird als das beschrieben, das wir wahrnehmen, seine Ähnlichkeiten registrieren, aber nicht erklären können. Die Symmetrie liefert ein mögliches Erklärungsprinzip: „Durch das Studium der Symmetrien versucht die Mathematik, die tieferliegenden abstrakteren Aspekte geometrischer Gestaltungen einzufangen.“90 Devlin formuliert hier sehr viel spezieller als Stewart, beide instru- mentalisieren die Symmetrie, um das Muster zu erklären. Dementsprechend kann die Symmetrie als eine mögliche Eigenschaft des Musters angesehen werden. „Symmetry is a working concept.“91 Diese Definition von Alan MacKay wird präzisiert durch eine Beschreibung des Arbeitens, die mit der von mir für das Muster angeführten, übereinstimmt: Habe man einmal eine Symmetrie erkannt, könne man sie im folgenden in ein Motiv und die Wiederholungsregel zerlegen.92 Die oben beschriebenen Symmetrieformen vermitteln einen statischen Charakter. Ein Muster in seiner Objektform, als Vase, Textiles o.a., wird anhand seiner Symmetrie beschrieben und kategorisiert, das sichtbare Muster wird hier zum Ergebnis eines Prozesses, der als solcher meist nicht wahrgenommen wird. Die Beobachtung der Natur läßt zwar auch diese Art der Mustererkennung zu (indem Momentaufnahmen z.B. von Pflanzen betrachtet werden), die Naturwissenschaften sind jedoch vielmehr an den Musterbildungsprozessen interessiert. Die Begriffe Symmetrie und Symmetriebrechung verweisen auf dieses Verhältnis von Statik und Dynamik. Stewart gibt ein Beispiel aus der Natur, das hier wiedergegeben werden soll. Eine Sandwüste kann sich nur als Fiktion im absoluten Ruhezustand befinden und eine umfassende Symmetrie ausbilden, d.h. jeder Punkt an ihrer Oberfläche ist zu jedem anderen äquivalent. Diese Form der Symmetrie wird gemeinhin nicht als Muster erkannt. Erst durch die Brechung der Symmetrie entstehen Muster: Durch ein gleichbleibendes Wehen des Windes in eine Richtung wird eine Translations- symmetrie erzeugt. Um diese wiederum zu brechen, müsse ein periodisches Muster paralleler Streifen, die rechtwinklig zur Windrichtung liegen, gebildet werden. Nun entsteht das, was die Geologen Querdünen nennen. Diese Prozesse lassen sich in anderen Bereichen nachweisen (Zellbildung, Wasserbewegung und auch die oben schon erwähnte Urknalltheorie). Klaus Mainzer schreibt, Symmetriebrüche erwiesen sich als Komplexitätsreduktionen umfangreicherer Strukturen und seien mit der Entstehung neuer Muster verbunden.93 Auf eine einfache Formel gebracht, bedeutet dies: Je niedriger die Symmetrie, desto größer die Mustererkennung. 89 Stewart (1998): S. 102f 90 Devlin (1998): S. 166 91 Alan L. MacKay: But what is symmetry?, in: Hargittai (1986): S. 19–21, hier: S. 19 92 Hargittai (1986): S. 19 93 Mainzer (1988): S. 653 51 Stewart versteht die Symmetrieerzeugung als eine Form der Replikation, also als eine Art der Wiederholung oder, wie ich es formuliert habe, als Wiederholungsvorschrift. Die Übertragbarkeit dieser abstrakten Mathematik der Symmetriebrechung wird im letzten Kapitel behandelt. Hier geht es zunächst darum, die Symmetriebrechung als musterbildendes Prinzip einzuführen und den prozessualen Charakter zu betonen. Symmetrie und Schönheit Zahlreiche Publikationen behandeln die Symmetrie zentral und stellen keine explizite Verbindung zum Muster her, wie Stewart, Mainzer und Devlin es tun, und wie es von mir beabsichtigt ist. Der schon erwähnte Symmetrieforscher Hargittai schreibt der Symmetrie eine grundlegende Rolle zu, die sie zu einem Äquivalent von Raum und Zeit mache.94 Die Erforschung der Symmetrie geschieht dementsprechend disziplinenübergreifend. Die von Hargittai herausgegebene Publikation sucht die Symmetrie in Bereichen der unterschiedlichen Naturwissenschaften und auch in den Kunst- und Kulturwissenschaften auf.95 Die Folgepublikationen Hargittais behandeln spezielle Symmetrien (die Fünffach-Symmetrie und die Spiral-Symmetrie96), die Symmetrien werden also gemäß dem Muster, das sie bilden, kategorisiert. Dieses Verhältnis von Muster und Symmetrie wird bei Hargittai nicht benannt und auch an anderer Stelle nicht thematisiert. Geht man jedoch von dem oben beschriebenen Verhältnis von Muster und Symmetrie aus, erweisen sich die Publikationen als wahrer ‘Musterschatz’. Die Ausstellung zu ‘Symmetrie in Kunst, Natur und Wissenschaft’ in Darmstadt ging gleichermaßen von der Symmetrie als einem übergreifenden Phänomen aus und versucht, die Frage nach einem „universell wirkenden Prinzip im Plan der Schöpfung“ zu beantworten. Ein umfangreiches Katalogwerk soll dieses ehrgeizige Vorhaben unterstützen.97 Auch hier eröffnet sich dem Betrachter ein weites Disziplinenfeld, das eben durch diese Weite beeindruckt und in seiner Opulenz erfreut. Eine explizite Antwort erhält man jedoch nicht, Umfang und Varietät der Symmetriedarstellungen sollen scheinbar für sich selbst sprechen. Eine umfassende Bearbeitung des Themas liefert Klaus Mainzer. Anhand seiner Ausführungen werde ich abschließend die für die Untersuchung des Musters ent- scheidenden Gedanken entwickeln. Die Symmetrie dient unserer Wahrnehmungsorientierung und der Organisation unserer Vorstellungskraft. Hieraus leitet Mainzer auch den ästhetischen Grund des Vorkommens der Symmetrie in der darstellenden Kunst und der Musik ab. Unser Denken und Erkennen ist gleichermaßen von Symmetriestrukturen bestimmt, indem es das Einfache als das Wahre annimmt.98 Dies führt zum Einzug der Schönheit in die Wissenschaft. Steven Weinberg erläutert den Schönheitsbegriff im Zusammenhang mit einer physikalischen Theorie. Es ginge hierbei nicht um mechanische Schönheit im Sinne von hübschen Symbolen, die ein gefälliges Muster auf einer Seite 94 Hargittai (1986): S. IX 95 Hargittai (1986) 96 Hargittai (1992a+b) 97 Symmetrie in Kunst, Natur und Wissenschaft (1986) 98 Mainzer (1988): S. 12 52 produzieren. Es ginge auch nicht um die Eleganz einer Formel, Eleganz sei etwas für Schneider. Es seien Einfachheit und Unvermeidbarkeit, sozusagen der Zwang der Schönheit, der überzeuge. Beides gehorche den Regeln der Symmetrie.99 Bei Weinberg wird die Schönheit zu einem Parameter der Wahrheits-, und Symmetrie zu einem Mittel der Theoriefindung. Der Wissenschaftsphilosoph James McAllister untersucht diese Zusammenhänge eingehend.100 Der Einfluß ästhetischer Kriterien auf wissenschaftliches Handeln sei unbestritten. Brian Greene schreibt beispielsweise, daß sich die Beschreibung von Aspekten des Universums, die sich dem Experiment der theoretischen Physik entziehen, an ästhetischen Gesichtspunkten orientiert. Mit der Bemerkung, daß sich diese Methode (!) bisher als nützlich und erkenntisfördernd erwiesen habe, wird die Ästhetik als Hilfsmittel legitimiert.101 McAllisters Anliegen ist es nun, genau diese Subjektivität aufzuzeigen. Er schreibt, es gebe keine überzeugenden Beweise für die Existenz relevanter, konstanter, ästhethischer Qualitäten. Jede wissenschaftliche Revolution bringe auch neue ästhetische Kriterien hervor.102 Die Definition von Schönheit in bezug auf Theorien unterliegt also genauso epochalen und kulturellen Veränderungen, wie es Mode, Malerei oder der menschliche Körper tun. Für die Musterforschung ist eine strukturell ähnliche Annahme zu bemerken, auf die im letzten Kapitel eingegangen wird. Das Auftauchen von Mustern indiziert demnach nicht Wahrheit, wie es die Symmetrie angeblich tut, sondern Sinn. Ian Stewart verknüpft diese beiden Momente, wie oben schon beschrieben, indem er die Muster erkennt, Gemeinsamkeiten konstatiert und die daraus abgeleitete Sinnhaftigkeit durch Symmetrieprinzipien zu erklären sucht.103 Das Muster wird meist der Symmetrieforschung einverleibt, hilfreich sind hierbei die Begriffe der Asymmetrie, der Dyssymmetrie, der Antisymmetrie104 und der Symmetriebrüche. Diese Begriffe und die damit verbundenen Theorien stehen immer in Abhängigkeit zum Symmetriebegriff. Asymmetrie kann nicht ohne Symmetrie gedacht werden. Besonders deutlich wird dies bei den Symmetriebrüchen, die als musterbildend beschrieben wurden. Diese Symmetrie, die gebrochen werden kann, wird als ein Gegebenes, als ein zu Entdeckendes angenommen. Die Konstruktivität dieser Annahme wird selten reflektiert. Mainzers Darstellung formuliert diese Frage, ihre Beantwortung ist jedoch nicht Absicht seiner Publikation: „Unter den Bedingungen der modernen Physik stellt sich dem Philosophen verschärft die Frage, ob die Symmetrien bloß erkenntnistheoretische Projektionen in die Natur sind und sich als heuristische Prinzipien zur naturwissenschaftlichen Theoriebildung zweckmäßig erweisen oder ob sie als Selbstorganisationsprinzipien der Natur verstanden werden können.“105 99 Weinberg (1993): S. 106–108 100 McAllister (1993); McAllister (1998) 101 Greene (2000): S. 199 102 McAllister (1996): S. 203 103 Stewart (1998): passim 104 „Antisymmetry: If, together with an operation of symmetry, some quality (e.g. a colour of a configu- ration or the direction of rotation of a magnetic moment inside a crystal) changes, we speak [...] of antisymmetry.“ Hargittai (1986): S. 784 105 Mainzer (1988): S. 13 53 Das Muster und damit auch die Symmetrie werden, gemäß meiner These, als Kon- strukte verstanden, nicht als Gegebenes. Ich gehe davon aus, daß es immer der handelnde Mensch ist, handelnd in der Erkenntnis oder der Produktion von Mustern, die er generiert und sich ihrer bedient.106 Dies bedeutet für das weitere Vorgehen, den Gegensatz von Natur und Kultur zu entschärfen. Die Natur wird entweder wissenschaftlich oder künstlerisch bearbeitet, sie wird interpretiert. Kultur kann im Gegenzug als ein Symmetriebruch definiert – Muster werden produziert – und als Dynamisches und nicht als Summe statischer Artefakte behandelt werden. Die Symmetrie als Strukturelement wird innerhalb der Untersuchung unterschiedliche Funktionen erfüllen. Sie ist zum einen analytisches Instrument und wird in der oben dargestellten Weise genutzt, um Artefakte als Momentaufnahme, als gefrorene Handlung begriffen, zu beschreiben. Hierbei soll auch das Verlassen der Fläche mitgedacht werden. Eine sogenannte textile Fläche, ein Gewebe beispielsweise, hat eine Vorder- und eine Rückseite, ist also genaugenommen ein Dreidimensionales. D.h. hier gilt es, eine weitere Symmetrie zu bestimmen, die das Verhältnis von Vorder- und Rückseite beschreibt. Hieraus entwickelt sich die Frage nach der Symmetrie des Handelns, also nach dem Menschen, der (textile) Muster produziert. Zum anderen wird die Symmetrie als theoretisches Phänomen dem Muster gegenübergestellt und weitere Bestimmungen ihres Verhältnisses und ihrer jeweiligen Bedeutungen durchgeführt. Rhythmus „A crystal lacks rhythm from excess of pattern, while a fog is unrhythmic in that it exhibits a patternless confusion of detail.“107 Dieses Zitat von Alfred North Whitehead verweist auf das Verhältnis von Symmetrie, Rhythmus und Muster. Der Musterexzeß, das heißt ein maximales Gleichmaß, verhindert Rhythmizität, während das Fehlen von Mustern als unrhythmisch empfunden wird, aber definitionsgemäß höchste Symmetrie besitzt (der Nebel ist mit der oben beschriebenen Wüste zu vergleichen). Die Abhängigkeit der genannten Begriffe vom Betrachterstandpunkt, von der Dimension und vom Empfinden, der kulturellen Prägung des Betrachters, wird ein weiteres Mal ersichtlich. Die Beschäftigung mit der Symmetrie hat gezeigt, daß es sich hierbei in erster Linie um eine mathematische Auseinandersetzung handelt. Demzufolge ist die Symmetrie ein Instrument zur präzisen Beschreibung eines Musters. Der Umkehrschluß besagt, daß jede Abweichung von der Symmetrie das Muster zerstört. Der Mensch nimmt jedoch auch Wiederholungen als Muster wahr, die keine strenge Symmetrie besitzen. Der naturwissenschaftliche Begriff der Dyssymmetrie bezeichnet solche Symmetrien mit geringen Abweichungen. Da es mir aber vor allem um den Menschen und sein Handeln geht, wird der Begriff des Rhythmus’ dem der Dyssymmetrie vorgezogen. 106 siehe hierzu: Gerdes (1990): S. 33. Gerdes beschreibt die Auswahl symmetrischer Formen für Werk- zeuge anhand von Produktionstraditionen und nicht als Imitationen symmetrischer Muster der Natur. Er widerspricht hiermit beispielsweise Hermann Weyl. 107 Hargittai (1986): S. 21 54 Mit dieser Begriffswahl verbindet sich eine bestimmte Auffassung des Rhythmus- begriffes, die Rhythmus nicht als Wiederholung eines Gleichen, sondern als Wie- derholung eines Ähnlichen versteht. Diese Definition des Rhythmus’ in Opposition zum Metrum oder Takt ist nicht selbstverständlich, die Diskussion hierzu soll an dieser Stelle nicht aufgegriffen, sondern nur auf sie hingewiesen werden.108 Der Rhythmus ist ein weiteres Wiederholungsphänomen, das meistens als zeitstrukturierend und dem Tanz und der Musik zugehörig interpretiert wird. Der Tanz, aber auch das Gehen oder Hüpfen des Menschen erzeugt Rhythmus im Raum. Das Leben selbst, sein Herzschlag ist rhythmisch, so daß Zollna vom Rhythmus als einer „anthropologischen Grundkonstitution menschlichen Handelns und Wahrnehmens“ spricht.109 Demzufolge läßt sich überall Rhythmus finden: in der Bewegung, der Sprache, in Raum und Zeit, in Lebensvorgängen. Viele Wissenschaftsdisziplinen beschäftigen sich mit dem Rhythmus, der sich einer geistigen Durchdringung des Phänomens hinsichtlich einer definitorischen Über- einstimmung verwehrt. Als Phänomen ist der Rhythmus nicht zu begreifen, seine physische Evidenz, alle Sinne ansprechend, ist jedoch nicht zu verleugnen.110 Ich werde einen Rhythmusbegriff vorstellen, der das Verhältnis von Muster und Rhythmus, Symmetrie und Repetition aufzeigt. Rhythmizität wird hierfür als eine Eigenschaft des Musters begriffen. Das Muster kann somit als sichtbares Produkt des Rhythmus, eines dynamischen Prozesses, verstanden werden.111 Um im folgenden den Rhythmus als Strukturelement für das Muster zu veranlagen, habe ich die Schriften Deleuzes, Lefebvres und Leroi-Gourhans herangezogen, ergänzt durch Beiträge aus anderen Disziplinen und einem monographischen Text zum Rhythmus von Hanno Helbling. Helbling beginnt mit einer Abgrenzung des Rhythmus’ gegen den Takt, indem er die beiden Phänomene mit Regelmaß und Gleichmaß verschränkt. Das variable Regelmaß des Rhythmus’ sei in der Lage zu ordnen, Zeit und Raum zu gliedern.112 Diese Ordnung ist jedoch eine andere als die der Symmetrie – die dem Gleichmaß des Taktes entspricht –, sie ist von Wahrnehmungsdifferenzen abhängig.113 Differenzen, die auf subjektiver Wahrnehmung basieren oder mit dem Betrachterstandpunkt in Zusammenhang stehen. Hierin liegt die denotative Unklarheit des Begriffes begründet. Helbling vermeidet bewußt eine definitorische Formulierung wie: ‘Unter Rhythmus verstehen wir...’114 und führt eine zirkumskriptive Abgrenzung durch. Das rhythmische Moment in einer Ordnung sei das der Gefährdung: „Rhythmisches 108 Zollna (1995) gibt einen ausführlichen Überblick über das Thema Rhythmus in der geisteswissen- schaftlichen Forschung und stellt die Probleme der Definition und der Abgrenzung dar. 109 Zollna (1995): S. 12 110 Kraft (1989): S. 6 111 Hierzu läßt sich ein weiteres Mal Alfred N. Whitehead zitieren: „A rhythm involves a pattern and to that extent is always self-identical. But no rhythm can be a mere pattern; for the rhythmic quality depends equally upon the differences involved in each exhibition of the pattern. The essence of rhythm is the fusion of sameness and novelty; so that the whole never loses the essential unity of the pattern, while the parts exhibit the contrast arising from the novelty of their detail. A mere recurrence kills rhythm as surely as does a mere confusion of differences.“ Zitiert nach: Kraft (1989): S. 16 112 Helbling (1999): S. 8 113 Helbling (1999): S. 25 114 Helbling (1999): S. 11 55 Geschehen setzt erst ein, wo Ordnung unter Druck gerät, wo sich das Feste dem Beweglichen aussetzt und dieses an jenem einen Widerstand findet.“115 Das Phänomen des Rhythmus befindet sich also im Spannungsfeld zwischen Chaos und Ordnung.116 Die schon erwähnte Aufsatzsammlung zur Symmetrie enthält auch einen Beitrag zur Visualisierung von Musik, der Rhythmus und Symmetrie in der oben vorge- schlagenen Weise differenziert: „Hermann Weyl seems to consider music under a single dimension, summarizing it as rhythm. I, however, consider rhythm to be a succession of regular, repeated intervals. Its result could resemble translatory symmetry, but we must remember that equal intervals do not produce rhythm. Common sense dictates that rhythm is symmetry because it creates a symmetrical pattern. But there is a difference between rhythm and symmetry. The first is a creative act and the second a formal result.“117 Hermann Weyls Interpretation von Rhythmus bezieht sich auf eine rein zeitliche Ausdrucksform, die, entsprechend der Idee des Zeitpfeils, eindimensional ist.118 Rhythmus soll hier, wie in anderen Publikationen auch, jedoch mehrdimensional begriffen werden.119 Die Gegenüberstellung von Kreativität und Formalismus findet gleichermaßen Eingang in die Ausführungen. Elias Canetti nutzt den Begriff des Rhythmus’ zur Charakterisierung der Masse, der sein philosophisches Hauptwerk gewidmet ist. Die rhythmische Masse sei im Gegensatz zur stockenden Masse durch Bewegung bestimmt, ihr Massengefühl werde kunstvoll hervorgerufen.120 Canettis Rhythmusbeschreibungen beziehen sich auf eine konkrete, massenhafte, Erzeugung von Rhythmus. Er schreibt, der Rhythmus sei ursprünglich ein Rhythmus der Füße. Das älteste Wissen des Menschen sei das um die Kenntnis der Tiere gewesen, die er im Rhythmus ihrer Bewegungen kennengelernt habe. Die früheste Schrift, die er lesen konnte, seien die Spuren der Tiere, als eine Art Notenschrift, gewesen.121 In bezug auf die Bildung von Massen und ihrer Wirkung ist der Rhythmus der Füße entscheidend, beim Marschieren oder beim Kriegstanz. Die Dauer dieser rhythmischen Massengebilde ist dementsprechend von der menschlichen Physis abhängig.122 Canetti faßt den Begriff des Rhythmus’ bewußt sehr eng, um ihn zu einem beschreibenden Moment der Masse und somit zu einem Instrument der Macht zu machen. Dieser Aspekt des Rhythmus’, der als strukturelles Element des Musters zwar sehr viel weiter gefaßt wird, soll bedacht 115 Helbling (1999): S. 33 116 Eine medizinische Nutzung der ‘Chaosforschung’ sind Untersuchungen zum Herzrhythmus: Ein gesundes Herz weist eine Schlagfrequenz auf, die den Regeln des deterministischen Chaos gehorcht, also scheinbar zufällig und unvorhersehbar ist. Je mehr Ordnung das Muster der Herzschläge zeigt, desto näher ist der Mensch dem Tod. GEO-Wissen: Chaos und Kreativität, Nr. 3/83402, 11/1993, S. 139 117 Roberto Donnini: The visualiziation of music: symmetry and asymmetry, in: Hargittai (1986): S. 435–463, hier: S. 448 118 Donnini bezieht sich wahrscheinlich auf eine Stelle aus Weyls Schrift zur Symmetrie: „In der ein- dimensionalen Zeit ist die Wiederholung in gleichen Intervallen das musikalische Prinzip des Rhythmus.“ Weyl (1955): S. 56 119 Helbling behandelt Rhythmus als sichtbares (räumliches), hörbares (zeitliches) und spürbares (raum- zeitliches) Phänomen. Helbling (1999): S. 11 120 Canetti (1980): S. 27 121 Canetti (1980): S. 28f. Auf die linearen Analogien von Schrift, Spur und Rhythmus und die Ver- bindung zum Muster wird zurückgekommen. 122 Canetti (1980): S. 27 56 werden. Die Möglichkeiten der Instrumentalisierung von Mustern aufgrund ihrer rhythmischen Eigenschaften gilt es zu überprüfen. Rhythmus und Symmetrie produzieren Muster, indem sie etwas wiederholen, die Art der Wiederholung ist das Entscheidende. Für die Symmetrie wurde in die Form der statischen und der dynamischen Wiederholung unterschieden (Symmetrie und Symmetriebrüche). Der Rhythmus als metrische Wiederholung eines Gleichen definiert, wie es teilweise geschieht (s.o.), ist ein Statisches, bzw. wie Deleuze es formuliert, ist sie die abstrakte Wirkung einer rhythmischen Wiederholung.123 Für die Untersuchung der Muster ist jeweils die dynamische Form der Wiederholung interessant. Für Leroi-Gourhan ist der Rhythmus zusammen mit dem Werturteil – als eine Fähigkeit, die nur der Mensch besitze – eine basale Kategorie. Seine Argumentation, die, nach den Quellen der Fähigkeit zur Wahrnehmung von Bewegung und Form fragend, zu den Rhythmen und Werten gelangt, deren Reflektion zur Schaffung von Raum und Zeit geführt habe, skizziere ich nun.124 Der Hinweis auf die physiologischen Rhythmen des Körpers, der sich in einer von Rhythmen orga- nisierten Welt (Jahreszeiten, Tag- und Nachtwechsel u.a.m.) befindet, läßt die Fun- damentaliät der Bedeutung von Rhythmen für den Menschen erahnen. Sie integrieren den Menschen in Raum und Zeit. Leroi-Gourhan nennt die tanzende Bewegung als eine Möglichkeit, den alltäglichen Zyklus zu unterbrechen, und das rhythmische Marschieren als Mittel der Konditionierung von Massen. Eine Funktionalisierung von muskulärer Rhythmizität ist also gleichermaßen zwischen Ordnung und Chaos möglich. Neben den physiologischen Rhythmen sind auch die technischen Operationen von muskulärer, auditiver und visueller Rhythmizität bestimmt. Die Bewegung der Beine, der Gang des Menschen, produziert Rhythmen, zu denen sich nun auch die Bewegungen der Arme gesellten.125 Leroi-Gourhan betont die Dynamik des Rhythmus und seine kreative Schöpferkraft. Das Lebendige, die Handlung, die Geste stehen hierbei im Vordergrund: Der Rhythmus wird nicht als Abstraktum, als Ergebnis analysiert, sondern als Erzeuger gekennzeichnet. „Die Rhythmen sind die Schöpfer von Raum und Zeit, zumindest für das Subjekt; Raum und Zeit werden nur in dem Maße erlebt, wie sie in einer Hülle von Rhyhtmen materialisiert sind. Die Rhythmen sind zugleich die Schöpfer der Formen.“126 Und sie können als Schöpfer von Mustern betrachtet werden. Der französische Philosoph Henri Lefebvre entwickelt eine Rhythmusanalyse, die methodische und theoretische Grundlegungen zum Ziel hat. Er schlägt eine um- fassende Beschäftigung mit dem Phänomen Rhythmus, die Begründung einer eigenen Wissenschaft vor.127 Ich werde nun die ‘Elemente der Rhythmusanalyse’ skizzieren und in Hinblick auf die hier projizierten Musteranalysen befragen. 123 Deleuze (1992): S. 39 124 Leroi-Gourhan (1988): Kap. XI 125 Leroi-Gourhan (1988): S. 384 126 Leroi-Gourhan (1988): S. 384 127 Lefebvre (1992): S. 11 57 „La rythmanalyse ici définie comme méthode et théorie poursuit ce labeur millénaire, de façon systématique et théoretique, en rassemblant des pratiques très diverses et des savoirs très différents: médecine, histoire, climatologie, cosmologie, poésie (poétique), etc. Sans omettre bien entendu la sociologie et al psychlologie, qui occuppent le premier plan et fournissent l’essentiel.“128 Lefebvre möchte den Rhythmus als konkretes Konzept, nicht als Objekt ver- schiedener Künste behandelt wissen. Die Konkretion schlägt sich in der praktischen Nutzung und der Beschreibung eines zukünftigen Berufsbildes, dem des Rhythmusanalytikers, nieder. Die meisten der im Zusammenhang mit dem Muster benannten Begriffe bespricht Lefebvre in der theoretischen Einführung und bildet anschließend Kategorien. Er schreibt, daß es keinen Rhythmus ohne Repetition in Zeit und Raum gebe, d.h. keinen Rhythmus ohne Regel.129 Die Wiederholung könne jedoch nie absolut sein, sie sei eine Fiktion.130 Das jeweils Andere in der Wie- derholung begründe die Differenz. Mit diesen beiden, hier schon besprochenen, Begriffen bildet Lefebvre das erste Kategorienpaar. Er unterscheidet zwischen zyklischer und linearer Wiederholung und benennt diese beiden Bewegungsformen als weitere Kategorie. Man dürfe jedoch nicht Rhythmus mit Bewegung verwechseln und müsse zwischen Mechanischem und Organischem unterscheiden.131 Die oben angesprochene Opposition zwischen Rhythmus und Takt respektive Metrum löst Lefebvre auf, indem er von qualitativen und quantitativen Aspekten des Rhythmus’ spricht. Diese Kategorien, die teilweise Oppositionspaare bilden (kontinuierlich – diskontinuierlich; entdeckend – schöpferisch), seien nicht so angelegt, daß sie sich ausschließen. Rhythmen könnten natürlich und rationell sein oder auch weder das eine noch das andere.132 Neben der Bildung von Kategorien sei es notwendig, einen Ausgangspunkt festzu- legen.133 An dieser Stelle verweist Lefebvre auf die Relativität des Rhythmus, dessen Betrachtung immer im Vergleich zu anderen geschehe. Das Naheliegendste sei hier der Mensch mit seinen Lebensrhythmen. Die Analyse der Rhythmen, bzw. die vorangegangene Wahrnehmung und Klassifizierung derselben, könne zu einem Perspektiven- und somit zu einem Konzeptionswechsel führen.134 Der Rhythmus dient dem Analytiker als ein Werkzeug, das Raum und Zeit zu verbinden sucht. Hierfür werden alle Sinne aktiviert, von der Erfahrung zum Konkreten voran- schreitend.135 Lefebvre stellt sich für die Zukunft einen Rhythmusanalytiker vor, der ein Labor und Patienten hat. Seine Ausbildung müßte mit der Schärfung seiner Sinne und einer Wahrnehmungsmodifikation beginnen, transdisziplinär sein und die Mittel der Repräsentation (also der Schriftlichkeit der Rhythmen) bereitstellen. Die Analyse der Rhythmen müßte zu Anbeginn des sozialen Lebens einsetzen. Diese historische Kenntnis könne für die Gegenwart relevant sein, therapeutisch eingesetzt werden. Arhythmische Bewegungen dienten hierbei als Indikatoren von Mißstimmungen, 128 Lefebver (1992): S. 27 129 Lefebvre (1992): S. 17 130 Lefebvre (1992): S. 16 131 Lefebvre (1992): S. 14 132 Lefebvre (1992): S. 17f 133 Lefebvre (1992): S. 19 134 Lefebvre (1992): S. 29. Lefebvre schlägt hier eine Verschränkung des Rhythmusbegriffs mit dem Privaten und dem Öffentlichen, dem Inneren und dem Äußeren vor und entwickelt vier Klassen. 135 Lefebvre (1992): S. 34 58 Konflikten, Eskalationen u.ä. Untersuchungen der Rhythmen innerhalb eines Staates könnten gleichermaßen gezielte Rhythmisierungen der Gesellschaft durch den Staat aufdecken, auf den Rhythmus als Manipulationsmittel hinweisen.136 Die Ausführlichkeit, mit der ich Lefebvres Rhythmusanalyse vorgestellt habe, hat zwei Gründe: Sie ist zum einen seltenes Zeugnis einer monographischen Behandlung des Rhythmus und zum anderen teilweise auf die Untersuchung der Muster zu übertragen, da Repetition und Rhythmus hier wie dort zentral behandelt werden. Die Übereinstimmung in anderen Kategorien (Bewegungsformen, Differenz) lassen eine Verbindung der Untersuchungen möglich erscheinen, eine gegenseitige Befruchtung erhoffen. Das Muster kann einerseits als eine Form der Schriftlichkeit von Rhythmen – Lefebvre macht hierzu keine detaillierten Angaben – begriffen werden, also als eine Visualisierung der Rhythmen, die für Lefebvre eher den Zeit- als den Raumphänomenen zuzuordnen sind.137 Das Muster wäre in diesem Fall ein Mittel der Verräumlichung des Rhythmus’. Andererseits – womit keine inhaltliche Opposition gemeint ist – kann der Rhythmus als ein Charakteristisches des Musters vorgestellt werden. Es geht hierbei nicht um Hierarchisierungen, sondern um die Festlegung der Prioritäten für die vorliegende Untersuchung. Die Begriffe der Repetition, der Symmetrie und des Rhythmus’ werden im folgenden als Strukturelemente des Musters zur Funktionsbestimmung genutzt, die durch die limitrophen Bewegungen erschlossenen Handlungsfelder miteinander verschränkt. 136 Lefebvre (1992): S. 93 137 Lefebvre (1992): S. 37 59 Die textile Dimension des Musters „Wesshalb die textilen Künste voranzuschicken sind.“1 Die Darstellung textiler Muster in diesem ersten Hauptkapitel exemplifiziert eine spezifische Sicht auf das Muster. Das Textile wird als Modell genutzt, um Muster- bildungsprozesse materialiter als Zeichen manueller Intelligenz vorzuführen. Hiermit wird gleichzeitig ein genuiner Zugang zum Textilen geschaffen, der das Textile vom Muster her denkt. Anhand detaillierter Beschreibungen der Musterbildungsprozesse werden die unterschiedlichen Funktionen der textilen Muster herausgearbeitet. Die Herstellung, die Repetition der Handlung und somit die herstellende Hand und das textile Objekt als ‘gefrorene Handlung’ im Sinne einer materialisierten Handlung, stehen im Vordergrund der technomorphologischen Untersuchung. Dementsprechend treten das Muster als Textilkonstituierendes und die Hand als Akteure in Erscheinung. Der handelnde Mensch ist nur scheinbar abwesend, im letzten Abschnitt werden seine Funktionalisierungsweisen, die vestimentären Instrumentalisierungen des Musters durch den Menschen beschrieben. Die Dimensionalität der Textilien gliedert die Ausführungen und spiegelt das all- gemeine Verständnis eines hierarchischen Herstellungsprozesses: Aus Fasern werden eindimensionale Fäden erzeugt, die wiederum Muster generieren können. Fasern oder Fäden können zu einer Fläche, einem Zweidimensionalen auf vielfältige Weise zusammengefügt werden. Diese Flächen werden mit weiteren Mustern versehen. Einige der textilen Techniken lassen die Erzeugung dreidimensionaler Objekte zu. Die Zeit als historisches Moment, als bewegender Mensch führt die vierte Dimension ein. Die Abhängigkeit der Dimensionszuordnung vom Betrachterstandpunkt, von der Perspektive, wurde bereits expliziert. Die schematische Übersicht (Anhang S. 35) verdeutlicht die dimensionalen Zusammenhänge der verschiedenen textilen Techniken und ihre fraktalen Ausformungen.2 Bevor ich mit der dimensionalen Darstellung beginne, führe ich die Referenzwerke und die Strukturelemente der Repetition, der Symmetrie und des Rhythmus’ in bezug auf das Textile ein. Um das textile Muster als anthropologische Konstante zu veranlagen, ist eine Be- schäftigung mit seinen ‘Anfängen’ notwendig. Als Referenzwerke dienen hierfür vor allem die der bereits eingeführten Autoren Leroi-Gourhan und Barber.3 Leroi-Gourhan beschäftigt sich mit Textilien als einem Material unter anderen. Deshalb wird für die technomorphologischen Bestimmungen Fachliteratur mit technologischem Schwerpunkt hinzugezogen. 1 Semper (1977): S. 13 2 Diese Tabelle kann nicht alle existierenden textilen Techniken aufnehmen, verdeutlicht jedoch die Zusammenhänge und ordnet Techniken zu, die im Text nicht ausführlich bearbeitet werden konnten. 3 Leroi-Gourhan (1971), (1973), (1988) und Barber (1991), (1994) 60 Die umfassendste Publikation zu dieser Thematik ist die Systematik der textilen Techniken von Annemarie Seiler-Baldinger. Die Autorin verfolgt die Absicht, eine einheitliche, wissenschaftlich begründete Terminologie zu erstellen. Die Systema- tisierung orientiert sich an den Herstellungsverfahren von Textilien jeglicher Art. Die Systematik wurde vor allem in bezug auf Definitionen und die Binnengliederung textiler Techniken von mir als Referenzwerk genutzt. Für einige Techniken fügt Seiler-Baldinger Notationen an, die von Gesetzmäßigkeiten zeugen, die „mathematisch angegangen werden“ könnten.4 Diesen Aspekt der Notation textiler Techniken und Muster werde ich in der Darstellung berücksichtigen. Irene Emery verfolgt mit ihrer Publikation ‘The Primary Structures of Fabrics’ ein ähnliches Ziel. Sie stellt die Klassifikation in den Vordergrund, die über die Struktur, also die Beschaffenheit fertiger Textilien, erstellt wird. Hierin unterscheidet sie sich grundlegend von Seiler-Baldinger. Gemeinsam ist den beiden Autorinnen das Anliegen, die Möglichkeit der wissenschaftlichen Bearbeitung und Beschreibbarkeit von Textilien auf der Grundlage einer schlüssigen Systematik, zu schaffen. Sie be- schreiben Faden- und Stoffbildungstechniken und im Anschluß daran verschiedene Stoffverzierungstechniken sowie Verfahren der Stoffzusammensetzung. Die meisten Hand- und Textilwörterbücher wenden sich an eine Fachleserschaft der Textilindustrie.5 Diese Werke vermitteln eine spezifische Warenkenntnis, deren Interesse die praktische Anwendung und Aktualität sind. Bei Hofer6 und vergleich- baren Nachschlagewerken werden zunächst die Faser- und Stoffherstellung be- schrieben und dann die für die Textilindustrie sehr wichtigen verschiedenen Färbe- vorgänge und Verfahren der Veredlung (Ausrüstung und Appretur)7. Sofern diese Techniken mustergenerierend wirken, werden sie in der dimensionalen Darstellung berücksichtigt. Es geht mir nicht darum, eine bestimmte Form der Systematisierung oder Katego- risierung zu favorisieren und zu bestätigen, sondern um die Nutzung technologischer Beschreibungen zur Funktionsbestimmung des Musters. Die technomorphologische Untersuchung bezieht deshalb weitere Parameter mit ein, die bereits als Strukturelemente vorgestellt wurden. Neben den benannten Referenzwerken zur Repetition, zur Symmetrie und zum Rhythmus sind für die Darstellung der textilen Muster und ihrer Dimensionen einige Aspekte der Schriften Deleuze/Guattaris und Sempers von Bedeutung. Gilles Deleuze und Félix Guattari beschäftigen sich in ‘Tausend Plateaus’ mit den Dimensionen und Qualitäten des Raumes. Sie entwickeln eine Theorie des Raumes, die sie u.a. mit einem Modell der Technik verschränken.8 Da sich dieses Modell der Technik bemerkenswerterweise ausschließlich mit textilen Techniken beschäftigt, 4 Seiler-Baldinger (1991): S. 4 5 Hünlich (1970); Schierbaum (1993); Hofer (1994) 6 Ein Standardwerk, das sich zum Vergleich anbietet, da es nicht lexikalisch, sondern auch systematisch aufgebaut ist. Hofer (1994) 7 Hofer unterscheidet Appretur und Ausrüstung als nicht waschfeste und waschfeste Veredlungsmaßnahme. Hierunter fallen Gewebe-, Garn-, Maschen- und Flockeveredlung, sowie Stoffdruck, Beschichtungen, Kaschierungen und Thermodruck. Hofer (1994): S. 575f 8 Deleuze/Guattari (1992): S. 658 61 erläutere ich diesen Zusammenhang und mache ihn für die Darstellung im Sinne einer Gegenlesung nutzbar. Deleuze/Guattari unterscheiden zwischen glattem und gekerbtem Raum, den sie dem nomadischen und dem seßhaften Leben, der Kriegsmaschine und dem Staatsapparat zuordnen. Faktisch würden sich diese beiden Raumtypen vermischen, nur in der Theorie sei eine abstrakte Unterscheidung möglich.9 Um die Modi der Ver- mischungen und Übergänge zu beschreiben, wählen die Autoren verschiedene Modelle: das der Technik, der Musik, des Meeres, der Mathematik, der Physik und der Ästhetik. Die Auswahl der Modelle wird nicht begründet, es wird lediglich angemerkt, daß Modelle nicht vervielfacht werden sollten. Der Hinweis auf die fortwährenden Veränderungen und Übergänge der Räume ist vor allem in Hinblick auf die politische Dimension ihrer Aussagen von Bedeutung: „Man sollte niemals glauben, daß ein glatter Raum genügt, um uns zu retten.“10 Die im ‘Modell der Technik’ beschriebenen Techniken sind das Weben und Filzen, das Stricken und Häkeln, das Sticken und das Patchwork respektive der Quilt. Aufgrund ihrer Eigenschaften werden die Techniken von den Autoren dem gekerbten und dem glatten Raum zugeordnet. Das Meßbare und Metrische wird bei diesem und den anderen Modellen mit dem Eingekerbten, das Fraktale und Unbeschränkte mit dem Glatten verbunden. Die durchzuführende Gegenlesung bezieht sich auf dieses Technikmodell Deleuze/Guattaris, die das Textile und seine Techniken explizit benennen. Die technomorphologische Untersuchung der textilen Techniken kommt teilweise zu anderen Ergebnissen. Diese werden umso mehr die Eignung des Textilen – und nicht der Technik im allgemeinen – als Modell stärken, als sich zeigen wird, daß die von Deleuze/Guattari sogenannten Vermischungen, Überlagerungen und Komplikationen sich im Textilen abbilden lassen. Neben vielen anderen Zuordnungen, die die Autoren für den glatten und den ge- kerbten Raum treffen, sind die der Spiralform und der Orthogonalität von besonderer Bedeutung. Diese beiden Eigenschaften wurden in der vorliegenden Arbeit bereits in bezug auf das Muster als Bewegungsrichtungen benannt. Das (textile) Muster ist also in der Lage, diese Grundverfaßtheiten zu veranlagen und auch – sehr viel konkreter – zu materialisieren. Die hier vorgestellte Lesung des Musters verleibt sich die Theorie des glatten und gekerbten Raumes ein: Die von Deleuze/Guattari dargestellten Überlegungen können als eine Funktion des Musters benannt werden. Um diese Verbindungen jeweils zu kennzeichnen, werde ich die Begriffe des glatten und gekerbten Raumes beibehalten. Zur Einführung der Strukturelemente der Repetition, der Symmetrie und des Rhythmus’ in bezug auf das Textile nutze ich die Schriften Gottfried Sempers. Semper verfolgt in seinem Hauptwerk ‘Der Stil’ die Absicht, die Beziehungen der Baukunst zu den technischen Künsten darzustellen und einem historischen Ent- wicklungsgedanken zuzuordnen. Das ‘Werk’ sei zum einen Resultat des ‘materiellen 9 Deleuze/Guattari (1992): S. 658 10 Deleuze/Guattari (1992): S. 693 62 Dienstes oder Gebrauches’ und zum anderen Resultat des Stoffes, der ‘Werkzeuge und Proceduren’, die zur Anwendung kommen.11 Die Klassifikation der technischen Künste erfolgt gemäß der von Semper vorgenommenen Kategorisierung der Rohstoffe. Der an erster Stelle genannten textilen Kunst wird demzufolge ein Rohstoff mit den Eigenschaften des Biegsamen und Zähen, dem „Zerreißen in hohem Grade widerstehend“ und der absoluten Festigkeit zugeordnet.12 Diese exponierte Stellung behält das Textile bei: Der gesamte erste Teil seiner Schrift ist der textilen Kunst gewidmet. Semper begründet dies mit der Stellung des Textilen als ‘Urkunst’, von der alle anderen Künste „ihre Typen und Symbole [...] entlehnten, während sie selbst (die textile Kunst, Anm. K.K.) in dieser Beziehung ganz selbständig erscheint und ihre Typen aus sich heraus bildet oder unmittelbar der Natur abborgt.“13 Schon in einer früheren Schrift hatte Semper auf die Ursprünglichkeit des Flechtens und Wirkens von Matten und Decken hingewiesen und die zentrale Bedeutung der Teppichwand für die Kunstgeschichte postuliert.14 Das älteste Ornament sei gleichermaßen ein Produkt von „Verflechtungen und Verknotungen“15 und auch die Kunst des Malens und die Reliefskulptur sei aus einer textilen Technik, nämlich aus den „Webstühlen und den Färbekesseln der betriebsamen Assyrer“, hervorgegangen.16 Die Kategorienbildungen und detaillierten Beschreibungen, die Semper in seinem Hauptwerk vornimmt, sollen diese Aussagen beweisen. Ich werde im folgenden eine Lesung Sempers im Sinne der formulierten These durchführen und nicht die Beweiskraft hinsichtlich einer Etablierung des Textilen als Urkunst darstellen. Diese Lesung bezieht sich auf die ästhetischen Grundbegriffe Sempers und die von ihm vorgenommene Gliederung der textilen Techniken und Materialien. Im Anhang seines Vorwortes erklärt Semper seinen Umgang mit verschiedenen Grundbegriffen.17 Er geht hierfür von drei Gestaltungsmomenten aus, die bei „Form- entstehungen thätig sein können“, die den drei Dimensionen der räumlichen Ausdehnung entsprechen.18 Hieraus ließen sich wiederum drei „nothwendige Bedin- gungen des Formal-Schönen“ ableiten: Symmetrie, Proportionalität und Richtung.19 Ebensowenig wie man sich eine vierte Dimension denken könne, gebe es eine weitere vorstellbare Eigenschaft. Der Begriff der Dimension erscheint an anderer Stelle weniger explizit: Semper ordnet das Band der Linie, die Decke der Fläche und die Bekleidung dem Raum zu.20 Die Aufzählung entspricht der Reihenfolge im Text Sempers und seiner impliziten Argumentationslinie, die die Gleichzeitigkeit der Entstehung des Bauens und der textilen Techniken zu beweisen sucht.21 Aus den 11 Semper (1977): S. 8 12 Semper (1977): S. 9f 13 Semper (1977): S. 13. Der Paragraph 4 ist mit dem bereits zitierten Satz „Weshalb die textilen Künste voranzuschicken sind“ überschrieben. 14 Semper (1851): S. 56 15 Semper (1851): S. 57 16 Semper (1851): S. 59 17 Semper (1977): S. XXIf 18 Semper (1977): S. XXIV 19 Semper (1977): S. XXIV 20 Semper (1977): S. 19, 28, 227 21 Semper (1977): S. 227 63 Begriffen der Symmetrie, der Proportionalität und der Richtung entwickelt Semper drei „Autoritäten“, die zu den „sichtbaren Repräsentanten eines einigenden Prinzips werden“.22 Die Erläuterungen zu den Autoritäten führen die Begriffe der rhythmischen Reihung und der Bewegung ein. Auch wenn Semper diese Begriffe nicht deckungsgleich zu meinen Ausführungen verwendet und für ihn die Entstehung des Musters nicht im Vordergrund23 steht, sind diese Übereinstimmungen zu bemerken und, in Form von Detaillesungen, zu nutzen. Innerhalb der hergestellten Systematik, der dimensionalen Gliederung, werden die unterschiedlichen textilen Techniken nicht einheitlich oder schematisch bearbeitet. Die Darstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit in bezug auf die Möglichkeiten textiler Musterungen und Techniken. Die für die Beobachtung wichtigen Begriffe sind die Dimension (Raum und Zeit), der Rhythmus, die Sym- metrie und die Repetition mit ihren Bewegungsrichtungen. Historische, technische, ethnische und geographische Zuordnungen und Erläuterungen erfolgen nur im Zusammenhang, sie sind nicht integraler Bestandteil der Darstellung. Die Auswahl der Beispiele erfolgte gleichermaßen hinsichtlich der Funktionsbestimmung textiler Muster. 0,5-d Textile Fraktalität Ludwig Wittgenstein nutzt in seinen ‘Philosophischen Untersuchungen’ im Rahmen seiner Ausführungen zur Sprache und den Sprachspielen folgende textile Metapher: „Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, daß irgend eine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, daß viele Fasern einander übergreifen. [...] Ebenso könnte man sagen: es läuft ein Etwas durch den ganzen Faden, – nämlich das lückenlose Übergreifen dieser Fasern.“24 Diese textile Metapher des Fadens und der Fasern verweist zum einen auf den zu besprechenden Gebrauch textiler Metaphern und zum anderen auf den Übergang zum Eindimensionalen. Gerade im Zusammenhang mit den Sprachspielen, die in den jeweiligen Handlungssituationen präzisiert werden, wäre jedoch eine Metapher, die die Technik, den handelnden Menschen miteinbezieht, eingängiger: Das Herstellungsprinzip, in diesem Fall das Verspinnen des Fadens, ist das ‘Etwas‘, das durch den Faden läuft. Die Repetition der Bewegung, das Handlungsmuster erzeugt die Ähnlichkeit, von der Wittgenstein spricht.25 Die Faser ist weder Punkt noch Linie, weder null- noch eindimensional. Fasern sind das Ausgangsmaterial oder, genauer formuliert, der Ausgangszustand aller Textilien. Aus Fasern können Fäden oder Faserverbände hergestellt werden. Die Verfahren zur Herstellung von Fäden werden unter 1-d beschrieben. Faserverbände – für die es keinen einheitlichen Begriff gibt – können sich in der Fläche und im Raum 22 Semper (1977) bedient sich des Begriffs der Autorität mit Rekurs auf Vitruv, um das „Hervortreten gewisser formaler Bestandtheile einer Erscheinung“ zu bezeichnen. S. XXXVIII 23 Semper (1977) bedenkt das Muster mit folgendem Satz: „Die Verschiedenheiten der natürlichen Farben der Halme veranlassten bald ihre Benützung nach abwechselnder Ordnung und so entstand das Muster.“ S. 228 24 Wittgenstein (1984): S. 278 25 Wittgenstein (1984): S. 276f 64 ausdehnen. Die Herkunft von Fasern kann tierischer, mineralischer, pflanzlicher oder chemischer Art sein. Ihre Gewinnung ist für die Musterbildung nicht von zentraler Bedeutung und wird deshalb nicht dargestellt. 1-d Textile Eindimensionalität Textile Eindimensionalität wird im folgenden als Konkretes (Textil) und als Abstraktes (Metaphern und Mythologien) vorgestellt. In der Betrachtung des Textilen wird die Konstruktivität des Eindimensionalen sichtbar, für die Mythen und Metaphern werde ich zeigen, daß sie genau aus dieser Konstruktivität schöpfen, sich gewissermaßen über sie legitimieren. Die Artikulationsformen eindimensionaler textiler Muster sind verhältnismäßig gering. Der Faden als solcher kann Muster bilden oder aber durch Verdichtungen, Knotungen und Auffädelungen andere Muster erzeugen. Seine Beschaffenheit kann in der Weiterverarbeitung mustergenerierend wirken. Im folgenden wird zunächst die Gewinnung und Herstellung von Fäden beschrieben, anschließend zwei Möglichkeiten der musterbildenden ‘Weiterverarbeitung’: das Knoten und das Fädeln. String Revolution „So powerful, in fact, is simple string in taming the world to human will and ingenuity that I suspect it to be the unseen weapon that allowed the human race to conquer the earth, that enabled us to move out into every econiche on the globe during the Upper Palaeolithic. We could call it the String Revolution.“26 Die unspektakuläre, und nicht datierbare, ‘Erfindung’ des Fadens hatte für die Menschheit weitreichende Folgen. Die revolutionäre Kraft des Fadens läßt sich bis hin zur gegenwärtig aktuellen Stringtheorie verfolgen.27 In bezug auf die textilen Techniken bildet der Faden den ersten materiellen Hinweis auf die Existenz von Textilien. Der Faden, als langstapelige pflanzliche oder tierische Faser, ist ein Produkt, das der Mensch in der Natur vorfindet und verarbeiten kann. Er dient vor allem dem Zusammenfügen von anderen Materialien, wie z.B. Holzstöcken oder auch Tierfellen, d.h. ersten Kleidungsstücken.28 Seiler-Baldinger beschreibt verschiedene Formen der Herstellung von Fäden. Eine rudimentäre Verarbeitung des Rohmaterials besteht im Zerschleißen, Spalten und Zerschneiden des Materials oder im Ausziehen von Fasern aus Stengeln und Blättern. Das Abhaspeln eines Fadens ist nur bei speziellen Seidenkokons möglich. Kurze Faserelemente, Blatteile oder Bastfasern können ineinander verdreht (gedrillt) und gegebenenfalls vorher verknüpft werden. Diese Techniken werden im allgemeinen ohne Hilfsgeräte ausgeführt.29 Das 26 Barber (1994): S. 45 27 Die Bezeichnung der Stringtheorie ist durch Gestaltähnlichkeit inspiriert. Die Atome stellte man sich als Punkte, bzw. Kugeln vor, die Stringtheorie nimmt als Elementarteilchen ‘tanzende Fäden’, ‘winzige eindimensionale Schleifen’ an. Greene (2000): S. 29 28 Paläanthropologen datieren Artefakte aus einem thüringischen Steinbruch, „die dazu gedient haben, Tierhäute zu durchstechen und sie mit Pflanzenfasern zusammenzunähen“ auf ein Alter von ca. 370.000 Jahren. FAZ, 2. Februar 2000, N2 29 Seiler-Baldinger (1991): S. 8 65 Verspinnen von Fasern geschieht stets mit Hilfe besonderer Geräte. Barber nimmt an, daß vor 20–30.000 Jahren die ersten Fasern versponnen wurden.30 Textile Funde aus dieser Zeit sind äußerst selten. Spindeln und Spinnwirtel, die aus dauerhafteren Materialien bestehen, sind hingegen weltweit verbreitet aufgefunden worden.31 Sie dienen dem Verspinnen von Fasern, wobei verschiedene Techniken unterschieden werden.32 Leroi-Gourhan schreibt, daß eine genaue Datierung der ersten Spindeln nicht möglich sei, ihr Erscheinen aber spätestens mit der Entwicklung der Töpferei belegt ist.33 Die Grundform der Spindeln und Wirtel ist rund. Hieraus leitet sich die zirkuläre Grundbewegung (Rotation) der Tätigkeit ab.34 Anhand der Spinnbewegung läßt sich also eine grundlegende Erfahrung des Zusammenhangs von Form und Be- wegung ablesen. Eine darüber hinausgehende Differenzierung dieser Erfahrung erfolgt über die Chiralität des Spinners.35 Die Drehrichtung – der Spin – den die Spindel erfährt, erfolgt bei einem Rechtshänder im Uhrzeigersinn. Die Art der Spindel in Verbindung mit der Anfangsdrehbewegung bestimmen den ‘Draht’ (S- oder Z-Richtung)36 eines Fadens. Neben dieser zirkulären Bewegung wird beim Verspinnen von Fäden eine zweite Bewegung ausgeführt: das Strecken oder Ziehen. Hierbei handelt es sich um eine eindirektionale Bewegung, also eine Linearisierung. Das Ergebnis dieser doppelten Bewegung ist ein Faden, dessen einzelne Fasern die Form einer gestreckten Helix zeigen. Aus praktischen und ästhetischen Gründen sollte dieser Faden möglichst gleichmäßig gesponnen werden. Ein solches Gleichmaß überträgt sich vom rhythmisch bewegten Körper auf das Produkt. Der Rhythmus als musikalisches Element zeigt sich auch in der Verbindung von Gesang und Spinnen. Die Abbildung der spinnenden Venus von Milo (Abbildung 6) zeigt, daß bei dieser Technik des Spinnens der ganze Körper in die Bewegung einbezogen ist. Das Spinnrad verlegt diese vertikale Ausrichtung in die Horizontale. Abgesehen von der Demonstration der Spinnbewegung reizt diese Darstellung zur Frage, ob die Statue in dieser ursprünglichen, durch Profanität und Weiblichkeit gekennzeichneten Form eine ähnliche Popularität erlangt hätte. Ein zeitlicher Sprung in die Gegenwart und somit die weitestgehend industrialisierte Form der Fadenherstellung gibt einen summarischen Überblick über die Möglichkeiten, Fäden zu erzeugen und zu gestalten. Schon mit der Auswahl des Spinnverfahrens (beispielsweise Kammgarn- oder Streichgarnspinnerei) kann Einfluß 30 Barber (1994): S. 43. Der älteste textile Fund stammt aus Lascaux um 15.000 v. Chr., bestehend aus pflanzlichen Fasern, die zu einer Kordel verdreht wurden. (S. 53) 31 Textil (2000): S. 14. Seiler-Baldinger schreibt: „Die Fadenbildung mit Hilfe der Spindel ist weltweit sehr alt und nicht an einen einzigen Herkunftsort gebunden, sondern überall als meist eigenständige Entwicklung zu betrachten.“ 32 Barber (1991) beschreibt ausführlich die unterschiedlichen Spindeln und Wirtel, die beispielsweise durch ihre Position (high, low) unterschiedliche Arten des Spinnens hervorbringen. (S. 51ff) 33 Leroi-Gourhan (1971): S. 249 34 Leroi-Gourhan (1971): S. 248 35 Barber (1991) führt die Problematik der vorgefundenen Garne in S- oder Z-Richtung und ihre heutige Deutung aus. Neben der Chiralität sind regionale Unterschiede, die auf die Verwendung verschiedener Matrialien zurückgeführt werden, entscheidend. (S. 66f) 36 Hiermit wird (im engl. gleichermaßen S- und Z-spin oder -directions) die Drehrichtung eines Fadens markiert. S steht für links- und Z für rechtsgedrehte Fäden. Diese Bezeichnungen sind Zeugnisse der alles durchdringenden Alphabetisierung: Die aufsteigende bzw. absteigende Diagonale wird anhand der Formengleichheit mit diesen Buchstaben bezeichnet. 66 auf das Aussehen des Musters genommen werden. Verschiedene mechanische Vorgänge (Kardieren, Kämmen, Strecken u.a.) dienen der Parallelisierung der Fasern, bevor diese Versponnen werden. Die erzeugten Garne werden häufig zu Zwirnen zusammengedreht. Hierbei unterscheidet man Glatt- und Effektzwirne. Qualität und Art des Zwirnes nehmen direkten Einfluß auf die Musterung. Die Effektspinnerei und -zwirnerei arbeitet mit farblichen (Jaspé, Mouliné, Melange oder Space-dyeing, das partienweise Garnfärben) und plastischen Effekten (Flammen-, Noppen-, Loopzwirne und -garne). Die Gestaltung der Fäden kann entweder darauf ausgerichtet sein, die Fäden als solche weiterzuverarbeiten37 oder auf einer weiteren Verarbeitungsebene sichtbar zu werden. Eine der kompliziertesten Stoffmusterungstechniken ist der Ikat. Die Komplexität besteht hierbei nicht in der – technisch einfachen – Form des ab- schnittweisen Einfärbens der Garnbündel, sondern in der Berechnung, die diesem Abbinden und Färben vorausgehen muß. Man unterscheidet Kett-, Schuß- und Doppelikat, gemäß den Funktionen der Garnbündel nach dem Färbevorgang. Das Muster entsteht erst beim Weben, der „Schußfaden sieht vorerst einfach mehrfarbig gesprenkelt aus“, enthält aber die gesamte vorprogrammierte Musterung.38 Dieses ‘Programm’ kann neben der Färbung, die das Muster entstehen läßt, die Regeln der Symmetrie nutzen. Faltet man die Garnbündel vor dem Abbinden, erhalten die gemusterten Flächen eine oder mehrere Symmetrieachsen. Der Ikat stellt insofern die ‘höchste’ ästhetische Ausformung der Erkenntnis des Zusammenhangs von Faden und Fläche, ein- und zweidimensionaler textiler Form dar. Auf diesen Zu- sammenhang wird in Verbindung mit den stoffbildenden Techniken zurück- zukommen sein. Weitere Formen der Fadenerzeugung sind Filamente und natürlich vorkommende Fäden, d.h. langstapelige Pflanzenfasern, die für die Darstellung der Muster- funktionen nicht von Bedeutung sind.39 Nodologie Betrachtet man das Knoten als Tätigkeit und den Knoten als das Produkt dieser Tätigkeit, entdeckt man ein komplexes Thema, dessen Umfang mit der Begriffs- schöpfung der Nodologie nur angedeutet werden soll.40 Das Verknoten oder Verknüpfen von Fasern kann eine Alternative zum Verspinnen von Fasern darstellen. Das Ziel beider Tätigkeiten ist die Erzeugung eines 37 Ein Beispiel hierfür sind die ‘string skirts’, die schon für das Paläolithikum nachweisbar sind. Diese Röcke bestehen aus Fäden, die an einem Hüft- oder Taillenband nebeneinander befestigt werden. Da diese Röcke keine schützende Funktion haben (weder kälteundurchlässig noch blickdicht sind) vermutet Barber eine symbolische. Das kinetische Moment der losen Fadenenden zieht die Blicke an, verweist auf die Fruchtbarkeit der Frau. Barber (1994): S. 44, 59 38 Textil (2000): S. 130 39 Filamente sind Endlosgarne, die aus den Kokons seidenspinnender Insekten gewonnen oder aus einer synthetischen Spinnmasse hergestellt werden. Kapok, Hanf, Ramie, Jute, Manilafaser, Sisalhanf und andere Pflanzenfasern bedürfen nur einer geringen Verarbeitung zur Fadenherstellung und sind deshalb für Kulturen geringer Mechanisierung von Bedeutung. 40 Diese Begriffsschöpfung leitet sich vom Lateinischen ‘nodus’ für Knoten ab und bedient vordergründig das Bedürfnis nach einer Überschrift. Das Auffinden von Knoten in unterschiedlichsten Bereichen läßt eine Wissenschaft der Knoten, die sich das methodische Vorgehen der hier vorgestellten limitrophen Bewegung zu nutze machen könnte, nicht mehr so abwegig erscheinen. 67 langen/längeren Fadens. Richtet sich die Anordnung der Knoten nicht nach der Länge der vorgefundenen Fasern oder Fadenstücke, sondern nach einem Muster, kann dieses verschiedene Funktionen erfüllen. Die Knoten können auf einer weiteren Verarbeitungsstufe ein Muster erzeugen und hiermit einen ästhetischen und/oder praktischen Zweck (Oberflächenvergrößerung) erfüllen. Als Bindungsmoment dient der Knoten der Bildung von Stoffen (2-d). Die Anordnung der Knoten kann jedoch auch auf eine Bedeutungsebene verweisen. Das Knoten wird hier zu einer Mnemotechnik bzw. einer Art Schrift (als Zähl- oder Er-zählhilfe oder vielleicht am gegenwärtigsten: im Taschentuch). Betrachtet man den Knoten als singuläres Phänomen, verliert er gleichermaßen seine Eindimensionalität und wird zu einem komplizierten Raumgebilde (3-d). Das Knoten ist eine Tätigkeit, die sich im Raum vollzieht: eine komplizierte, topologische Aktion. Den wahrscheinlich unmittelbarsten Zusammenhang zwischen textilem Knoten und seiner Funktionalisierung als Meß- und Memoriertechnik zeigt der Knoten als Bezeichnung der Einheit für die Geschwindigkeit von Schiffen. Diese Bezeichnung leitet sich direkt von der Tätigkeit des Knoteneintragens in die Logleine in fest- gelegten Zeitabständen (Logglas) ab. Der Quipu (oder Khipu) der Inka ist ein Beispiel für den Einsatz des textilen Knoten als elaborierte Mnemotechnik. Die Inkas verwendeten Quipus (Quetschua für Knoten), Knotenschnüre, als Hilfsmittel, um Daten und Informationen unter- schiedlichster Art zu fixieren.41 Ein Quipu besteht aus einem primären Faden (Schnur), an den weitere Gruppen von Fäden gemäß ihrer Bedeutung geknotet werden. Es entsteht eine Grundstruktur eines horizontalen und zahlreicher vertikaler Fäden. Die vertikal angeordneten Fäden können durch Anknüpfen von Fäden auf unterschiedlicher Höhe erweitert werden. Diese Anordnung der Fäden sowie ihre Farbigkeit sind bedeutungstragende Elemente. Darüber hinaus sind die Art der Knoten und ihre Direktionalität konnotiert. Die Direktionalität eines Knotens ist wiederum abhängig von der S- oder Z-Richtung des Fadens respektive des Garnes (hier gibt es Kombinationen: Zwei Fäden mit S-Draht können beispielsweise zu einem Z-Draht-Zwirn verarbeitet werden). Diese Aufzählung ergibt eine unendliche Anzahl von Kombinationsmöglichkeiten. Die Interpretationen der Forschung legen ein binäres oder ein Dezimalsystem zugrunde und erkennen Inhalte unterschiedlichster Art.42 Auch Zeitgenossen erschloß sich der Inhalt eines Quipu nicht unmittelbar. Um diesen zu erfassen, brauchte man einen ‘Übersetzer’ (den quipucamayoc, den Wächter der Knoten). Haarmann weist darauf hin, daß alle Knotenschnurtechniken von solchen mündlichen Erläuterungen abhängig sind, ihre Leistung – die Fixierung numerischer Information – sei jedoch sprachunabhängig.43 Am Beispiel des Quipu läßt sich zeigen, daß das Vorhandensein und die Flexibilität textiler Materialien mit einfachsten Mitteln einen endlosen Reichtum an Be- deutungsmöglichkeiten generieren können. Ein Quipu spiegelt als fertiges Produkt 41 Woodward/Lewis (1998): S. 290. Diese Daten konnten statistische, chronologische, astrologische, historische, juristische, geographische Bedeutungsinhalte transportieren. 42 Woodward/Lewis (1998): S. 290, Anm. 162, 163 43 Haarmann (1990): S. 58–61; dtv-Lexikon (1997): s.v. ‘Quipu’ 68 ein Denksystem, die Art der Wissensorganisation und -speicherung. Das Muster hat hierbei die Funktion der Kodierung, es konstituiert eine Sprache oder Schrift. Die Informationsvermittlung wird hier von zwei Parametern, Farbe und Knoten, getragen. Die symbolische Verwendung von Farben ist weit verbreitet und doku- mentiert. Ähnliches, systematisiertes ethnographisches Material über Knoten fehlt.44 Leroi-Gourhan schlägt eine Zuordnung nach berufsspezifischen Knotentechniken vor: Seemannsknoten, Weberknoten, Korbflechterknoten etc.45 In Anbetracht der Komplexität des Themas lassen sich andere Klassifikationsmerkmale respektive Zugangsweisen denken, von denen ich im folgenden drei benenne. Der Knoten als Mittel der Stoffbildung wird unter 2-d behandelt, dem Knoten als Tätigkeit und als topologisches Phänomen sollen im folgenden noch einige An- merkungen in bezug auf die Mathematik und die Psychoanalyse gewidmet werden. „Knoten entstehen durch straffes Anziehen geeigneter Schleifen, Verschlingungen oder Maschen.“46 „Ein [einfacher] Knoten ist eine geschlossene Kurve, die keine multiplen Punkte enthält, d.h. keine mehrfachen Überschneidungen.“47 Die erste Definition, die sich auf die textilen Techniken bezieht, beinhaltet eine einfache Handlungsanweisung, die die beiden Grundbewegungen des Knotens zeigen: das Legen einer wie auch immer gearteten Schlaufe und das anschließende Anziehen derselben. Die textile Anschauung und Nachahmung ist also in der Lage, komplexe Strukturen zu vermitteln. Piaget, von dem die zweite Definition stammt, nutzt das Gebiet der Knoten, um die Relation des Umschlossenseins aufzuzeigen. Diese Un- tersuchungen sollen hier nicht rezipiert werden, sondern nur auf die Möglichkeit hinweisen, eine genuin textile Technik als Erkenntnismittel für die Entwicklungs- psychologie zu nutzen und hierüber Feststellungen hinsichtlich anthropologischer Konstanten zu treffen. Der Knoten als solcher bilde visuell und motorisch keine ‘guten Formen’, im Sinne einer wahrzunehmenden Metrik, aus.48 Das bedeutet, daß das Knoten als Tätigkeit keinen erkennbaren Rhythmus bildet und kein Muster erkennen läßt. Erst die Reihung von Knoten, die den Wechsel vom Drei- ins Zwei- oder Eindimensionale beinhaltet, schafft ein Muster und Rhythmen. Der Knoten als topologisches Phänomen und seine Erzeugung dienen dem Kind – dem Menschen – zur Raumerschließung. In seiner Ausformung als Krawattenknoten beschäftigt er zwei theoretische Physiker. Das ausgewiesene Ziel von Thomas Fink und Yong Mao ist es, alle ästhetisch möglichen Krawattenknoten vorauszusagen.49 Der Blick auf die Entwicklung des Krawattenknotens habe gezeigt, daß es ca. ein halbes Jahrhundert dauere, bis ein neuer Krawattenknoten auftauche. Der Maßstab hierfür ist der Eintrag in das Register der ‘Tie Association of America’. Die Autoren erstellen verschiedene Parameter, um ein mathematisches Modell zu entwickeln, das die möglichen Krawattenknoten anzeigt. Innerhalb der entstehenden Klassen von Knoten müsse eine Auswahl nach 44 Ashley (1982). Dieses wohl umfassendste Buch über Knoten stellt die Anwendung in den Vordergrund, das heißt Zweck und Methode des Bindens werden in Wort und Bild dargestellt. 45 Leroi-Gourhan (1971): S. 262 46 Seiler-Baldinger (1991): S. 25 47 Piaget/Inhelder (1975): S. 138, Anm. 2 48 Piaget/Inhelder (1975): S. 138 49 http://www.tcm.phy.cam.ac.uk 69 ästhetischen Gesichtspunkten, die Größe und Form, Symmetrie und Ausgewogenheit betreffen, getroffen werden. Das Ergebnis ihrer Suche sind 85 verschiedene Methoden, einen Krawattenknoten zu binden. Von den 85 sind zahlreiche als Abwandlungen der vier bekannten Knoten (Four-in-hand, Windsor, Pratt und Halber Windsor) einzuordnen und neun neue Knoten zu registrieren. Die Symmetrie als Parameter für die ästhetische Akzeptanz resultiere bei einem Krawattenknoten aus einer ausgeglichenen Anzahl an rechts- und links-‘half-turns’ der Krawattenenden. Ein weiteres Kriterium ist für die Autoren die Festigkeit und Formbeständigkeit des Knotens. Die historischen Implikationen werden von den Autoren nicht diskutiert und sollen auch hier nicht nachgetragen werden.50 Es geht vielmehr darum, eine weitere Verbindung mathematischer Probleme und textiler Modelle aufzuzeigen. Die mathematische Notation von Krawattenknoten als Random-Walk in einem triangulären Gitter verweist auf die Komplexität einer textilen Technik. Hierbei ist zu beachten, daß die Bedingung der mathematischen Beschreibbarkeit in der relativen Einfachheit (im Vergleich zu zahlreichen anderen Knoten) eines Krawattenknotens liegt. Diese ‘Einfachheit’ besteht in der definitorischen Fixierung der Parameter: Beschränkung auf eine Krawatte mit einem breiten und einem schmalen Ende, determinierte Bewegungsrichtungen, und die – weniger klar zu formulierenden, aber in Hinblick auf die Funktion zu berücksichtigenden – ästhetischen Aspekte. In dem abschließenden Zitat von Jacques Lacan kulminieren die drei Aspekte Mathematik, Knoten und Raum in exemplarischer Weise. Die Mathematik, hier insbesondere die Topologie, ist für Lacan in der Lage, an das Reale – und hiermit ist das Geheimnis des sprechenden Körpers, das Geheimnis des Unbewußten gemeint – heranzureichen. Er instrumentalisiert die Topologie durch die Visualisierung der Fadenringe, insbesondere der borromäischen Knoten.51 „Die Knoten in ihrer Kompliziertheit sind wohl gemacht, um uns relativieren zu lassen die vorgeblichen drei Dimensionen des Raumes, allein gegründet auf die Übersetzung, die wir machen von unserem Körper in ein Festvolumen.“52 Enfilade53 Ähnlich wie bei den Knoten sind die Endprodukte einer fädelnden Tätigkeit keineswegs eindimensional, sondern dreidimensionale Objekte, häufig Ketten. Das Lineare des Fädelns liegt in seiner Tätigkeit begründet: Ein Objekt, das als solches wahrgenommen wird, muß durchstochen und anschließend aufgereiht werden. Hierdurch wird eine bestimmte Form der Reihung, der Wiederholung, die nur ein Nacheinander zuläßt, produziert. Leroi-Gourhan beschreibt als erste Zeugnisse menschlichen Interesses an unge- wöhnlichen Formen die Sammlungen von Muscheln und Fossilien im Moustérien.54 50 Die Publikation, die mittlerweile vorliegt, enthält auch Historisches zur Krawatte und ihren Knoten. Abbildungen und Beschreibungen der 85 Krawattenknoten ermöglichen einen praktischen Nachvollzug, die mathematischen Anteile sind auf einen tabellarischen Überblick reduziert. Fink/Mao (2000) 51 s. hierzu auch: Daedalus (1990): S. 275–305 52 Lacan (1991): S. 144 53 Der französische Begriff der Enfilade bezeichnet den Vorgang des Auffädelns im weitesten Sinne: eine Folge von Räumen läßt sich gleichsam in einer Flucht auffädeln. 70 Muscheln und Schneckengehäuse dienten als Schmuck. Sie wurden unter anderem zu Ketten aufgefädelt. Über ihre genaue Bedeutung, ob kultisch, religiös, symbolisch verwendet, läßt sich heute keine definitive Aussage machen.55 Das Fädeln verbindet eine Reihe verschiedener Handlungen zu einer Geste. Das Erkennen bestimmter Formen und die Fähigkeit der Abstraktion (das Entdecken und Isolieren von Ähnlichkeiten) sind die Grundlage des Sammelns.56 Eine Möglichkeit, diese gesammelten Gegenstände zu fixieren, ist das Auffädeln. Der hierfür notwendige Faden bestimmt die lineare Form und erfordert das Festlegen einer Reihenfolge. Die Geste des Fädelns ist also eine Reihende, eine Ordnende. Die Objekte des Fädelns sind vielfältig: Perlen, Hülsenfrüchte, Federn, Muscheln, Zähne, Knochen, Steine und Klauen sowie Artefakte verschiedenster Art. Viele der in der Natur vorkommenden Sammelobjekte fallen durch ihre Musterung auf. Das Muster wird hier als Attraktor der Wahrnehmung und als Selektionsmoment wirksam. Diese Funktion des Musters sowie die Mustergenerierung von natürlichen Objekten wird im Kapitel ‘Die kognitive Dimension des Musters’ besprochen. Die Möglichkeiten der Mustererzeugung beim Fädeln sollen im folgenden nur bei- spielhaft und jeweils in Verbindung mit ihrer Funktion benannt werden. Die Beschaffenheit des Objektes, seine Größe, Farbe und Form bilden die Parameter für die Musterbildung, die hier jedoch nicht klassifiziert werden sollen. Das Auffädeln von Früchten, um sie zum Trocknen aufzuhängen, unterliegt häufig rhythmischen Ordnungen, die das Produkt ästhetisieren. Das Anordnen in Einheiten beim Fädeln kann zudem als Zählhilfe dienen (epistemologischer Gebrauch). Der Mathematiker Keith Devlin beschreibt das Lochen markierter Formen und das anschließende Auffädeln auf eine Schnur als einen Schritt in der Entwicklung des abstrakten Zahlenbegriffes.57 Der Abakus stellt die wohl augenfälligste Funktionali- sierung des Fädelns dar. Das Auffädeln besonders schöner respektive seltener und wertvoller Objekte dient dem Schmücken einer Person oder eines Ortes und wird meist als Mittel der Distinktion eingesetzt oder als eine Art Währung dem Tausch zugeführt. Im rituell-symbolischen, religiösen oder spirituellen Bereich spielen Perlenschnüre häufig eine Rolle: Der Rosenkranz, eine Gebetsschnur mit großen und kleinen Perlen, dient der volkstümlichen Gebetsreihung, im Buddhismus werden Malas, Gebetsketten, als Hilfsmittel zum Einprägen der Mantras benutzt, die Schamanen verwenden Perlenketten zur Beschwörung. Eine weitere Funktion aufgefädelter Objekte ist die der Kommunikation. Diese Form der Mitteilung beruht auf Konventionen. Die Biologen Wickler und Seibt bezeichnen die von ihnen untersuchten Perlenschmuckstücke verschiedener afrikanischer Stämme als „schriftlose Kommunikation“.58 Die Codierung der Botschaften erfolgt 54 Leroi-Gourhan (1981): S. 79 55 Leroi-Gourhan (1981): S. 83 56 Die Grundthese in Manfred Sommers ‘philosophischem Versuch’ über das Sammeln besagt, daß der Mensch immer noch und wesenhaft ein Sammler sei. Sommer (1999) 57 Devlin (1998): S. 14 58 Wickler/Seibt (1998): S. 183 71 über eine Art Farbensyntax. Die Farben der Perlen stehen weder für einzelne Buchstaben noch für ganze Begriffe, sind also weder als Alphabetschrift noch als ideographisches Notationssystem zu verstehen. Bedeutungsträger sind die Farben selber, ihre Anordnung und Häufigkeit innerhalb der Sequenzen.59 Das Wort ‘Kette’, ein häufiges Endprodukt des Fädelns, wird im Sinne von einer ‘zusammenhängenden Folge’ für die logische Abfolge, für die Ordnung der Dinge oder der Ideen verwendet.60 Die ‘Kette der Wesen’ sei lange Zeit eine der berühmtesten Formeln der westlichen Philosophie gewesen, ein Grundgedanke, der auf der Annahme einer durchgängigen Vernünftigkeit der Welt beruhe.61 Dies läßt den Schluß zu, daß der praktische Nachvollzug, die kulturelle Praxis der textilen Produktion, wesentliche Grundgedanken des Menschen bestimmt. Der Faden in Metaphern und Mythen Die lineare Form des Fadens läßt verhältnismäßig wenig Raum für Mustererzeugung. Vielleicht ist es aber gerade diese Reduktion, die den Faden mit seiner linearen Nähe zur Schrift noch am ehesten als heute lesbare Schrift erkennen läßt. Das Fädeln gleicht der Schrift jedoch nur gestisch, in dem Nacheinander der Einzelelemente. Diese Ähnlichkeit hatte schon viele Folgen, sei es rein begrifflicher oder gedanklicher Natur. Die Betrachtung des textilen Fadens hat gezeigt, daß seine Eindimensionalität eine konstruierte ist, die jedoch trotz allem etymologisch verankert ist. „Linie – [...] Das Substantiv beruht auf Entlehnung aus lat. linea ‘Leine, Schnur, Faden [...]’, das sich mit einer ursprünglichen Bedeutung ‘leinene Schnur’ als substantiviertes Adjektiv zu lat. linum ‘Lein, Flachs, Faden, Schnur’ stellt.“62 Die topologische Dimension von Linien – Geraden oder Kurven – ist ‘1’. Der abstrakte Charakter der Linie als geometrisches Gebilde bedingt die Unver- änderlichkeit dieser Aussage. Der Transfer dieser abstrakten Qualität und der be- schriebenen möglichen ‘Handlungen’ mit Fäden können als Ausgangspunkt zahl- reicher Mythen und Metaphern angesehen werden. Die folgende Reflexion be- schäftigt sich mit der Verwendung textiler Metaphern, nicht mit ihrer Benennung und Beschreibung. Sie dient der Abgrenzung des textilen Modells gegenüber einem philologisch-etymologischen Gebrauch des Textilen. Die Sprache kann im Rahmen des textilen Modells hinweisenden Charakter, beispielsweise auf die Verbreitung und Allgegenwart des Textilen geben, kann Denkanstoß, aber nicht Beweis sein. Einige Beispiele sollen den Umgang mit textilen Metaphern und Begriffen de- monstrieren. Hiermit sollen den Autoren nicht fehlerhafter Umgang mit Metaphern und daraus resultierende falsche Schlüsse nachgewiesen, sondern die Folgen eines solchen Umgangs für das Textile gezeigt werden. 59 Wickler/Seibt (1998): S. 171, 178. Die Autoren geben verschiedene Beispiele und erläutern die statistischen Auswertungen ihrer Untersuchungen. 60 Auch Derrida (1983) verwendet den Begriff der Kette und differenziert zwischen graphischer und lautlicher. (S. 115) 61 Lovejoy (1985): S. 7, 393f 62 Duden (1963): s.v. ‘Linie’. Vgl. Pfeifer (1989): s.v. ‘Linie’ 72 Vilém Flusser verwendet zahlreiche textile Metaphern, um den Prozeß und die Geste des Schreibens zu verdeutlichen: „...die konkrete Geste des Fädelns, die wir das ‘Schreiben’ nennen“63, benötige lose Elemente (Buchstaben und Ziffern), einen Faden (die Sprache) und eine Nadel (die Schrift).64 Über die Geste des Fädelns gelangt er zu dem Schluß, daß prozessuales Denken sich ohne die alphabetische Schrift nicht hätte entwickeln können. „Die vorgeschichtlichen Menschen ließen beim Sprechen ihre innere Stimme laut werden, ohne sie vorher durch die Kategorien der Schrift laufen zu lassen. Wir würden vielleicht sagen: ohne sie zu kontrollieren. Schreiben ist Kontrolle des Denkprozesses, dank welcher dieser Prozeß überhaupt erst zum Prozeß wird. Die Schreibmaschine zeigt, wie das Schreiben das Denken verändert; wie es unmöglich war, vor der Erfindung der alphabetischen Schrift prozessual zu denken: Es fehlte damals zum Fädeln die Nadel.“65 Die Ausführungen zum Fädeln, zur Enfilade, haben gezeigt, daß das Fädeln auch ohne eine Nadel möglich ist. Dies ist zugegebenermaßen etwas umständlicher und zeitintensiver, aber möglich. Berücksichtigt man diese Möglichkeit, erscheint Flussers Verbindung von Schrift (Nadel) und Denken weniger zwingend. Die An- schaulichkeit des Textilen, die Flusser nutzen möchte, wird zum Mittel der De- montage, richtet sich gegen das Gesagte. Jacques Derrida möchte in seiner Schrift zur Differenz die Bedeutung desjenigen, das weder ein Wort noch ein Begriff ist (nämlich die différence/différance), zu einem Bündel zusammenfassen. Er legt explizit Wert auf dieses Wort, da es das geeigneteste zu sein schien, „um zu verdeutlichen, daß die vorgeschlagene Zusammenfassung den Charakter eines Ein- flechtens, eines Webens, eines Bindens hat, welches die unterschiedlichen Fäden und die unter- schiedlichen Linien des Sinns – oder die Kraftlinien – wieder auseinanderlaufen läßt, als sei sie bereit, andere hineinzuknüpfen.“66 Derrida wählt den Begriff des Bündelns, um das Zusammenfassen zu illustrieren. Um diese Illustration quasi zu kolorieren werden, wahllos textile Techniken dem Bündel einverleibt. Das Zusammenführende des Bindens, des Bündels wird konterkariert durch das Vielfältige des Textilen: Das Flechten, das Knüpfen, das Weben sind sehr unterschiedliche textile Techniken. Michel Serres sucht sehr konkret im Textilen ein neues Erkenntnismodell und findet es im Gewebe.67 In seinen Ausführungen werden jedoch alle nur irgendwie textil anmutenden Begriffe wahllos (Hüllen und Schleier; Kabel, Schnüre, Drähte und Wollfäden; Maschen, Volants, Fransen und Fältelungen)68 zu einer Philosophie vermengt und vermischt (so der deutsche Untertitel: Eine Philosophie der Gemenge und Gemische). Die genannten Texte Flussers, Derridas und Serres’ verweisen beispielhaft auf einen Umgang mit dem Textilen, der durch Beliebigkeit gekennzeichnet ist. Mittels des textilen Modells und der technomorphologischen Analysen zeige ich eine andere Nutzung des Textilen, die von den Techniken und dem handelnden Menschen ausgeht und nicht Bilder des Schleiers, des Bündels und des Fadens vermischt. 63 Flusser (1993): S. 28 64 Flusser (1993): S. 28, 30, 34 65 Flusser (1993): S. 33 66 Derrida (1990): S. 77 67 Serres (1993): S. 104, 106 68 Serres (1993): S. 105 73 Hiermit soll jedoch nicht die weibliche Prägung, die gewöhnlich zur Marginalisierung des Textilen führt, durch eine männlich-technische ersetzt werden. Das Textile kann Ausdrucksmittel emotionaler und sinnlicher sowie wissenschaftlicher und erkenntnistheoretischer Art jenseits geschlechterspezifischer Zuordnungen sein. Die Mythen zahlreicher Ethnien und Religionen entspringen häufig den Tätigkeiten der Textilproduktion. Die Mythologien, die symbolische und metaphorische Verwendung textiler Herstellungsverfahren und Produkte werden von Elisabeth Barber ausführlich dargestellt.69 Sie schreibt, die textilen Techniken der Frauen dienten vielen Mythen zur Analogiebildung.70 Als Beispiel benennt sie das Schicksal, das wie ein Faden von den Schicksalsgöttinnen – Moiren, Nornen, Parzen – gesponnen würde. Die Linearität der Zeit und des Fadens machen ihre Produzentinnen zu den Herrscherinnen über das Leben, über die Lebens-Spanne.71 Neben den Mythen, die das Spinnen von Fäden thematisieren, erwähnt Barber die zahlreichen Mythen, die das Weben in den Vordergrund stellen. Darüber hinaus benennt sie keine weiteren textilen Techniken, woraus zu schließen ist, daß die meisten Mythen sich mit dem Spinnen und Weben beschäftigen. Die Dominanz der Weberei wird noch öfter zu konstatieren sein. Die von Barber untersuchten Mythen entspringen dem europäischen Raum, ein Vergleich mit außereuropäischen Mythologien müßte zeigen, inwieweit andere textile Techniken in Mythen verarbeitet wurden. Barber schreibt, das Weben sei eine Metapher für den menschlichen Erfindungs- reichtum. Im Gegensatz zum gesponnenen Faden, dessen Länge vom Schicksal (und seinen Göttinnen) abhängig sei, symbolisiere der Akt des Webens die Ent- scheidungsfreiheit des einzelnen Menschen. In dieser Weise werden textile Analogien bis heute in der Literatur verwendet. Die folgenden Beispiele aus der Literatur können dies belegen und verweisen darüber hinaus auf die zentralen Themen des Musters und der Dimension. Der erste Band von Dieter Fortes Romantrilogie trägt den Titel ‘Das Muster’. Er erzählt die Geschichte zweier europäischer Familien, die er bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgt und deren Wege sich im 20. Jahrhundert in Düsseldorf kreuzen. Der Titel ‘Das Muster’ bezieht sich auf ein Bild, das Forte entwirft: „Jean Paul, der sich im Alter immer mehr ins Schweigen zurückzog, in Gedanken stundenlang neben einem Webstuhl stehen konnte, auf die anscheinend langsam aber stetig, und damit doch schnell ablaufenden Kettfäden starrte, sie mit der vergehenden Zeit, dem vergehenden Leben verglich; schon das Einziehen der einzelnen Kettfäden in die Litzen als schicksalhafte Bestimmung des Lebensweges ansah; und den Schußfaden, den das Weberschiffchen rastlos in die Kette einzog, als den Teil des Lebens, der das Vorgegebene in eine mehr oder weniger phantasievolle Variation verwandelte, die das Wirken des Menschen, seiner Handlungen und Taten in einem Muster festhielt, das dem ablaufenden Leben Sinn und Richtung und Halt gab, eben das ausmachte, was man als ein menschliches Leben bezeichnen durfte, als persönliches Schicksal, das unverwechselbar sein eigenes Muster hatte.“72 69 Barber (1994) widmet den Mythen ein ganzes Kapitel (10.). Siehe zu dieser Thematik auch: Martens (1991). Lexika der Mythologie und der symbolischen Formen geben weitere Hinweise. 70 Barber (1994): S. 235 71 Barber (1994): S. 235f, 238. Barber stellt den Zusammenhang zwischen ‘span’ und ‘to spin’ her, die sich im Deutschen gleichermaßen erstellen läßt zwischen ‘spinnen’ und der ‘Spanne’ als etwas Gezogenes, Gespanntes. 72 Forte (1992): S. 38 74 Der Kettfaden, dessen Lage und Länge fixiert ist, steht – ganz im Sinne der Mythen – für das Schicksal, für genetische und soziale Determinanten. Der Schußfaden – hier differenziert Forte die Analogie – markiert das Individuelle im zeitlichen, historischen Ablauf. Das Wirken des Menschen erscheint als ein chaotisches und mehrdimensionales, das in einem Muster festgehalten wird: Das Webmuster linearisiert das Leben, ordnet es. Das Musterbuch wird zu einer Familienchronik: Es begleitet die Seidenweberfamilie von Italien bis nach Düsseldorf. Forte strapaziert diese Bilder des Lebens als Gewebe nicht, beschreibt sie jedoch mit einer Nähe, die die Wahl des Titels sinnvoll erscheinen läßt. Ob als Musterbuch oder als Kleidung, die Barber als ‘notebook’ bezeichnet, ist die Interpretation die eines zu lesenden, historischen Dokumentes. Diese Analogie- bildung bezieht sich auf die beschriebene etymologische Nähe von Text und textil: Das Textile muß gelesen werden. In dieser Weise verdeckt das Dokumentarische das zu Interpretierende. Viele Autoren und Interpreten analysieren die postulierte Textgeste des Textilen, das Medium, aber nicht das Textile selbst. Robert Musils Roman ‘Der Mann ohne Eigenschaften’ thematisiert die geistige Verfassung Österreichs zu Beginn des 1. Weltkrieges. Erzählt wird die Geschichte des Sekretärs Ulrich, der mit der Planung der ‘Parallelaktion’ des Jahres 1918 betraut ist. Die Erzählweise ist eine unerzählerische, nur die Person Ulrichs hält den Roman zusammen. Weder der Erzähler noch der Protagonist Ulrich sind in der Lage, ein Nacheinander kausaler Zusammenhänge herzustellen. Musil führt eine weitere Ebene ein und läßt Ulrich genau hierüber nachdenken: „Und als einer jener scheinbar abseitigen und abstrakten Gedanken, die in seinem Leben oft so unmittelbare Bedeutung gewannen, fiel ihm ein, daß das Gesetz dieses Lebens, nach dem man sich, überlastet und von Einfalt träumend, sehnt, kein anderes sei als das der erzählerischen Ordnung! Jener einfachen Ordnung, die darin besteht, daß man sagen kann: ‘Als das geschehen war, hat sich jenes ereignet!’ Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeiten des Lebens in einer eindimensionalen, wie ein Mathematiker sagen würde, was uns beruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten ‘Faden der Erzählung’, aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht. [...] Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler. Sie lieben nicht die Lyrik, oder nur für Augenblicke, und wenn in den Faden des Lebens auch ein wenig ‘weil’ und ‘damit’ hineingeknüpft wird, so verabscheuen sie doch alle Besinnung, die darüber hinausgreift: sie lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen ‘Lauf’ habe, irgendwie im Chaos geborgen. Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitive Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem ‘Faden’ mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet.“73 Musil greift neben dem mythologischen Aspekt der Länge des Lebensfadens auch seine Beschaffenheit auf: die Linearität, die das Nacheinander bedingt und die Mannigfaltigkeiten bändigt. Schon die Lyrik berge im Gegensatz zur Erzählung die Gefahren eines unvorhersehbaren ‘Hineinknüpfens’. Musil stellt dem Epischen das Unerzählerische und analog hierzu den Faden und die Fläche gegenüber. Die Auf- reihung, das Eindimensionale erscheinen als Erzeuger der Ordnung, die zumindest das Private organisieren sollte. Die Öffentlichkeit beschreibt Musil als eine bereits unerzählerisch und chaotisch gewordene. Die Fragmentarisierung der Welt als Ver- lust des Epischen wird hier mit dem Bild des Gewebes als Höherdimensionales 73 Musil (1960): S. 650 75 verschränkt. Die Hinzunahme einer Dimension und der damit verbundenen Frei- heitsgrade eröffnet Ulrich also schon den Weg ins Chaos. Die Ausmaße dieses ‘Unendlichen’ und ‘Chaotischen’ auszuloten, wird Aufgabe des Kapitels 2-d sein. In bezug auf die textile Eindimensionalität läßt sich konstatieren, daß sie eine konstruierte ist und nur als Abstraktes in Metaphern und Mythologien, also geschrieben oder gesprochen, vorkommt. 1,5-d Textile Fraktalität Die Herstellung eines besonders dicken Fadens kann durch verschiedene Techniken erreicht werden. Je nach Technik kann man von einer Fläche, die zu einer Röhre geschlossen wird oder von einer ‘Säule’, also einem Dreidimensionalen sprechen. Kordeln, Seile, Schnüre, Zwirne und Taue bezeichne ich deshalb als Fraktale. Die Techniken zu ihrer Herstellung sind u.a. Häkeln, Stricken, Flechten und Verzwirnen.74 Ein Beispiel für eine Kordel, die durch das verwendete Material und die ausgeführte Technik symbolisch aufgeladen wurde, findet sich an einem Muschelmesser der Kanak (Neukaledonien). Die Kordel wurde aus rotem Flughundhaar in einer kom- plexen, mehrstufigen Flechttechnik hergestellt: „Zuerst werden 10 Schnüre aus je drei Elementen gezöpfelt und durch die in die Muschelschale gebohrte Öffnung gezogen. Dann werden diese 10 Schnüre in einem zweiten Arbeitsgang in einer 2 über 2 Bindung zu einem dichten Vierkantzopf verflochten.“75 Kordeln dieser Art werden zur Befestigung des Muschelmessers am Faserschurz verwendet oder zeichnen die Paradebeile der Oberhäuptlinge aus.76 2-d Textile Zweidimensionalität Der Stoff, als textiles Medium par excellence, wird gemeinhin als Fläche wahr- genommen und als solche bezeichnet. Das Muster wird im allgemeinen, wie ein- leitend beschrieben, gleichermaßen als ein Zweidimensionales, bzw. als ein Flächenschmückendes, definiert. Die folgende Darstellung verfolgt eine andere Wahrnehmung, die sich zunächst in einer Gliederung in zwei Abschnitte nieder- schlägt. Der erste Abschnitt untersucht verschiedene sogenannte textile Stoff- bildungstechniken in Hinblick auf die flächengenerierende Wirkung des Musters. Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit den textilen Techniken, die dazu dienen, textile Flächen zu ‘verzieren’, mit Mustern zu versehen. Die sich aus der Verwendung unterschiedlichster Fäden und Fasern ergebenden Musterungsmöglichkeiten werden in die Betrachtungen nicht systematisch aufge- nommen, da sie von den konstituierenden Mustern zu trennen sind. Ihre Erwähnung hat exemplarischen oder illustrativen Charakter. 74 Seiler-Baldinger (1991): S. 9 75 Textil (2000): S. 52 76 Textil (2000): S. 52. Dort befindet sich auch eine Abbildung. 76 Flächenerzeugende textile Muster Um eine textile Fläche zu erzeugen, können verschiedene Ausgangsmaterialien verwendet werden: Fasern, Fäden (endlich/endlos) oder Flächen.77 Die Verbindung dieser Einzelelemente zu der gewünschten Fläche bezeichnet die Bindung. Der wiederholte (Rapport/Repetition) Vorgang des Bindens (eine aktive Handlung mit einer Bewegungsrichtung und Rhythmus) schafft eine ausgedehnte Fläche. Das Muster als Wiederholungsvorschrift generiert diese Fläche, ihr spezifisches Aus- sehen. In dieser Betrachtungsweise liegt eine Umkehrung: Das Muster ist nicht mehr Akzidenz, schmückende Zugabe einer textilen Fläche, sondern Substanz. Das Muster erzeugt eine je zu beschreibende Kerbung, eine Markierung und Kenn- zeichnung des Raumes im Sinne Deleuze/Guattaris. Die Betrachtungen folgen einer Einteilung, die sich an der bereits zitierten Systematik von Seiler-Baldinger orientiert, in Flächenerzeugung mit einem Faden oder mit Fadensystemen (Maschenstoffe und Geflechte) und Flächenerzeugung mit einem fixierten Fadensystem (Kettenstoffverfahren und Gewebe). Maschenstoffe Mit Hilfe sogenannter Maschenstoffbildungstechniken kann eine Fläche mit (theoretisch) nur einem einzigen fortlaufenden Faden gebildet werden. Dieser Faden kann von endlicher oder endloser Länge sein. Die Verbindung der Fadenabschnitte wird durch ihre Verkreuzung erzielt. Das altgermanische Wort ‘Masche’ bedeutet eigentlich ‘Knüpfung, Knoten’.78 Die weitere sprachgeschichtliche Verfolgung dieser Wortgruppen führt nicht zu einer eindeutigen Definition, da weitere Wörter wie ‘Schleife, Schlinge’ oder auch ‘stricken, winden, flechten’ hinzutreten.79 Diesen Wörtern gemein ist die Be- schäftigung mit textilen Fäden, d.h. Materialität und Handlung stellen das ver- bindende Moment her. Die Masche kann als das Bindungselement einfädiger Stoffe bezeichnet werden. Gemäß ihrer Definition entspricht die Masche dem Rapport, also der kleinsten zu wiederholenden Einheit: „Die Masche beinhaltet den Fadenverlauf bis zu seiner Wiederholung in einer Tour oder Reihe bzw. bis zu seiner Deckungsgleichheit unter Berücksichtigung des Verhältnisses zu den benachbarten Touren oder Reihen.“80 Das Arbeiten in Touren oder Reihen bestimmt die Bewegungsrichtung: die lineare Reihe, an deren Ende jeweils umgekehrt wird, und die Tour, die zirkulär oder spiralförmig gearbeitet werden kann. Bei der „Maschenstoffbildung mit fortlaufendem Faden von begrenzter Länge“ unterscheidet Seiler-Baldinger das Einhängen, Verschlingen und Verknoten.81 Zur Maschenbildung wird hierbei mit dem Fadenende gearbeitet. Die Verfahren des Verschlingens und Einhängens weisen eine begrenzte Anzahl von Variations- 77 Seiler-Baldinger (1991) beschränkt ihre Systematik auf textile Produkte, die aus Fäden oder Fadengruppen hergestellt werden. Eine grundsätzliche Unterscheidung wird zwischen primären (Maschenstoffen und Geflechte) und höheren (Gewebe) Stoffbildungstechniken getroffen. S. 11 78 Pfeifer (1989), Kluge (1995), Duden (1963): s.v. ‘Masche’ 79 Pfeifer (1989), Kluge (1995), Duden (1963): s.v. ‘Knoten’, ‘knüpfen’, ‘Schlinge’ 80 Seiler-Baldinger (1991): S. 13 81 Seiler-Baldinger (1991): S. 13 77 möglichkeiten auf, die von der Anzahl der Fadenverkreuzungen abhängig ist. Analysen von Seiler-Baldinger ergeben, daß die symmetrische Form der Faden- führung (eine zur Scheitelachse der Masche spiegelbildliche Fadenführung) bevor- zugt wird.82 Mit Hilfe eines Schiffchens bzw. einer Nadel werden durch Kombina- tionen von Verschlingen und Verknoten Spitzen hergestellt, die nach diesen Hilfs- geräten benannt werden.83 Die Techniken der Maschenstoffbildung mit „beliebiger Fadenlänge“, also potentiell endlos, sind das Häkeln und Stricken.84 Diese zweite Gruppe soll exemplarisch etwas genauer untersucht werden.85 Die systematische Trennung von den anderen Techniken orientiert sich an der Fadenlänge und der daraus resultierenden Verarbeitungsweise. Außer für die einfachste Form dieser Techniken, die Luftmasche, benötigt man Nadeln als Hilfsmittel. Aus diesem Grund zählt Seiler-Baldinger das Häkeln und Stricken zu den hochstehenden primären Techniken.86 Der Gebrauch von Geräten indiziert gemäß Seiler-Baldinger die Stufe der technischen Entwicklung. Die potentielle Unendlichkeit des Fadens und somit des zu arbeitenden textilen Werkes als Charakteristisches des Häkelns und Strickens kann dem zur Seite gestellt werden. Die Erfahrung von Endlichkeit und Unendlichkeit läßt sich anhand beider Techniken unmittelbar zeigen. Diese Erfahrung ist als epistemologische Funktion textiler Praxis zu benennen. Während des Strick- oder Häkelvorgangs, also dem Arbeiten mit einem unendlichen Faden, der als Fadenschlinge nicht ganz nachgezogen wird, ist der Vorgang jederzeit reversibel. Erst mit dem Abschneiden des Fadens und dem vollständigen Durchziehen durch die letzte Masche wird die Arbeit beendet. Neben dieser Erfahrung vermitteln beide Techniken verschiedene Ebenen des Raumerlebens. Die Nadel bewegt sich permanent von der Vorder- zur Rückseite der Arbeit. Das Wenden der Arbeit am Ende einer Reihe verstärkt dieses Bewußtsein einer Vorder- und Rückseite und somit eines Räumlichen. Beim Stricken werden die Maschen nach diesem Erscheinungsbild als rechte und linke Maschen benannt. Die Konnotation von rechts/Außen = Sichtseite/gut und links/Innen = nicht Sichtbares/schlecht wird hier offenbar. Auf diese Zusammenhänge wird zurückzukommen sein. Das Wenden der Arbeit wäre nicht notwendig, wenn beide Hände im Wechsel die Nadel führen würden. Diese Arbeitsweise ist jedoch nicht üblich, d.h. die Chiralität 82 Seiler-Baldinger (1971): S. 125 83 Schiffchenarbeiten werden auch als Occhi oder Frivolitäten bezeichnet, Nadelspitzen werden meist nach ihrem Herstellungsort – Point de Venise, Smyrna-Spitze usw. – benannt. Seiler-Baldinger (1991): S. 30f 84 Seiler-Baldinger (1991): S. 31 85 Seiler-Baldinger (1971) zitiert die Definitionen Bühler-Oppenheims, die hier auch wiedergegeben werden sollen: „Beim Häkeln werden die Maschen in der Weise gebildet, daß man durch eine oder mehrere vorgeformte Schlaufen das nächstliegende Fadenstück durchzieht. Man kann dabei waagrecht, d.h. hin und her, in Schraubenlinie und spiralig (in der Fläche) arbeiten. Die Stoffbildung erfogt stets von rechts nach links.“ (S. 84) Dieser letzte Satz zeugt von der Dominanz der Rechtshändigkeit: Ein Häkeln mit der linken Hand und dem damit verbundenen Richtungswechsel ist genauso möglich. „Auch hier werden die Maschen horizontal aneinander gereiht, dabei zieht man aber das zunächstliegende Fadenstück durch die senkrecht unter der neu zu bildendenden Masche liegende alte Masche der vorhergehenden Reihe herauf. Im fertigen Stoff sind deshalb die Maschen auch in senkrechten Reihen verbunden. Man kann nur waagrecht hin und her oder rundherum stricken, aber nicht in Spiralen.“ (S. 90) 86 Seiler-Baldinger (1991): S. 31 78 des Arbeiters bestimmt die Arbeitsrichtung, die dementsprechend überwiegend linksgerichtet ist. Die Arbeitsrichtung bewegt sich beim Stricken in der Horizontalen, läßt man eine Masche fallen, werden die vertikalen Zusammen-Hänge der Maschen offensichtlich. Das Häkeln und Stricken in Touren ist gleichermaßen eine linksdrehende, spiralförmige Raumbewegung, die einen schlauchförmigen Körper erzeugt. Weitere elementare Erfahrungen des Raumes und der Bewegung lassen sich anhand spezifischer Muster (deren Variationsmöglichkeiten praktisch unbegrenzt sind) machen. Sogenannte Rippenmuster (nach ihrem Aussehen benannt) werden durch das Stricken von rechten und linken Maschen im Wechsel erzeugt. Das Erscheinungsbild einer rechten und einer linken Masche, ihre Vorder- und Rückseite können hierdurch unmittelbar verglichen und ein Zusammenhang hergestellt werden. Der gleichmäßige Wechsel der Maschenform in dieser Weise erzeugt eine neue Form: Das Strickgut rollt sich nicht ein, sondern bildet eine plane Fläche, eine gerade Kante. Der Ausgleich der Kräfte führt hier zu einer sichtbaren Stabilisierung. Das Zu- und Abnehmen von Maschen an den Kanten des Strickgutes erzeugt eine diagonal verlaufende Linie. Überträgt man dies auf ein Koordinatensystem, läßt sich das Verhältnis von der Anzahl abzunehmender Maschen und zu strickender Reihen berechnen und eine Steigungszahl angeben, im Sinne der Differentialrechnung. Andere Muster, wie beispielsweise das Zopfstricken, erzeugen eine plastische Wirkung, also eine räumliche Dimension. Beide Techniken verfügen über zahlreiche Wahlmöglichkeiten: Die Arbeitsrichtung, die Bildung der Maschen ist auf der Grundlage einer Vorgabe sehr variabel, Maschengröße und -dichte können während des Arbeitens ständig verändert werden, die Größe des Werkstückes ist theoretisch unendlich. Textile Notationen Die Vielzahl der Maschenstoffe läßt sich wesentlich schwerer systematisieren als beispielsweise die Gewebe. Dies zeigt sich in der diffusen Begriffslage und in der uneinheitlichen Aufzeichnungsform. Die Ethnographie und die Textilindustrie finden für die Bezeichnungen der Maschenwaren, ihre Bindungsformen und Notationen keine gemeinsame Basis. Die Textilindustrie, deren Augenmerk auf der maschinellen Produzierbarkeit liegt, hat interne Standards geschaffen. Dementsprechend werden Ketten- und Kulierwaren nach Art der Maschenbindung unterschieden. Die Bindungsbezeichnungen leiten sich von dem Erscheinungsbild der Masche ab: Die Anordnung der Maschenschenkel und -bogen erzeugt eine rechte und eine linke Warenseite. Man unterscheidet vier Grundbindungen mit zahlreichen Ableitungen.87 Die Ethnographie hat ihre Bezeichnungen nicht aus einer technischen Praxis abge- leitet, sondern aus einer künstlich geschaffenen, nicht verbindlichen, Systematik.88 87 Offermann/Tausch-Marton (1978); Uhlmann (1973); Iyer (1991) 88 Seiler-Baldinger (1991) bemüht sich um vereinheitlichende Bezeichnungen und fügt ihrer Systematik andere Bezeichnungen hinzu. Bei Begriffsschöpfungen wie „Durchstechendes verhängtes Verschlingen“ (S. 24) oder „Zweifach eingehängtes verhängtes Sanduhrverschlingen“ (S. 23) nimmt es nicht Wunder, daß die meisten Techniken unter Sammelbegriffen gefaßt werden. 79 Die Maschenstoffe sind jedoch nicht nur nicht zu benennen, sondern auch nur unzureichend zu beschreiben. Die meisten verbalen Beschreibungen bedürfen begleitender technischer oder stilisierender Zeichnungen. In den meisten Fällen werden die Grundelemente zur Maschenstoffbildung beschrieben sowie weitere Parameter zur Flächenbildung benannt. Der eigentliche Vorgang ist zu komplex, um ihn in Worte zu fassen.89 Um auch die Handlung, die Bewegung zu vermitteln, greift man verstärkt auf Ab- bildungen zurück. Hierfür muß der Bewegungsablauf gegliedert und in Einzel- bewegungen aufgelöst werden. Diese einzelnen Arbeitsschritte können dann als Zeichnung oder Fotografie abgebildet werden. Diese Kombination von Bild und Wort kommt der traditionellen Vermittlung von Techniken (und Handarbeiten) am nächsten: Das Gezeigte wird gleichzeitig erklärt.90 Es handelt sich hierbei also um eine Form der Nachahmung und nicht um eine Notation. Seiler-Baldinger schlägt für die verschiedenen Techniken mathematische Notationen vor, die den Fadenverlauf nachzeichnen und in Zahlensymbolen wiedergeben. Diese Art der Notation ist kompliziert und kommt nicht ohne erklärende Abbildungen aus. Darüber hinaus läßt sie sich nicht gleichermaßen auf alle Maschenstofftechniken anwenden. Das Verknoten entzieht sich beispielsweise der mathematischen Beschreibbarkeit, da die mathematische Knotentheorie „von einem in sich geschlossenen Idealknoten ausgeht, bei dem das für uns so wichtige Verhältnis zur Nachbartour irrelevant ist“.91 Die vorgeschlagene Notation dient also weniger der praktischen Anwendung als der Möglichkeit, mathematische Gesetzmäßigkeiten textiler Techniken festzustellen und daraus ‘theoretische Überlegungen’ abzuleiten.92 Auch die Textilindustrie hat versucht, Maschenwaren mit mathematischen Methoden zu beschreiben. Diese Ansätze sind jedoch so unzureichend, daß sie in der Praxis keine Verwendung finden.93 Da aber die Notwendigkeit besteht, die Kon- struktionsverfahren (die Bindungen und die daraus sich ergebenden Muster) aufzuzeichnen, bedient man sich der simpelsten Form: der Abbildung. Hierbei unterscheidet man zwei Darstellungsformen, die eine jeweils andere Perspektive einnehmen. Die Abbildung des Maschenbildes zeigt die Aufsicht auf einen Maschenstoff, auf das Endprodukt, ist also sehr anschaulich, aber auch sehr zeit- aufwendig. Die ‘Darstellung durch eine technische Patrone als Fadenverlauf’ ist die in der Industrie gebräuchlichste: Die Nadeln der Maschinen werden schematisch abgebildet und der Verlauf des Fadens Reihe für Reihe nachgezeichnet.94 89 Hofer (1994) beschreibt beispielsweise die Masche: „Sie besteht aus einer Fadenschleife, die durch andere Maschen oder Fadenschleifen gehalten wird. Sie besteht aus dem Kopf, den beiden Schenkeln und zwei Füßen.“ (S. 219) Ohne die dazugehörige Skizze könnte man die Masche auch für ein anthropomorphes rumpfloses Wesen halten, das nicht alleine stehen kann. Collingwood (1988) ergänzt seine Beschreibungen durch technische Zeichnungen und Fotografien der mit der jeweiligen Technik hergestellten Objekte. 90 Die meisten Zeitschriften, die sich mit Handarbeiten beschäftigen, enthalten sogenannte Bilder-Näh-, Strick- oder Häkelkurse. 91 Seiler-Baldinger (1991): S. 25 92 Seiler-Baldinger (1991). Diese theoretischen Überlegungen beziehen sich auf die Möglichkeiten der Fadenführung, die durch die Art der mathematischen Beschreibung berechenbar sind. Vgl. exemplarisch: S. 20, 23 93 vgl. Offermann/Tausch-Marton (1978): S. 13 94 Iyer (1991): S. 154 80 Geflechte Beim Flechten werden mindestens zwei Fadensysteme miteinander zu einer ‘Fläche’ verbunden. Das Flechten ist die textile Technik, die am offensichtlichsten zeigt, daß textile Muster Fäden, Flächen und Körper generieren können, also eine dimensionale Zuordnung nicht möglich ist.95 Die zahlreichen Arten des Flechtens werden unterschiedlich systematisiert. Seiler- Baldinger unterscheidet zwischen Flechten mit einem aktiven und einem passiven System (Halbflechten) und Flechten mit aktiven Systemen (echtes Flechten).96 Die entscheidende Differenz zu den Maschenstoffen ist das Arbeiten mit Fadensystemen im Gegensatz zu Arbeiten mit fortlaufendem Faden. Das Ende der Arbeit, und somit die Größe des Werkstückes, ist determiniert, es bedarf einer Vorausplanung. Das Halbflechten kennt verschiedene Bindungsformen, die mit denen der Maschenstoffbildungstechniken identisch sind: Einhängen, Verschlingen und Knoten. Das echte Flechten erhält seine Bindung durch das Verkreuzen der Fäden. Die Bindungsformen entsprechen denen der Weberei. Aufgrund dieser strukturellen Gleichheit von echtem Flechten und Weben werden die beiden Techniken häufig zusätzlich über das verwendete Material differenziert.97 Bei Seiler-Baldinger gehört das Weben den höheren stoffbildenden Techniken an, deren Charakteristikum ein fixiertes Fadensystem (Kette) ist.98 Letztendlich ist hiermit das gleiche technische Problem gelöst worden: Die temporäre Fixierung der Kettfäden gewährleistet den statischen Zustand, der beim Flechten durch das Material von vornherein gegeben ist und bestehen bleibt. Die verbreiteste Anwendung des Flechtens ist das Matten- und Korbflechten. Das Produkt der Korbflechterei ist ein dreidimensionales, das Prinzip der Muster- erzeugung ist jedoch flächig, also zweidimensional, da es von der Bindungsart ab- hängt. Die Möglichkeiten der Musterung sind gegenüber denen des Webens ein- geschränkt. Beim Korbflechten entsteht das Muster zusammen mit der Oberfläche des Korbes und muß zu Beginn festgelegt werden.99 Die Form des Korbes hingegen kann während des Arbeitsprozesses gestaltet werden. Die Anzahl der Staken, die den Kettfäden der Weberei entsprechen, ist im Gegensatz zu diesen variabel. Die hierdurch erzeugten Objekte sind dreidimensional. Auch die Abwicklung ihrer Oberflächen erzeugt nicht zwangsläufig eine Fläche, wie beispielsweise bei einer Zylinderform. Dies zeigt sich bei dem Versuch der Notation, die zwar das Muster als zweidimensionales, als Bindung festhalten kann, die Formgebung jedoch offenlassen muß. Rossbach schreibt, daß die Notation von Flechtarbeiten unüblich ist und 95 Die Technik des Flechtens eignet sich auch zur Kordelherstellung, also einer Form der Fadenerzeugung, und zum dreidimensionalen Schlauchflechten, zum Korbflechten. Vgl. Seiler- Baldinger (1991): S. 49; Textil (2000): S. 52, 48 96 Seiler-Baldinger (1991): S. 34 97 Leroi-Gourhan trifft beispielsweise eine materielle Unterscheidung: Das Flechten werde meist mit starreren Materialien durchgeführt und eher für den Hausbau und Aufbewahrungsgegenstände genutzt, die Weberei hingegen mit weicheren Materialien für die Bekleidung. Leroi-Gourhan (1971): S. 269. Das englische Wort ‘basket-weaving’ demonstriert exemplarisch die begrifflichen Differenzen: Im Deutschen werden Körbe geflochten, im Englischen gewebt. 98 Seiler-Baldinger (1991): S. 57 99 Rossbach (1973): S. 91 81 begründet dies mit dem Hinweis auf die ausschließlich handwerkliche Produktion von Körben. Das Diagramm eines ‘melonenförmigen Korbes’, das er illustrierend zeigt, erscheint wie eine Grundrißzeichnung eines nicht zu identifizierenden Objektes, die keinen Hinweis auf die textile Technik gibt.100 Auch hier bedarf die Notation weiterer Erklärungen, bedarf der traditionellen Vermittlung. Das Flechten hat zahlreiche Formen ausgebildet, die teilweise zu eigenen Techniken mit zusätzlichem Gerät weiterentwickelt wurden. Hierzu gehören das Klöppeln mit allen Ableitungen zur Spitzenherstellung und Makramee.101 Diese komplexen Techniken, die aus dem Flechten hervorgegangen sind, bedürften umfassenderer Untersuchungen, die sich u.a. mit den materialisierten Zahlenverhältnissen beschäftigen müßten. Mit den geometrischen Implikationen102 des Korbflechtens, seiner mathematische Substanz, beschäftigt sich die Ethnogeometrie, die im folgenden vorgestellt wird. Ethnomathematik Der Mathematiker Paulus Gerdes ist ein Hauptvertreter der ethnomathematischen Studien, die sich um „die Auflösung des westlich-eurozentrierten Blickes in der Historiographie der Mathematik“ bemühen.103 Er selbst definiert die Ethno- mathematik als eine „kulturelle Anthropologie der Mathematik und des Mathe- matikunterrichts“.104 Als ein Gebiet der Mathematik, dessen Ursprünge wenig er- forscht sind, ist die Geometrie Gegenstand seiner Untersuchung. Gerdes vermutet einen Zusammenhang zwischen der Zahlbegriffsentwicklung und der Sprachentwicklung, die in der Folge zu einer besseren Erforschung dieser Ge- biete, im Gegensatz zur schwerer zu reflektierenden Geometrie, geführt habe. Um der Frühgeschichte der Geometrie nachzuspüren, beschäftigt sich Gerdes mit den mathematischen Leistungen ehemals kolonialer Völker.105 Das Fehlen schriftlicher Quellen und die Inkompetenz mündlicher Quellen in Hinblick auf die Fragestellung hat Gerdes zu einer Methode geführt, die den Tätigkeitsaspekt in den Vordergrund stellt. „Der Untersuchende erlernt zuerst die gebräuchlichen Herstellungstechniken von traditionellen Arbeitsprodukten [...] und bei jeder Stufe des Anfertigungsprozesses stellt er sich die Frage, welche Überlegungen geometrischer Art spielen eine Rolle, um die nächste Stufe zu erreichen.“106 Durch dieses Vorgehen könne, ‘verborgenes, geronnenes’ geometrisches Denken aufgefunden werden.107 Die Tätigkeit des Menschen habe zu seiner Fähigkeit geführt, in der Natur und in seinen eigenen Produkten geometrische Formen zu erkennen.108 100 Rossbach (1973): S. 103f 101 vgl. Seiler-Baldinger (1991): S. 55, 56 102 Das Wort ‘flechten’ beruht auf der indogermanischen Wurzel ‘plek’ für ‘flechten und wickeln’. Das Flechten erscheint demnach als eine Weiterentwicklung des Faltens: Das indogermanische ‘pel’ bedeutet ‘falten’, seine Erweiterung ist das Wort ‘plek’. Das Wortfeld der Falte umfaßt zahlreiche, hier schon häufig verwendete Begriffe: implizieren, explizieren, komplex, doppelt, einfach, etc. Vgl. Pfeifer (1989), Duden (1963): s.v. ‘flechten’ 103 Gerdes (1997): Vorwort von Harald Scheid und Erhard Scholz (unpag.) 104 Gerdes (1997): S. 1 105 Gerdes (1990): S. 21 106 Gerdes (1990): S. 271 107 Gerdes (1990): S. 271 108 Gerdes (1990): S. 272 82 Gerdes wählt als untersuchungsleitende Tätigkeit die textile Technik des Flechtens. Die Wahl der Technik begründet Gerdes zum einen mit ihrer lange nachweisbaren Existenz und zum anderen mit der Vermutung ihrer erkenntnisgenerierenden Funktion. Die Regelmäßigkeit des Flechtwerks (und der Weberei als spätere Ent- wicklung aus dem Flechten) habe den Menschen dazu gebracht, „Muster zu unter- scheiden und sie in der Kunst und später in geometrischen Figuren und mathe- matischer Analyse anzuwenden.“109 Demzufolge, und dies gilt es besonders zu be- tonen, erfüllt das Muster für den Menschen elementare Funktionen. Und: Es ist das textile Muster. Es ist eine textile Technik, die zur Fähigkeit des Menschen führte, Muster zu erkennen, nachzuahmen und abstrahierend Erkenntnisse zu formulieren. Gerdes verbindet den Begriff des Flechtens mit dem des Zopfflechtens aus drei Elementen, sozusagen als ‘Urform’ des Flechtens.110 Diese Technik bilde sich aus dem Bedürfnis nach stärkeren Fäden bzw. Seilen heraus. „Das praktische Bedürfnis zwang den arbeitenden Menschen zum Entdeckungsprozeß des Drei- Streifen-Zopfes. Die Regelmäßigkeit, der geordnete Wechsel von Oben und Unten des fertigen Zopfes ist das Resultat menschlich kreativer Arbeit und nicht ihre Voraussetzung. Es sind wirk- liche, praktische Vorteile der aufgefundenen, regulären Form, die zum wachsenden Bewußtsein dieser Ordnung und Regelmäßigkeit führen und zum Vergleichen mit anderen Arbeitsresultaten stimulieren.“111 Dieser ‘Wechsel von Oben und Unten’ ist ein Hinweis auf das Flechten als Vorstufe der Weberei, deren Grundprinzip diese Art der Fadenführung ist. Der Unterschied der beiden Techniken liegt im Faltungswinkel, der an den Rändern (Webkante) entsteht. Gerdes zeigt anhand von Abbildungen, auf welche Weise das Flechten den 45° und den 90° Winkel ‘produziert’.112 Die Herausbildung der Idee des regelmäßigen Sechsecks, das sich in der Natur bei- spielsweise als Bienenwabe findet, erläutert Gerdes anhand hexagonal geflochtener Körbe. Zur Randbefestigung eines Korbes wird der Rand mit Streifen umwickelt. Der maximale Einfallswinkel beträgt 60°, wenn die Streifen und der Rand gleich breit sind. Werden nun weitere horizontale Streifen eingeflochten, entsteht ein hexagonales Muster.113 „In einer dialektischen Wechselwirkung zwischen Zielsetzung, Experimentieren und der Natur und Form des gebrauchten Materials kann [...] ein erster Hexagonbegriff herausgearbeitet worden sein. Das Gefühl der Ordnung wächst: Um einen festen Korb mit Löchern herzustellen, ist ein wiederholbares, regelmäßiges Muster erforderlich.“114 Eine weitere Erkenntnis, ein Nebenprodukt dieser Tätigkeit, ist die Existenz von Symmetrie, derer der Handwerker sich vielleicht nicht bewußt ist, die aber in jedem Fall den Anfang der Entwicklung des Symmetriebegriffes darstellt.115 Neben der wahrnehmungsorientierten Herleitung des Vorkommens des rechten Winkels liefert Gerdes eine experimentelle.116 „Ein häufig vorkommendes Problem, 109 Gerdes (1990): S. 36. Gerdes übernimmt diese Hypothese von Bernal (Anm. 23) und nimmt sie als Ausgangspunkt seiner experimentellen Forschungen. (S. 39) 110 Gerdes (1990): S. 69 111 Gerdes (1990): S. 74, 67 112 Gerdes (1990): S. 76, 77 113 Bei Gerdes (1990) finden sich Abbildungen hierzu auf den Seiten 58 und 59. 114 Gerdes (1990): S. 61 115 Gerdes (1990): S. 55 116 Gerdes (1990): S. 49. Gerdes zitiert Hauser, der den rechten Winkel als ältesten geometrischen Begriff bezeichnet, da dieser sich aus der ‘aufrechten Haltung des auf dem Boden stehenden Menschen’ 83 z.B. beim Korb- und Mattenflechten, beim Floß- oder Bootsbau, bei Windschirm- oder Hüttenherstellung, ist, wie man zwei oder mehr parallele Stöcke, Äste oder Zweige mit Hilfe dünnerer Fäden oder Streifen fest zusammenbinden soll.“117 Die lotrechte Verbindung der Einzelteile habe sich als die dauerhafteste herausgestellt. Gerdes wählt hierfür eine andere textile Technik, eine einfache Form des Nähens. Die einfachste Weise, ein Rohr mit einer Nadel zu durchbohren, sei lotrecht, da hierbei der Widerstand der geringste sei. Ziehe man den Faden nun an, nehme er automatisch eine lotrechte Position ein.118 Neben der Weiterentwicklung des Begriffs des rechten Winkels wird hierdurch auch die Vorstellung der Grundform des Rechtecks gebildet. Gerdes schreibt, es habe schon im Paläolithikum Nadeln gegeben, die zur Herstellung von Matten geeignet wären.119 Die Materialität rechteckiger Matten, ihre Flexibilität, birgt die Möglichkeit weiterer Erkenntnisse: Das Falten einer rechteckigen Matte zeigt ihre zwei Symmetrieachsen. Versucht man aus einem flächigen Rechteck einen Raum zu erzeugen, erhält man eine Zylinderform.120 Dieser Zusammhang von Fläche und Raum ist demnach schon lange bekannt, seine Existenz und Nutzung erscheint deshalb selbstverständlich. Die textile Herkunft dieser Erkenntnis, die sich in einem Begriff wie der ‘Mantelabwicklung’121 zwar auffinden läßt, jedoch nicht als solche wahrgenommen wird, ist im Zusammenhang mit den Funktionen des textilen Musters besonders zu betonen. Die Untersuchungen von Gerdes, die nur in Auszügen dargestellt werden, zeugen von der postulierten Kraft des textilen Modells. Sie führen zu der Erkenntnis, daß der Mensch mittels seiner Arbeitstätigkeit die Fähigkeit, regelmäßige räumliche Formen zu erkennen, ausgebildet hat.122 Diese Regelmäßigkeit gründet sich auf symmetrische Eigenschaften und die Existenz wiederholbarer Muster. Gerdes benennt dies nicht explizit, aber die Tätigkeiten, die er heranzieht, sind mustergenerierende textile Techniken bzw. ist umgekehrt zu formulieren: Die Muster generieren die Textilien, und die geometrischen Formen und Eigenschaften zeugen von einem Ordnungsverständnis.123 Die Strukturelemente des Musters der Symmetrie, der Repetition, der Dimension und des Rhythmus’ erhalten in bezug auf die textile Technik des Flechtens konkrete Bedeutung. Gerdes leitet das Symmetrieverständnis als bewußten Vorgang vor allem von Gefäßformen ab, die Flechttechniken hätten zu einer Art Vorverständnis geführt.124 Eine textile Technik wie der Sprang (Kettenstoffverfahren) – der bei Gerdes keine Erwähnung findet – führt jedoch zu Symmetriebildungen, wie sie ergebe. Wie bereits erwähnt wurde, bestätigen neuere Forschungen diese Wahrnehmungspräferenz des Menschen. 117 Gerdes (1990): S. 45 118 Gerdes (1990): S. 48f 119 Gerdes (1990): S. 50 120 Gerdes (1990): S. 152 121 Der Begriff des Mantels bezeichnet ein Kleidungsstück, seine lateinische Herkunft ist allgemeiner gefaßt und bedeutet ‘Hülle, Decke’. (Pfeifer 1989, Duden 1963: s.v. ‘Mantel’) Der Mantel ist also immer als Textiles verstanden worden, die Geometrie übernimmt die Vorstellung einer umhüllenden Fläche, die abgewickelt wird. 122 Gerdes (1990): S. 61 123 Gerdes (1990): S. 61 124 Gerdes (1990): S. 131, 55 84 augenfälliger nicht sein könnten. Es ist also festzuhalten, daß der Umgang mit flexiblem Material in ein-, zwei- und dreidimensionaler Form zu einem grund- legenden Verständnis von Symmetrie führt. Die Wiederholung der einzelnen Arbeitsschritte, ob als Rapport erkannt oder nicht, führt zur Erstellung des ge- wünschten Objektes. Laut Gerdes fördert dieser repetitive Vorgang die Fähigkeit des Menschen zu vergleichen. Die Feststellung der Kongruenz, beispielsweise der hexagonalen Löcher eines geflochtenen Korbes, rege zu Vergleichen mit anderen Formen an und führe so zum Auffinden ähnlicher Formen in der Natur.125 Kettenstoffverfahren Das Kennzeichen der Kettenstoffverfahren ist die Verwendung einer fixierten Kette. Hierüber erfolgt die Zuordnung zu den ‘höheren stoffbildenden Techniken’.126 Die Fixierung der Kette beinhaltet eine Beschränkung der Bewegungsrichtungen und der Ausmaße des Werkstückes. Die Bindungsarten entsprechen denen der Geflechte, d.h. die Einträge in die Kette können durch Wickeln, Binden, Knoten und Verkreuzen gebunden werden. Eine Besonderheit bildet die Sprangtechnik, da hierbei nur eine aktive Kette zur Stoffbildung verwendet wird.127 Die beiden Enden dieser Kette werden fixiert. Für die Musterbildung werden die Fäden durch eine der oben genannten Bindungsarten gebunden. Hierbei entsteht spiegelverkehrt das gleiche Muster am gegen- überliegenden Ende der Arbeit. In der Mitte der Arbeit müssen die Bindungen fixiert werden. Hierdurch entsteht die für den Sprang charakteristische Mittellinie. Sie entspricht der Spiegelachse und verweist deutlich sichtbar auf die Symmetrie dieser Technik. Diese Technik, die seit etwa 1400 v. Chr. durch Funde nachweisbar ist, erbringt also eine Arbeitsersparnis sowie die praktisch nachvollzogene Erkenntnis der Achsensymmetrie. Als eine Sonderform des Eintragsflechtens benennt Seiler-Baldinger das Wirken, bei dem „die Einträge nicht über die ganze Stoffbreite geführt werden, sondern umkeh- ren.“128 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß die Textilindustrie den Begriff des Wirkens vollständig anders verwendet: Wirkwaren sind Maschenwaren, die auf einer Wirkmaschine hergestellt werden, die sich von einer Strickmaschine dadurch unterscheidet, daß alle Nadeln gleichzeitig und nicht nacheinander bewegt werden.129 Bildwirken Gemäß der Definition von Seiler-Baldinger gehört auch das Bildwirken zu den Kettenstofftechniken, auch wenn die Gobelins und Tapisserien meist aufgrund der verwendeten Bindung und des Webstuhls der Weberei zugeordnet werden.130 Charak- teristisch für die Bildwirkerei ist der Schußeintrag auf einer begrenzten Fläche der 125 Gerdes (1990): S. 61 126 Seiler-Baldinger (1991): S. 57 127 Collingwood (1974); Seiler-Baldinger (1991): S. 60–65 128 Collingwood (1974): S. 72 129 Hofer (1994): S. 218f 130 vgl. Seiler-Baldinger (1991): S. 72f und Tietzel (1988): S. 254. Rapp Buri/Stucky-Schürer (1990) schreiben: „Die Wirkerei ist wie die Weberei eine stoffbildende Technik, in der mit buntem Wollgarn figürliche Darstellungen und Muster in eine gespannte Kette eingetragen werden.“ (S. 28) 85 Gesamtfläche. Die entstehenden benachbarten Farbflächen können durch Ineinanderhängen des Eintrags miteinander verbunden werden oder durch einen Schlitz voneinander getrennt bleiben. Die verschiedenen Verfahren (Zwirnbinden, Kelimtechnik, Sumaktechnik) zur Stoffbildung unterscheiden sich vom Weben dadurch, daß für die Einführung des Eintrags kein Fach gebildet werden kann. Für die Bildwirkerei wird eine Ableitung der Leinwandbindung verwendet, die dem Schußrips der Weberei entspricht. Die gewählte Bindung konstituiert das Muster und die entstehende Fläche der Bild- wirkerei. Barber spricht in bezug auf die Bildwirkerei von ‘nonrepetitious patterns’.131 Dies trifft für das Motiv zu, das Muster ist jedoch repetitiv. An dieser Bemerkung Barbers wird deutlich, wie dominant das bildhafte Sehen ist: Das textile Muster wird von der Farbe überlagert, sie macht es ‘unsichtbar’. Das Muster ist jedoch elementar für die Bildwirkerei, es ist die Bedingung der Möglichkeit, auf dem Stoff zu ‘malen’. Der verwendete Schußrips ist eine Bindung, die den Kettfaden vollständig verdeckt, das heißt es entstehen homogene Farbflächen mit einheitlicher Ausrichtung.132 Es geht hierbei jedoch nicht darum, die Malerei perfekt zu imitieren, wie es die spätere Verwendung von ‘Cartons’ von großen Malern nahelegt zu interpretieren. Vielmehr suchte man nach technischen Möglichkeiten, flächige Bilder textil herzustellen. Gegenüber der Wandmalerei besitzt die Bildwirkerei viele Vorteile. Der Hauptvorteil besteht in der Mobilität und Flexibilität des gewirkten Bildes. Aby Warburg, dessen Interesse der Mobilität von Bildinhalten in Raum und Zeit gilt, bezeichnet die Teppiche als ‘bewegliche Bildervehikel’, die gleichsam als ‘Ahnen der Druckkunst’ begriffen werden könnten.133 Erst als die Leinwand als Malgrund der Tafelmalerei sich durchsetzt, wird die Bildwirkerei verdrängt. Die bisherige Teilung zwischen kleinformatigen Tafelbildern auf Holz und großformatigen als Gewirk wird zugunsten der Leinwand aufgegeben.134 Diese Veränderung steht in engem Zusammenhang mit den veränderten Lebens- bedingungen des Adels: Er gibt seinen ‘itinerant life style’135 nach und nach auf und bewohnt Häuser, die nicht mehr der Verbesserung der Akustik und der Wärme- isolierung durch Teppichhängungen bedurften. Auch die Kommunikationsmittel änderten sich: Beispielsweise im Repräsentationssystem des Sonnenkönigs spielte die Gobelinmanufaktur, die die ‘histoire du roi’ als Wandteppiche herstellte, innerhalb der gesamten Propagandamaschine mit Medaillen, Almanachen, Festarchitekturen, Theatern und Balletten eine untergeordnete Rolle.136 Inwieweit die Bildwirkerei dazu beigetragen hat, der Malerei entscheidende Impulse zu geben, kann an dieser Stelle nicht geprüft werden. Der Zusammenhang von 131 Barber (1994): S. 154 132 Rapp Buri/Stucky-Schürer (1990) schreiben: „Daraus wird deutlich, daß dem aktiven Schuß Zeich- nung und Kolorierung des Bildes, der passiven Kette gewebestützende Funktion zukommt.“ (S. 28) 133 Hofmann/Syamken/Warnke (1980): S. 79, Kap. 4 „Schlagbilder und Bilderfahrzeuge“, S. 75–83 134 Das großformatige Tafelbild auf Leinwand verdrängt die Tapisserie ab dem 15. Jahrhundert, und im 19. Jahrhundert setzt sich die Leinwand auch bei den kleinformatigen gegenüber dem Holz als Malgrund durch. Vgl. Brassat (1992) und Jahn (1989): s.v. ‘Tafelmalerei’ 135 Ginsburg (1991): S. 174 136 Burke (1995): S. 83, 31–35 86 Tafelmalerei auf Leinwand und der Bildwirkerei ist jedoch offensichtlich. Wegen der hohen Kosten der gewirkten Bilder wurden Surrogate geschaffen: Auf Tuch oder Leinwand wurden Bilder gemalt, die vortäuschten, Tapisserien zu sein.137 Vorstellbar sind auch technische Impulse aus der Wirkerei, die beispielsweise Formen der Schraffur geschaffen sowie sich andere optische Wirkungen für fließende Farbübergänge zunutze gemacht hat.138 Dieser kleine Exkurs zur Bildwirkerei diente vor allem dem Aufzeigen von Inter- pretationsmöglichkeiten jenseits der Ikonographie. Die Beschäftigung mit den spezifisch textilen Funktionen von Tapisserien und mit ihrer technischen Herstellung im Detail könnte neue Forschungsergebnisse erbringen. Gewebe Allen bisher beschriebenen textilen Techniken ist die Form der Repetition gemein- sam: eine Repetition der Einzelbewegung. Diese Einzelbewegung verschränkt die Fäden auf eine bestimmte Art: die Bindung, die das Muster vorgibt. Die Technik des Webens läßt eine Automatisierung zu, die die Form der Wiederholung, die Art der Bewegung verändert. Die Mechanisierbarkeit des Webens als Hauptgrund für die Dominanz gegenüber anderen textilen Techniken – bzw. Alleinherrschaft in wirtschaftlicher Hinsicht – zu nennen, erscheint plausibel. Es gibt jedoch auch strukturelle Eigenschaften, die die Vorherrschaft des Gewebten erklären.139 Das Verb ‘weben’ beruht auf einer indogermanischen Wurzel, die „weben, flechten und knüpfen, sich hin und her bewegen, wimmeln“ bedeutet.140 Das Charakteristische des Webens ist also die Bewegungsform. Es handelt sich um eine lineare Bewegung in der Fläche (im Gegensatz zur bereits erwähnten Spindel, die eine zirkuläre Raumbewegung vollzieht), eine Bewegung, die einen definierten Anfangs- und Endpunkt besitzt. Aus der strengen Linearität zweier Fadensysteme ergibt sich ein durch Orthogonalität bestimmtes Fadengebilde, eine Fläche. Brigitte Klesse schreibt, bei der Weberei habe man es mit der reinsten Form der Flächenkunst zu tun. Sie begründet dies mit der „selbständigen Existenzfähigkeit“ und der Simultaneität der Entstehung von Grund und Muster.141 Diese Gründe treffen für andere stoffbildende Techniken gleichermaßen zu, entscheidender scheint auch hier wieder die Herstellungs-, und damit verbunden, die Bewegungsform zu sein. Der Weber hat sich qua Technik von der räumlichen Erfahrung des Textilen entfernt. Das Weberschiffchen bewegt sich hin und her und nicht mehr erfahrbar über und unter den Kettfäden. Die Variationen der Weberei – ihre Muster – werden durch das Ausgangsmaterial, Fäden jeglicher Art, und durch die Wahl der Bindung hervorgerufen. Textilanalysen des Textilmuseums in Washington weisen einen Zusammenhang von 137 Brassat (1992): S. 37 138 Das Mischen der Farben auf der Palette wird durch das ‘Mischen im Auge’ ersetzt, indem die Schußfäden farbig wechseln. Die Techniken des degradé, der hachure und der Parallelschraffur werden bei Rapp Buri/Stucky-Schürer (1990) beschrieben. (S. 31) 139 Das französische Wort für Webstuhl ‘le métier’ gibt einen etymologischen Hinweis auf die zentrale Stellung der Weberei: Es bedeutet auch ‘Handwerk’. 140 Pfeifer (1989), Duden (1963): s.v. ‘weben’ 141 Klesse (1967): S. 22 87 Materialeigenschaften der Fasern und Fäden und der Entwicklung der einfachen Bindungsarten nach.142 Die Bindung der Fäden, von Kette und Schuß, erfolgt durch Verkreuzen. Dieses Verkreuzen gibt dem Gewebe Zusammenhalt und Struktur. Gewebe werden meist nach Art und Weise der Bindung eingeteilt. Grundsätzlich sind einflächige, doppel- und mehrflächige Bindungen zu unterscheiden. Zu den einflächigen Bindungen gehören die Tuch- oder Leinwandbindung, die Köperbindung und die Atlas- oder Satinbindung. Von diesen drei Grundbindungen können weitere Bindungen durch Ableitung oder Kombination entwickelt werden. Durch doppel- und mehrflächige Bindungen werden Doppelgewebe unterschiedlichster Art hergestellt, deren Kenn- zeichen mehrere Kett- und Schußfadensysteme sind. Bilden diese zusätzlichen Kett- oder Schußfäden Polschlingen (aufgeschnitten oder nicht aufgeschnitten), spricht man von Florgeweben. Diese Gewebe weisen meistens einen großen Unterschied zwischen Vorder- und Rückseite auf und können sich, wenn auch minimal, in den Raum ausdehnen. Aufgrund dessen werden sie im Kapitel zur textilen Drei- dimensionalität behandelt. Der Rapport eines Gewebes markiert den Punkt, an dem sich die Bindeweise in Kett- und Schußrichtung wiederholt. Ein diagonaler Versatz kann keinen Rapport bilden, die Möglichkeiten der Musterbildung gegenüber Maschenstoffen oder auch Drucken sind entsprechend eingeschränkt. Um ein Gewebemuster reproduzieren zu können, wird seine Bindungsform als Patrone festgehalten. Eine Patrone ist eine technische Zeichnung, die auf Kästchenpapier durch Ausfüllen oder Nicht-Ausfüllen der Kästchen die Kett- hebungen bzw. -senkungen angibt (Die Abbildung 7 zeigt eine Patrone, die in anderem Zusammenhang besprochen wird). Die schon erwähnte Nähe zum Koor- dinatensystem wird hier am deutlichsten. Wird für die Musterung jedoch mehr als ein Kettfaden- und ein Schußfadensystem benötigt, können diese nicht in die Patrone eingezeichnet werden. Hierfür wird entweder eine zweite Patrone oder ein Gewebeschnitt (in Kett- oder Schußrichtung) abgebildet, der den Verlauf der Fäden verdeutlicht. Die Patronenzeichnungen werden durch Bindungskurzzeichen, die durch eine DIN-Norm (61101) verbindlich festgesetzt sind, ergänzt. Mit Hilfe dieser numerischen Kurzzeichen wird eine eindeutige Verständlichkeit erzeugt, die die Grundlage für die Umsetzung in Computerprogramme ist.143 Gewebebindungen Die einfachste Bindung, die Leinwandbindung, bindet sowohl Schuß- als auch Kettfaden nach jeder Hebung und Senkung ein, d.h. es wird ein größtmöglicher Zusammenhalt durch eine maximale Anzahl an Bindungspunkten erzeugt. Diese Erfahrung maximaler Stabilität läßt sich leicht experimentell erarbeiten. Dasselbe Prinzip, respektive Muster, wird beim Mauern einer Wand angewendet, der Versatz der Fugen dient der gleichmäßigen Verteilung der Druckkräfte. Wie ich zeigen 142 Bellinger (1950): Der Seide wird die Dreherbindung, der Baumwolle die Leinwandbindung, der Wolle die Tapisserie und Leinen oder Seide die Ripsbindung als Ergebnis der Untersuchung zugeordnet. 143 Adebahr-Dörel/Völker (1989): S. 107 88 werde, bietet das erkennbare Muster und sein experimenteller Nachvollzug in diesem Zusammenhang eine Erklärung jenseits von Sempers Bekleidungsprinzip und anderen Analogieschlüssen. Semper schreibt, die Architektur habe als ‘Letztgeborene der Künste’ die ‘formellen Gesetzmäßigkeiten’ der ornamentalen Urkunst übernommen.144 „Wie das Flechtwerk das Ursprüngliche war, so behielt es auch später, als die leichten Matten- wände in feste Erdziegel-, Backstein- oder Steinquadermauern sich umgestalteten, der Wirklich- keit oder bloß der Idee nach, die ganze Wichtigkeit ihrer früheren Bedeutung, das eigentliche Wesen der Wand.“145 Um den textilen Ursprung der Bauteile zu begründen, zieht Semper die „Lautsprache der Urgeschichte der Künste zur Hülfe“, die in der Lage sei, die „Aechtheit der Auslegung“ zu bestätigen. „In allen germanischen Sprachen erinnert das Wort Wand, (mit Gewand von gleicher Wurzel und gleicher Grundbedeutung,) direkt an den alten Ursprung und den Typus des sichtbaren Raumabschlusses.“146 Abgesehen von der nationalen und eurozentristischen Sicht Sempers sollte ein Wortfeld etwas genauer betrachtet werden: Die Wörter ‘Wand’ und ‘Gewand’ verweisen weniger auf ein allgemeines Bekleidungsprinzip als auf eine technische Grund- und Be- wegungsform.147 Als verbindendes Moment ist die Technik und die Tätigkeits- erfahrung zu benennen. Eine bestimmte Art des Verbundes läßt sich für verschiedene Materialien feststellen. Mauerwerk entsteht zwar sehr viel später als Gewebe, daraus eine Evolutionsfolge abzuleiten, erscheint trotzdem fragwürdig. Das Prinzip, das sich an der Leinwandbindung zeigt, kann immer wieder erkannt werden (jedes Kind erkennt es beispielsweise mit Hilfe von Legosteinen sehr schnell, ohne jemals gewebt zu haben). Die Verbindung, die sich herstellen läßt, bezieht sich auf das Muster: Es wird als stabilitätskonstituierend erkannt und reproduziert, als Objekthaftes leitet es die Wahrnehmung und ermöglicht den Vergleich. Die Einfachheit (im Wortsinn: die Leinwandbindung benötigt nur ein Fach) der Bindung und ihr Name haben ihr zu mehr Aufmerksamkeit (auch dies ist relativ) verholfen als den anderen Gewebebindungen und ihren Ableitungen. Die beiden folgenden Zitate bilden eine Ausnahme im Umgang mit Gewebebindungen. „Der Länge nach werden mindestens vier sogenannte Kettfäden ausgebreitet. [...] Zu diesem elementaren Gespann gesellen sich mindestens vier weitere mobile, Schussfäden genannt, die nun abwechslungsweise über und unter die Konstante der Kettfäden gezogen werden. Summen und Singen werden erlaubt. Heben und Senken verhelfen in symmetrischer Sequenz den einzelnen Fäden zu einer relevanten oder redundanten Position. Wer so weit ist, hat das Syntagma eines Minimalmusters und dessen einmalig vollständige Wiederholung vor Augen. [...] Köperbindungen etwa nehmen sich mehrere Kett- und Schussfäden vor, bei denen sich der Ort der Verbindung in der Diagonale graduell verschiebt. Bei Atlasbindungen verhindern Fortschreiten und Steigung der Zahl der Fäden das Berühren der Bindungspunkte. Vorstellbar werden am Werk auch vertrackte Kompositbindungen, die einfache Einzelgewebe als Binnensysteme auffassen, die miteinander verschränkt werden. Die Endlichkeit des Zaubers und des Reichtums an Varianten werden einzig von der Wahrscheinlichkeit bestimmt – und von der Haltbarkeit.“148 144 Kroll (1987): S. 48 145 Semper (1851): S. 57 146 Semper (1977): S. 229 147 Das Verb ‘winden’ und seine Kausativform ‘wenden’ beruhen auf der indogermanischen Wurzel mit der Bedeutung des Drehens und Flechtens. Die Wörter Wand, Gewand und auch das Fach werden hiervon hergeleitet. Pfeifer (1989), Kluge (1995), Duden (1963): s.v. ‘winden, wenden’, ‘Fach’, ‘Gewand’, ‘Wand’. 148 Heiz (1993): S. 3 89 Das Besondere dieser Beschreibung ist, daß sie sich zwar mit den Bindungstechniken der Weberei beschäftigt, aber keine technische ist. Es geht vielmehr um Orte der Verbindung und Bewegungen. Beschrieben wird eine Interaktion zwischen Gewebebindung (Muster) und den Kett- und Schußfäden. Der Mensch als Produzent des Gewebes, der die Erkenntnisse der Symmetrie und Repetition anwendet, tritt hier nicht in Erscheinung. Das Tuch wird als Objekt, als ein Gegen-stehendes, dem Menschen Fremdes behandelt. Ganz anders Ellen Harlizius-Klück, die Freud als eine in ‘textilen Strukturen nicht unbewanderte Leserin’ liest. Sie beschreibt anhand eines Traumes die Enthüllungs- qualitäten einer ‘textilen Blickorganisation’. Es handelt sich hierbei nicht um irgendeinen Traum, denn der Träumende heißt Sigmund Freud. Er, sein Traum und seine Traumdeutung werden von der Autorin unter den Aspekten der ‘enthüllenden Texte’ und der ‘verhüllenden Textilien’ untersucht. Das folgende, lange Zitat ist exemplarisch zu verstehen. Der Gedanke der Wiederholung, des Rapports, der Bindung, der Ordnung kommt hier zum Tragen und wird an einem Beispiel, der Köperbindung, demonstriert, muß also nicht in der verkürzenden systematisierenden Reduktion verharren, sondern kann sich entfalten: „Der Traumrapport fällt verdächtig knapp aus.149 Verdächtig deshalb, weil die Ordentlichkeit ja ein Zeichen bewußter Bearbeitung ist, wie Freud mehrfach bemerkt. Ein besonderer Verdacht fällt auf die Kunstfertigkeit des Rapports. Nicht nur die Verdichtung des Ganzen des Traumes im ersten Satz ist bemerkenswert, auch das Überspringen der drei Stufen in einem Satz auf die vierte Stufe wird in vier Sätzen beschrieben, wobei der vierte über die drei vorangehenden Sätze zurückspringend sich auf den vorangegangenen Abschnitt bezieht. Das 3+1=4 Schema ist bei Freud schon an anderen Stellen bemerkt worden. [...] Die Kunstfertigkeit des Rapports, dessen Ordentlichkeit dem ansonsten eher krausen und mäandernden Stil der Traumdeutung eher fernliegt, bringt zusammen mit Toilette, Toile Tuch, Tritte, Stiefel, Schäfte und der 3+1- Arithmetik den in textilen Strukturen nicht unbewanderten Leser auf die Spur einer anderen ‘flotten’ Treppe. Stellt man sich nämlich vor, Freud würde hier die Tritte eines Vierschaft-Web- stuhls betätigen, so wäre er dabei eine Köperbindung zu weben, bei der der Schussfaden treppenförmig versetzt über die drei Kettfäden springt. [...] Der Bindungsrapport besteht hier aus 4x4 Fäden. Er ist als Z-förmiger Grat auf der Oberfläche des Köper- oder Twill-Gewebes sichtbar und zeigt uns jenes Treppenbild ohne Tiefe, in dem der Traum verfangen ist. [...] Jene antike Weberei weist strukturelle Ähnlichkeiten mit dem Traum auf. Ihre Kette, die praetexta, gibt dem Gewebe nicht nur die Maße vor und strukturiert die Musterungsmöglichkeiten, sondern sie ist bereits selbst ein Gewebe, meist purpurfarben. [...] Dieser Trennstab (der das Fach bildet, Anm. K.K.) hieß kairos: rechter Augenblick. Beim Weben des Twillstoffes benutzte man zusätzlich 3 Litzenstäbe, kanones, was eine regelmäßige Wiederholung bezeichnet. 3+1=4 Stäbe also und die geschickte Handhabung von ‘rechtem Augenblick’ und ‘regelmäßiger Wiederholung’ erzeugten die Gewebe der Prähistorie [...].“150 Die Autorin fügt ihrer Beschreibung der Köperbindung eine Patrone hinzu, die die spezifische Treppenform verdeutlicht. Verdeutlicht auch gegenüber dem Gewebe: Die Notation betont das Getreppte, das Gewebe die Diagonale als Linie. Dieser Eigenständigkeit der Notation wird noch nachzugehen sein. Harlizius-Klück nutzt ein Gewebemuster zur Durchdringung von Bewußtseins- und Zeitebenen. Dieser Deutung der Köperbindung möchte ich nicht inhaltlich nachgehen, sondern eine strukturelle Nutzung vorgeschlagen. Die textile Schulung 149 Freud beschreibt seinen Traum folgendermaßen: „Ich gehe in sehr unvollständiger Toilette aus einer Wohnung im Parterre über die Treppe in ein höheres Stockwerk. Dabei überspringe ich jedesmal drei Stufen, freue mich, das ich so flink Treppen steigen kann. Plötzlich sehe ich, dass ein Dienstmädchen die Treppen herab- und also mir entgegenkommt. Ich schäme mich, will eilen, und nun tritt jenes Gehemmtsein auf, ich klebe an den Stufen und komme nicht von der Stelle.“ Sigmund Freud, Die Traumdeutung, Frankfurt/Main 1991, zitiert nach Harlizius-Klück (2000): S. 4 150 Harlizius-Klück (2000): S. 14f 90 des Lesers eröffnet die Möglichkeit, die chaotische Form der Traumdeutung durch ein Muster zu ordnen. Der 3/1-Rhythmus erzeugt ein getrepptes Muster, das sich im Treppenlaufen, im Erzählrhythmus und in der Weberei findet. Das Wechselspiel von regelmäßiger Wiederholung und rechtem Augenblick bringt das Muster hervor, das durch ein Unvorhergesehenes, das Dienstmädchen, gestört oder zerstört wird. Die Störung oder Auflösung von Mustern, ihre optische Auswirkung, verweisen demnach auf eine Bedeutungsebene. Die beiden Zitate lassen den Eindruck eines Ungleichgewichtes entstehen, das sich eigentlich umgekehrt verhält: Die meisten Publikationen beschäftigen sich aus technischer, technologischer oder historischer Sicht mit Geweben. Manche, wie eingangs beschrieben, bedienen sich ihrer als Metaphern und vernachlässigen hierbei die technischen Gegebenheiten. Streifen und Karos Die Veränderung der Struktur und das Einfärben der Fäden erhöht die Anzahl der Musterbildungsmöglichkeiten. Effektzwirne wurden bereits erwähnt, die bei ihrer Verarbeitung entstehenden Stoffe sind meist nach ihnen benannt.151 Beim Buntweben wird das Muster durch den Einsatz verschiedenfarbiger Kett- und Schußfäden erzielt. Durch Zettelbrief152 und Schußfolge werden die muster- generierenden Farbwechsel bestimmt. Gemäß der Anordnung von Kette und Schuß entstehen Streifen- und Karomuster sowie sogenannte Kleinmuster. Sigrid Barten schreibt, das Weben mit farblich unterschiedlichen Fäden sei die früheste Art der Gewebemusterung gewesen.153 Semper führt generell die Entstehung von Mustern auf diesen Farbwechsel zurück.154 Eine Aussage, die sich schwerlich überprüfen läßt, der man jedoch Musterdefinitionen, die Gewebebindung und -struktur miteinbeziehen, gegenüberstellen kann. Wichtiger als die Datierung der Entstehung scheint mir die Betonung des elementaren Charakters dieser Musterungsform, die das Spezifische des Gewebes – seine Orthogonalität – besonders klar hervortreten läßt. Der Streifen in Schußrichtung ist der technisch am leichtesten zu erzielende, der Streifen in Kettrichtung bedarf der Vorüberlegung. Das Karierte kombiniert die beiden Varianten und übernimmt ihre Freiheitsgrade in der Gestaltung. „...Nach mittelalterlichem Empfinden ist zum Beispiel das Gewürfelte nur eine Steigerung des Gestreiften“155 – eine Aussage, die sich webtechnisch herleiten läßt. Mit dem Einsatz unterschiedlicher Farben (oder Materialien und Strukturen) und durch die Variation der Streifenbreite, die optisch einen Vorder- und Hintergrund erzeugen (bzw. auch optische Täuschungen), lassen sich unendlich viele verschiedene Muster produzieren, die sich einer systematisierten Beschreibung entziehen. Eine Ausnahme hierzu bilden die schottischen Tartans: Da sie einen Bedeutungsgehalt 151 Zu den Strukturveränderungen gehören Flammen, Noppen, Knoten und Schlingen, die Bouclé, Noppé, Frotté u.a. Stoffe bilden. Vgl. Hofer (1994): S. 335–338 152 Die Kette eines Gewebes wird auch als Zettel bezeichnet, daher die Ableitung Zettelbrief, sowie das Verb ‘anzetteln’, das im eigentlichen Sinne ‘ein Gewebe durch Aufziehen der Kettfäden beginnen’ bedeutet. Vgl. Kluge (1995), Duden (1963): s.v. ‘Zettel’ 153 Barten (1997): S. 9 154 Semper (1977): S. 228 155 Pastoureau (1995): S. 28 91 haben – die Clanzuordnung –, muß dieser zu entziffern, Teil eines Codesystems sein.156 Die von Barten vorgeschlagene Typologie bezieht sich auf die Anordnung der Streifen (‘Streifensysteme’) auf einer definierten Gewebefläche, dient also vor allem der Ikonographie.157 Das Charakteristische der Streifen ist jedoch ihre Ausrichtung – quer oder längs – sowie ihr Verhältnis zum Grund. Diese Ausrichtung, identisch mit dem Grundprinzip des Webens, dem Verkreuzen von Kette und Schuß, entspricht der elementaren Wahrnehmung des Menschen, die sich u.a. an unserem Körper orientiert. Karierte und gestreifte Stoffe akzentuieren, möglicherweise erkenntnisbildend, die Orthogonalität, die unser Bezugssystem bestimmt und sich graphisch im Koordina- tensystem am deutlichsten zeigt. Sie wirken als Attraktor der Wahrnehmung. Die Funktionalisierung dieser Wirkung wird im Kapitel ‘Textile Vierdimensionalität’ beschrieben. Kleinmuster Will man sogenannte Kleinmuster (beispielsweise Hahnentritt, Pepita, Fil à Fil) herstellen, wechseln die Kett- und Schußfäden die Farbe gemäß Zettelbrief und Schußfolge. Die Abbildung 7 zeigt die Konstruktion eines zweifarbigen Hahnen- trittmusters, abgeleitet von der Leinwandbindung. Charakteristisch für Kleinmuster ist ihre Eigenschaft, die Stofffläche vollständig zu mustern. Hierin gleichen sie dem, was man als regelmäßige Parkettierung bezeichnet.158 Im Gegensatz zu einer Fläche, die beispielsweise mit Fliesen ausgefüllt werden soll, muß bei einem gewebten Kleinmuster zusätzlich auf die Gewebebindung Rücksicht genommen werden. Hieraus ergeben sich Einschränkungen gegenüber vielen anderen Materialien, die nicht an eine Struktur gebunden sind. Diese konstruktiven Beschränkungen können jedoch auch stimulierend wirken. Die Betrachtung verschiedener Parkettierungsmöglichkeiten, die sich durch Farb- und Texturvariationen ins Unendliche steigern lassen, läßt Verbindungen zu Gewebemustern erkennen.159 Vergleichbare Muster werden durch Ableitungen der Leinwand- und Köperbindung erzielt. Die Kunst des Parkettierens und Musterns sei eine sehr alte und weit verbreitete, schreiben Grünbaum und Shepard in ihrer Einführung, ihre Wissenschaft jedoch eine verhältnismäßig junge.160 Die mathematische Kristallographie beschäftigt sich mit den Problemen sogenannter Parkettierung, mit ihren mathematischen Eigenschaften. Die Klassifikation der Parkette geschieht gemäß ihrer Symmetrien.161 Begreift man 156 Die Verbindung der Grundfarben erfolgt durch Hinzufügen einer weiteren Farbe. Hieraus ergibt sich eine mathematische Formel zur Berechnung der verwendeten Farben (x+1) · (x:2), wobei x die Anzahl der Grundfarben angibt. Vgl. Barten (1997): S. 10 157 Barten (1997): S. 12 158 Heesch (1968) definiert folgendermaßen: „Eine Zerlegung (Gleichwort: Parkett) ist eine einfache, lückenlose Überdeckung der euklidischen Ebene mittels lauter gleich- und möglicherweise auch gegensinnig kongruenter Exemplare eines zusammenhängenden, meist als beschränkt angenommenen Bereichs.“ (S. 3) 159 Grünbaum/Shepard (1989): S. 8f. Hier werden beispielsweise einfache Parkettierungen mit Backsteinen gezeigt. 160 Grünbaum/Shepard (1989): S. 11 161 Bongartz/Borho u.a. (1989): S. 15 92 das Produkt der Weberei gleichermaßen als Fläche, kann es mit den gleichen Mitteln klassifiziert werden. Die Notationen der Weberei legen einen solchen Umgang nahe. Die Aufgabe, die sich die Parkettierung stellt, wurde demzufolge in der Weberei auf besondere Weise gelöst.162 Neben den Kleinmustern gibt es noch zahlreiche andere Formen, ein Gewebe zu mustern. Die bisher aufgeführten Möglichkeiten betrafen jeweils die gesamte Stoff- fläche, die von einem Muster mit kleinem Rapport bedeckt wurde. Man kann jedoch auch größere Motive weben, so daß die Muster auf einem Grund erscheinen. Bei der Damastweberei wird durch den Wechsel von Kett- und Schußbindung das Muster erzeugt.163 Als Lampas werden alle Gewebe bezeichnet, die zwei Kett- und zwei Schußfädensysteme haben, davon einen Grund- und einen Musterschuß.164 Um ein Motiv auch farblich oder strukturell abzusetzen, also begrenzte (Farb-)Flächen zu erzeugen, werden meist zusätzliche Schußfäden verwendet. Die beiden Hauptformen dieser Art der Musterung sind Lancé und Broché. Beim Lancieren bilden zusätzliche Musterschüsse, die von Webkante zu Webkante verlaufen, das Muster. Beim Brochieren ist der Eintrag des Schusses – mit Hilfe eines Brochierschützen – auf die Motivform begrenzt.165 Binarität der Weberei Für die meisten komplizierten Musterungen waren Webstühle mit einer ent- sprechenden technischen Ausrüstung notwendig. Schaftwebstühle können nur eine begrenzte Anzahl von Fächern bilden und nur Gruppen von Kettfäden bewegen. Ein Musterharnisch ermöglicht, daß einzelne Kettfäden angehoben werden und somit eine maximale Mustererzeugung gewährleistet ist. Das Maximum entspricht in diesem Fall der Auflösung des Musters mit seiner Eigenschaft der Wiederholbarkeit: Rapportlose Jacquardgewebe setzen der Dessinierung keine Grenzen.166 An Zugwebstühlen oder Zampelstühlen wurden die Harnischschnüre mustergemäß von sogenannten Ziehjungen gezogen.167 Der Jacquardwebstuhl, von Joseph-Maria Jacquard um 1805 erfunden, hat diesen Vorgang mechanisiert. Über Lochkarten werden die Platinen, die den Kettfaden heben, gesteuert.168 Die extreme Beschränkung, die der Weberei auferlegt ist, nämlich einen Kettfaden lediglich zu heben oder ruhen zu lassen, hat über Jacquard und Babbage zur Entwicklung des Urahns heutiger Computer geführt. Das Wesen der Weberei trägt die Binarität digitaler Medien in sich. Jacquard, aber auch sein Landsmann Falcon, übersetzten diese binäre Logik von Heben/Nicht-Heben in Loch/Nicht-Loch, was bekanntlich später in 1 und 0 gewandelt wurde. Charles Babbage (1791–1871) übernahm 162 An dieser Stelle kann lediglich auf die Verbindung kristallographischer Klassifikationen und Gewebebindungen und die Möglichkeiten, gegenseitiger Nutzung hingewiesen werden. 163 Tietzel (1988): S. 252 164 Tietzel (1988): S. 27. „Seit Aufkommen der Lampasgewebe in der Zeit um 1000 sind nahezu alle Seidengewebe bis hin zu denen, die im 19. Jahrhundert auf Jacquard-Webstühlen hergestellt wurden, Sonderformen dieses Gewebetyps.“ 165 Markowsky (1976): S. 107f 166 Diese Technik wird verwendet, um eine freie Musterung ausführen zu können, d.h. großflächige Muster herzustellen oder auch Gemälde als textile Wandbehänge zu reproduzieren. 167 Tietzel (1988): S. 18–21 168 Hofer (1994): S. 127f 93 Jacquards Lochkartensystem für seine Differenzmaschine und die nie gebaute Analytische Maschine, über die Lady Ada Lovelace sagte, sie webe algebraische Muster wie der Jacquard-Webstuhl Blumen und Blätter.169 Entscheidend für spätere Entwicklungen waren die Trennungen, die er vornahm: die Fabrikation materieller Güter von der Datenverarbeitung170 und innerhalb dieser Maschinen, den Speicher, die Steuerung, die Anlage und das Informationssystem.171 Auch Leroi-Gourhan bedient sich des Beispiels der Weberei, um den Vorgang des Exteriorisierens darzustellen: „Überzeugend ist auch das Beispiel des Webens; bei den alten und am weitesten entwickelten Stoffen wie denen Perus oder den Brokatstoffen des Orients nimmt die Hand die Kettfäden einzeln auf, wenn sie den Dekor herstellt. Aber schon recht bald, vielleicht sogar bereits im Neolithikum, werden die Handgriffe bei der wiederholten Aufnahme eines Fadens auf zwei oder drei beschränkt, wodurch sich eine Befreiung der Finger ergibt. Aber erst im 19. Jahrhundert erreicht der mechanische Webstuhl durch die Einführung eines in Lochkarten niedergelegten Programmes das Niveau, das die bloße Hand schon sehr früh verwirklicht hatte. In beiden Fällen ist der Weg der gleiche: Auf der ersten Stufe ist die bloße Hand in der Lage, Tätigkeiten auszuführen, die in Kraft und Geschwindigkeit beschränkt, aber unendlich vielfältig sind; auf der zweiten Stufe wird eine einzelne Wirkung der Hand isoliert und auf die Maschine übertragen, dies gilt für die Winde ebenso wie für den Webstuhl; auf der dritten Stufe schließlich restituiert die Schaffung eines künstlichen rudimentären Nervensystems die Programmierung der Bewegungen.“172 Leroi-Gourhan spricht vom Dekor, der mittels der Einzelbewegungen hergestellt würde. Viel entscheidender ist jedoch die elementare Erzeugung der Gewebefläche, die ein mustermäßiges Heben und Senken der Kettfäden verlangt. Die Mechanisie- rung dieser Bewegungen leitet sich von der Erkenntnis ihrer Wiederholungsvorgänge und somit ihrer Muster ab. Es ist festzuhalten, daß es die Textilherstellung, und im besonderen die Muster- erzeugung, ist, die eine Erfindung inspiriert hat, die unser heutiges Leben bestimmt. Historische Betrachtungen zur Entwicklung des Computers nennen meist Babbage und eventuell auch den Namen Jacquard, im Vordergrund stehen hierbei jedoch die Errungenschaften der Mechanisierung, das Objekt und Produkt dieser Mechanisierung, die diese gefordert hatten, gerät in Vergessenheit. Die Dominanz des Gewebes Die Dominanz gewebter Stoffe gegenüber anderen textilen Techniken läßt sich aus verschiedenen Blickwinkeln konstatieren, ohne daß sie eine Thematisierung erfährt. Die extreme Verbreitung gewebter Stoffe und ihrer sozialen Bedeutung sind histo- risch nachzuvollziehende Auswirkungen, aber nicht Erklärungen für die Verdrängung anderer Techniken. Die Weberei bietet äußerst vielfältige Variationsmöglichkeiten, hat aber definiti- onsgemäß sehr enge Vorschriften: die Orthogonalität, die Bindungspunkte, die festgelegte Bewegungsrichtung. Es ist denkbar, daß es gerade die Beschränkungen sind, die den menschlichen Geist herausgefordert haben. 169 Hofstadter (1985): S. 28 170 Helms (1997): S. 40 171 Hyman (1987): S. 254f 172 Leroi-Gourhan (1988): S. 303; Siehe auch: S. 313, 330 94 Die bestechende Einfachheit der Technik hat mit Sicherheit zu seiner Verbreitung, bzw. ‘Erfindung’ an verschiedenen Orten geführt und somit die Entwicklungs- möglichkeiten potenziert. Die Eigenschaften eines Gewebes, relative Stabilität eines trotzdem weichen, flexiblen Materials, lassen das Gewebe nicht zuletzt gegenüber Geflechten und Maschenstoffen, die elastisch, dehnbar und häufig durchlässiger sind, als brauchbarer erscheinen. Das Gewebe, das unserem Denken und unserer Wahrnehmung anscheinend so sehr entspricht, verdrängt fast alle anderen textilen Techniken.173 Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewinnen Maschenstoffe an Bedeutung. Als Gründe hierfür werden sich verändernde Lebensgewohnheiten genannt: verstärkte Freizeit- Aktivität, die Bewegungsfreiheit fordert, und erhöhte Mobilität, die pflegeleichter Reisekleidung bedarf. Die hierfür gewünschte Elastizität verursacht in der Produktion jedoch Probleme und erfordert ‘größere Toleranzen’ im Vergleich zu Webwaren. Die höheren Produktionsgeschwindigkeiten bei Maschenstoffen sind ein weiterer Grund für ihre Zuwachsraten.174 Als entscheidender Vorzug der Webwaren wird ihre Musterfähigkeit genannt. Aus technischer Sicht mag dieser Einwand zur Zeit zutreffen – die Industrie beginnt Anlagen zu entwickeln, muß jedoch jahrhundertelange Erfahrung einholen –, aus praktisch vorstellbarer Sicht nicht. Die Betrachtungen der Gewebemuster zeigen, wie stark die Musterbildung der Orthogonalität verhaftet ist oder – positiv ausgedrückt – wie nachhaltig diese Grundverfaßtheit den Entwurf zu inspirieren vermag. Will man nun für Maschenstoffe eine eigene Textil- und Mustersprachlichkeit finden, sollte man gleichermaßen von der Grundverfaßtheit der Bindung ausgehen und nicht versuchen, lediglich einen Transfer zu leisten.175 Andere Gesellschaften, der Vergangenheit oder geographisch fern liegenden Orten angehörende, können mit ihrem Wissen und ihren Artefakten als Vorbild dienen. Das Verstricken, Einhängen, Verknoten und Verknüpfen scheint in gewisser Weise Programm zu sein: Es ist weniger greifbar, weniger reproduzierbar und somit in den Industriegesellschaften auch weniger verbreitet. Seiler-Baldinger schreibt, daß die Maschenstoffe in Mittel- und Südamerika vor allem für Transport, Lagerung, Jagd und Fischfang, aber auch für Bekleidung, Schmuck, Schlaf- und Sitzgelegenheiten Verwendung finden.176 Die meisten dieser Produkte wurden in den Industrienationen durch andere Materialien und Herstellungstechniken ersetzt bzw. ihr Bedarf aufgelöst. 173 Dies gilt nicht nur für den Zeitraum der industriellen Entwicklung. Wilckens (1991) beschreibt die Entwicklung der textilen Künste von der Spätantike bis um 1500 auf rund 350 Seiten. Den ‘sonstigen textilen Techniken’, und hiermit ist das ‘Verschlingen, Knoten, Flechten, Sprang und Stricken’ in Absetzung zum Weben gemeint, sind hiervon sieben gewidmet. Die Stickerei als flächenverzierende Technik ist an eine gewebte Fläche gebunden und in ihrer Musterung abhängig. 174 Hofer (1994): S. 212 175 Hofer (1994) beschreibt Neuentwicklungen, die die Jacquardtechnik übertragbar machen. (S. 214) 176 Seiler-Baldinger (1971): S. 192 95 Nicht zuletzt ist es wohl die strukturelle Binarität des Gewebes, die es in das logische Weltbild so ‘nahtlos’ einfügt. Auch auf der sprachlichen Ebene dominiert das Gewebe. Seine Metaphorizität wurde schon des öfteren erwähnt und Beispiele konkreter semantischer Zuweisung zitiert. Bevor im nächsten Abschnitt eine grundlegend andere Form der Flächenerzeugung beschrieben wird, sollen die Gemeinsamkeiten der bisher dargestellten zusammen- gefaßt werden. Allen bisher beschriebenen flächenerzeugenden Techniken ist die Verwendung von Fäden177 gemein. Durch eine definierte Art der Ver-Bindung werden die ein- dimensionalen Fäden zu einer zweidimensionalen Fläche zusammengefügt. Die verschiedenen Bindungsarten lassen sich auf ein Grundprinzip reduzieren: Das Verkreuzen der Fäden. Der Winkel, in dem die Fäden verkreuzt werden, ist ent- scheidend für das entstehende Muster.178 Dieses Verkreuzen kann durch eine antago- nistische Bewegung hervorgerufen werden: Je nach Technik bzw. Be- trachterstandpunkt ist es ein Auf und Ab (Handweben ohne Fachbildung), ein Vor und Zurück (Flechten) oder ein Über und Unter. Eine gleichförmige Bewegung erzeugt keine Verbindung, eine komplexe Bewegung ist nur schwer zu formalisieren und zu notieren. Lineare Bewegungsformen, wie beispielsweise das Weben, lassen sich mechanisieren, zirkuläre und spiralförmige hingegen wesentlich schwieriger. Das heißt, daß neben dem Grundprinzip des Verkreuzens die Bewegung und die Bewegungsrichtung entscheidend sind. Das Muster ist nicht technikabhängig,179 es konstituiert die Fläche, seine Wahl wird durch ästhetische und funktionale Gesichtspunkte geleitet. Darüber hinaus kon- stituiert das Muster auch den Raum. Es produziert eine linke und eine rechte Warenseite/Flächenseite (die sich nicht zwangsläufig im Aussehen unterscheiden muß), die bei der Weiterverarbeitung das Innen und Außen determiniert, also ent- scheidend zur Raumerzeugung und zum Raumverständnis beiträgt. Bemerkenswert ist hierbei die Verwendung der Begriffe ‘links und rechts’ (Abseite und Oberfläche), die eine räumliche Anordnung zur Folge haben, aber in der Wortwahl eine Wertung vornehmen.180 Besitzt das Muster technische Symmetrie, erzeugt es zwei gleiche Seiten bzw. wie im Falle des Sprangs eine achsensymmetrische Fläche. Wie aufschlußreich die Betrachtung der Rückseite unter historischen und technischen Gesichtspunkten sein kann, beschreibt Francis Muel. Die ‘Entdeckung der Rückseiten’ des Wandteppichs der Apokalypse von Angers enthüllte seine ur- sprünglichen Farben und seine technische Perfektion in bezug auf eine sehr saubere Verarbeitung und ‘sprunglose’ Farbflächenzusammenschlüsse.181 177 Gelegentlich werden auch andere Materialien verwendet, beispielsweise Stoffstreifen, die aber durch ihre lineare, eindimensionale Zurichtung als ‘Fäden’ definiert werden. 178 vgl. beispielsweise: Seiler-Baldinger (1991): S. 15, 27 und Hofer (1994): S. 183 179 Deshalb ist es häufig schwierig bzw. unmöglich, die Herstellungstechnik eines Stofffragmentes zu bestimmen. Lediglich die Stoffkanten können einen Hinweis auf die Technik geben. 180 Die rechte Seite im Sinne der richtigen Seite und die linke als die linkische, ungeschickte, schwache. Kluge (1995), Duden (1963): s.v. ‘recht’, ‘link’ 181 Muel (1996): S. 3, 10 96 Textilverbundstoffe Die im folgenden beschriebenen Textilverbundstoffe unterscheiden sich grundlegend von allen bisher erwähnten textilen Flächen. Die Differenz besteht in der Art der Verbindung. Die Bindungen der beschriebenen flächenerzeugenden textilen Muster läßt sich auf das Verkreuzen von Fäden reduzieren. Die nun zu beschreibenden textilen Flächen bilden keine Muster im definierten Sinne. Sie wurden dennoch in die Darstellung aufgenommen, da sie als textile Fläche in der Lage sind, Muster auf weiteren Ebenen zu generieren, also als Ausgangsmaterial für dekorative, konstruktive und kompositive Muster dienen. Der bezeichnende Name Non-woven-fabrics für einige der Textilverbundstoffe verweist erneut auf die Vorherrschaft des Gewebes, auf die Verbundenheit des Textilen mit dem Gewebten. Die größtenteils neu entwickelten Techniken zur Herstellung von Textilverbundstoffen sollen kurz dargestellt und auf ihre Möglichkeiten und Konkurrenzfähigkeit überprüft werden. Ein traditionelles Verfahren zur Herstellung eines Faserverbundstoffes ist das Filzen. Anhand dieser Technik wird der Zusammenhang zwischen textiler Technik und Schrift aufgegriffen. Man unterscheidet heute unter dem Sammelbegriff ‘Textilverbundstoff’ zwischen Faser- und Fadenverbundstoffen (Non-woven fabrics), Multitextilien (Bondings) und Laminaten (Beschichtungen). Der Verbund der Fasern, Fäden oder textilen Flächen erfolgt entweder mechanisch oder adhäsiv. Kennzeichnend für diese textilen Flächen ist der ungeordnete Zustand der Fasern und Fäden. Die Bewegungsform zur mechanischen Verfestigung kann als chaotisch bezeichnet werden. Unter Faserverbundstoffen „[...] versteht man textile Flächengebilde, bei denen Fasern mechanisch durch Nadeln (Nadelvlies, Nadelfilz), durch Einwirkung von Reibung, Wärme, Feuchtigkeit und Druck (Wollfilz) oder adhäsiv durch Verkleben mittels eines Bindemittels, durch Anlösen oder thermisch durch Verschweißen (Vliesstoffe) miteinander dauerhaft verbunden werden.“182 Fasern jeglicher Art (in Abhängigkeit des gewünschten Endproduktes) werden ohne vorherige Paralle- lisierung/Linearisierung (Spinnverfahren) zu einer Fläche texturiert. Filzen Der Filz ist eine besondere Form des Textilverbundstoffes, da sich die Wollfasern beim Filzen – aufgrund ihrer physiologischen Eigenschaften – ohne zusätzliche Bindemittel zu einem festen Gebilde verfestigen lassen. Die Verdichtung zu einer Fläche wird durch Reibung, Druck, Feuchtigkeit und Wärme erzielt, bedarf also keiner komplizierten Vorrichtungen.183 Hierin liegt die lange Tradition des Filzens sowie die Nutzung bei nomadischen Völkern184 begründet. In Westeuropa spielen das 182 Hofer (1994): S. 385; Vgl. Braddock/O’Mahony (1998): S. 48. Die Autorinnen differenzieren neben den adhäsiven und chemischen Bondings des weiteren zwischen kohäsiven und thermischen. 183 Bellinger (1950): unpag. „Felt is a fabric built up by the interlocking of fibers by a suitable combination of mechanical work, chemical action, moisture and heat, without spinning, weaving or knitting.“ 184 Die meisten nomadischen Völker leben in Zelten, einer mobilen Wohnform, meist aus textilem Material. Im folgenden wird in erster Linie auf die Nomaden Zentralasiens eingegangen, die in Jurten 97 Filzen und seine Produkte eine untergeordnete Rolle,185 meist wird es lediglich im Zusammenhang mit der Hutproduktion erwähnt und in den ‘Geschichten textiler Techniken’ gänzlich vernachlässigt.186 Der Mangel an textilen Originalfunden oder an technischem Gerät (wie die Spindeln als Hinweis auf das Spinnen) macht eine Datierung des Filzens als technische Errungenschaft und seiner Produkte sehr schwierig und deshalb die Aussage, Filz sei die früheste textile Ausdrucksform, fragwürdig.187 Die Ausgrabungen einer Siedlung aus der Zeit 6500/6300 v. Chr. machten den Gebrauch von Filz wahrscheinlich.188 Die ältesten schriftlichen Hinweise auf gefilzte Textilien in China gehen zurück auf das Jahr um 2300 v. Chr. 189 Die Chinesen haben die Kunst des Filzens und die, die sie beherrschten, die Nomaden, bewundert und ihr geographisches Gebiet als ‘land of felt’ bezeichnet.190 Der Vorgang des Filzens unterscheidet sich von dem des Webens in seiner Ge- bundenheit an Raum und Zeit grundlegend. Heidi Helmhold führt diese Zusammenhänge aus und verbindet sie mit den Lebens- respektive Wohnformen: Das Weben geschieht in einem auf Seßhaftigkeit ausgerichteten Lebenszusammenhang, während das Filzen einer „diskontinuierlichen Lebensform des Nomadismus“ angehört.191 Die technischen Bedingungen des Filzens und des Webens lassen sich auch auf ihre Bewegungsformen beziehen. Die Bewegung des Nomaden und des Filzenden ist die der Wiederkehr, des Nicht-Vorhersagbaren (Unbestimmtheit des Wetters), Nicht- Planbaren. Das Weben erfordert minuziöse Planung und das Verharren an einem Ort.192 An diesem Ort, am Webstuhl, oder auf dem Acker bewegt man sich Hin und Her. Der seßhafte Mensch webt und schreibt in einer linearisierten, geometrisierten Form, er ist in ein Koordinatensystem eingebunden. Die Bewegung des Weberschiffchens entspricht der eines pflügenden Ochsen. Die Schriften, die ihre Schreibrichtung mit jeder Zeile wechseln, werden – nach den Ochsen – Boustrophedonschriften genannt.193 Und der Ochse und das Haus (Inbegriff des Seßhaften) gaben dieser Schrift den Namen: alpha-beta. Der Nomade schreibt nicht, kennt keine linearisierte Bewegungsform, hat keine „Repräsentationstechniken der Permanenz ausgebildet“.194 Die Behausungen der Nomaden sind nicht aus Stein, und sie hatten „kein Bedürfnis, eine eigene Schrift zu entwickeln...“, ihr leben. Beduinen bewohnen sogenannte ‘schwarze Zelte’ aus Gewebe, nordamerikanische Indianer Tipis aus Tierhäuten. 185 Hofer (1994) schreibt, daß Bekleidungsfilz in Deutschland trotz günstigen Preises, hervorragender Färbbarkeit und leichter Verarbeitbarkeit nur in geringem Umfang verwendet wird. (S. 391) 186 vgl. Ginsburg (1991) und Wilkens (1991) 187 Burkett (1979): S. 7. „Although the origin of felt is unknown, in all probability it is the earliest form of textile, and, like most, has a low survivial rate in archaeological conditions.“ 188 Burkett (1979): S. 8 189 Burkett (1979): S. 18 190 Burkett (1979): S. 21 191 Helmhold (1990): S. 189f 192 Die Existenz der gewebten schwarzen Zelte der Beduinen steht hierzu nicht im Widerspruch, da sie als Halbnomaden eine Tendenz zur Seßhaftigkeit aufweisen. Klöne (1990): S. 196. Die Tierhäute der Tipis weisen eine ähnlich glatte, unstrukturierte Oberfläche auf, wie eine gefilzte Fläche. 193 Wolf Peter Klein: „Marsch der Buchstaben“, in: FAZ 9. April 1997 194 Helmhold (2000): S. 194 98 Abstraktionsvermögen, daß sich in der ‘Ornamentierung’, den Mustern, zeige, erreiche das der Schriftentwicklung.195 Filz bildet kein geordnetes, kein flächenkonstituierendes Muster und entzieht sich hierdurch einer strukturellen Beschreibbarkeit, der Notation. Gefilzte Flächen werden jedoch, wie andere textile Flächen auch, mit Mustern versehen. Die Musterung kann unmittelbar in den Vorgang des Filzens – vor dem Walken – einfließen, indem dunklere, gefärbte oder strukturierte Wolle eingelegt wird.196 Durch die anschließende Weiterbehandlung des Vlieses erfahren die Einlagen Verschiebungen. Es handelt sich also um eine spontane und wenig präzise Form der Musterungstechnik. Inkrustations- oder Mosaiktechniken hingegen bedürfen genauerer Planung und führen zu einem exakteren Ergebnis. Aus zwei verschiedenfarbigen Filzflächen werden Muster ausgeschnitten, anschließend ausgetauscht und mit einfachen Stichen befestigt.197 Ein Positiv-Negativ-Effekt, wie er bei manchen Webtechniken auf Vorder- und Rückseite entsteht, wird hier durch den Austausch produziert. Es entstehen zwei Filzdecken, die jeweils zwei gleiche Seiten aufweisen. Im räumlichen Nebeneinander werden sie als Gegenstücke erkennbar. Die qualitative Gleichheit des Positivs und Negativs wird durch die Auswahl komplementärer Farben gesteigert, so daß keine Differenz von Vorder- und Hintergrund entsteht.198 Die durch die Inkrustationstechnik entstandenen Muster werden meist durch Quilttechniken und das Anbringen von Kordeln im ästhetischen wie räumlichen Sinne erhöht. Eine Voraussetzung für diese Art der Musterung ist die Schnittkantensauberkeit des Filzes, die gleichermaßen für das ‘Pinking’ entscheidend ist.199 Stickereien und Applikationen sind zwei weitere Techniken, Filz zu mustern. Das Filzen ist eine sehr ökonomische Flächenerzeugung. Da es nicht an die vor- gegebene rechteckige Form des Webstuhls gebunden ist, kann ein Teppich bei- spielsweise eine ovale Form unmittelbar, ohne Verschnitt, erhalten oder auch ein Kleidungsstück zwei- oder dreidimensional in Form gefilzt werden.200 Auch die Inkrustationstechnik ist eine sehr sparsame, da sie, ohne einen Rest zu produzieren, zwei gemusterte Teppiche erzeugt. Die Anthropologin Stephanie Bunn untersucht die Filzteppiche der Kirgisen. Sie schreibt, der ‘shyrdak’ strahle eine organische Einheit aus, hervorgerufen durch die Verbindung von Herstellung, Ausführung und Muster.201 Eine Einheit, die kaum eine andere Technik aufweisen kann, da die meisten von ihnen in viele Arbeitsschritte auf viele Menschen und Orte verteilt sind. Aus diesem Verständnis der Einheit heraus hat Bunn die Interpretation der Muster geführt. Sie befragt hierfür die Untersuchungen verschiedener Interpreten („western experts“, „Soviet and Kyrgyz scholars“ und 195 Deleuze/Guattari (1992): S. 554 196 Farkas (1992): S. 45 197 Farkas (1992): S. 45 198 Bunn (1997): S. 80 199 Bei Burkett (1979) finden sich Abbildungen von Filzmänteln mit Stickereien und eingeschnittenen Mustern (Pinking). (S. 32) 200 Burkett (1979) beschreibt verschiedene Methoden der Filzmantelherstellung. Abbildungen zeigen, daß Ärmel und Kapuze der Mantelgrundform zugefügt werden können. (S. 39) Die Möglichkeiten des plastischen Filzens werden noch erörtert. 201 Bunn (1997): S. 80 99 „general-interest writers“202) und die kirgisischen Frauen, die die Teppiche herstellen, und resümiert, daß die Kirgisen mittels der Muster ihre Ideen, ihre Philosophie ausdrücken. Eine Kirgisin, die Bunn als moderne Schamanin bezeichnet, sagt: „The beginning of pattern is therefore life.“203 Die Muster und die Technik des Filzens spiegeln die Einheit des Lebendigen, der Familie und die Einsicht, daß alles mit allem verbunden ist, sie besitzen eine „epic metaphorical quality“.204 Trotz all dieser Vorzüge ist Filz in Europa meist unerwünscht – in der Politik wie in der Bekleidung. Das wesenhaft chaotische, unstrukturierte, notational nicht fixierbare macht den Filz fremd und suspekt. Die Modellhaftigkeit des Filzes wurde schon angesprochen. Die Filzfläche wird hierfür als glatte Fläche im Gegensatz zur gewebten als gekerbten Fläche betrachtet. Deleuze/Guattari ordnen dem Seßhaften den gekerbten Raum, den metrischen Raum zu, dem das Gewebe mit seinen Eigenschaften der Orthogonalität, der Begrenztheit, der Bildung von Vorder- und Rückseite angehört. Der Nomade bewege sich in einem glatten Raum und bediene sich einer Technik der Textilerzeugung, die gleichermaßen glatt sei, „unendlich, offen und in allen Richtungen unbegrenzt“.205 Dieses Modell von Deleuze/Guattari müßte um weitere, hybride Räume erweitert werden, um auch andere Wohn- und Lebensformen benennen zu können. In einem nächsten Schritt bliebe zu prüfen, ob auch ihnen textile Ausdrucksformen zugeordnet werden können. Geographische Gegebenheiten und Bewegungszyklen nehmen Einfluß auf die Wahl des Materials und der Technik. Eine Materialfülle, wie sie beispielsweise die Wälder Südamerikas bieten, führt zur Herausbildung von Techniken, die ohne Verwendung aufwendiger Gerätschaften innerhalb kurzer Zeit ausgeführt werden können. Ein Tragekorb kann sehr schnell aus unbehandelten Pflanzenfasern hergestellt, verwendet und weggeworfen werden, aber auch geflochtene Behausungen werden bei ‘Auszug’ sich bzw. den Elementen überlassen. Die Tuareg der Sahara hingegen stellen ihre Zeltdecken aus hartem pflanzlichen Material her, das sie in lange Bänder flechten und anschließend spiralförmig zusammennähen.206 Eine so aufwendig ausgeführte Arbeit wird nicht zurückgelassen. Um Aussagen über den Zusammenhang von textilen Techniken und Lebensformen zu treffen, müßten Einzeluntersuchungen ausgewertet werden. Die neuere Afrikaforschung, die sich mit der vorkolonialen, schriftlosen Geschichte Afrikas befaßt, zeigt, daß afrikanische Gesellschaften nicht in Stämmen organisiert, sondern durch „Mobilität, überlappende Netzwerke und vielfältige Gruppengemeinschaften gekennzeichnet“ waren.207 Untersuchungen der Textilien der entsprechenden Gesellschaften könnten nun zeigen, ob das Überlappen der Netzwerke nur eine europäisch geprägte textile Metapher ist oder sich strukturell nachweisen läßt. 202 Bunn (1997): S. 85–88 203 Bunn (1997): S. 88 204 Bunn (1997): S. 84 205 Deleuze/Guattari (1992): S. 659 206 Günther (1988): S. 6 207 Andreas Eckert: „Geschichte hat viele Quellen“, in: FAZ 2. Februar 2000, Nr. 27 100 Nach diesen Ausführungen zum traditionellen Filzen gilt es, die anderen Textil- verbundstoffe zu benennen. Sie alle sind technische Entwicklungen jüngeren Datums und beruhen vor allem auf chemischen, z.T. mechanischen und nicht konstruktiven Neuerungen. Durch ein besonderes Verfahren der Faserverschlingung können auch Fasern, die nicht die Eigenschaften der Wolle besitzen, verfilzt werden. Für Nadelvliese und - filze werden vor allem synthetische Fasern verwendet, die trocken, mit Hilfe von Nadelbarren, miteinander verschlungen werden.208 Bei Faser- und Spinnvliesen (Wirrfaservlies) werden zur Verfestigung Chemikalien (Bindemittel) eingesetzt. „Bei den Fadenverbundstoffen handelt es sich um flexible, poröse Flächengebilde, die durch Verfestigung von Garnlagen entstehen. Die Verfestigung kann mechanisch geschehen, vor allem durch Steppverfahren (Malimo). Adhäsive Verfestigung erfolgt bei den Fadengelegen [...].“209 Auch bei der Herstellung von Fadenverbundstoffen entfällt ein ordnender Vorgang. Zwar werden die Fasern zu Fäden linearisiert, im Anschluß jedoch als Fadengewirr durch Nähen (Nähgewirke) oder Bondings fixiert. Eine Ausnahme bilden gesteuerte Fadengelege (Bafa).210 Den Multitextilien und Laminaten ist gemeinsam, daß sie auf einer vorgefertigten Grundware entstehen. Für die Multitextilien werden mehrere textile Flächengebilde durch Vernähen (Malipol, Maliwatt) oder durch Bondings miteinander verbunden. Dieses Vernähen und Verkleben kann mustermäßig geschehen und beispielsweise dazu dienen, in der Webproduktion aufwendige Stoffe wie Cloqué zu imitieren.211 Für die Laminierung einer textilen Fläche wird entweder die Oberfläche oder Abseite mit einer filmbildenden Substanz beschichtet. Populärstes Beispiel hierfür ist das Wachstuch, aber auch Lederimitate werden auf diesem Weg hergestellt. Die meisten der Textilverbundstoffe werden nicht im Bekleidungsbereich eingesetzt und sind deswegen weniger bekannt und selten Gegenstand nicht-ingenieur- wissenschaftlicher Untersuchungen. Die Wechselwirkungen, die zwischen den technischen Anforderungen an die Textilien und ihrer Tragbarkeit entstehen, können sich in Zukunft als Innovationsmotor erweisen. Viele der sogenannten technischen Textilien verlangen eine andere Verarbeitung und werden auf diesem Wege neue Formen und Schnitte inspirieren, bzw. das Formen und Schneiden unmittelbar verändern: Offene Schnittkantenverarbeitung (taglio vivo) und das Versiegeln bei Membran- verarbeitung212 sind nur zwei Beispiele hierfür. Ein anderer Verwendungszweck der Textilverbundstoffe ist die Imitation. Viele Stoffe sind aufgrund ihrer Struktur, ihrer Konstruktion oder der verwendeten Fasern in der Herstellung sehr aufwendig und 208 Hofer (1994): S. 391 209 Hofer (1994): S. 386 210 Hofer (1994): S. 386 211 Cloqué ist ein Doppelgewebe, dessen Obermaterial aus glatten Garnen und das Untermaterial aus überdrehten Kreppgarnen besteht. Die Verbindung der beiden Gewebe ist durch ein Muster vorgegeben. Die Naßbehandlung des Stoffes bewirkt ein Einspringen der Kreppgarne, so daß sich das Obergewebe mustermäßig wölbt und Blasen wirft. Hofer (1994): S. 202 212 Hofer (1994): S. 429 101 kostenintensiv. Der Einsatz chemischen und physikalischen Wissens, von der Fasererzeugung bis zur Flächen- und Raumkonstruktion (plastische Textilien mit Schrumpfmustern und Prägeeffekten), evoziert neue Arbeitsweisen, um Traditionelles zu imitieren. Diese Entwicklung bedeutet eine intensivere Auseinandersetzung mit der Oberfläche, mit der Fläche, die nachträglich – und nicht konstruktiv, irreversibel – ein Muster oder eine Struktur erhält. Das heißt, man benötigt möglichst glatte Trägerflächen, die preiswert in der Herstellung sind. Dies sind z.B. Kettenwirkwaren, also keine Gewebe. Braddock und O’Mahony sehen in der Entwicklung der neuen Textilien die Chance, Kunst, Design, Ingenieurwissenschaften und Wissenschaft einander näher zu bringen.213 Der ‘flexible Gebrauch’214 des Materials scheint in engem Zusammenhang mit seiner Flexibilität und Variationsvielfalt zu stehen, die hier unter dem musterbildenden Aspekt weiter untersucht werden soll. Flächenverzierende (dekorative)215 textile Muster Das Vorhaben, eine Fläche zu verzieren, setzt das Vorhandensein einer textilen Fläche voraus. Die Darstellung der flächenverzierenden textilen Muster wird diese Abhängigkeit berücksichtigen. Die zu treffende Auswahl zwischen den bisher be- schriebenen Musterungsverfahren ist von verschiedenen Aspekten abhängig. Zum einen gibt es technische Beschränkungen, die ein Vorhaben unmöglich machen oder sehr kostenintensiv gestalten. Häufig haben solche Beschränkungen zu Innovationen geführt, sei es zu technischen Neuerungen oder der Schaffung von kostengünstigeren Imitaten. Zum anderen entscheidet die gewünschte ästhetische Wirkung. Beispielsweise wirkt ein gedruckter Pepita anders als ein gewebter. Die Bewertung dieser Wirkung ist wiederum kontextabhängig: Die Kongruenz der Ebenen bei gewebtem Pepita kann mit Authentizität und Hochwertigkeit konnotiert, das Divergieren von Druck und Gewebe als reizvoll emfpunden werden. Mit der Wahl des Musters der Fläche und des Musters der Verzierung wird die Auf- fassung ihres Verhältnisses deutlich. Die Kerbung, die der Raum/die Fläche durch die Musterung erhalten hat, beispielsweise eine köperbindiges Gewebe, kann durch eine weitere Musterung geglättet werden. Dies sind Aspekte, die in der Ornament- und Musterforschung hinter der dekorativen Funktion des textilen Musters zurücktreten, die nur selten und marginal Erwähnung finden. Als Flächenphänomen der kunsthistorischen Ikonologie zugeordnet, verliert das Textile seine Eigenständigkeit. Das Motiv steht im Vordergrund, das Material wird vernachlässigt. Ein anderer Zugang zu dekorativen textilen Mustern ist technischer Art. Die verschiedenen textilen Techniken werden meist monographisch mit technologischer, historischer oder kunsthistorischer Schwerpunktsetzung beschrieben.216 213 Braddock/O’Mahony (1998): S. 6 214 Braddock/O’Mahony (1998): S. 6 215 Der Begriff der Flächenverzierung wird beibehalten, da er für die dargestellten Techniken als Überbegriff eingeführt ist und die Nachträglichkeit dieser Techniken beinhaltet. 216 Siehe hierzu auch die Darstellung des Forschungsstandes im Kapitel ‘Das Mustern des Musters’. 102 Im folgenden werden verschiedene Verfahren der Musterung benannt und das Charakteristische des Verfahrens, seine Wirkung auf das Muster sowie seine Grenzen festgestellt. Es geht also wiederum nicht um eine technologische Erläuterung, sondern um phänomenologische Zuordnungen, das Auffinden von Gemeinsamkeiten und die Berücksichtigung des Verhältnisses zur Fläche und zum Raum. Die textilen Flächen, mit Ausnahme der gefilzten, geben als Ergebnis des Musterbildungsprozesses eine Struktur, ein Muster vor. Die Verzierungstechnik kann nun diese Struktur betonen oder ignorieren. Sie ist also in der Lage, die Kerbung zu verstärken oder zu revidieren, aus der gekerbten wieder eine glatte Fläche machen. Eine Raumwirkung kann durch die Schaffung von Vorder- und Hintergrund her- vorgerufen werden. Zudem erhöhen die meisten flächenverzierenden Muster die Differenz von rechter und linker Warenseite, da die wenigsten Muster technisch symmetrisch erzeugt werden. Bei technischer Symmetrie führen die ‘verzierenden’ Muster zu einem Symmetriebruch. Auch die meisten traditionellen Techniken, Filz zu mustern, schaffen zwei zu differenzierende Seiten. Der vormals glatte Raum erfährt eine erste Kerbung. Die Reihenfolge, in der die verzierenden Techniken aufgeführt sind, entspricht einer stufenweisen Erhöhung der textilen Fläche, ist also weder technologisch noch historisch motiviert. Sofern Formen der Notation bekannt sind, werden diese kurz beschrieben. Färbeverfahren Das Färben von Textilien seit der Jungsteinzeit ist durch Funde gesichert nach- weisbar.217 Schriftliche Nachweise geben Auskunft über die Aufbereitung der Pflan- zen oder Tiere zu Farbstoffen und den Vorgang des Färbens.218 Es handelt sich hierbei um Rezeptbücher, nicht um Musterbücher. Die Stückfärbung, also das Färben der fertigen Stofffläche, ist heute das häufigste Verfahren. Im Gegensatz zur Spinn-, Flocke- oder Garnfärbung ist ihre Farbechtheit geringer. Um nun durch einen Färbevorgang ein Muster zu erzeugen, werden nur bestimmte Teile eingefärbt. Das Aussparen definierter Partien kann auf chemische oder mechanische Weise geschehen. Das sogenannte ‘differential dyeing’ macht sich die unterschiedlichen Farbaffinitäten von Rohstoffen zunutze. Verschiedenartige Fasern werden mustermäßig verarbeitet und durch ein Farbbad unterschiedlich eingefärbt. Unter dem Begriff der Reserveverfahren lassen sich zwei andere Möglichkeit be- nennen. Zum einen die Reservierung durch pastenförmiges Material. Hierbei wird eine ‘Paste’ (z.B. Wachs bei der Batiktechnik) mustermäßig auf den Stoff aufgebracht und nach dem Färben wieder entfernt. Zum anderen gibt es die mechanischen Verfahren, die die Flexibilität der Textilien nutzen. Durch temporäres Knoten, Binden (Plangi), Umwickeln, Nähen (Tritik) oder Falten der Fläche wird verhindert, das die Farbe das gesamte Stück einfärbt. Die Stofffläche verliert hierbei für die Dauer des 217 Müller/Nixdorff (1983): S. 11 218 Beispielsweise der Papyrus Graecus Holmiensis aus dem 3. nachchristlichen Jahrhundert, der 70 Rezepte enthält. Schneider (1979): S. 13 103 Färbevorgangs ihre Flächigkeit. Für die Mustererzeugung ist eine Plastizität notwendig, die später nicht mehr als solche zu erkennen ist. Diese Techniken setzen die Erfahrung des Dimensionswechsels, des Zusammenhangs von Raum und Fläche voraus bzw. vermitteln diesen.219 Seiler-Baldinger beschreibt beispielsweise Plangi als eine Sonderform des Abbindens, bei der der Stoff „knopf- oder kegelförmig“ abgebunden wird.220 Das Ergebnis dieses Färbeverfahrens ist ein kreisförmiges Muster. Plastisch erfahrbar und durch das Muster sichtbar, wird mit dieser Technik der Zusammenhang von Radius und Kreis, die immer gleiche Distanz zum Mittelpunkt, deutlich. Diese textilen Muster können als Dokumente geometrischen Verständnisses gelesen und in dieser Weise als Ergänzung zu den Ausführungen über die Ethnomathematik verstanden werden. Stoffbemalung Die wohl bekannteste Form der Stoffbemalung ist die Tafelmalerei.221 Die Leinwand wird hierfür zur Trägerfläche reduziert, die traditionell nicht sichtbar sein darf. Die Leinwand, die nun für die Tafelmalerei verwendet wird, ist eine textile Fläche, deren Bindung eine sehr gleichmäßige ist, die Kett- und Schußfäden zu gleichen Teilen sichtbar läßt, die Leinwandbindung. Die Verarbeitung einer Leinwand zu einem Tafelbild läßt die Eigenschaften des Textilen weitestgehend verschwinden: Zum einen bedarf die Leinwand eines Rahmens, der die Mobilität stark einschränkt, und zum anderen entsteht durch die Grundierung und den Farbauftrag eine glatte Fläche, die nach dem Trocknen nicht mehr flexibel ist. Thomas Raffs Publikation zur ‘Sprache der Materialien’, die sich als eine ‘Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe’ versteht, enthält keinen Hinweis auf die Verwendung textiler Materialien.222 Eine etwas ketzerische Auslegung der von Raff vorgestellten Materialhierarchien des Idealismus’ würde dem Textilen einen sehr hohen Rang zuweisen: Goethe habe die Musik als Stoff- und Handlungsloses, also nicht Materielles, höher bewertet als die anderen Künste. Auch Kandinsky habe das Abstrakte über das Materielle gestellt.223 Begreift man nun das Textile als Ephemeres, Flexibles und Amorphes stünde es demnach dem Immateriellen am nächsten und somit an der Spitze einer Materialhierarchie, die das Körperhafte, Feste, negativ konnotiert. 219 siehe hierzu: Seiler-Baldinger (1991): S. 153 oder Robinson (1970): S. 21–27. Die Abbildungen demonstrieren den Dimensionsübergang und den unberechenbaren Anteil dieser Techniken des Knotens und Faltens. 220 Seiler-Baldinger (1991): S. 154 221 Die Tafelmalerei umfaßt das Malen auf Holz und auf Leinwand, woraus die Vernachlässigung des materiellen Aspekts des Malgrundes deutlich wird. 222 Raff (1994): S. 17. Eine einzige Stelle benennt den ‘kunstfremden’ Werkstoff Filz in einer Aufzählung und – wie fast immer – im Zusammenhang mit Joseph Beuys. Gerade Beuys thematisiert die Materialität, bedarf also einer Materialikonologie sehr viel weniger als andere Kunstwerke. 223 Raff (1994): S. 25 104 Das Textile wird jedoch weder bei Raff noch bei anderen Autoren zentral be- handelt.224 In bezug auf die Tafelmalerei wird der Wert der Farbe diskutiert, der Holzgrund wird, wenn überhaupt, abwertend beurteilt.225 Eine solche Material- ikonologie des Textilen soll hier nicht geliefert werden, die Darstellung dieses Mangels zeigt ein weiteres Mal die Stellung des Textilen, das entweder als Teil des Kunsthandwerks oder als Textilkunst aus der Kunst ausgeschlossen wird.226 Leonardo und Dürer Ein sehr textiles (diese Steigerung bezieht sich auf die mehrere Ebenen umfassende Textilität) – und schönes – Beispiel für den kunsthistorischen Umgang mit Textilien sind die Gewandstudien Leonardo da Vincis. Das Besondere und – dem Kunsthistoriker André Chastel zufolge – der geheimnisvollste Aspekt dieser Studien ist ihre Materialität: Sie sind auf feiner Leinwand und nicht auf dem üblichen Papier und mit Tempera statt mit der zu Zeiten Leonardos gebräuchlich gewordenen Ölfarbe ausgeführt worden.227 Statt einer Erklärung stellt Chastel einen Vergleich mit Dürer an. Beide Maler haben mit Tempera auf sehr feiner Leinwand gemalt, und beide hätten mit ihren Studien ihre Meisterschaft in bezug auf die Darstellung textiler Materialien (bei Dürer vor allem die Wiedergabe von Fellen und Pelzen und bei Leonardo die Faltenwürfe) demonstrieren wollen.228 Betrachten wir also eine dieser Studien (Abbildung 8), um vielleicht einen anderen Zugang als Stil- und Werkstattvergleich zu erhalten.229 Die Abbildung 8230 zeigt eine sitzende Figur, deren Gesicht nicht ausgeführt ist. Der Lichtakzent liegt auf dem linken Bein, das über das rechte geschlagen ist. Der Körper ist vollständig von der Drapierung bedeckt bzw. ersteht der Körper erst durch die Drapierung. Oberkörper und Kopf sind nur schwach ausgezeichnet und scheinen sich gleichermaßen im Hintergrund aufzulösen. An dieser Stelle findet der Übergang von einer textilen ‘Ebene’ zu einer anderen statt: Die Leinwand als leinwandbindiges Gewebe wird zum Thema. Der geschulte Blick – unsere Sehgewohnheiten – blenden diese Sichtbarkeit des Malgrundes automatisch aus. Dieses Ausblenden beruht auf der Annahme, daß der Malgrund nicht absichtlich sichtbar sein soll, also ein Zeichen des 224 Raff (1994) verweist auf Beiträge der Kunsthistoriker Günter Bandmann und Wolfgang Kemp, die sich jedoch zunächst, in den 1970er Jahren, um die Etablierung einer Materialikonologie bemühen und exemplarisch über Holz und Wachs arbeiten. (S. 10ff) 225 Raff (1994): S. 48f. Raff zitiert u.a. Horaz, der das Holz abwertend beurteilt, indem er seinen praktischen Nutzen als Schemel oder Heizgut anführt. Sein Urteil über einen textilen Malgrund wäre wahrscheinlich noch vernichtender gewesen. 226 An diesen Zuordnungen zeigt sich, daß das Textile keinen Eingang in die Kunstgattungen gefunden hat. Innerhalb der etablierten Gattungen wird es fast nicht erwähnt und als eine materiell definierte Kunst führt es ein Außenseiterdasein bzw. wird den materialorientierten Kategorien der angewandten Kunst neben Glas, Keramik und Porzellan zugeordnet. 227 Leonardo da Vinci (1990): S. 12, 10 228 Leonardo da Vinci (1990): S. 13f 229 Auch die beiden anderen im Katalog enthaltenen Texte von Carlo Pedretti und Françoise Viatte beschäftigen sich vorrangig mit der Autorschaft und der Datierung der Gewandstudien. Leonardo da Vinci (1990): S. 15–22, 23–41 230 Im Katalog als „Gewandstudie für eine sitzende Figur in Dreiviertelansicht nach links“ bezeichnet. „Pinsel und graue Tempera mit Weißhöhungen auf grundierter grauer Leinwand. 29x20 cm, unregelmäßige Ränder mit Spuren abgerissener Fäden. Florenz, Uffizien.“ Leonardo da Vinci (1990): S. 52 105 Imperfekten ist, bzw. in diesem Fall auf den Studiencharakter zurückgeführt und deshalb nicht erwähnt wird. Die von Françoise Viatte zitierten Beschreibungen der Techniken dienen ihr für die kunsthistorischen Ziele der Zuschreibung, im folgenden erfahren sie eine andere Lesung. Einem Traktat aus dem 14. Jahrhundert zufolge, stammt die Tempera- Technik aus Nordeuropa und gelangte durch einen Sticker nach Italien. Zur Vorbereitung wurde die Leinwand mit gummiertem Wasser getränkt und dann auf einer wollenen Unterlage bearbeitet. Die Eigenschaft der Wolle, nur sehr langsam zu trocknen, wurde hier genutzt, um beim Farbauftrag keine Feuchtigkeit zu verlieren. Zusätzlich wurde die Leinwand immer wieder befeuchtet. Hierdurch seien die Farben stabil und die Feinheit der Leinwand unberührt geblieben, „so als wäre sie gar nicht bemalt worden, denn die Farben haben keinen Körper.“231 Mit der Wahl dieser Technik ist also die Absicht verbunden, die Leinwand in ihrer Eigenschaft zu erhalten. Die Farbe als Körperloses färbt sie in der Form, wie man einen Stoff färbt: Seine Struktur, sein Muster, seine Textur bleiben sicht- und fühlbar erhalten. Die überlieferten Schriften Leonardos und sein Werk zeugen von seinem Interesse an textilen Materialien. Wie differenziert dieses Interesse war, wird deutlich, wenn er von der Beschaffenheit des Stoffes (die von seinem Rohstoff und der Stoff- bildungstechnik abhängig ist) spricht, von seiner Stärke und Dichte, auf der Vorder- wie auf der Rückseite, von der Energie, die das Material sich zusammenziehen und dehnen läßt.232 Eine zufällige und noch dazu mehrmals getroffene Wahl für die Materialien Tempera und Leinwand für Gewandstudien erscheint vor diesem Hintergrund unwahrscheinlich. Dürer bezieht den Malgrund auf noch explizitere Weise in seine Studien ein (diesen Hinweis gibt Chastel, ohne ihn zu nutzen): Statt Weißhöhungen habe er die Leinwand freigelassen, um das Licht zu setzen.233 Das Freilassen der Leinwand wird sehr viel später, im Zusammenhang mit der Minimal Art, als Thematisierung des Materials und somit als ein ‘Ausstieg aus dem Bild’ gewertet.234 Ich möchte Dürer hiermit nicht zu einem Minimalisten avant la lettre machen, jedoch seine und Leonardos Wahl der Materialien als eine gezielte kennzeichnen. Für die Darstellung von Gewändern, von Textilien, wählen beide die Leinwand, die mit Hilfe eines anderen textilen Materials, der Wolle, präpariert wird. Das heißt, die Technik, der Malgrund und das Motiv sind textil. Die Vorder- und Rückseite und die Reagibilität des Textilen, die Leonardo so interessieren setzen sich in der Technik fort: Die Leinwand wird vollständig von der Farbe durchdrungen, und die Folgen des Ziehens und Spannens der Leinwand läßt sich dauerhaft an einigen Stellen (beispielsweise am rechten Rand auf mittlerer Höhe) erkennen. Vielleicht war es nicht zufällig ein Sticker, der diese Technik nach Italien gebracht hat: Um einen Stickgrund mit einer Vorzeichnung zu versehen, ist es 231 Leonardo da Vinci (1990): S. 31 232 Leonardo da Vinci (1990): S. 29 233 Leonardo da Vinci (1990): S. 13 234 Arch+ (1995): S. 20. Die amerikanische Malerin Agnes Martin (*1912) gilt als Vorläuferin der Minimal Art. Sie verwendet ungrundierte Leinwand (z.B. Island No. 1, 1960), um den handwerklichen Prozeß und textile Techniken zu betonen. Ritter (1988): S. 43–48 106 wichtig, daß die Leinwandbindung sichtbar bleibt, da sie die Orientierung für die Stiche liefert. Im Gegensatz zum Bemalen von gespannten Leinwände ist das Bemalen von Be- kleidungstextilien nicht sehr verbreitet. Eine Schwierigkeit besteht darin, daß die aufgetragene Farbe sich nicht dauerhaft mit dem Stoff verbindet und meist weniger flexibel ist als die Trägerfläche. Das heißt, die Farbe bröckelt schon durch Bewegung ab, löst sich beim Waschen meist ganz. Heute sind diese Probleme teilweise chemisch-technisch zu überwinden, die Kosten für (hand-)bemalte Stoffe entsprechend sehr hoch. Im (kunst-)handwerklichen Bereich lassen sich Techniken wie z.B. die Seidenmalerei auffinden. Der feine, leinwandbindige Seidenstoff bietet einen glatten, dichten Malgrund, so daß bei der Muster- und Motivwahl Struktur, Warenseite und Richtung vernachlässigt werden können. Der Farbauftrag erfolgt meist linear, mit pinselähnlichen Geräten oder Kreidestiften. Andere Stoffe, deren Muster dominanter sind, beispielsweise Maschenstoffe, werden nur sehr selten bemalt oder bestickt.235 An dieser Stelle lassen sich die hier vorgestellten Formen der Stoffbemalung wieder zusammenführen: Im allgemeinen wird die Trägerfläche negiert, d.h. die durch ein Muster gekerbte Fläche (meist eine Leinwandbindung, auch für die Seidenstoffe) wird geglättet und durch eine distanzierte, mit Hilfsmitteln ausgeführte Form des Farbauftrags neu gekerbt. Stoffdruck Für den Stoffdruck lassen sich in bezug auf die Drucktechnik zwei Grundprinzipien feststellen, die in Abhängigkeit vom gewünschten Ergebnis ausgewählt werden. Das Bedrucken mit Farbe beläßt den Stoffgrund in seiner ursprünglichen Farbe und bildet das Muster direkt ab. Dieser Druckvorgang gehört zu den elementaren Erfahrungen, da ein rußiger Finger ausreicht, seine Wirkung auf einer Fläche zu erproben. Die wichtigsten Techniken – von der Kartoffel bis zum Laser – sind: Blockdruck, Kupferplattendruck, Walzendruck, Perrotindruck und Filmdruck.236 Das Bedrucken mit einer Reservierungsmasse bedarf weiterer Arbeitsgänge: dem Färben und anschließenden Entfernen dieser Masse. Nun erscheint das Muster in der Farbe des Stoffgrundes. Der Blaudruck ist ein prominentes Beispiel hierfür.237 Bei einer besonderen Form des Reservedrucks wird eine Ätzpaste mustermäßig aufgedruckt, die anschließende Behandlung mit Chemikalien verändern das Gewebe, es entstehen sogenannte Ausbrenner oder Dévorants (frz. dévorer – auffressen).238 Die Auswahl der Drucktechnik ist von der Musterung abhängig, dem Verhältnis von Muster und Grund, der Rapportgröße etc. Der Stoffdruck vollzieht sich stets in der Fläche. Das heißt, es handelt sich hierbei um eine Technik, die das Textile reduziert, es glättet und auf seine zu bedruckende Vorderseite beschränkt. Der Modeldruck rastert diese Fläche, der Walzendruck produziert ein potentiell eindimensional- unendliches Muster. Wiederum lassen sich elementare mathematische 235 Seiler-Baldinger (1971): S. 122 236 Meller/Elffers (1991): S. 453 237 Zur Technik und Geschichte des Blaudrucks in Europa und Japan siehe Walravens (1993). 238 Hofer (1994): S. 318f 107 Grunderfahrungen ableiten. Das Rastern der Fläche orientiert sich an den be- grenzenden Kanten des Gewebes, eine Art Koordinatensystem entsteht, anhand dessen der Versatz des Druckmodels bemessen wird. Das Abrollen der Zylinderform der Walze verweist auf den Zusammenhang von Rechteck und kreisförmiger Bewegung und deren unendliche Repetition. Die zu bedruckende Fläche sollte möglichst wenig Struktur aufweisen, deshalb werden meist leinwandbindige Gewebe, selten Maschenstoffe und nicht Struktur- gewebe bedruckt. Der älteste nachzuweisende Zeugdruck stammt aus Indien aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., die ältesten Model in Form von irdenen Stempeln werden auf 1500 v. Chr. datiert.239 Lange Zeit diente das Bedrucken von Stoffen lediglich der Nachahmung kostbarerer Stoffe mit Web- oder Stickmustern. Die mangelnde Haltbarkeit der Farben machte die bedruckten Stoffe zu billigen Surrogaten240 bzw. den bedruckten Zustand zu einem vorübergehenden: Die aufgedruckten Muster dienten als Stickereivorlage. Erst mit einer verbesserten Technik entwickelte der Stoffdruck eine gewisse Eigenständigkeit.241 Da sich praktisch jeder zeichnerische Entwurf auf Stoff drucken läßt, lassen sich keine Kategorien bilden. Das ikonische Interesse steht im Vordergrund, der Stoff erscheint nur noch als Mittel zum Zweck, als Träger. Die Druckmuster haben demzufolge meist keine spezifisch textile Aussage, es sei denn, sie imitieren eine solche. Einige Beispiele aus den von mir untersuchten Sammlungen können dies veranschaulichen. Das Staatliche Museum für angewandte Kunst in München (Neue Sammlung) ist im Besitz von ca. 1200 „Druck- und Webstoffen“242 aus dem 20. Jahrhundert. Die Sammlung orientiert sich an den Künstlern, die für die Entwürfe verantwortlich zeichnen. Das Material, die Textilie, tritt vollständig hinter der ‘Geschmacks-’ und Stilbildung zurück. Die im Museum angelegten Karteikarten verdeutlichen diese Nivellierung: Das musterbildende Moment – Druck- oder Webtechnik – wird nicht als solches benannt. Die ikonographische Beschreibung des Musters nimmt den größten Raum ein und steht, definitionsgemäß, nicht mit dem Träger in Verbindung.243 Die Abbildungen 9 und 10 zeigen einen Stoffmusterentwurf und ein Textilfragment aus der ‘russischen Sammlung’. In dieser Gegenüberstellung wird die Unmittelbarkeit zwischen Entwurf und Ausführung deutlich. Das Papier des Entwurfs wird mit dem zu bedruckenden Stoff gleichgesetzt. Die Dichte der Leinwandbindung und die glatte Oberfläche ermöglichen diesen vernachlässigenden Umgang. Das haptische Moment des Textilen geht fast vollständig verloren. Auf das Textile als Ort der Propaganda werde ich zurückkommen. 239 Loschek (1994): S. 476 240 Walravens (1993): S. 53 241 Die Einführung mehrfarbig gemusterter Baumwollstoffe aus Indien (daher der Name Indiennes) in Europa führte zur Einrichtung erster Kattundruckereien Ende des 17. Jahrhunderts. Loschek (1994): S. 477 242 Wichmann(1990): S. 13 243 Wichmann (1990): S. 20f. Die entsprechende Definition wurde bereits im Kapitel ‘Das Mustern des Musters’ zitiert. 108 Die Literatur ordnet die Stoffdruckmuster meist epochal, zeitlich wie inhaltlich an die Kunstgeschichte angelehnt, zu.244 Die eingegangene Verbindung zwischen Kunst und Industrie, die Entwicklung des Designs legen dies nahe.245 Eine der Voraussetzungen für die Beschäftigung der Künstler mit Textilentwürfen liegt im Material selbst begriffen. Das zu bedruckende Textile bietet eine glatte Fläche, dem Entwurfspapier ähnlich, die zunächst nur in der Breite begrenzt ist. Dementsprechend erfordert der Entwurf vergleichsweise geringe Material- und Technikkenntnisse. Hiermit soll weder Textildesignern noch Künstlern das Wissen um Materialität und Technik der Textilien abgesprochen werden, sondern lediglich auf die relative Trägerungebundenheit hingewiesen werden, wie sie sich beispielsweise bei Seiden- tüchern, die mit Hundertwasser-Motiven bedruckt sind, zeigt. Der Stoffdruck mit seinen technischen Möglichkeiten bietet in der Mustergestaltung der Textilien den größten Freiheitsgrad. Definitionsgemäß muß die Wiederholbarkeit eines Motivs gewährleistet bzw. für den Gesamtentwurf in Form des Rapports festgelegt sein. Des weiteren haben die zu entwerfenden Textilmuster eine Zweckgebundenheit (Heim-, Bekleidungs- oder Dekorationstextilien). Hierin bestanden die Anforderungen an den Musterzeichner, oder den Künstler in der Tradition der Kunstgewerbereform, bzw. den Textildesigner: Kenntnis der Rapportlehre, das Wissen um die technischen Möglichkeiten, die Angemessenheit der Muster. Wie einleitend beschrieben, beschäftigten sich verschiedene Kunsttheoretiker des 19. Jahrhunderts mit Ornamenten und Mustern. Der Kunsthandwerker und Designer William Morris (1834–1896) war einer der wenigen unter ihnen, der den Herstellungsprozeß im Entwurf berücksichtigt sehen wollte.246 Die konkreten Hinweise, die sich in seinen Schriften finden, haben eher allgemeinen Charakter, verweisen lediglich auf die Differenzen von Papier, be- drucktem Stoff, Stickerei und Weberei.247 Der Hauptbeitrag zur Textilkunst, den Morris geleistet habe, liege in der Betonung des Flächencharakters des Textilen. Er habe „die unangemessene Dreidimensionalität der Dekorelemente zugunsten der Zweidimensionalität aufgegeben.“248 Tietzel weist einschränkend darauf hin, daß Morris nicht der einzige war, der naturalistische Motive auf lineare Strukturen abstrahiert hat.249 Darüber hinaus bleibt zu fragen, ob diese kunsthistorische Sicht auf die Textilkunst, die Morris im übrigen selber vertrat,250 angemessen ist. Die meisten Handbücher für Musterzeichner des 19. Jahrhunderts bestehen aus einer Vorlagensammlung,251 die historische Kenntnisse vermitteln, zu Stilsicherheit und 244 Um nur zwei Beispiele zu nennen: Stoffmuster des Jugendstils, Tietzel (1981); Biedermeierstoffe, Völker (1996) 245 Ginsburg (1991): S. 86 246 Parry (1987): S. 48 247 Morris (1881): S. 191–198 248 Tietzel (1981): S. 265 249 Tietzel (1981): S. 265f 250 Fairclough/Leary (1981): S. 10. „[...] He stresses the importance of getting the design flat, with no hint of shading, with the areas of colour clearly defined bay outlining in another tint.“ 251 Schulze (1886); Zeitschrift für Musterzeichner; Fischbach (1874); Shaw (1842); Bock (1859). Eine Ausnahme bildet Lieb (1900), der ausführlich auf die unterschiedlichen textilen Techniken in bezug auf ihre Musterung eingeht. 109 Geschmacksbildung führen und das Kunsthandwerk wiederbeleben sollten.252 Hierbei ging es sehr viel mehr um das Selbstverständnis der Musterzeichner bzw. des Kunstgewerbes und um nationale Fragen253 als um die Entwicklung einer Textilentwurfspraxis, wie sie später am Bauhaus vermittelt wurde.254 Patchwork Patchwork bedeutet wörtlich übersetzt Flickarbeit. Flicken – Stoffreste – werden zusammengenäht, um eine große Stofffläche zu erhalten. Diese elementare Definition trifft auf viele Näharbeiten zu.255 Die Ästhetisierung dieses ökonomischen Vorgehens, die vor allem den amerikanischen Siedlerfrauen zugeschrieben wird256, hat den Begriff zu einem Synonym einer textilen Technik werden lassen, der auch im Deutschen verwendet wird. Man unterscheidet zwischen ‘piecing’ oder ‘patching’, dem einfachen Zusammenfügen von Stoffstücken und ‘applied work’ oder ‘appliqué’, dem Aufsetzen von Stoffstücken auf einen Trägerstoff. Der ‘patchwork quilt’ bezeichnet das Produkt, das am häufigsten mittels der Flickenarbeit hergestellt wird: eine Flickendecke. Das Quilten, das Steppen und Wattieren, als Technik der Verbindung mehrerer Stoffschichten, bildet Plastizitäten aus. Die meisten Patchwork-Arbeiten verwenden gemusterte Stoffstücke, die mustermäßig zusammengesetzt werden. Hierfür wird ein Entwurf in verkleinertem Format gemacht und danach Schablonen für den Zuschnitt hergestellt. Die einfachste Grundform mit hoher Symmetrie ist das Quadrat. Wählt man eine andere Form, entspricht die Aufgabenstellung der des regelmäßigen Parkettierungsproblems, das im Zusammenhang mit den gewebten Kleinmustern schon angesprochen wurde. Patchworkdecken gleichen sehr viel augenfälliger diesen Parkettierungen, gehören doch Mosaike, Intarsienarbeiten und gemusterte Decken in den Bereich der Raumdekoration. Eine Patchwork-Arbeit weist auf mehreren Ebenen Muster auf: Bindungsstruktur, Farbe und Muster der Stoffstücke; Form und Muster des Zusammensetzens; Art und Weise des Zusammenfügens (‘unsichtbare’ Nähte, sichtbare Nähte als zusätzliche Verzierung etc.). Noch vor der Weiterverarbeitung – z.B. zu einer Steppdecke – weist eine solche Arbeit hohe Komplexität auf. Die Metapher des Stückwerks, des Puzzles, des Sampelns, die das Patchwork transportiert, kann dem Erzählerischen einverleibt werden. Der Roman ‘Ein amerikanischer Quilt’257 beschreibt die Entstehung eines Gemeinschaftsquilts. Mehrere Frauen einer amerikanischen Kleinstadt treffen sich regelmäßig, um einen Quilt (Patchworkdecke) herzustellen. Mit jedem Stoffstück, das in die Decke eingearbeitet wird, ist eine Geschichte verbunden: Die Stoffstücke fügen 252 Fischbach (1874) 253 In der Zeitschrift für Musterzeichner, aber auch bei Gurlitt (1890) finden sich Hinweise auf das Bestreben, von Frankreich künstlerisch unabhängig zu werden. 254 Stölzl (1997): S. 106. Bei ihrem Unterricht am Bauhaus legte Gunta Stölzl viel Wert auf Materialität, auf die Eigenheiten des Textilen. 255 Bacon (1973) schreibt, die Grundform des Patchwork sei die Zusammenstellung von Tierhäuten zu Bekleidung der primitiven Menschen gewesen. (S. 26) 256 Loschek (1994): S. 371 257 Whitney Otto, Ein amerikanischer Quilt, Frankfurt a.M. 1991 110 sich analog zur Gesamtgeschichte zusammen. Die Decke, die komprimierte Erfahrung dieser Frauen, erhält die Nichte als Hochzeitsdecke. Eine Lesung ‘globaleren Umfangs‘ rekurriert auf die enge Verbundenheit der Geschichte Amerikas mit dem Patchwork: „Within the folds of the quilt are pieced the dreams of the men and women who were wresting a place of their own from the unsubdued wilderness: their hardships and their faith, [...] the heartbeats of all those who were laying the foundations of a new country.“258 Verläßt man die Einzel- schicksale, die sich in einer Decke finden lassen und betrachtet sie von ihren Grenzen her, als (Land-)Karte, erkennt man die Entwicklung vom glatten zum gekerbten Raum.259 Das Besiedeln des unbewohnten, des glatten Raums ist mit dem Patchwork, das unregelmäßige Reststücke ungeschnitten verarbeitet, zu vergleichen. Die beschriebene hochentwickelte Form des Patchwork, die regelmäßige Stoffstücke planvoll zu Mustern zusammensetzt, kerbt den Raum, in ihrer Perfektion landschaftlich Reisfeldern oder französischen Barockgärten vergleichbar. Applikationstechniken Das Applizieren von Stoffstücken kann wie oben definiert dem Patchwork zuge- ordnet werden oder auch allgemeiner den Applikationstechniken. Appliziert werden können Rinde, Federn, Haare, Bänder, Litzen, Posamente, Perlen, Muscheln etc. mit Hilfe von Nadel und Faden. Je nach verwendetem Stich – nicht sichtbare Nähstiche oder sichtbare Zier-/Stickstiche – werden verschiedene Techniken auch der Stickerei zugeordnet.260 Es geht hier jedoch weniger um eine systematische Zuordnung als um die Möglichkeit der Musterung unabhängig vom Trägerstoff. Vergleicht man die Applikationstechnik mit der Collage, schafft sie eher Einzelmotive als Muster. Stickerei „Unter Stickerei versteht man das Verzieren von Stoff mit Faden, der gleichzeitig zu seiner eigenen Befestigung auf der Unterseite dient.“261 Der entscheidende – definitorische – Unterschied zur Näherei besteht in der inten- tionalen Verzierung des Trägerstoffes. Entwicklungshistorisch ist die Näherei vor der Stickerei einzuordnen, ist doch eine Ableitung der Stickstiche von Zierstichen der Näherei naheliegend.262 Angesichts dieser fließenden Übergänge fallen Datierungen der frühesten Stickereien unterschiedlich aus, erschwert durch die geringe Anzahl und Fragmentarität der Funde. Auf historische Zuordnungen wird im folgenden größtenteils verzichtet.263 Der Trägerstoff der Stickerei ist in den meisten Fällen ein Gewebe mit relativer Dichte: Die Nadel muß leicht durch den Stoff zu führen sein, und trotzdem muß die Gewebebindung den Stickfaden ausreichend fixieren. Maschenstoffe sind aufgrund ihrer Dehnbarkeit schwerer zu besticken, zudem können sich die Maschen und die 258 Bacon (1973): S. 26 259 Deleuze/Guattari (1992): S. 661, 676 260 Boser/Müller (1969) bezeichnen Applikationsverfahren und Ziernähte als Übergangsformen. (S. 9) 261 Seiler-Baldinger (1991): S. 147 262 Seltener werden die Ursprünge der Stickerei in Knüpf- und Webtechniken aufgesucht. Vgl. Grönwoldt (1993): S. 24 263 Einen historischen Überblick geben z.B. Grönwoldt (1993) und Schuette/Müller-Christensen (1963). 111 Stickstiche beim Sticken verschieben.264 Ähnliches kann bei Netzen oder losen Geweben geschehen, weshalb diese Textilien selten als Stickgrund genutzt werden. Eine Ausnahme bilden die Spitzentechniken, die der Stickerei zugeordnet werden, die auf Tüll- oder Netzgründen ausgeführt werden. Systematiken der Stickerei265 gehen von dem Trägerstoff aus, der als solcher intakt bleibt oder stellenweise durchbrochen wird. Das Sticken setzt sich demnach entweder mit der Fläche auseinander – dem Verhältnis von Muster und Grund, der Schaffung von Vorder- und Rückseite – oder mit dem Nichts. Um dies zu veranschaulichen, sollen exemplarisch verschiedene Sticktechniken vorgestellt werden.266 Der Kreuzstich „Jede Stichtype bildet ein abgeschlossenes Ganzes, meist in einer viereckigen Fläche über abgezählte Fäden ausgeführt.“267 Der diagonale Kreuzstich wird fortlaufend von rechts nach links gearbeitet. Die Rückseite der Stickerei weist eine waagrechte, ununterbrochene Linie und eine weitere Linie mit übereinandergreifenden Stichen auf.268 Als Material für den Kreuzstich wird ein gleichmäßig gewebtes Leinen empfohlen, um das für den Kreuzstich notwendige Zählen zu erleichtern.269 Muster und Grund stehen also in enger Verbindung. Die Wahl des Stickstiches bestimmt den zu bestickenden Stoff – in der traditionellen, verbindlichen Form der Stickerei. Ursprünglich mag umgekehrt die Bindungsstruktur des Stoffes, in diesem Fall das leinwandbindige Gewebe, das Lineare des Kreuzstiches inspiriert haben. Er führt in das orthogonale System der Leinwand270 die Diagonale ein, die ein Köper schon webtechnisch generiert. Die klare Struktur des Gewebes schafft die Möglichkeit des Zählens und somit der Wiederholung. Kreuzstichmuster werden in Form von Mustertüchern oder -büchern tradiert. Die Bindungspunkte des Gewebes werden als Karomuster gezeichnet, in das die Kreuze als solche oder als ausgefüllte Kästchen eingetragen werden. Der Abstraktionsgrad der Notationsform ist also ein sehr geringer. Die Reduktion findet auf der Entwurfsebene statt: Alle Formen werden stark stilisiert, um in das Kästchenschema zu passen, zudem sind die meisten Kreuzstichmuster einfarbig. Diese Angemessenheit des Entwurfs wird mit Qualität konnotiert. 264 Seiler-Baldinger (1971): S. 123 265 Beispielsweise ‘Handsticken. Versuch einer Systematik’ hrsg. vom Arbeitgeberkreis Gesamttextil, Frankfurt a.M. 1985. 266 Auf umfassende Analysen muß an dieser Stelle verzichtet werden, da die Variationsmöglichkeiten der Stickerei Material für eine eigene Untersuchung bieten. Die systematische Übersicht von Boser/Müller (1969) kann als Leitfaden für solche Untersuchungen dienen, da sie sich an der Dimensionalität der Stichformen orientiert und die Differenz von ‘Bild- und Kehrseite’ (S. 13) berücksichtigt. Die zahlreichen Monographien zur Stickerei sind weniger technologisch als historisch orientiert und beschäftigen sich mit einzelnen Epochen, der Entwicklung einzelner Stiche (Kreuzstichmuster) oder Stickereien (Gobelins), Gesamtdarstellungen oder den Stickmustertüchern und -büchern. Die meisten enthalten technische Hinweise sowie umfangreiches Abbildungs- und bibliographisches Material. 267 Boser/Müller (1969): S. 46 268 Boser/Müller (1969): S. 47 269 Gierl (1993): S. 15 270 Die üblichen Stoffe für die Kreuzstichstickerei sind Canevas oder Stramin, leinwandbindige Gewebe (Panama) aus Baumwolle oder Halbleinen, bei denen Kett- und Schußfäden nicht dicht aneinanderliegen. Vgl. Grönwoldt (1993): S. 282f 112 Die Größe der Stiche variieren nicht innerhalb einer Arbeit, es entsteht ein sehr gleichmäßiges Musterbild, erzeugt durch eine sehr gleichmäßige, rhythmisierte Bewegungsform. Das Erscheinungsbild der Rückseite der Stickerei betont die horizontale Linearität der Bewegung, ohne ein neues Muster zu bilden. Gleichzeitig bezeugt es den Symmetriebruch, den diese Sticktechnik hervorruft. Nadelmalerei Das Sticken wird häufig als ein „Malen mit der Nadel“271 bezeichnet. Das Malen ist jedoch eine Technik, die traditionell mit linearem Farbauftrag in der Fläche ausge- führt wird. Die Linearität des Fadens und das Ergebnis – gestickte Bilder – mögen zu dieser Parallelisierung geführt haben, eine genauere Betrachtung der Muster und ihrer Techniken läßt jedoch erkennen, das die Stickerei keine Oberflächenkunst in diesem Sinne ist. Der Stielstich, der Spannstich und vor allem der sogenannte ‘ineinandergreifende Plattstich’ sind dazu geeignet, einen Stoff flächendeckend zu besticken. Das Ziel hierbei ist eine möglichst naturalistische, malerische Wiedergabe. Die Stiche können in jeder Länge und Ausrichtung ausgeführt werden. Musterbildend ist die Farbe, die Flächen werden mit den farbigen Fäden ‘ausgemalt’. Der Trägerstoff tritt bei dieser Stickerei in den Hintergrund bzw. wird vollständig verdeckt. Auch der Stickstich ist nicht maßgeblich an der Musterung beteiligt. Die Vorlagen, nach denen gearbeitet wurde, sind der Bildwirkerei ähnlich. Die Nähe zur Malerei zeigt sich auch in einer Technik wie der Petit-Point-Stickerei, die das divisionistische Prinzip des Pointillismus vorwegnimmt. Die ein bis zwei Millimeter kleinen Stiche erzeugen eine ‘gepixelte’ Fläche, lassen das ‘Bild’ durch additive Farbmischung entstehen. Diese beiden Formen der Stickerei – der Kreuzstich und die sogenannte Nadelmalerei – bilden zwei Pole, die sich in der mittelalterlichen Zunftordnung der Sticker widerspiegelt. Selten bildeten die Seidensticker eine eigene Innung, sie wurden entweder den Schneidern und Tuchscherern oder den Malern zugeordnet.272 Die Herstellung von Spitzen wird meist nicht als Sticktechnik aufgeführt, technisch ist diese Zuordnung jedoch zutreffend. Nadelspitze Man unterscheidet zwischen Nadel- und Klöppelspitze aufgrund ihrer technischen Herleitung.273 Die Klöppelspitze gehört zu den schon behandelten Geflechten. Die Nadelspitze entsteht aus der Bearbeitung, dem Besticken, einer vorhandenen Fläche. Diese Fläche kann ein Netz (Tüllspitze, Filetspitze) oder ein Gewebe sein. Aus dem Gewebe werden Gruppen von Kett- und/oder Schußfäden ausgezogen und die verbleibenden Fäden durch Näh- bzw. Stickstiche fixiert. Beim einfachen Durchbruch werden entweder Kett- oder Schußfäden ausgezogen, es entstehen sogenannte 271 Stradal/Brommer (1990): S. 7 272 Grönwoldt (1993): S. 10 273 Die meisten Monographien zur Spitze oder zur Stickerei enthalten eine Übersicht der Fachausdrücke und technische Beschreibungen. Grönwoldt (1993): S. 279, 282–284; Lenning (o.J.): S. 203–211; Earnshaw (1985): S. 157–161 113 Hohlsaumarbeiten, beim doppelten Durchbruch werden Kett- und Schußfäden entfernt. Aus dieser Technik entstehen vor allem lineare, stark geometrisierte Muster. Bei der Richelieu-Stickerei werden die Musterränder fixiert, dann der Leinwandgrund ausgeschnitten und anschließend die Musterteile durch Stege verbunden. Aus diesen Techniken entwickelte sich der ‘punto in aria’, der Luftstich, der völlig auf den Stickgrund verzichtet. Zur vorübergehenden Befestigung der Stiche dient Wachstuch oder Pergament. Die Nadelspitze löst sich von der Orthogonalität des Gewebes und beginnt, die Luft, das Nichts, zu umsticken. Die Prozeßhaftigkeit dieser Ablösung kann man beispielsweise an der Reticella-Spitze erkennen, eine frühe italienische Form der Nadelspitze, die „innerlich noch abhängig von der Geradlinigkeit des Fadenkreuzes“ ist und hieraus geometrische, lineare Muster entwickelt.274 Die beschriebenen Stiche der Stickerei erzeugen eine Vorder- und Rückseiten- trennung, die in der Verarbeitung berücksichtigt wird. Die Transparenz der Spitzen – der feine Batist, der Netzgrund, die Durchbrüche, die Luft – macht es notwendig, möglichst keine unansehnliche Rückseite entstehen zu lassen. Das heißt, es mußten Techniken entwickelt werden, die Symmetrie erzeugen. Die hier vorgestellten Beispiele entsprechen den über einen langen Zeitraum ent- wickelten Sticktechniken, die an Traditionen gebunden sind. Diese eingegangenen Verbindlichkeiten werden nur selten – z.B. innerhalb der Textilkunst oder der Haute Couture – aufgebrochen. Es besteht neben dieser traditionellen eine gestalterische und technische Bindung an die zu bestickende Fläche. „Sie (die Muster in den Musterbüchern von Frieda Lipperheide, Anm. K.K.) zeichnen sich vor Allem durch strenge Innehaltung der Grenze aus, welche dem Kreuzstich durch die Technik gesetzt ist, nehmen im Uebrigen auch hauptsächlich darauf Rücksicht, dass der Kreuzstich in erster Reihe zur Verzierung von Leinenzeug verwendet wurde und werden soll, lassen also bei der Musterung das schöne Grundmaterial zur Geltung kommen.“275 Deleuze/Guattari erwähnen innerhalb ihres Modells der Technik auch die Stickerei, ohne ihre Technik dabei näher zu erläutern. Sie vergleichen ihre Raumwirkungen mit denen des Patchwork. Die Stickerei könne zwar durch ihre Konstanten und Variablen (die hier beschriebenen Elemente des Stickgrundes und der mit Nadel und Faden ausgeführten Stiche) große Komplexität erreichen, habe jedoch immer ein zentrales Motiv oder Thema, das sie bindet. Die Harmonie der Stickerei sehen die Autoren gleichermaßen als Beschränkung gegenüber dem Patchwork an, das sie mit dem Rhythmusbegriff verbinden. Den Harmoniebegriff habe ich durch den der einschränkenden Wirkung der Tradition ersetzt, die Rhythmizität der Stickerei würde ich – sofern eine Hierarchisierung sinnvoll ist – über die des Patchwork stellen, da sie eine mehrfache und unmittelbar sichtbare ist. Es geht hierbei immer um die Rhythmizität der Bewegung, die ein Muster, ein Textiles generiert. Auch wenn Deleuze/Guattari vom Modell der Technik sprechen, führt ihre Be- urteilung der beiden Techniken zu der Annahme, daß die Autoren vom fertigen Produkt geleitet wurden, das Objekt und nicht den Prozeß interpretieren. Auf der 274 Lenning (o.J.): S. 39 275 Lipperheide (1890): S. 58 114 Objektebene schneidet das Bestickte schlecht ab: Es erweckt meist die Assoziation des Biederen und biedermeierlich Spießigen, der Küchensprüche und Handarbeits- unterrichtszwänge. Das Patchwork hingegen wird als historisch vermeintlich jüngeres und von Amerika kommendes, versehen mit dem Namen ‘crazy quilt’, positiver konnotiert. Beide Techniken lassen jedoch sowohl eine unsaubere als auch eine pedantische, eine phantasievolle oder beschränkte Ausführung zu. Die Vielfalt der Stickerei, vor allem wenn man die Spitzen darunter subsumiert, liegt in dem Spannungsfeld zwischen extremer Beschränkung, die zu einem hohen Abstraktionsgrad führt, und völliger Freiheit, mit dem Resultat naturalistischer Nachahmung. Neben der gestalterischen, verzierenden Absicht des Stickens, der ästhetischen Steigerung, ist die Wertsteigerung ein wichtiger Faktor. Diese Erhöhung des Textils durch die Stickerei, bedingt durch Arbeits- und Materialaufwand, läßt sich an vielen Beispielen zeigen.276 Mustertücher und Musterbücher – Notationen textiler Techniken Die dargestellten textilen Muster stehen größtenteils in sehr langen Traditionen. Die Formen ihrer Tradierung sind unterschiedlicher Art und nicht immer nachvollziehbar. Mustertücher und Musterbücher sind zwei Formen der Notation textiler Techniken, die dem Bewahren der traditionellen Muster dienen. Die Ausführungen zu den zweidimensionalen textilen Mustern abschließend, benenne ich einige, im Text bereits angedeutete, Aspekte der Notation im Zusammenhang. Das Mustertuch kann als textile Form des Musterbuchs angesehen werden. Die Bezeichnungen ‘Modeltuch’, englisch ‘sampler’, italienisch ‘imparaticcio’, verweisen auf die Funktion des Lernens und Bewahrens.277 Das zu Vermittelnde sind die Muster, die Herstellungstechnik ist für den Laien meist weder eindeutig bestimmbar noch nachvollziehbar. Eine zweite Funktion des Mustertuchs ist die Demonstration besonderer Fertigkeiten in komprimierter Form. Dies läßt sich bereits für das 14. Jahrhundert nachweisen. Ein Altarbild (S. Francesco, Barcelona) zeigt Maria und die sieben Tempeljungfrauen. Maria ist zum einen durch einen Nimbus ausgezeichnet und zum anderen durch ein ‘Sticktüchlein’, das größer als das der anderen ist und eine differenzierte Musterung aufweist.278 Über diese Funktion erlangt das Mustertuch einen eigenen ästhetischen Wert. Die Ausarbeitung des Mustertuchs verweist auf seinen Produzenten, seinen Geschmack, sein Farbempfinden, seine technische Fertigkeit. Einen Höhepunkt dieser Bedeutung der Mustertücher wird im 19. Jahrhundert durch die Stickmustertücher als Zeichen bürgerlicher Tugenden erreicht. 276 Um nur eines zu nennen: Als Geschenk zur Kaiserkrönung überreichten die Innsbrucker Karl V. mehrere gestickte Liederbücher mit einer für ihn komponierten Staatsmotette. Seide, Perlen und Goldfäden und die aufwendige Arbeit lassen eine Wertsteigerung jenseits der musikalischen Qualität zu. Stradal/Brommer (1990): S. 64f (Abbildung) 277 Grönwoldt (1993): S. 217 278 Eine Abbildung findet sich bei Grönwoldt (1993): S. 13. 115 Die ältesten gedruckten Musterbücher stammen aus dem 16. Jahrhundert, ihre Erscheinungszusammenhänge sind in Bibliographien bearbeitet worden.279 Eine allgemeine Geschichte der Entwicklung der Musterbücher zu schreiben steht noch aus, einen Beitrag hierzu liefert eine Publikation, die sich mit ‘Imitation und Originalität des Ornamentdesigns’ befaßt.280 Gegenstand der Untersuchung sind die kunstgewerblichen Musterbücher, die sich häufig mit textilen Techniken befassen. Die Autorin unterscheidet zwischen Musterbüchern als Handbücher, als Warenkataloge und als Vorlagenbücher.281 Neben den Mustern und den Anleitungen enthalten die Musterbücher Hinweise zur Übertragung der Muster auf den Stoff: Pausen, Punzieren und Vorzeichnen.282 Die Beschreibung der Techniken des Übertragens und die dafür notwendigen Geräte und Materialien verweisen auf die Bestimmung dieser Bücher als Vorlage. Das Muster wird hierfür als Abbild, als Umrißzeichnung, als Warenprobe oder in einer Notation wiedergegeben. Die Mustertücher und -bücher erschließen sich hier als Ort, an dem die beiden Bedeutungen des Musterbegriffs zusammenfallen: Sie dienen als Muster für Muster. Das Moment der Wiederholung, der Zusammenhang von Ordnung und Repetition kommt zum Tragen: Das Strukturierte, das Muster, läßt sich wiederholen. Die Möglichkeit der Notation beruht auf reduzierenden Vorgängen. Die erste Reduktion betrifft die Dimension des Textilen. Die Muster werden nur in einer Aufsicht der Vorderseite wiedergegeben, werden also zu einem Zweidimensionalen. Diese Ikonisierung und der Abstraktionsvorgang sind wiederum die Voraussetzung für die ästhetische Eigenständigkeit textiler Notationen. Hiermit ist einerseits eine bestimmte Entwurfspraxis gemeint, die nicht vom textilen Material, sondern von der Papierfläche ausgeht, und andererseits die Nutzung dieser Notationen als Illustrationen, wie bei Hargittai (Abbildungen 3 und 4) für die Symmetrien. Der zweite Reduktionsvorgang wird durch das repetitive Moment des Musters gegeben: Ein Ausschnitt, der Rapport, des Musters genügt, um es wiederzugeben. Ein weiterer Reduktionsvorgang beruht auf Vereinbarungen hinsichtlich Symbolen, die die Einzelelemente der Muster bezeichnen. Das erwähnte Kästchenpapier für die Patronen der Weberei stellt eine weit verbreitete Form der Notation dar. Die Abbildungen 11 und 12 stammen aus frühen gedruckten Musterbüchern (16. Jh.), sie zeigen zwei weitere Formen der ‘Notation’ mit unterschiedlichem Abstraktionsgrad. Das eine Motiv – ein Paar in zeitgenössischer Bekleidung – wird in streng gerasterter Form, der Stoffgrundlage in Leinwandbindung und dem geometrischen Kreuzstich entsprechend, wiedergegeben. Die Vorlagen für die Klöppelspitzenbänder zeigen hingegen eine abstrahierte Form des Fadenverlaufs an, auf die Art der Bindung und den Untergrund wird nicht Bezug genommen. In beiden Fällen wird eine Kenntnis 279 Abegg (1978) gibt einen „Überblick über die Abfolge europäischer gedruckter Modelbücher“ (S. 205) gemäß der Zusammenstellung von Arthur Lotz, der das Standardwerk zu diesem Thema verfaßt hat: ‘Bibliographie der Modelbücher. Beschreibendes Verzeichnis der Stick- und Spitzenmusterbücher des 16. und 17. Jahrhunderts’, Stuttgart 1933. 280 Tzeng (1993): S. 1 281 Tzeng (1993): S. 174f 282 Grönwoldt (1993): S. 18 116 der Technik vorausgesetzt, handelt es sich bei der ‘Leserschaft’ um eine professionell vorgebildete. Frieda Lipperheide, die sich mit der Herausgabe der ‘Modenwelt’ und der Muster- bücher im 19. Jahrhundert um eine Wiederbelebung alter Handarbeitstechniken und um die „wissenschaftlich methodische Geschmackserziehung“ der Frau bemühte, entwickelte nach alten Mustersammlungen eine Notation von Buchdruck-Typen, die „die Eigenart der Stickerei nicht blos getreu charakterisiren, sondern auch für die Technik des Nacharbeitens besonders geeignet sind“.283 Diese Musterblätter und - bücher verfolgen didaktische Ziele, sind also gleichzeitig Lehrbücher. Verbindliche Formen der Notation wurden für textile Muster nicht entwickelt. Hierfür sind zum einen unterschiedliche Interessen an diesen Notationen verantwortlich und zum anderen die komplexen Eigenschaften des Textilen. Viele der nicht notierbaren textilen Techniken sind auch nicht mit Maschinen nachvollziehbar, im Sinne einer Vollmechanisierung als Ziel. Diese Techniken werden meist nicht weiterentwickelt, entziehen sich der Beschreibbarkeit. Diese Trennung der textilen Techniken wird in den Wissenschaften weiter vollzogen: Die Ingenieurwissenschaften widmen sich den Problemen der Mechanisierung bzw. Digitalisierung und treffen eine dementsprechende Auswahl, der ‘Rest’ ist, wenn überhaupt, Gegenstand kulturwissenschaftlicher Untersuchungen. Die Ethnologie untersucht traditionell nicht industrialisierte Völker284 und beschreibt die Produkte, die von ihnen hergestellt werden. Bei Seiler-Baldinger sollen die erkannten Gesetzmäßigkeiten der textilen Techniken mathematisch beschreibbar gemacht werden. Dies ist einerseits häufig nicht oder nur unzureichend möglich und in vielen Fällen eine Notationsform, die nur mit Erklärungen und weiteren Beschreibungen verständlich ist. Der Zweck ist ein dokumentarischer, historischer, erkenntnistheoretischer, er dient nicht der Wiederholung der Handlung. Die mathematische Notation der Krawattenknoten ist exemplarisch für die Komplexität textiler Techniken und die daraus resultierende Komplexität mathematischer Beschreib- und Berechenbarkeit. Auch die Klassifizierung gemäß Symmetrien, die Washburn einführt, dient der Beschreibbarkeit und der Vergleichbarkeit, nicht dem praktischen Nachvollzug. Eine Ausnahme bilden die vorgestellten Untersuchungen von Paulus Gerdes. Diese Beobachtungen zeigen, daß es (textile) Techniken, meist von Frauen erfunden und ausgeführt, gibt, die weder maschinell nachempfunden werden können noch mathematisch beschreibbar sind noch der linearen Schrift, also dem Logozentrismus, einzuverleiben sind. Es gibt also eine Vielzahl von textilen Techniken, die unbenannt und fast unbeschreibbar sind. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß alle beschriebenen stoffbildenden Techniken Muster generieren bzw. die Muster die ‘Flächen’ konstituieren, indem sie die Wiederholbarkeit gewährleisten. Dies beruht auf der Erkenntnis des Menschen: Er erkennt und bestimmt das Muster und nutzt seine Eigenschaft der Wiederholung. Die 283 Lipperheide (1890): S. 55, 53 284 Leroi-Gourhan (1971): S. 9 117 Symmetrie und Regularität erleichtern die Reproduktion. Das Muster erfüllt hier zunächst eine technische Funktion. Die Tätigkeit der Textilproduktion schafft weitere Erfahrungen. Die Herstellung von Textilien erfordert raumgreifende Bewegungen, die einer je definierten Richtung folgen. Die Muster konstituieren in der beschriebenen Weise Vorder- und Rückseite (Durchdringung der Fläche, einseitige Bearbeitung, technische Symmetrie) und somit die Erkenntnis von Raum. Wie die Untersuchungen von Paulus Gerdes gezeigt haben, muß die Erkenntnis des Musters, der Symmetrie in der Natur nicht notwendigerweise der Produktion von Mustern vorausgehen.285 Das textile Produkt ist räumlich, sowohl der Faden als auch die sogenannte Gewebefläche. Das Gewebe ist auf dem Webrahmen, in Spannung, flächig. Verliert es diese temporale Versteifung, diese distanzierende Mechanisierung, wird es räumlich: Es bildet Falten, zeigt seine Rückseite und seine Ränder. Die Tafelmalerei auf Leinwand spannt die Fläche dauerhaft und umgibt sie häufig mit einem weiteren Rahmen. Die Materialität und Technizität des Gewebes gehen hierbei verloren, die Rückseite erfährt höchstens als möglicher Ort der Signatur eine Berücksichtigung. 2,5-d Textile Fraktalität Wenn man ein Stück Stoff zusammenknäuelt, entsteht ein unregelmäßig geformter ‘Ball’. Ein solcher Ball entspricht nicht dem Volumen einer Kugel, seine Dimension ist geringer als drei, ist eine fraktale. Diesem Prinzip folgt die räumliche Struktur des Gehirns: Eine möglichst große Fläche wird auf ein kleines Volumen zusammengefaltet. Der Faltungsindex eines Gehirns gibt das Verhältnis von tat- sächlicher Fläche der Großhirnrinde zur sichtbaren Oberfläche an. Das Falten zweidimensionaler textiler Flächen kann unterschiedliche Formen von Mustern hervorbringen: als Prinzip der Bekleidungs- und Volumenerzeugung sowie als Musterungstechnik im engeren Sinne. Jede Form der Faltung erzeugt auch Dreidimensionalität, eine Differenzierung der Falten kann hinsichtlich ihrer ‘Produktion’ vorgenommen werden.286 Die Falte als Zufälliges, Ephemeres ist ein singuläres Phänomen. Sie wird durch Bewegungen der Elemente oder des Körpers hervorgerufen. Dieser Vorgang kann wiederholt werden, wird jedoch nie zum gleichen Ergebnis führen. Als Muster sind solche Falten trotzdem erkennbar: die oben beschriebene Dünung der Wüste, Tragefalten, die die Haltung des abwesenden Trägers erahnen lassen, die Anweisungen, wie man eine Toga in Falten anzulegen habe. Die Falte als Fixiertes, Berechnetes ist Bestandteil textiler Musterungstechniken. Die Fixierung der Falten durch mechanische (Nähen beim Smoken) oder chemisch-physikalische (Plissée) Vorgänge erzeugt eine dauerhafte textile Dreidimensionalität. Das Falten als plastische Musterungstechnik erweist sich als aufwendige Form der Oberflächensteigerung. Die Lichtreflexionen dramatisieren die Oberfläche, besonders feine, akkurate Fältelungen akzentuieren 285 Hargittai (1992): S. 245f 286 Die Funktion der Falte als Flächenminimierendes und -maximierendes sowie ihr schnittechnischer Einsatz bleiben hierbei unberücksichtigt. 118 eine bestimmte Fläche (die gefältelte Halskrause das Herrschergesicht), steife Falten stabilisieren eine Fläche, haben architektonische Qualität. Diese erstarrten Formen der Faltungen sind offensichtliches Zeichen von Macht: die Beherrschung der Materie, das Eleminieren des Zufalls durch Einführen einer rigiden Ordnung. 3-d Textile Dreidimensionalität Die Untersuchung textiler Volumina verdeutlicht die Relativität der dimensionalen Zuordnung. Im folgenden werden verschiedene Formen textiler Muster vorgestellt, die die Konstruktivität topologischer Dimensionen in bezug auf Textilien zeigen. Die meisten Techniken, die im Kapitel über zweidimensionale textile Muster beschrieben wurden, sind in der Lage, Volumen zu erzeugen. Hierbei gilt es, hüllen- und körpererzeugende Muster zu unterscheiden. Das Filzen bietet eine Möglichkeit der direkten Erzeugung textiler Volumina, ohne die vorherige Linearisierung oder Flächenkonstruktion. Die Wollfasern (bzw. speziell zu verarbeitende Kunstfasern) werden unmittelbar in die gewünschte Form gebracht.287 Ein Muster im definierten Sinn entsteht hierbei nicht, deshalb werden Filzobjekte an dieser Stelle nicht näher untersucht. Textile Techniken wie Häkeln, Stricken und Flechten bilden, wie oben beschrieben, Flächen. Durch das Schließen der Fläche im Arbeitsprozeß entsteht eine volumenhafte Hülle. Für das Häkeln und Stricken bedeutet dies, am Ende der ersten Reihe nicht die Arbeit zu wenden, sondern zu einem Kreis zu schließen. Der Zusammenhang zwischen Linie und Kreisform wird offensichtlich. Das Flechten eröffnet sehr viele Möglichkeiten der Raumbildung. Man unterscheidet das Schlauchflechten, das einen Hohlraum erzeugt, vom Kordelflechten, das eine kompakte ‘Säule’ mit variablem Querschnitt hervorbringt.288 Das Korbflechten vermittelt zahlreiche Zusammenhänge geometrischer Art. Die Anzahl der Staken kann während des Arbeitsvorgangs variiert werden (die Anzahl der Kettfäden eines Gewebes ist immer konstant). Ein bauchiger Korb kann also durch das Einfügen von zusätzlichen Staken hergestellt und hierdurch die Abhängigkeit des (zählbaren) Umfanges und des Volumens erfahren werden. Ein Problem, das sich die Architektur gleichermaßen stellt, ist die Transformation eines quadratischen Raumgrundrisses in eine runde Form.289 Mit der Richtungsänderung geht beim Flechten eine Änderung des Musters einher, das die Transformation bewirkt. Barber schreibt, daß vor der Entdeckung der Töpferei Behälter für Flüssigkeiten hergestellt wurden. Geflochtene Behälter wurden hierfür mit Teer abgedichtet.290 Das Muster, die Konstruktion des Behälters ist hier nur noch hinsichtlich seiner Dichte von Bedeutung. Entsprechend ließen sich andere Formen textiler Behälter aufzählen (Fischfangkörbe, Transportnetze, Käfige, Siebe), deren Konstruktion dem Zweck experimentell angepaßt wurden.291 287 Burkett (1979): S. 79, 102 288 Seiler-Baldinger (1991): S. 49 289 Daidalos (1988): S. 32 290 Barber (1994): S. 130 291 Form + Zweck (1998): S. 7 119 Textile Muster, die einen dreidimensionalen Körper erzeugen, sind wesentlich seltener in praxi anzutreffen. Das Quilten oder bestimmte Formen des Stickens schaffen Hohlräume, die mit anderen Materialien gefüllt werden (wadded quilting, Überfangen). Es gibt jedoch auch plastische Formen der Stickerei und des Flechtens (Kordelflechten). Eine besondere Form, einen textilen Körper zu erzeugen, ist das japanische Tamari, eine alte Handwerkskunst zur Ballherstellung. Durch eine besonders kunstvolle Form des Wickelns mit Hilfe fixierender Stecknadeln werden mehrfarbige, plastische Muster erzielt.292 Doppel- und Florgewebe Beim Weben werden linearisierte Fasern, Fäden, in ein orthogonales Muster gefügt. Doppel- und Florgewebe sind eine besondere Form von Geweben, die sich von der Fläche in den Raum ausdehnen. Anhand einer exemplarischen Analyse werde ich zeigen, daß sowohl Doppel- als auch Florgewebe aus der Flächenkonstruktion heraus entwickelt werden und nicht als Räumliches gedacht sind. Ein Doppelgewebe ist ein Gewebe, das aus mehreren Fadensystemen hergestellt wird. Die verschiedenen Formen der Doppelgewebe und ihre jeweilige Nutzung verdeutlichen die Grundidee der Herstellung: Durch die produktionstechnische Verbindung der Fadensysteme werden Arbeitsgänge gespart. Statt ein Gewebe nachträglich mit einem anderen zu verbinden, kann es in einem gewebt werden. Die Absicht kann hierbei funktional (Thermostoffe) oder ästhetisch motiviert sein (Doubleface). Durch einen zusätzlichen Schuß- oder Kettfaden können Muster (Motive) erzeugt werden, die in der Wirkung einem bestickten Stoff gleichkommen (Lancé, Broché). Um ein Gewebe zu verstärken und zu verdichten oder gezielt eine plastische Musterung herbeizuführen, werden die Gewebeschichten bindungs- technisch statt nähtechnisch zusammengefügt (Matelassé, Pikée). Die Dehnbarkeit, die bei einem Strickstoff gegeben ist, kann bindungstechnisch imitiert werden. Ein elastisches Gewebe heißt bezeichnenderweise Trikot.293 Diese Beispiele zeigen ein weiteres Mal die Bedeutung der Mechanisierung. Das orthogonale System der Weberei ermöglicht das vollmechanisierbare Nachempfinden unterschiedlichster Techniken und Wirkungen. Die Konstruktion der Fläche bzw. mehrerer, geschichteter Flächen ist die Basis dieser textilen Muster. Der Name Doppelgewebe verweist auf die Grundidee, zwei Flächen miteinander zu verbinden. Technisch möglich wären auch weitere Verbindungen, die eine Dreidimensionalität erreichen könnten, wie sie die Gittermodelle der Kristallographie schematisch wiedergeben. Florgewebe folgen demselben Prinzip: Ein Grundgewebe wird auf technisch unter- schiedliche Weise mit Florfäden oder -schlingen versehen. Plüsch, Samt und Frottierstoffe gehören zu den maschinell erzeugbaren Florgeweben. Die Bezeichnung ‘Webpelz’ verweist auf die Absicht, Pelze und Tierfelle mit einer Gewebetechnik zu imitieren. 292 Collingwood (1988): S. 71 293 Hofer (1994): S. 207 120 Die hier aufgeführten textilen Muster und Techniken spielen weder innerhalb der Textilproduktion eine große Rolle noch im Gesamtkontext kunsthandwerklicher und künstlerischer Produktion. Die Herstellung von Teppichen respektive die Teppiche als Wertobjekte wird hingegen sehr viel stärker beachtet. Die Technik des Teppichknüpfens ist hierbei von untergeordneter Bedeutung, sie dient vor allem der Unterscheidung von Kelims oder Webtechniken, die Schlaufen erzeugen.294 Orientteppiche Der Knüpfteppich wird als Orientteppich definiert und in den meisten Fällen gemäß kunsthistorischen Fragestellungen dokumentiert und ausgestellt.295 Die Bezeichnung ‘Orientteppich’ gibt einen ersten, entscheidenden Hinweis. Indirekt wird hier das Objekt, der Teppich, als ein weiteres Mittel genutzt, das heterogene Fremde materialiter einzugrenzen, faßbar zu machen und mit westlichem Blick den Orient zu konstruieren.296 Kurt Erdmann, Autor einiger Standardwerke zum Orientteppich, thematisiert in einer Publikation das Interesse der Europäer an den Orientteppichen. Das 16. Jahrhundert sei geradezu ‘teppichbesessen’ gewesen. Der Teppich wurde zu einem elementaren Mittel der Repräsentation.297 Erdmann beschreibt – unbeabsichtigt – einen wichtigen Baustein des Konstruktes ‘Orient’ in zweifacher Weise: die historische Herleitung europäischen Interesses an ‘orientalischer’ Kunstfertigkeit und der wissenschaftliche Blick des 20. Jahrhunderts, der sich auf den Begriff des Orients als „ein integraler Teil der europäischen materiellen Zivilisation und Kultur“ gründet.298 Einen weiteren Hinweis auf diese Zusammenhänge geben die kategorienbildenden Verständigungsbegriffe, die in der ‘Teppichliteratur’ verwendet werden.299 Holbein- und Lotto-Teppiche erhielten ihre Namen nach westeuropäischen Malern des 16. Jahrhunderts, die, je nach persönlicher Vorliebe, bestimmte Teppiche als Requisiten benutzten. Die innerhalb dieses Diskurses durchgeführten Untersuchungen reduzieren den Knüpfteppich ein weiteres Mal. Seine textilen Eigenschaften, seine Technizität und seine Funktionen werden nur randständig thematisiert bzw. wiederum für genuin kunsthistorische und sammlerspezifische Fragestellungen genutzt. So werden bei- spielsweise die Knotentechniken hinsichtlich ihrer regionalen Herkunft analysiert und Webstuhleigenschaften als Anhaltspunkte für Werkstattbestimmungen genannt. Technische Eigenschaften dienen demnach der Zuordnung und Kategorienbildung. Das Hauptkriterium der Unterscheidung und Bewertung von Teppichen sind ihre Ornamente, von Symbolen, Mustern oder Dessins wird in diesem Zusammenhang auch gesprochen. Das Material, die Feinheit der Musterung (Knotendichte) und die Farbigkeit bestimmen den Wert eines Teppichs. 294 Unter dem Begriff Kelim werden Teppiche ohne Flor, ob gestrickt, gewirkt oder gewebt, verstanden. Iten-Maritz (1984): s.v. ‘Kelim’ 295 Erdmann (1965); Spuhler (1987); Ford (1981) 296 Said (1981): S. 12, 75 297 Erdmann (1962): S. 20 298 Said (1981): S. 8 299 Spuhler (1987) schreibt, es sei müßig, über deren Sinn zu diskutieren, und verwendet auch diese Begriffe. (S. 22) 121 Die Funktion von Teppichen wird meist nur als Ursprungsphänomen behandelt und in diesem Zusammenhang eine nomadische Herkunft postuliert.300 Dieser verbreiteten Interpretation zufolge haben die Nomaden die Teppiche zur Wärmeisolierung verwendet und aufgrund des angeborenen Schmucktriebs des Menschen mit Mustern verziert.301 Mit einer Datierung der ältesten Teppichfunde wird in wenigen Sätzen dem historischen Anliegen Genüge getan.302 Die kunsthistorischen Beschreibungen sind meist schematisch und stellen die Ornamentik in den Vordergrund.303 Zwei Publikationen, die sich differenzierter mit Teppichen beschäftigen, sollen erwähnt werden. Auch diese beiden Autoren reduzieren den Teppich auf eine ikonographische Fläche, um deren Farben und Muster mit Raum und Zeit in Ver- bindung zu bringen. Der Architekt Christopher Alexander, der sich intensiv mit Mustern und Raumvorstellungen innerhalb seines Faches auseinandergesetzt hat, schreibt in einer anderen Publikation über die Schönheit früher Turkteppiche.304 Sein Anliegen ist es, das Phänomen der Ganzheit (wholeness), welches vor allem den alten Teppichen innewohne, aufzuzeigen. Dieses Konzept der Ganzheit sei kein (kunst- )historisches, sondern ein strukturelles, das auf Archetypisches verweise. Die Teppiche könnten nach wie vor als ‘Lehrer’ dienen, die – auch dem Architekten – Raumverständnis vermittelten. Die Qualität der Lehre hinge von der Anzahl lokaler Symmetrien und der Spannung innerhalb der Muster ab. So unterschiedlich die beiden Publikationen Alexanders sind, sie sind beide von der Idee des Musters als Ausdruck archetypischer Einschreibungen geprägt. Alexander ist hierbei nicht an der Frage nach der Existenz solcher Archetypen interessiert, sondern konstatiert und nutzt sie. Die Muster-Sprache, die Alexander entwickelt, versteht sich als ‘Quellentext zum zeitlosen Bauen’. „Die Elemente dieser Sprache sind Einheiten, die wir als Muster bezeichnen. Jedes Muster beschreibt zunächst ein in unserer Umwelt immer wieder auftretendes Problem, beschreibt dann den Kern der Lösung dieses Problems, und zwar so, daß man diese Lösung millionenfach anwenden kann, ohne sich je zu wiederholen. [...] Diese Lösung hat immer die Form einer Anweisung, so daß man genau weiß, was zu tun ist, um das Muster zu bauen.“305 Kritiker werfen Alexander Dogmatismus vor. Ein Vorwurf, der teilweise eine ganze Generation trifft, die methodeneuphorisch nach einer Art ‘Weltformel’ des Bauens gesucht habe.306 Dem soll hier nicht nachgegangen, sondern Alexanders Interesse an Mustern genauer betrachtet werden. 300 z.B.: Spuhler (1987): S. 18. Eine Ausnahme bildet die erwähnte Publikation Erdmanns, der durch zahlreiche Abbildungen die Funktionalisierung der ‘Orientteppiche’ in der europäischen Frühneuzeit dokumentiert. Die Verwendung der Teppiche im städtischen Raum, zur Auszeichnung besonderer Räume im Raum oder auch als profane ‘Tischdecke’, wird nicht als solche thematisiert. Erdmann (1962) 301 Erdmann (1965): S. 15 302 Spuhler (1987) benennt beispielsweise einen Fund aus dem 4. Jh. v. Chr. aus dem Altai-Gebirge. 303 Exemplarisch hierfür: Spuhler (1978). Die Teppiche werden als ‘Bild’ präsentiert, begleitet von abgekürzten Informationen zu Material und Knoten, Format und Herkunft. Die Beschreibung bezieht sich auf die Benennung der Muster und Ornamente. 304 Alexander (1995) und (1993). Die ‘Pattern Language’ sollte eine Theorie formulieren, die die Abhängigkeiten von Handlung und Raum aufzeigt. Hieraus entsteht ein System von Mustern, das als Sprache begriffen wird. Wörter entsprechen Mustern, Grammatik und Semantik entsprechen Mustern, die die Anordnung der Muster beschreiben, und es gibt Sätze, die Räumen und Gebäuden entsprechen. 305 Alexander (1995): S. Xf 306 Arch+ (1984): S. 66 122 Alexander definiert den Begriff des Musters (pattern) nicht und verwendet ihn in konventioneller Weise. Die strukturelle Korrespondenz von Problemstellungen und Entwurfsprozessen habe ihn zu dem Vorhaben gebracht, dem Entwerfen eine rationale Basis zu geben.307 Das strukturelle Moment der Wiederholung, das Charakteristische des Musters, ist bei Alexander die Grundlage für die Entwicklung einer entwurfspraktischen Sprache. Die Bewegung der Repetition ist eine zweifache: Einerseits weisen Problem und Entwurf für Alexander das gleiche Muster auf, andererseits versteht er Bauaufgaben als Muster, die in jeder Epoche und jeder Gesellschaft immer wiederkehren. Diese Bauaufgaben, vom städtebaulichen Groß- projekt bis zur ‘Bank vor der Tür’, ordnet er linear an und stellt sie als global und historisch da. Die Antwort auf diese Probleme ist ein zeitloses und damit ‘end- gültiges’ Bauen. Die elementare Aufgabe, der sich Alexander stellt, ist also das Er- kennen der Musterhaftigkeit der Bauaufgaben. Diesen Aspekt thematisiert er jedoch nicht. Sein mehr als zwanzig Jahre später geschriebenes Werk zu den Turkteppichen zeugt von einer Wende zum Spirituellen und Didaktischen. Die Eigenschaft des Musters, sich zu wiederholen, wird von Alexander zum Nachweis der Richtigkeit bestimmter Bauweisen oder in seinem späteren Werk noch elementarer: eines bestimmten Raum- und Weltverständnisses genutzt. Die Subjektivität seiner Wahrnehmung, die Bedingungen, ein Muster zu einem Muster zu erklären, werden von ihm nicht bedacht. Festzuhalten ist jedoch an dieser Stelle die Funktionalisierung des Musters als Beweis. Der Teppichexperte Eberhart Herrmann untersucht ein spezielles Teppichmuster auf seine Bedeutung als ‘geometrischer Ausdruck kosmischer Bewegungsprinzipien’.308 Die kunsthistorische Forschung habe Sinn und Ursprung der Teppichmuster noch immer nicht ergründen können, teilweise sei noch nicht einmal der Bedeutungsgehalt als Forschungsgegenstand anerkannt. Die Annahme, der Teppich habe sich aus den wärmenden Fußmatten der Nomadenzelte entwickelt, also aus einem Gebrauchsgegenstand, liegt dem zugrunde. Herrmann geht nun von einem Gesamtzusammenhang der Muster aus, der sich auf die Anwendung der kosmischen Bewegungsgeometrie der Himmelskörper gründet. Seine Ausführungen tragen der Komplexität der Muster (hier die sogenannten Lotto-Arabesken, benannt nach dem italienischen Maler, Lorenzo Lotto) Rechnung, die man nicht als Ausdruck reiner Dekorationslust sehen kann. Die Funktionalisierung des Teppichs ist teilweise durch seine Materialität bestimmt, in erster Linie jedoch durch seine Musterung. Teppiche und Gewebe als Grabbeigaben im Rahmen des Toten- und Ahnenkultes wurden mit Mustern versehen, die unheilvolle Geister abwehren sollten. Das Flexible und Ephemere des Textilen macht es zu einem idealen Medium der Transition. Als Auszeichnung des Herrscherortes spielen Teppiche und ihre Muster auch im Diesseits eine wichtige Rolle. Diese textilen Aspekte finden auch bei Herrmann keine Beachtung, der Hinweis auf eine elaborierte Form der Musterentwicklung und ihre Funktionalität bilden jedoch eine erwähnenswerte Ausnahme. 307 Arch+ (1984): S. 65 308 Herrmann (1999) 123 Auch für die Teppiche, als Forschungsfeld der Kunstgeschichte, der Textilwissen- schaft und der Ethnologie erscheint es sinnvoll, die Materialität, Technizität und Funktionalität zu bedenken. In bezug auf die Funktion des Musters sollen hier nur einige Stichpunkte genannt werden, die schon in Zusammenhang mit anderen textilen Mustern ausführlich behandelt wurden. Das Grundmuster des leinwandbindigen Gewebes gibt ein Koordinatensystem mit definierter Breite und variabler Länge vor. Hier ist ein unmittelbarer Zusammenhang von technischen Gegebenheiten (der Webstuhl) und formalem Ergebnis zu erkennen: Die meisten Teppiche sind rechteckig, die Ausrichtung ihrer Muster bezieht sich auf die Webstuhlvorgaben von Länge und Breite. Der Eintrag des Musters geschieht auf sehr direkte Weise, ohne weiteres Hilfsmittel. Der Vorgang des Teppichknüpfens konstituiert unmittelbar eine Zweiseitigkeit des Teppichs, also Räumlichkeit. Kulturell determiniert wird die Florseite als Vorderseite behandelt (im Gegensatz hierzu werden beispielsweise Tierfelle für Bekleidung mit der Fellseite nach innen verarbeitet). TechnoTextiles Der Begriff der TechnoTextiles bezeichnet eine relativ junge Entwicklung innerhalb der textilen Produktion. Institute für Textiltechnik wie das ITA in Aachen beschäftigen sich mit der Entwicklung neuer, technischer, Textilien, die mittlerweile in nahezu jedem Industriezweig eingesetzt werden. Galt der Blick der Forschung bislang in erster Linie den Materialien, vor allem der Imitation der natürlichen Fasern, richtet sich das Interesse nun auf die Konstruktion des Textilen. „Textiles have ceased to be regarded as a flexible, permeable, decorative material, best suited to clothing and soft furnishing.“309 Der Einsatz technischer Textilien reicht von der Prothetik bis hin zum Flugzeugbau. Ihre Überlegenheit gegenüber anderen Materialien liegt vor allem in den Bereichen Gewichtsminimierung, Festigkeits- und Sicherheitsvergrößerung. Das weitgefächerte Gebiet der Anwendung erfordert eine ebenso weite und innovative Nutzung unterschiedlichster Wissensressourcen. Hierzu gehören die Kenntnis der traditionellen Formen textiler Techniken zwecks ihrer Umsetzung in fortgeschrittenste Produktionstechnologie, das Wissen um chemische und physikalische Eigenschaften der Materialien und die Bionik, die Lösungsmodelle aus der Natur bereithält. Die Möglichkeiten der TechnoTextilien sollen hier nicht thematisiert, eine erkennbare Tendenz dieser Entwicklung jedoch benannt werden. Neben den vielfältigen Einsatzmöglichkeiten scheint ein anderes Anliegen der Produktion ein ihr inhärentes zu sein: die Reduktion von Arbeitsschritten. Das dreidimensionale Weben, das in ersten Ansätzen stattfindet, funktioniert nach denselben Prinzipien und mit denselben Mustern des zweidimensionalen Webens. Das Formen der Fläche durch Nähte entfällt hierdurch. Der Einsatz chemischer Substanzen wird genutzt, um Oberflächenstrukturen zu erhalten respektive zu verändern. Es entstehen plastische Muster, die herkömmliche Formen des Plissierens oder auch Smokens imitieren. Demzufolge sind sowohl die ästhetischen als auch die konstruktiven Muster textiler Techniken virulent. 309 Braddock/O’Mahony (1998): S. 71 124 Der Zuschnitt von Hüllen, Bekleidung (im weitesten Sinn) als Prinzip, das die Wahrnehmung des Textilen als Zweidimensionales zur Voraussetzung hat, gehört nur bedingt in den hier bearbeiteten Zusammenhang. An dieser Stelle soll nur diese Bedingung kurz expliziert werden. Die Binnengliederung des Kapitels über textile Muster orientiert sich an ihren dreidimensionalen Ausprägungen. Die Erfahrung der Dimensionen mittels textiler Muster und die Konstruktivität des Zwei- und Dreidimensionalen aufzuzeigen, war ein Ziel der Darstellung. Der Mensch nutzt das textile Muster vor allem als Flächenkonstituierendes und favorisiert hierbei die gewebte Fläche. Diese Flächen werden in erster Linie für die menschliche Bekleidung oder die Bekleidung menschlicher Räume genutzt. In beiden Fällen geht es um die Konstruktion eines Dreidimensionalen aus dem Zweidimensionalen. Viele der durch die Ausführung textiler Techniken erlernten geometrischen Zusammenhänge finden hierin ihre Anwendung: Zylinder- konstruktionen aus dem Rechteck oder das Koordinatensystem. Die Voraussetzung westlicher Bekleidungsformen ist ein elementares Verständnis der Zusammenhänge von Flächen und Volumina. Die Definition des Textilen als Fläche ermöglicht erst den berechneten Zuschnitt von Bekleidung. Das Schnitt-Muster trägt die Erkenntnis der möglichen Wiederholung aufgrund ähnlicher zu bekleidender Formen (der menschliche Körper) oder massenhafter Produktion in sich. Als Muster im hier definierten Sinn hat es darüber hinaus keine Bedeutung. Andere Formen textiler Produktion, wie die angeführten Beispiele des Flechtens, demonstrieren einen anderen Zugang: Das Dreidimensionale wird unmittelbar erzeugt. Die oben beschriebenen Entwicklungen der Textilforschung lassen ein Ende der Dominanz des Gewebes erahnen. 3,5-d Textile Fraktalität Eine Abbildung soll die Idee dieser textilen Fraktalität verdeutlichen. Der Designer Emilio Pucci entwirft ‘colours in motion’.310 Die Abbildung 13 zeigt einen burnus- artigen Seidenumhang mit Kapuze von 1965. Pucci versetzt die Farben mit Hilfe der Muster in Bewegung. Die Bewegung entsteht durch das Zusammenspiel von Farbe und Muster. Sie ist ein durch die visuelle Wahrnehmung Konstruiertes und nicht durch den Menschen oder die Natur (z.B. den Wind) Hervorgerufenes. Das fraktale Spiel läßt sich weitertreiben: Die Abbildung 14 zeigt die berechneten, visualisierten Bewegungsmöglichkeiten eines Pendels, deren Muster auf bizarre Weise dem Pucci- Muster ähnlich sind. Diese Visualisierungen dynamischer Prozesse werden im Kapitel ‘Die kognitive Dimension des Musters’ genauer betrachtet. 310 Kennedy (1991): S. 146 125 4-d Textile Vierdimensionalität Die bisherige Darstellung stellte das Muster als Akteur in den Vordergrund. Der Mensch trat hierfür als Ausführender in den Hintergrund, wurde zum scheinbar passiv Erfahrenden. Es geht hierbei um eine spezifische Sicht auf das Textile, die die Konstitutivität des Musters für das Textile betont und die Bedeutung des Textilen hervorhebt. Die vierte Dimension als Zeitfaktor ruft das Historische, die Historizität auf. Der Mensch wird zum Akteur, zum Handelnden, der das Muster je anders funktionalisiert. Als Medium dieser Funktionalisierung wird in diesem letzten Abschnitt das Textile als Körper- und Raumbekleidendes untersucht.311 Eine Funktionalisierung der spezifischen Eigenschaften des Musters ist selten bzw. nicht offensichtlich. Die strukturellen Elemente des Musters der Repetition, des Rhythmus’ und der Symmetrie sprechen die Wahrnehmung, die visuelle Intelligenz des Menschen an, nutzen die Attraktorfunktion des Musters. Die Lenkung der Aufmerksamkeit ist intentional. Über diese Absicht hinaus kann das Muster weitere Bedeutung transportieren. Für die Bekleidung ist das Muster in kennzeichnender Funktion von Bedeutung. Diese Kennzeichnung basiert in den meisten Fällen auf dem symbolischen Gehalt der Mustermotive. Die symbolische Nutzung des Musters, oder neutraler ausgedrückt, die Bedeutungsaufladung eines Motivs ist eine historische Operation, sie beruht auf Konventionen. Die ausgewählten textilen Muster demonstrieren verschiedene Arten dieser beiden Funktionen bzw. die Kombinationen. Die folgenden Ausführungen haben exemplarischen Charakter, da es auch in diesem Kontext nicht darum geht, die (historische) Entwicklung bestimmter Muster oder ihrer Funktionen im Sinne von Funktionswandeln nachzuzeichnen. Die von mir vorgenommenen Zuordnungen bewegen sich quer bzw. entgegen etablierten Kategorien der Kostüm- und Kunstgeschichte, die Chronologien (evolutive Fundierungen), stilistische, geographische und Werkstattbestimmungen zum Ziel haben. Die Beispiele sind dem westeuropäischen Kontext seit dem Mittelalter entnommen. Sie werden vor allem als Bildquellen befragt. Mit der Abbildung des textilen Musters führe ich eine weitere, zu kennzeichnende Ebene ein: die des musterwahrnehmenden und (mimetisch) musterabbildenden Menschen. Die Historizität menschlicher Wahrnehmungsgewohnheiten läßt sich an den verschiedenen Darstellungsmodi textiler Muster deutlich ablesen.312 Die Muster der Tarnung Das Muster in seiner tarnenden Funktion rekurriert auf die Bedingungen mensch- licher Wahrnehmung, auf seine optisch-irritierende Wirkung. Die Farbigkeit der Musterung ist hierbei von entscheidender Bedeutung. Das Zusammenspiel von Farbe 311 Die Funktionsbestimmung von Textilien in bezug auf den Menschen und seine Umgebung kann und soll hier nicht geleistet werden. Das Textile als ein Ort der Musternutzung bezeichnet gleichermaßen eine seiner Funktionen. 312 Duby (1999): S. 569 126 und Muster wiederum muß auf ein definiertes Ziel, eine Umgebung hin abgestimmt sein. Erscheinungsbild und Funktion sind hier auf das engste verknüpft: Die grün- braunen Flecken eines militärischen Tarnanzuges erzielen im Foyer einer Oper eine kontraproduktive Wirkung. Der Mensch übernimmt hier das Vorbild aus der Natur und nutzt seinen Vorteil gegenüber den meisten Tieren, die Kleidung wechseln zu können, also nicht auf eine generationendauernde evolutive Anpassung warten zu müssen. Gemäß biologischem Terminus bedient sich die Tarnkleidung vor allem der Somatolyse: der Tarnung durch Auflösen der Körperumrisse.313 Dieses Verschmelzen mit dem Hintergrund kann allein durch Farbe in der Natur nur selten erreicht werden (letztlich bieten nur große Eis- oder Schneeflächen eine monochrome Fläche). Das Muster, das den Körper überzieht, ohne auf seine Konturen Rücksicht zu nehmen, löst diese gleichermaßen auf. Die Uniformierung im weitesten Sinn löst die Konturen des Einzelnen mit einer anderen Intention auf. Die Uniformität macht den bekleideten Körper des Individuums zu einem Musterelement. Diese Funktion des Musters, die durch die Kleidung unterstützt wird, wird später ausführlich behandelt. Die Übernahme militärischer Tarnmusterungen in die modische Zivilbekleidung als ‘Camouflage-Dessin’ ist wiederum ein Beispiel für die Historizität der Be- deutungsgehalte von Mustern. Der Funktionswechsel als modische Operation ist an eine Zeit gebunden, hier vor allem die 1980er Jahre. Die Nutzung von Tierfellen, -pelzen und -häuten für die Bekleidung gibt es bis in die Gegenwart, eine Funktionalisierung im Sinne der Mimese oder Mimikry ist hiermit nicht intendiert. Vielmehr handelt es sich um Demonstrationen von Macht und Reichtum, die auf Konventionen sozio-kultureller Art rekurrieren. Das Muster ist in diesem Zusammenhang von sekundärer, wenn nicht tertiärer Bedeutung. Als Merkmal eines Felles dient es der Identifikation und Benennung, z.B. ‘Leopardenmuster’ oder ‘Ponyfell’. Die ‘Schönheit’ des Musters, seine Farben und Symmetrien, bestimmt die Qualität. Die meisten Pelze sind jedoch nicht an einem charakteristischen Muster zu erkennen, sondern anhand ihrer Fellstruktur und dem Griff. Der Wert korreliert mit der Seltenheit eines Tieres. Das Tierfell als Ort der Erkenntnis von Musterforschern wird später thematisiert. Das Abbilden und Beschreiben textiler Muster Der Wechsel von der mittelalterlichen Bedeutungsperspektive zur Zentralperspektive läßt sich anhand einer Bilderfolge zeigen, hierbei wird deutlich, daß dieser Übergang in bezug auf das textile Muster eine Verzögerung erfahren hat. Die Folge der Abbildungen 15, 16 und 17 zeigt drei unterschiedliche Darstellungs- modi textiler Muster in chronologischer Ordnung. Die um 1340 entstandene Wandmalerei eines Giotto-Schülers zeigt drei junge Frauen, die von ihrem ver- schuldeten Vater zur Prostitution gezwungen worden sind. Die Kleiderordnungen schreiben für Prostituierte das Tragen eines gestreiften Gewandes oder Halstuchs vor.314 Die Darstellung der Streifen der Gewänder ignoriert sowohl die Körperformen 313 Vogel/Angermann (1978): S. 221 314 Pastoureau (1995): S. 26 127 als auch die aus ihnen resultierenden Gewandfalten. Dem Maler geht es um die Betonung der Streifen und ihre kennzeichnende Bedeutung. Darüber hinaus wird das Gestreifte durch die dynamisierende diagonale Anlage der Streifen betont. Die Darstellung des Ralph Neville, Earl of Westmorland (um 1410–30), ist perspek- tivisch mit einem Fluchtpunkt angelegt, wie sich an den Bodenfliesen erkennen läßt. Die Muster der Gewänder – besonders gut bei der mittleren Person zu erkennen – folgen hingegen nicht der perspektivischen Verkürzung. Anders als bei der Darstellung des 14. Jahrhunderts geht es hier nicht um einen Verweis auf den Bedeutungsgehalt, aber gleichermaßen um die Betonung des textilen Musters. Dessen Wirkung soll ohne störende Faltungen als Mittel der Repräsentation gezeigt werden. Eine solche ‘unperspektivische’ Darstellung ist für das 16. Jahrhundert nicht mehr denkbar. Lucas Cranach d.Ä. malte um 1514 Herzogin Katharina von Mecklenburg in einem Brokatkleid, dessen Muster den Rollfalten des Rockes folgen. Das perspektivisch geschulte Auge ist in der Lage, das Muster zu ergänzen und dadurch als Ganzes zu erfassen. Der Schnitt eines solchen Kleides erfordert eine große Menge Stoff, so daß zu dem Wert der Stoffqualität und des Stoffmusters die Stoffquantität als weiteres Distinktionsmittel hinzukommt. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, daß bis ins 16. Jahrhundert Dekora- tionsstoffe nicht von Kleiderstoffen unterschieden wurden.315 Demzufolge wurden Kleider auch aus Stoffen mit großrapportigen Mustern hergestellt. Die Idealisierung durch den Maler war entsprechend häufiger ‘notwendig’. Das Bild der spanischen Infantin, das noch detailliert beschrieben wird, (Abbildung 18) zeigt diese Wechselwirkungen der Mode und ihrer Darstellung als Mittel der Repräsentation. Das Kleid ist nun nicht mehr in der malerischen Darstellung zur faltenlosen Abbildung des Musters stilisiert, sondern hat in natura eine durch einen Reifrock glatt gespannte Form erhalten. Das Porträt und die Kleidung, beide als Mittel der Repräsentation, unterliegen dem (sozial-)historischen Wandel. Für die weitere Betrachtung der textilen Muster als Bekleidungstextilie sind andere Zusammenhänge zu bedenken. Mit dem erwähnten Erfassungsbogen, der sich im Anhang befindet, schlage ich eine differenzierte Form der Beschreibung des textilen Musters vor. Eine solche Beschreibung nimmt das Textile isoliert wahr, als musea- lisiertes Fragment. Der Verwendungszweck einer Textilie bestimmt jedoch maß- geblich die Funktionalisierung des Musters bzw. determiniert das Muster die Ver- wendung. Eine eingehende Musteranalyse sollte deshalb das ‘Kleid’, seinen Träger und den Raum berücksichtigen. Die Rapportgröße eines Musters, und hiermit ver- bunden das Motiv der Repetition, sind von zentraler Bedeutung: Der ideale Betrachter, seine Distanz zum bekleideten Körper oder ‘bekleideten’ Raum kann definiert und eine Aussage über das Verhältnis von Körper und Kleid gemacht werden. Des weiteren ist die Plazierung des Musters am Körper vermittels Schnitt oder Drapierung von Bedeutung. Der Körper kann durch das Muster nachgezeichnet, konturiert und seine Symmetrien betont werden. 315 Olligs (1970): S. 21 128 Die Plazierung des Musters an Kanten und Öffnungen von Kleidungsstücken läßt sich vordergründig technisch herleiten: Die offenen Schnittkanten bedürfen einer Fixierung, die Ausgestaltung dieser Fixierstiche führt zu ‘Schmuckformen’. Da jedoch nicht jede Schnittform und jedes Material gesichert werden müssen, kann dies nicht als alleiniger Grund gelten. Barber beschreibt eine Funktionalisierung des Musters an diesen Stellen von Bekleidung. Weltweit gesammeltes ethnograpisches Material würde die Bemühungen des Menschen belegen, mittels Körperdekorationen böse Geister und Krankheiten abzuwehren. Viele Kleidungsstücke slawischer Völker seien mit roten Stickereien an Ärmel- und Saumabschluß sowie dem Halsausschnitt versehen. Die rote Farbe und die Symbole stehen für die Lebenskraft, die erhalten bleiben soll. Deshalb gelte es, die Öffnungen vor Attacken zu schützen.316 Die Eigenschaften des Musters der Symmetrie, der Repetition und des Rhythmus’ entfalten ihren Wirkungskreis. Nicht immer ist zu klären, wer warum welches Muster eingesetzt hat, festzuhalten ist jedoch, daß dieser Einsatz intendiert ist und nicht einer Laune der Dekoration oder einem horror vacui entspringt. Für die Wahrnehmung der Muster ist ihre Farbigkeit von großer Bedeutung. Als weiterer Parameter der Musterbeschreibung soll die Farbe jedoch nicht eingeführt, sondern nur als verstärkendes Moment benannt werden.317 Muster in grellen oder stark kontrastierenden Farben ziehen den Blick an. Muster und Farbe dienen sich hier wechselseitig der Erhöhung. Das Ziel, den Blick vermittels Muster und/oder Farbe anzuziehen, kann unter- schiedlichste Gründe haben. Eine erste Gruppe von funktionalisierten Mustern läßt sich unter dem Begriff der Differenz zusammenführen. Das Muster als Differenzierer Muster und Farbe von Uniformen wirken in zweifacher Weise als Differenzierer. Zum einen ermöglicht die Uniformierung der Heere das Erkennen des Feindes, zum anderen werden sie zur Abbildung der Rangfolge innerhalb des eigenen Heeres genutzt.318 Die Erkenntnis des Anderen ist der visuellen Wahrnehmung zuzuordnen, die Hierarchisierung hingegen beruht auf Übereinkunft. Diese ‘stufenweise’ Funktionalisierung von Mustern läßt sich letztlich auf das Bekleidungsverhalten des gesamten hier behandelten Untersuchungsraumes anwenden. Die Kennzeichnung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen durch Bekleidung nutzt die Parameter des Materials, der Farbe, des Musters und des Schnitts. Das Streifenmuster ist ein sehr auffälliges, das Auge irritierendes.319 Dieses Wahr- nehmungsphänomen wird durch Übereinkunft funktionalisiert, um unterschiedlichste 316 Barber (1994): S. 94, 162 317 Die Untersuchung der Bedeutung der Farben eröffnet ein weites Feld, das hier nicht einbezogen werden kann. Siehe hierzu: Nixdorff/Müller (1983) 318 Snodin/Howard (1996): S. 100 319 Und es ist ein Muster, dem sich in monographischer Form bereits genähert worden ist. Der französische Historiker Michel Pastoureau beschäftigt sich mit der Sozialgeschichte der Streifen, mit der Frage nach der Verbindung von Opitschem und Sozialem im Rahmen der jeweiligen Gesellschaften. Pastoureau (1995): S. 7 129 Gruppen zu kennzeichnen. Innerhalb dieser Gruppen, beispielsweise der Marine, dienen die Streifen der Hierarchisierung, indem sie einen eigenen semiotischen Code ausbilden.320 Die Sträflingskleidung ist ein anderes Beispiel für gestreifte Bekleidung, die auffällig und eindeutig konnotiert ist und der staatlichen Überwachung dient. Wie weit die Perfektionierung einer vestimentären Instrumentalisierung gehen kann, schildert Bärbel Schmidt in ihrer Untersuchung der ‘Zebra-Kleidung’ der KZ- Häftlinge. Das verinnerlichte Bild des Verbrechers in gestreifter Kleidung dient der Vernichtung auf verschiedenen Ebenen. Schmidt unterscheidet innere und äußere Wirkung, wobei letztere noch weiter differenziert wird in die Reaktionen inner- und außerhalb des Konzentrationslagers.321 Pastoureau schreibt, daß sich die diskriminierende Bedeutung der Streifen bis in die Karolingerzeit nachweisen lasse.322 Kranke, Andersgläubige, Prostituierte, Henker, Leibeigene, Verurteilte und Possenreißer wurden durch das Tragen zweifarbiger Kleidung ausgeschlossen. Die getroffenen Übereinkünfte hinsichtlich dieser Aus- schlüsse und vor allem der Markierung der Standesgrenzen manifestieren sich u.a. in den Kleiderordnungen.323 Wie bereits beschrieben wurde, ist der Streifen das am leichtesten zu erzielende Muster in einem Gewebe. Auch für die Strickwarenherstellung läßt sich ein solcher Zusammenhang nachweisen.324 Auffällige, klare Farben, die gleichermaßen diesen Zweck erfüllen würden, waren aufgrund ihres hohen Preises ein Kennzeichen der Priviligierten. Die Verwendung eines bestimmten Musters läßt sich also auf technische Bedingungen zurückführen. Pastoureau nennt die Metonymie als wesentliches Charakteristikum der Streifen, die ihre Funktionsweise bestimme.325 Die Wahl eines weniger sprachwissenschaftlich besetzten Begriffs, der das definierte Verhältnis von Teilen und Ganzem beschreibt, erscheint mir sinnvoller: Das Prinzip des Musters, die unendliche Wiederholung des Rapports, beinhaltet diese Erkenntnis. Nur wenige Stoffmuster sind so eindeutig konnotiert wie die Streifen. Als Gründe hierfür sind der optische Effekt der Streifen und ihre einfache Produzierbarkeit zu nennen.326 Die Funktionalisierung anderer Muster ist wesentlich von Konventionen bestimmt und unterliegt stärker dem historischen Wandel. Als Untersuchungsgegenstand der Heraldik und Emblematik werden meist nur die Motive, nicht die Muster untersucht. Höfische Wappen, Abzeichen bis hin zu Firmenlogos verwenden ihrer Entstehungszeit entsprechende visuelle Reize und Assoziationen und nutzen die Eigenschaft der Repetition auf unterschiedliche Weise. Das Motiv, beispielsweise die bourbonische Lilie, wird als Bestandteil des Rapports in der Fläche wiederholt, bildet ein Muster. Als Stoffmuster findet es Eingang in 320 Pastoureau (1995): S. 100 321 Schmidt (2000): S. 132f 322 Pastoureau (1995): S. 19 323 Eisenbart (1962); Lehner (1984) 324 Pastoureau (1995): S. 101 325 Pastoureau (1995): S. 117 326 Es gibt andere Stoffmusterungen, beispielsweise Moiré, deren Illusionseffekt größer, ihre Herstellung aber sehr viel komplizierter ist. 130 Gemäldedarstellungen und wird so über Zeit (Wiedererkennung) und Raum (Verbreitung) wiederholt. In Verbindung mit den Initialen Louis Vuittons wird die Lilie zum Markenzeichen einer Pariser Luxusfirma und behält die Idee der Auszeichnung des Priviligierten bei. Dieselben Mittel, die Inhalte politisch diametral entgegengesetzt, kommen bei den sogenannten russischen Propagandastoffen zum Einsatz. Motive mit Bezeichnungen wie ‘Oktober’, ‘Flugstaffel’, ‘Fabrik’ oder ‘Fünfjahresplan’ wurden in den 1920er Jahren als Stoffmuster zur Verbreitung und Stärkung sozialistischer Ideen eingesetzt.327 Ihre Umsetzung in Stoffmuster nutzt gleichermaßen das dynamisierende Moment der Repetition, Symmetrien, wie man sie auch bei Brokatmustern des 16. Jahrhunderts erkennt, und den rhythmisierenden Effekt, der im Einklang mit der evozierten Massenbewegung steht.328 Die Komplexität und die Materialität von Mustern kann als Hinweis auf ihre Funktion gedeutet werden. Der Betrachter erfaßt auch ohne spezifische Kenntnisse das Wertvolle eines Stoffmusters und wird die Kennzeichnung des Besonderen vermuten. Das Muster kann also unabhängig von den Inhalten seiner Motive als Herrschaftszeichen wahrgenommen werden. Das Beispiel der Sammlung russischer Textildrucke kann in Zusammenhang mit dem Wert von Mustern hier ein weiteres Mal eine Bedeutungsumkehrung demonstrieren: einfache Stoffe in Leinwandbindung, häufig nur mit zwei Farben bedruckt. Material und Ausführung des Musters vermeiden bewußt die Priviligierung. Das Muster als Mittel der Distinktion Der Modehistoriker Christopher Breward beschreibt die Kleidung der Renaissance als ein rhetorisches Machtsystem329, das die Möglichkeit bereithielt, aufgrund von Übereinkünften Aussagen über das Postulat der Herrschaft hinaus zu treffen. Die Differenzierung der Textilsprachlichkeit wird von Stoffqualitäten, Schnitten, Farben und Mustern bestimmt und mittels Kleiderordnungen reglementiert. Nur die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, ihre innere Kenntnis, läßt es zu, die rhetorischen Feinheiten zu ‘lesen’, eine Binnengliederung des Reichtums und der Macht zu er- kennen. Die folgende Analyse eines Gemäldes aus dem späten 16. Jahrhundert zeigt, welchen Anteil das Muster an diesem rhetorischen System hatte. Das Bild (Abbildung 18) des spanischen Malers F. de Llano porträtiert die Infantin Isabella Clara Eugenia im Alter von 18 Jahren. Sie steht aufrecht, den Blick dem Betrachter zugewandt, in einem durch Textilien begrenzten Raum (textile Wandbespannung und Bodenteppich).330 Ihr Kleid weist die typischen Elemente der spanischen Hoftracht auf, bestehend aus einem enganliegenden Mieder, hier mit tiefer Schnebbe und Stehkragen und einem 327 Jassinskaja (1983): S. 13. Die Publikation enthält fotografische Abbildungen der Textilfragmente. Gegenwärtig befinden sich diese Fragmente oder Entwürfe zu den Druckstoffen teilweise in der von mir untersuchten ‘russischen Sammlung’. 328 Jassinskaja (1983): S. 16, Abb. ‘Traktor’ S. 103 329 Breward (1995): Kap. 2 330 Die Beschreibung beschränkt sich auf die abgebildeten Textilien und deren Muster und ist dementsprechend weder kunst- noch kulturhistorisch stringent durchgeführt. Die zweite Person, die Äffchen, das Medaillon an exponierter Stelle als Bedeutungsträger werden bewußt nicht mitbeschrieben. 131 kegelförmigen, vorne geschlossen Rock. Die Strenge der Formen wird durch Untergestelle (Korsett und Reifrock) und Materialversteifungen (Steifleinen, Roßhaar) erzielt. Die Kleidung bedeckt den Körper fast vollständig. Die im unteren Viertel des Rockes sich befindende Querfalte sorgt dafür, daß auch beim Sitzen kein weiteres Körperteil – der Fuß – zu sehen ist.331 Die Bewegung, die durch Faltenwürfe und Materialverschiebungen den Körper direkt oder indirekt sichtbar werden ließe, wird schnittechnisch verhindert. Stehkragen, Halskrause und die weiten Hängeärmeln reduzieren gleichermaßen die Bewegungsfreiheit. Die Haare sind nach oben gesteckt und von einer kleinen Toque ‘gekrönt’. Nur das Gesicht und die Hände lassen das Inkarnat und die Persönlichkeit durchschimmern. Ein Vergleich mit zwei anderen Porträts der Infantin zeigen sie mit fast identischer Kopf- und Handhaltung.332 Weder Hände noch Gesicht zeigen Zeichen der Alterung, die einer Altersdifferenz von 20 Jahren entsprechen würde. Die gewünschte Selbstdarstellung wurde im 16. Jahrhundert vor allem mittels der Bekleidung erzielt.333 Breward schreibt, daß als Folge der Entwicklung der Porträt- kunst das Kleid immer mehr zur Repräsentationsfläche wurde.334 Eine so eindeutige Zuordnung von (kunsthistorischer) Ursache und (kostümhistorischer) Wirkung erscheint mir sehr verkürzt. Die Herausbildung neuer Schnittformen und Silhouetten ist vielmehr als fortwährender, komplexer, kulturhistorischer Prozeß zu verstehen. Das Kleid der Infantin, hier als Teil der Selbstdarstellung durch ein Gemälde, ist ein Beispiel für die Exponierung der maximierten Flächen: Die Stoffe überziehen faltenlos, ähnlich den Wandbespannungen, den Reifrock und das Korsett, die Ärmel verlieren vollständig ihre bekleidende Funktion, um eine möglichst große, glatte Fläche zu bilden.335 Diese glatte Fläche wird nicht durch seine Materialbeschaffenheit erhöht, sondern durch seine Musterung.336 Ähnliches läßt sich in bezug auf das reich verzierte Mieder sagen. Die Perlen, Edelsteine und Goldarbeiten sind als solche in ihrer Materialität und als eindeutiges Zeichen spanischer Kolonialmacht erkennbar, aber treten dennoch in der Gesamtwirkung der Muster zurück. Die Lichtreflexe, die sehr sparsam auf der Rockfläche gesetzt sind, deuten darauf hin, daß es sich um ein Seidengewebe, vermutlich einen Seidendamast, handelt.337 Das Muster besteht aus zwei, in Reihen alternierenden, achsensymmetrischen Motiven. Die Motive sind aus S-förmigen Volutengliedern, einem Medaillon und Blattpalmetten mit unterschiedlich stilisierten Blüten gebildet. Neben der Spiegel- und der Translationssymmetrie des großrapportigen Musters betonen die wellen- förmigen, kleinteiligeren Kantenmuster die vertikale Symmetrieachse des Kleides 331 Boucher (1997): S. 220 332 vgl.: ‘Infantin Isabel Clara Eugenia’ von Alonso Sanchez Coello, 1579 (Thiel 1990: S. 198) und ‘Infantin Isabella Clara Eugenia’ von Juan Pantoja de la Cruz, 1599 (Kauffmann 1990: Abb. 91b) 333 Breward (1995): S. 63 334 Breward (1995): S. 67 335 Die spanische Hoftracht betont die Faltenlosigkeit in besonderer Form. Der Vergleich mit anderen Gemälden zeigt, daß die Röcke häufig in Falten oder angekraust angesetzt wurden und nicht wie hier in perfekter Glätte. 336 Ein Vergleich mit der oberflächenverliebten Bekleidung des 18. Jahrhunderts macht dies deutlich: Samt, Pelze und vor allem stark glänzende Seide werden in den Darstellungen unnatürlich überhöht. 337 Im Gegensatz zu anderen Gewebemusterungstechniken erzeugt der Damast nur eine geringfügige plastische Wirkung und erscheint deshalb besonders geeignet für die hier beschriebenen Zwecke. 132 respektive des Körpers. Auch der Gürtel, ein Kleidungsstück, das aufgrund seiner Lage eigentlich die Horizontale betont, folgt dieser Linie durch eine maximale Ausdehnung in die Spitze. Die Hutform und seine Verzierung stellen eine weitere Streckung der Figur in die Vertikale dar. Die Öffnungen der Hängeärmel erlauben den einzigen Einblick auf die darunter getragene Bekleidung. Ob es sich hierbei um ein Oberteil (pourpoint) oder ein Unterkleid handelt, läßt sich nicht bestimmen. Sichtbar werden lediglich die Ärmel, die durch eine feine Posamentierarbeit gemustert sind. Die regelmäßige Anordnung der Posamentenbänder linearisiert die einzigen in ihrer ‘Natürlichkeit’ belassenen Körperteile. Das typische Merkmal der sogenannten spanischen Mode, die Geometrisierung des Körpers durch die Schnitt- formen, ergänze ich somit um zwei weitere Merkmale: die Symmetrisierung und Linearisierung durch das Muster.338 Die Infantin steht auf einem rotgrundig gemusterten Teppich, der in dieser aus- schnitthaften Darstellung nicht näher zu bestimmen ist. Als Repräsentationsmittel gehört er zur Ausstattung höfischer Räume (und zur Requisite des Porträtmalers), ebenso wie die textile Wandbespannung im Hintergrund. Die knieende Nebenperson in ungemusterter, farbloser (schwarz/weiß) Kleidung befindet sich, obwohl in unmittelbarer, nämlich greifbarer Nähe der Infantin, außerhalb des textilen, die Macht auszeichnenden Raumes. Die Rapportgröße des Musters zeigt die schon erwähnte Trennung von Raum- und Bekleidungstextilien im 16. Jahrhundert. Seit Ende des 15. Jahrhunderts hängte man die Textilien nicht mehr als Wandbehänge, sondern spannte sie als Ganzes (die einzelnen Bahnen wurden aneinandergenäht, wie die Abbildung zeigt) über einen der Wandgröße entsprechenden Holzrahmen.339 Der Stoff der Wandbespannung läßt sich nicht eindeutig bestimmen, ein Seidendamast oder auch ein in dieser Zeit häufig verwendeter Brokatelle könnte dargestellt sein. Das Muster wird von der Grundform des Spitzovalnetzes, gebildet aus stilisiertem Rankenwerk, beherrscht. Die Felder sind fast vollständig mit stilisierten Ranken- und Blütenmotiven ausgefüllt. Die Positionierung der Infantin im Raum ergibt ein beabsichtigtes Zusammenspiel des Stoffmusters im Hintergrund und ihrem Kopf. Der Kopf der Infantin wird nicht nur von der reich gefältelten Spitzenhalskrause gerahmt, sondern auch von einem der Musterfelder, das eine Art Nimbus bildet. Die Betonung der Vertikalen durch die Symmetrieachse dient der Wirkung des Kleides als Verstärker, so daß das Textile als Raumfüllendes auch zum Hauptträger der Bedeutung wird. Die Beherrschung der Welt, angefangen beim eigenen Körper, durch den spanischen Hof als Machtzentrum Europas und der Kolonien wird mit Hilfe des Musters dargestellt. Das Muster wird anhand der gezeigten textilen Beispiele zu einem Mittel der Distinktion. Es fungiert als mehr oder weniger subtiles Zeichen zur Konsolidierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Michel Foucault beschreibt die „Anordnung der Ränge und Stufen“ als Mittel der Disziplinierung in einem kurzen Abschnitt anhand der Bekleidung.340 Die von ihm beschriebene Differenzierung basiert auf Material- 338 Thiel (1991) beispielsweise spricht von der Stilisierung des Frauenkörpers zu geometrischen Dreiecken. (S. 200) 339 Olligs (1970): S. 21 340 Foucault (1994a): S. 234–235 133 und Farbunterschieden, die Muster spielen hierbei keine Rolle. Untersuchungen von Sennett und Elias könnten für weitere Epochen herangezogen und um das Muster als Bedeutungsträger ergänzt werden.341 Das Muster als Mittel der Disziplinierung des individuellen und des Massenkörpers wird noch zu beschreiben und auf Foucault zurückzukommen sein. Mustergerechtigkeit Eine gänzlich andere Form der Funktionalisierung des Musters gehört in den Kontext der Bestimmung des Verhältnisses von Form und Inhalt zwischen Historismus und Moderne. Die Musterzeichner, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland zu einem Musterzeichnerstand formierten, verwenden den Funktionsbegriff, jedoch auf den zu verzierenden Gegenstand und nicht auf das Muster bezogen. Das Muster müsse unmittelbar auf den Gegenstand verweisen, eine Tapete von einem Tapetenmuster geschmückt sein und von nichts anderem.342 Die in der Tradition der Kunstgewerbeliteratur stehenden Publikationen machen sich die ‘Erziehung’ der Musterzeichner zur Aufgabe. Neben technischen und materialbedingten Beschränkungen sind es vor allem tradierte, konventionalisierte Vorstellungen des Zusammenhangs von Muster und Gegenstand. „[...] Ferner das enganschließende Damengewand, wo künstlich jede Falte, und Alles, die schöne Rundung der Formen beeinträchtigende, hinweggenäht und gebügelt ist, plötzlich besäet mit grossen, plastisch gezeichneten Blumenstücken, einem wandelnden Blumenständer gleich; oder endlich im Stoffdruck: Schnupftücher, mit den Bildnissen grosser Männer geschmückt!!!“343 Die Mustersammlungen, die von den Musterzeichnern als Lehrmaterial zusammengestellt wurden, sind bemerkenswerterweise fast ausschließlich nach textilen Vorlagen erstellt worden.344 Friedrich Fischbach, der selber Gewebemuster sammelte und als Zeichner am Museum eine Vielzahl von Textilmustern dokumentierte, erwähnt in seinen Schriften Gottfried Semper und bemerkt kritisch, daß in dessen Artikeln die Anschauung alter Textilmuster fehle. Sempers Postulat des Textilen als Urkunst erfährt somit durch Fischbach indirekt eine Steigerung: Das textile Muster ist für Fischbach von zentraler Bedeutung.345 Franz Weidmann benennt in einem Artikel explizit die Aufgabe des Musters in bezug auf Kleiderstoffe. „Der Zweck des Musters besteht darin, die einförmige Fläche angenehm zu unterbrechen und zu beleben, ihr das Starre, Ermüdende zu nehmen. [...] Die Form des Musters berücksichtigt gleichzeitig den Faltenwurf.“346 Der Autor empfiehlt über diese strukturellen Hinweise hinaus, auch bei der Motivwahl den textilen Charakter zu bedenken: Früchte seien zu schwer für den Stoff und würden ihren Saft vergießen. 341 Sennett (1995); Elias (1983) 342 Georg Bötticher in ‘Der Musterzeichner’ Nr. 11, 2. Jg., Juni 1892, S. 70. Der genaue Wortlaut wurde in der Einleitung zitiert. 343 Schulze (1886): S. 5 344 Fischbach (1874); Lieb (1900); Lessing (1900) und in dieser Tradition, mit anderen Medien: Sano (1976; 1978; 1980) 345 Olligs (1970b): S. 82 346 Franz Weidmann: „Die naturgemässe Musterung der Kleiderstoffe“, in: Der Musterzeichner, 2. Jg., Nr. 16, August 1892, S. 110–112, hier: S. 111 134 Diese und andere Hinweise verdeutlichen das Bedürfnis nach Reglementierung hinsichtlich des Musterentwurfs und seiner Verwendung und der Schaffung von Identifikationsmomenten für einen neuen Berufsstand.347 Gleichzeitig bilden diese Hinweise den Hintergrund für Adolf Loos’ Forderung nach Ornamentlosigkeit. Er schreibt, der Mensch sei nicht in der Lage, ein neues Ornament hervorzubringen.348 Die Beschäftigung der Musterzeichner mit dem Überlieferten und dem Erstellen von angemessenen Regeln erwähnt Loos nicht, sie dokumentiert jedoch die fehlende innovative Kraft und erklärt den Eklektizismus gegen den er sich u.a. wendet. „Die schönheit nur in der form zu suchen und nicht vom ornament abhängig zu machen, das ist das ziel, dem die ganze menschheit zustrebt.“349 In Hinblick auf das textile Muster weicht Loos von seinen Forderungen ab, ein Umstand, der in der Rezeption meist unbeachtet bleibt.350 Diese Abweichung läßt sich anhand Loos’ Kulturstufenmodell herleiten. Schon der Aufsatz ‘Damenmode’ von 1898 enthält die später ausgearbeitete Gleichung von ‘Papua’, Verbrecher und Ornamentierer.351 Das Kind, der Papua (an anderer Stelle spricht er auch von ‘Kaffern’) und der Verbrecher seien amoralisch und ihren Trieben ausgesetzt, die sie u.a. dazu veranlaßten, alles zu beschmieren.352 Der moderne Mensch, und hiermit ist ausschließlich der Mann gemeint, habe eine höhere Stufe erreicht: „evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornamentes aus dem gebrauchsgegenstande.“353 Die Frau, die die ornamentalen und farbigen Wirkungen der Kleidung bevorzuge, sei „in den letzten jahrhunderten stark in der entwicklung zurückgeblieben“.354 In einem späteren Aufsatz räumt Loos ein, daß das Ornament in bestimmten Kontexten auch in der Moderne eine Daseinsberechtigung habe. Das Ornament diene der Aufheiterung des Arbeiters, der Unterbrechung der Eintönigkeit eines monochromen Gewebes: „Der bunte faden bedingt das ornament. Wer von uns modernen menschen würde die ver- schiedenen, ständig wechselnden stoffmuster als unmodern empfinden?“355 Die be- schränkte Dauerhaftigkeit von Gebrauchsgegenständen wie Tapeten oder Stoffen legitimiert in den Augen Loos’ ihre Ornamentierung. Des weiteren schreibt Loos dem klassischen Ornament hohe erzieherische Qualitäten zu, es bringe Ordnung in das Leben und „zucht in die formung unserer gebrauchsgegenstände“.356 Die Aussagen der erwähnten Aufsätze Loos’ zusammenfassend, läßt sich konstatieren, daß die Mode als Bestandteil der Moderne und die ‘materialmordende’ Frau als ihr Hauptmotor des Musters als Instrument des Wechsels bedürfen.357 Hinzu 347 Fischbach (1874); Bock (1859); Gurlitt (1890). Siehe hierzu auch die Darstellung im Kapitel ‘Das Mustern des Musters’, Musterbücher. 348 Loos (1962): S. 277 349 Loos (1962): S. 65 350 Franke/Paetzold (1996); Kroll (1987) 351 Loos (1962): S. 162 352 Loos (1962): S. 277 353 Loos (1962): S. 277 354 Loos (1962): S. 161 355 Loos (1962): S. 395 356 Loos (1962): S. 397 357 Loos (1962): S. 395 135 kommt die ordnende Funktion des Ornaments. In dieser, meiner, Lesung Loos’ wird die stickende Frau zur Beförderin moderner Lebens-, Denk- und Wirtschaftsform.358 Ein Zeitgenosse Loos’, Sigmund Freud, geht gleichermaßen von der Frau als Mängelwesen aus. Auch hier erbringt eine kontextuale Lesung ein anderes Ergebnis. Irene Nierhaus, der es in ihrem Beitrag um „Schnittstellen von Geschlecht, Raum und Material im Übergang vom Historismus zur Moderne“ geht, nennt neben Loos Sigmund Freud, der das Weibliche mit dem Textilen verschränke. Er habe das Weben und Flechten als einzige historische Kulturleistung der Frauen bezeichnet, „die allerdings nur aus dem Verdecken des Mangels – dem fehlenden Penis – in Analogie zur Schambehaarung entstanden sei.“359 Aus welcher Motivation auch immer entstanden, meine Untersuchungen der textilen Techniken des Webens und Flechtens haben gezeigt, welche elementaren Fähigkeiten und Entdeckungen sich hiervon ableiten lassen. Dies hat jedoch keineswegs zu einer Aufwertung ‘weiblicher Handarbeiten’ geführt. Auch wenn die Frau heute im allgemeinen nicht mehr auf die Entwicklungsstufe eines Kleinkindes oder ‘Buschnegers’ gestellt wird, sind die textilen Techniken weiblich-negativ im Sinne von Oberflächlichkeit und Sinnlosigkeit konnotiert. ‘Kleidsame’ Muster Das Muster als dekoratives Element erfüllt ästhetische Funktion. Die Darstellung des Forschungsstandes hat gezeigt, daß eine Reduktion auf diese eine Funktion üblich ist. Das Muster wird in der kunst- und kulturwissenschaftlichen Rezeption zum Indikator von Stilen und Epochen. Modehistorisch werden bestimmte Muster zu einem Synonym einer Epoche oder Dekade und erhalten zeichenhaften Charakter (Vichykaro, Pepita, Granatapfelmotiv). Anhand von Mustern auf Raum- oder Bekleidungstextilien, die im Original oder auf Gemälden zu sehen sind, lassen sich Zusammenhänge historischer, kultur- und kunsthistorischer Art herstellen. Die erwähnten ‘Orientteppiche’ kommen nach Europa, werden auf den Gemälden als Repräsentationsmittel mitabgebildet und transportieren auf diese Weise einen neuen Musterkanon. Handelswege sowie wirtschaftliche und politische Verbindungen zwischen den Herrschern lassen sich nachvollziehen, anhand von (Teppich-)Mustern. Den kunsthistorischen Nutzen der Analyse von Textilmustern hat Klesse in der erwähnten Publikation vorgeführt. Die folgenden Beispiele textiler Kleidermuster repräsentieren eine Auswahl hin- sichtlich der ästhetischen Funktion des Musters, wobei diese im Sinne eines Er- freuens des Betrachters unideologisch definiert ist. Das Charakteristische des Punkt- oder Tupfenmuster sind, wie es der Name schon vermuten läßt, seine Punkte oder Tupfen. Diese können als ‘einfache Reihung’360 in regelmäßigen Abständen angeordnet sein und den Regeln der Translationssymmetrie folgen. Wird der Rapport durch einen ‘Tupfenverbund’ gebildet, erhält das Muster einen scheinbar unregelmäßigen Charakter. Werden zur Musterbildung weitere 358 Loos habe bei einem Vortrag auf das Sticken angesprochen gesagt: „Ja, das Sticken ist auch ein Ornamentieren. Aber den Frauen ist es erlaubt.“ Zitiert nach Brändli (1998): S. 202 359 Nierhaus (1998): S. 120 360 Wersin (1953): S. 15 136 Symmetrieoperationen hinzugezogen, wird es für das menschliche Auge immer schwerer, die Wiederholungsvorschrift zu erkennen. Die Bezeichnung ‘Muster’ wird im allgemeinen Sprachgebrauch schon durch die Wiederkehr des Motivs ‘Punkt’ legitimiert. Diese sehr einfache Form der Musterung findet in der besprochenen Literatur kaum Beachtung, da eine Klassifikation gemäß des Motivs mit einem Satz zu beschreiben ist. Das Attribut, das sich am häufigsten in Verbindung mit dem Punktmuster finden läßt, ist seine ‘Lustigkeit’.361 „Polka-Dots sind fröhliche, scheinbar wahllos über hellen oder dunklen Fond hüpfende Punkte aller Größen, die erst beim genauen Betrachten offenbaren, daß sie einem strengen Rhythmus unterworfen sind.“362 Das Hüpfende, Lustige, das die Wahrnehmung der Tupfen dominiert, bestimmt ihren Verwendungszweck: Frauen- und Kinderkleidung, Freizeithemden und Clownkostüme. Die zu evozierende Ernsthaftigkeit des Herrenanzuges läßt sich nicht mit Tupfen vereinbaren, der Ort ausgelassener Fröhlichkeit in der Männerkleidung ist auf die Krawatte beschränkt. Diesen Verzicht auf die rhythmisierende und dynamisierende Wirkung glaubt ‘der’ Mann, sich leisten zu können, in dem Bewußtsein, das Kleid der Moderne erfunden zu haben und zu tragen. Der Herrenanzug, so wie er heute noch weitgehend getragen wird, ist eine ‘Er- findung’ des 19. Jahrhunderts. Der Verzicht auf Farbe und Muster, verbunden mit einer Konzentration auf den Schnitt der Bekleidung, diente der Distinktion. Der arbeitende Bürger bedurfte einer Kleidung, die ihn vom Arbeiter und vom Aristokraten unterschied. Die Evolution des Herrenanzuges ist gekennzeichnet durch Reduktionen: Die bunte Weste, die karierte Hose, die Rockschöße, die voluminösen Halsbinder werden gemäßigt, gekürzt, eliminiert. Die Reduktion führt zu einer Form, die vor allem im direkten Vergleich mit der damaligen Damenmode eine äußerst dynamische Wirkung hat: Sie ermöglicht ausgreifende Bewegungen, der Kopf erfährt durch den Zylinder eine technische Erhöhung und kein farbiges Muster lenkt von der Person ab. Das sich durchsetzende Grau, die stumpfe Oberfläche der Wolltuche und der strenge, berechnete Schnitt der Bekleidung führen zu einer Neutralisierung und Entsexualisierung des Mannes. Die Kleidung des Mannes demonstriert seine Konzentration auf Politik und Geschäfte, bildet den Gegenpol zur modischen Kleidung des ‘demonstrativen Müßiggangs’.363 Mehr als 150 Jahre hat sich an den Grundzügen des Herrenanzugs wenig geändert. Die stetige Reduktion hat zu einem Miniaturisierungsprozeß bis hin zur Unkenntlichkeit der Zeichen geführt.364 Der heutige Vergleich mit der Damenmode (Freizeit- und Sportmode müßte hier zur Polarisation ergänzt werden) läßt den Herrenanzug phantasielos, undynamisch, konservativ und unzeitgemäß erscheinen.365 Diese Beurteilung orientiert sich nicht an einzelnen Ausformungen der einen oder anderen Mode, sondern an der Integration 361 Hofer (1994): S. 565 362 burda moden (4/1958): S. 10 363 Brändli (1998): S. 202f 364 Lebenshilfen für den Anzugträger bieten hier Publikationen wie Hardy Amies „Anzug und Gentleman“. Amies (1997) 365 Anne Hollander beschreibt eine gänzliche andere Wahrnehmung des Herrenanzuges, der ihrer Meinung nach keineswegs in Konventionen erstarrt ist und auch nicht als Überlegenheitsgeste der Modeverweigerung durch die Männer gelesen werden könne. Hollander (1995): S. 304, 44f 137 von Innovationen hinsichtlich textiler Techniken, Muster und Schnitte. Seine Legitimation und die stetige Verbreitung des Herrenanzuges erklärt sich nicht mehr durch wahrnehmbare Gestaltsignale, sondern durch eine weltweite Durchdringung politisch-wirtschaftlicher Denk- und Handlungsweisen, durch seinen normativen Gehalt. Als Zeichen der Demokratisierung positiv konnotiert, wird der hegemoniale Charakter, der Herrenanzug als Zeichen globaler Verbreitung westlicher, männlicher Ideen, selten benannt.366 Wird dem Tupfenmuster eine fröhliche Wirkung zugeschrieben, werden Streifen- muster mit einer Dynamisierung des Körpers in Verbindung gebracht. Diese Be- wegung wird schon durch die Wahrnehmung, durch das Springen des Auges zwischen nicht auszumachendem Vorder- und Hintergrund erzeugt.367 Die Muster, die der italienische Designer Emilio Pucci (1914–1992) entworfen hat, die auch seinen Namen tragen, verstärken die dynamisierende Wirkung von Mustern durch den Einsatz von Farben. Pucci, ein promovierter Politologe aus toskanischem Adelsgeschlecht, hat eine sehr eigene Mustersprache entwickelt. Die Entwürfe für seine Muster waren für konkrete textile Objekte gedacht. Geschwindigkeit und Bewegung als Ausdruck und Folge des modernen Lebens spiegelten sich in seinen Entwürfen. Die Frau, die in den 1960er Jahren einen kurzen Rock trägt, kann, ohne an Eleganz zu verlieren, schnell über die Straße laufen. Eine Errungenschaft, die der Mann sich durch seine Anzughosen schon mehr als hundert Jahre zuvor zunutze gemacht hatte. Die Strumpfhosen, die Pucci in den späten 1960er Jahren entworfen hat, dynamisieren die Frauenbeine. Die Geschwindigkeit wird thematisiert, die Muster erzeugen Bewegung, auch in der Ruhe. „My prints are ornamental designs worked in continuous motion; however they are placed there is rhythm.“368 Pucci hat mit dieser Rhythmisierung der Bekleidung schon in den 1950er Jahren begonnen und gilt manchen als der Beatle der Mode, indem er psychedelisch anmutende Muster und op-art in textiler Interpretation vorwegnahm.369 Die Kleidungsstücke, die Pucci seit den späten 1940er Jahren entwarf, waren weniger konstruiert als die seiner Zeitgenossen. Er verzichtete auf enganliegende Büsten, Schöße, schmale Ärmel und die Dachkragen, wie beispielsweise Dior sie lancierte. Konstruktionen dieser Art bestehen aus vielen Schnitteilen, so daß dem herrschenden Kanon entsprechend einfarbige oder kleingemusterte Stoffe verwendet wurden. Pucci wählte weiche Stoffe und große, bewegte Muster. Seine Kleider kamen ohne ‘Untergestelle’ wie Petticoats und Corsagen aus und erzeugten eine weitere Ebene der Bewegung. Die Abbildung 19 verdeutlicht den Zusammenhang von Schnitt und Muster. Weit entfernt von einem postmodernen Umgang von Mustern und Schnittelementen als Versatzstücke, zeugen diese ins Leere laufenden Wendeltreppen von einer Über- gangszeit und der Distanz von Haute Couture und Hobbyschneiderei. Hätte der Dessinateur sich an die Regeln gehalten, die die Handbücher der Ornamentik in 366 Das ‘Andere’, das sich diesen Formen anpassen soll und/oder möchte und deshalb den Anzug trägt, sind sowohl Zugehörige anderer Kulturen als auch Frauen. 367 Erna Lackner: „Zebras und andere Geschöpfe. Gestreiftes Spiel mit Schein und Sein“, in: FAZ- Magazin, 13. Juni 1997, Heft 902, S. 46–53 368 Kennedy (1991): S. 103 369 Siehe hierzu beispielsweise die Abbildung 13. 138 bezug auf das Textilmuster bis in das 20. Jahrhundert hinein verbreiteten, wäre ein solches Muster nicht entstanden: „Als Hauptstilprinzip für mustergültige Beispiele aller Zeiten gilt das Fernhalten von Dar- stellungen in plastischem Sinne, von Perspektiven und Architekturen etc., welche dem Charakter des Flächenornaments widersprechen, sowie eine richtige Verteilung der Massen, wodurch störende Liniierungen und Leerheiten vermieden werden.“370 Die Darstellung hat gezeigt, daß das textile Muster immer eine Funktion erfüllt und nicht ‘nur dekorativ’ ist. Als getragenes Kleidungsstück korreliert es immer, auf eine vielleicht nicht unbedingt intendierte Weise, mit dem Körper des Trägers und mit seiner Raumposition. Die hier zunächst vorgenommene – künstliche – Isolation des Musters diente dazu, die konstitutive Kraft des textilen Musters und seine Bedeutung aufzuzeigen. Das textile Muster als Bestandteil der kulturellen Praxis muß kontextualisiert betrachtet werden, und das bedeutet, seine Technizität und Historizität zu bedenken.371 Dieses umfangreiche Kapitel der ‘textilen Dimension’ abschließend, benenne ich die wichtigsten Funktionen des Musters und seine Bedeutung für das Textile und den Menschen noch einmal zusammenfassend.372 Das Muster ist textilkonstituierend. Das repetitive Moment des Musters, die wiederholte Handlung, ist für die Erzeugung von Textilien elementar. Alle textilen Techniken (die Bedeutung der Repetition für das Filzen, das keine Muster im definierten Sinne bildet, wurde aufgezeigt) basieren auf der Idee des Musters: Eine zu isolierende Einheit (Rapport) wird mit potentieller Unendlichkeit wiederholt. Als Tätigkeit erfüllt die Bildung textiler Muster ontogenetische Funktion. Grund- legende Erfahrungen des Raumes und der Orientierung werden vermittelt: Ver- anlagung eines Bezugssystems (Orthogonalität), Differenzierung von Innen und Außen und die relationale Verortung des Selbst. Die epistemologische Funktion des Musters konnte vor allem in bezug auf die Mathematik gezeigt werden. Neben der objektverbundenen Erkenntnis des Zählens und der Winkelverhältnisse, den Zusammenhängen von Form und Fläche sowie Form und Bewegung ist die Erfahrung von Symmetrie und Unendlichkeit von elementarer Bedeutung. Das textile Modell hat sich in bezug auf die Mathematik als besonders fruchtbar erwiesen, so daß die Entwicklung einer ‘Textilmathematik’ anzudenken ist. Hierunter verstehe ich eine Form der sinnlich erfahrbaren Vermittlung mathematischer Grundbegriffe, eine experimentelle Verbindung textiler Techniken mit mathematischen Inhalten. Ritualisierungen operieren mit den Mitteln der Isolation von Handlungen und ihren Wiederholungen.373 Meiner Definition des Musters zufolge bedeutet dies, daß Rituale eine Form von Mustern sind. Elisabeth Bronfen wählt den Begriff des Rituals, um das Bedürfnis der Gegenwart nach ‘Formierung der Unordnung’ zu beschreiben. Die 370 Meyer (1927): S. 316 371 Dietrich Harth schlägt vor, die Komplexität materieller Kultur durch ‘pragmatische Analysen’ zu fassen, d.h. das soziale Handeln in die Kulturanalyse miteinzubeziehen. Assmann/Harth (1991): S. 97f 372 Trotz des Umfangs konnten nicht alle Funktionen benannt werden. Weitere Funktionen können jedoch zu- oder untergeordnet werden. 373 Lévi-Strauss (1976): S. 789f 139 Unordnung, von der sie spricht, betrifft unser – ihrer Meinung nach – komplexes Leben mit seiner Informationsflut, seiner Sinnlosigkeit, seiner Fragmentarität.374 Das Ritual, das Muster als Verhaltensmuster, ordnet dieses gesellschaftlich-soziale Leben der Komplexität. Dem rituellen ist ein mythologischer, religiöser, kultischer Gebrauch des Musters hinzuzufügen, dessen Dimension jeweils nur angedeutet werden konnte. Das repetitive Moment spielt bei diesen Nutzungen des Musters eine wesentliche Rolle. Die vielfältigen Ausformungen des Gebrauchs lassen keine zusammenfassende Aus- sage zu. Das Muster wird als Zeichen im engeren Sinn, als Codierung, verhältnismäßig selten funktionalisiert. Als Zeichen, das der Kennzeichnung aufgrund von Konventionen dient, wird das Muster als Bekleidungs- und Raumtextiles hingegen häufig als Mittel der Distinktion, als Differenzierer eingesetzt. Die ästhetische und dekorative Funktion des Musters kann nicht isoliert betrachtet werden, da es als Materielles (hier: Textiles) nicht für sich existiert. Das Muster kann auf seinen Träger respektive dessen Betrachter irritierend, dynamisierend, tarnend oder ironisierend wirken. Das textile Muster erweist sich als Materialisierung der Organisation von Denken, Handeln und Herrschen. 4,5-d Textile Fraktalität Es ließen sich weitere Dimensionen benennen, die akustische, die schon einmal erwähnt wurde, aber auch die haptische Qualität des Textilen eröffnet viele weitere Felder, auf die hier nur hingewiesen werden kann. Die Konstruktivität des textilen Musters ist augenfällig und wird gemeinhin nicht in Frage gestellt. Als Handwerk oder Technik ist die textile Produktion Bestandteil der kulturellen Praxis. Der Mensch als Konstrukteur nutzt das textile Muster auf unterschiedliche, beschriebene Weise. Die Konstruktivität anderer Muster bzw. die Intentionalität ihres Einsatzes sind weniger offensichtlich, sie sind das Thema der ‘nächsten’ Dimension. 374 Elisabeth Bronfen im Interview mit Holger Fuß, in: brand eins. Wirtschaftsmagazin, 3. Jg., Heft 02, März 2001, S. 134–138 140 Die kognitive Dimension des Musters „Es ist so schwer, etwas von Mustern zu lernen, als von der Natur.“1 Die Voraussetzung des Lernens durch und von Mustern ist ihre Erkennung. Dieses Mustererkennen und seine Bedingungen stehen im Zentrum des zweiten Haupt- kapitels. Das Muster ist der Attraktor der visuellen Wahrnehmung, das Auge das Instrument des Beobachtens. Die Auswahl der Muster ist dementsprechend nicht mehr an ein Material und/oder eine Technik gebunden, sondern an die menschliche Wahrnehmung. Die Be- dingungen der visuellen Wahrnehmung gilt es zu bedenken: Historizität, Kon- struktivität und Konvergenz. Die Mustererkennung ist demzufolge immer ein aktiver Vorgang. „Sehen ist nicht nur ein Vorgang passiver Wahrnehmung, sondern ein intelligenter Prozeß aktiver Konstruktion.“2 Den Anteil, den das Muster an dieser Konstruktion hat , zu bestimmen, is t das Ziel dieses Kapitels. Wahrnehmungsphysiologische und -psychologische Überlegungen werden nicht dargestellt, sie fließen ein bzw. wird auf spezielle Untersuchungen verwiesen.3 Die nun zu bearbeitenden Muster sind sehr heterogener Art, ihre Gliederung folgt den Dimensionen. Auf den ersten Blick scheint die dimensionale Gliederung die Trennung von Natur- und Kulturprodukten nachzuzeichnen. Die Muster, die sich in Sprache, Schrift und den verschiedenen Notationsformen finden lassen, sind kulturelle Artefakte. Der Mensch konstruiert diese Muster und er operationalisiert sie auf unterschiedliche, im folgenden zu zeigende Weise. Die Muster der Natur nimmt der Mensch wahr. Jedoch unterliegt auch dieser Vorgang der Konstruktion. Die Darstellung und Analyse von Mustern, wie sie in den Naturwissenschaften durchgeführt werden, sind kognitive Vorgänge, die kulturell gesteuert werden. Insofern erscheint eine Trennung der Muster in kulturelle und natürliche nicht sinnvoll. Das Kapitel 3/4-d wird sich mit Mustern als dynamische Systeme, mit dem lebendigen, dem prozessualen Charakter des Musters beschäftigen. 1 Aus den Maximen und Reflexionen Johann Wolfgang von Goethes. Zitiert nach: Köhler (1992): S. 318 2 Hoffman (2000): S. 10 3 Klaus Mainzers Publikation enthält beispielsweise Erklärungen zur Wahrnehmung als Leistung des Gehirns. Mainzer (1997): S. 31–41 141 0,5-d Literale Fraktalität „Der Fleck und die Linie. Er ist alles seelisch Gemeinte, nicht konturierbar, in mehrdeutiger Gestalt sich verlaufend. Sie ist die gebündelte Helle, und ihr Mysterium ist ihr offenes Ende, ihre Unabsehbarkeit. Liebe ist Fleck, Schrift ist Linie. Gesicht ist Fleck, Schritte sind Linie.“4 1-d Die Linearisierung des Denkens und Handelns „Es ist das Natürlichste, und richtet am wenigsten Verwirrung an, wenn wir die Muster zu den Werkzeugen der Sprache rechnen.“5 Wittgensteins Werkzeugbegriff verweist auf die Funktionalisierung des Musters durch den Menschen. Er bezieht sich auf die Sprache (die Sprachspiele) und ordnet ihr die Schrift unter.6 Die folgenden Ausführungen behandeln Sprache und Schrift getrennt in Hinblick auf die Funktionen des Musters. Sprache und Schrift als Mittel der Weltstrukturation werden mit dem für das Muster entwickelten begrifflichen Instrumentarium untersucht, ihre Dimensionalität und ihre Repetitionsformen bestimmt. Es geht darum, eine strukturelle Vergleichbarkeit zu erzielen, die eine Aussage über das Verhältnis von Schrift und Sprache zum Muster zuläßt. Die Auswahl der Literatur aus unterschiedlichen Disziplinen soll dieser Engführung des Blickes Weite zurückgeben.7 Die Sprache Der Begriff der Sprache wird im folgenden in einer sehr engen Definition als menschliches Sprechen benutzt, um sie einer Wahrnehmungsweise eindeutig zu- ordnen zu können.8 Die historische Herleitung des Linguisten Christian Stetter definiert „Sprache im Sinne der vernommenen oder vernehmbaren Performanz“.9 Die Sprache als mündliche Verlautung ist Bestandteil der akustischen Wahrnehmung. Der Paläontologe André Leroi-Gourhan beschreibt in seinem Werk ‘Hand und Wort’ den Zusammenhang der Befreiung der Hand und der Sprachentwicklung beim Menschen.10 Neueste Forschungen bestätigen Leroi-Gourhans Theorie, die die Lokomotion als Determinante der Evolution gegenüber der Zerebralentwicklung favorisiert.11 „Sprache ist von dem Augenblick möglich, da die Vorgeschichte 4 Strauß (1997): S. 71 5 Wittgenstein (1984): S. 245 6 Wittgenstein (1984): S. 239 7 Die Ausführungen stützen sich in erster Linie auf Publikationen der Linguistik, der Philosophie, der Paläontologie und der Altphilologie. 8 Im Gegensatz hierzu steht die Definition, die Sprache in einem allgemeinen Bedeutungsfeld ansiedelt: „Sprache [...] bezeichnet in einem umfassenden Sinn den gesamten Bereich dessen, was mit der Äußerung von Vorstellungen, mit Ausdruck, Appell und Mitteilung sowie mit deren Formen und Materialien, Medien und Techniken usw. zu tun hat.“ Ritter/Gründer (1995): s.v. ‘Sprache’, J. Schneider, Sp. 1437 9 Stetter (1999): S. 37 10 Leroi-Gourhan (1988) 11 Leroi-Gourhan (1988): S. 43 142 Werkzeuge liefert, denn Werkzeug und Sprache sind neurologisch miteinander verbunden, und beide lassen sich nicht von der sozialen Struktur der Menschheit trennen.“12 Demzufolge hätten Sprache und Technik den gleichen Ursprung. Der Autor verfolgt, von dieser Prämisse geleitet, die techno-ökonomische Entwicklung (Kapitel V) und im Kapitel VI die „Fähigkeit, das Denken in materiellen Symbolen zu fixieren.“13 Die ältesten graphischen Beispiele stellen rhythmische und somit abstrakte Äußerungen dar. Die beiden Ausdrucksmöglichkeiten – Sprache und Graphismus – sind durch ihre Rhythmizität verbunden. Leroi-Gourhan schließt daraus, „daß die bildende Kunst an ihrem Ursprung unmittelbar mit der Sprache verbunden ist und der Schrift im weitesten Sinne sehr viel näher steht als dem Kunstwerk.“14 Im weiteren führt er aus, daß die Kunst sich später vom Abstrakten hin zum Realismus, entwickle und von der Schrift löse. Daraus folge, daß paläolithische Kunst ideographisch sei und der Piktographie vorausgehe. Hiermit plädiert er für eine Verbindung von Kunst und Schrift, jenseits der Phonetisierung und dem graphischen Linearismus, die er als Pikto-Ideographie bezeichnet. „Auf den beiden Polen des operativen Feldes bilden sich, im Ausgang von den gleichen Quellen, zwei Sprachen heraus; die eine ist dem Hörsinn verhaftet und mit der Evolution jener Bereiche verbunden, die für eine Koordination der Töne zuständig sind; die andere beruht auf visueller Wahrnehmung und ist mit der Evolution der Bereiche verknüpft, die für eine Koordination der in materielle graphische Symbole übersetzten Gesten sorgen. So ließe sich auch erklären, warum die ältesten bekannten Graphismen einen unmittelbaren Ausdruck rhythmischer Werte darstellen. Wie dem auch sei, der graphische Symbolismus besitzt gegenüber der phonetischen Sprache eine gewisse Unabhängigkeit: sein Inhalt drückt in den drei Dimensionen des Raumes aus, was die phonetische Sprache in der einzigen Dimension der Zeit zum Ausdruck bringt.“15 Die Unterscheidung, die Leroi-Gourhan trifft, aber nicht begrifflich kennzeichnet, entspricht der hier verwendeten Definition, die sich auf die Wahrnehmung stützt. Die akustische Wahrnehmung nimmt die Laute der menschlichen (phonetischen) Sprache nacheinander auf, registriert Rhythmen, Tonhöhen und -intensitäten. Die zweite Sprache wird von Leroi-Gourhan als Graphismus bezeichnet. Ob dieser Graphismus sich gleichzeitig mit der phonetischen Sprache entwickelt, wie von Leroi-Gourhan oben beschrieben, oder ein nachgeordneter ist, ist an dieser Stelle nicht zu entscheiden, aber letztlich hier auch nicht von Bedeutung.16 Die Eigenschaften des Graphismus, gegenüber der Sprache unabhängig zu sein und sich in den Raum ausdehnen zu können, führen jedoch zu der Überlegung, den Begriff des Graphismus durch den des Musters zu ersetzen. Das Muster, so wie es eingangs definiert wird, weist die Merkmale des hier Be- schriebenen auf: Es gründet auf Rhythmizität, es kann sich in mindestens drei Dimensionen ausdehnen und ist vor allem auf visuelle Wahrnehmung hin konzipiert. Johanson/Edgar (1998) weisen aufgrund jüngster Funde nach, daß der Mensch schon vor vier Millionen Jahren aufrecht ging – also die Hand befreit hatte – und die Vergrößerung des Gehirns erst vor zwei Millionen Jahren einsetzte. Siehe auch: Wehr/Weinmann (1999): 1. Kapitel 12 Leroi-Gourhan (1988): S. 149 13 Leroi-Gourhan (1988): S. 237 14 Leroi-Gourhan (1988): S. 240 15 Leroi-Gourhan (1988): S. 244–246 16 Thomas Wynn nimmt beispielsweise an, daß der Werkzeuggebrauch des Menschen seiner Sprachentwicklung vorausging. Gibson/Ingold (1993): S. 404 143 Seine Materialität ist Zeugnis der neurologischen Verbindung von Hand und Hirn, die als Wechselspiel und nicht als eindimensionale Hierarchie anzusehen ist.17 Demzufolge stehen Sprache und Muster in unmittelbarer Abhängigkeit von der Befreiung der Hand durch den aufrechten Gang. Sie basieren auf akustischen, visuellen und taktilen Wahrnehmungen der Umwelt und des eigenen Körpers. Repetition, Rhythmus und Symmetrie sind der Wahrnehmung unmittelbar zugänglich. Die Spur als Hinweis auf Bewegungsmuster liefert hierfür ein augen- fälliges Beispiel. Als „Mal von etwas, das nicht gegenwärtig ist“18, hat sie Verweisungscharakter. Spuren werden häufig als erste Schrift bezeichnet, die der Mensch lesen lernte.19 Diese Analogie mag unter anderem daher rühren, daß die Fortbewegung jedes lebendigen Körpers linear verläuft. Nimmt man eine Spur als Muster wahr, können die Einzeleindrücke und ihr Verband zu einem Rapport analysiert werden: Zwei, vier oder mehr Füße hinterlassen Abdrücke, die symmetrisch angeordnet sind, deren Wiederholung einen Rhythmus zeigt. Die Spur, die durch eine Berührung hervorgerufen wird und von einer Anwesenheit zeugt, bringt ihrerseits eine Linie hervor.20 Die Schrift Die Entwicklung der Sprache präzise nachzuzeichnen ist durch ihre konstitutive Vergänglichkeit unmöglich, erst mit der Ausbildung der Schrift ist ihre ‘direkte Erfassung’ möglich.21 Auch der Begriff der Schrift soll im folgenden in einer engen Definition gebraucht werden. Ong definiert die Schrift als ein „kodiertes System sichtbarer Zeichen“, das „die Praxis der Sprache repräsentieren“ muß.22 Diese enge Bindung an die phonetische Sprache bedeutet den Ausschluß zahlreicher semiotischer Zeichen (Ong benennt beispielsweise den Fußabdruck, also die Spur). Die älteste, gemäß dieser Definition nachweisbare Schrift entstand zwischen 5300 und 3500 v. Chr.23 Wieviel weitreichender – im Vergleich zur Sprache – diese Definition und Inter- pretation der Daten ist, verdeutlicht das folgende Zitat: „Nach einer verbreiteten Konvention läßt man ‘Geschichte’ dort beginnen, wo Schriftzeugnisse auftauchen, schriftlose Kulturen fallen danach unter die Kategorie ‘Vorgeschichte’.“24 Diese Konvention bedeutet einen doppelten Ausschluß aus der abendländischen Welt- 17 Wehr/Weinmann (1999): S. 57 18 Ritter/Gründer (1995): s.v. ‘Spur’, H.-J. Gawoll, Sp. 1550 19 Canetti (1980): S. 28; „Schrift als mnemotechnische Spur“ im Phaidros von Platon. Vgl.: Ritter/Gründer (1995): s.v. ‘Spur’, H.-J. Gawoll, Sp. 1550 20 Didi-Hubermann (1999): S. 23. Siehe auch: S. 193f. Der Autor stellt eine konkrete Verbindung von Abdruck und Spur her und konstatiert den Nutzen von Derridas Begriffsinstrumentarium auch für die Kunstgeschichte. Derridas Ausführungen zur Spur (1972) (1983) (1988) (1990) belegen die philosophische Qualität des Begriffes und verweisen gleichzeitig auf das weite Feld, das ich im Rahmen dieser Untersuchung nicht betrete. An dieser Stelle sollte lediglich auf die Linearität und Musterhaftigkeit der Spur hingewiesen werden. 21 Leroi-Gourhan (1988) beschreibt die Mängel und Spekulativität von anatomischen Theorien, die eine Verbindung von Unterkieferform, Zungenmuskulatur und Sprachentwicklung herstellen. (S. 147) 22 Ong (1987): S. 86f 23 Ong (1987) nennt die Schrift der Sumerer in Mesopotamien um 3500 v. Chr. (S. 86), Haarmann (1990) hingegen beschreibt den sakralen Schriftgebrauch der Vinca-Kultur als den ältesten. (S. 72, 18) 24 Ritter/Gründer (1992): s.v. ‘Schrift’, A. u. J. Assmann, Sp. 1417 144 geschichte:25 Das sogenannte Primitive der Vorgeschichte und das Fremde finden als Schriftlose keine Aufnahme. Es handelt sich hierbei um eine historisch-wertende Nullpunktsetzung. Leroi-Gourhan zeigt anhand des Chinesischen, daß Schrift aus einer Verschränkung von Mythogrammen und phonetischer Linearisierung hervorgegangen ist. Die sukzessive Verdrängung der Mythogramme führt zu einer Definition der Schrift, die die Phonetisierung und den graphischen Linearismus in den Vordergrund stellt. Leroi-Gourhan formuliert die zwei Merkmale: „[...] Schrift zeichnet Töne auf, deren Ordnung den Fluß der Sprache nachzeichnet.“26 Die lineare Form der Schriftäußerung ist Abbild des zeitlichen Nacheinanders der gesprochenen Sprache.27 Aus diesem Nachgeordnetsein der Schrift leitet Ong ein Untergeordnetsein ab.28 Wie auch immer man wertet, es lassen sich an dieser Stelle zwei grundlegende Feststellungen zum Verhältnis von Sprache und Schrift treffen, die mit den Begriffen der Identität und der Differenz gefasst werden können. Die strukturelle Gleichheit von Sprache und Schrift in bezug auf eine Linearität wirkt identitäts- und definitionsstiftend. Das Postulat ihrer Differenz, mit seinen Auswirkungen auf den Bedeutungsgehalt, läßt sich bis Platon zurückverfolgen. Beidem soll im folgenden nachgegangen werden, um die Rolle des Musters in diesem Verhältnis zu bestimmen. Die Linearität von Sprache und Schrift bildet ihre strukturelle Gleichheit und ihre scheinbare Unzertrennlichkeit. Das gesprochene Wort, jeder Ton, ist wesentlich verklingend. Die akustische Wahrnehmung ist deshalb in besonderer Weise an die Zeit und ihre Irreversibilität gebunden. Das Wort ist ein Ereignis und „existiert nur im Moment seiner Entstehung.“29 Die Sprache als Ereignisfolge wird linear wahr- genommen. Die Schrift als transkribierte Rede vollzieht diese Bewegung, die eine definierte Richtung (Zeitpfeil) hat, nach. Die Anordnung der Linien, die Lese- richtung, kann unterschiedlich sein. Michel Foucault beschreibt den sprachwissen- schaftlichen Umgang der Renaissance mit diesem Thema und die damit verbundene Fundierung der zentralen Stellung der Schrift. Die „Verkettung der Wörter“ spiele hierbei ein wichtige Rolle, da man durch ihre „Anordnung im Raum die Ordnung der Welt rekonstruieren“ könne.30 Die Schrift als das männliche Prinzip der Sprache sei ihr handelnder Intellekt.31 Diese Handlung besteht in der Bewegung, die von oben nach unten oder rechts nach links und vice versa ausgeführt wird und von relativer Dauer ist. Wie eng nicht nur der Gebrauch einer Schrift, sondern auch die Schreibrichtung mit der Lebens- und Denkweise des Menschen verbunden ist, wurde am Beispiel des seßhaften, ackerpflügenden und webenden Bauern gezeigt. 25 Assmann (1999): S. 219. „ So ließ zum Beispiel Ranke in seiner Weltgeschichte Geschichte erst dort beginnen, ‘wo die Monumente verständlich werden und glaubwürdige schriftliche Aufzeichnungen vorliegen’“. 26 Leroi-Gourhan (1988): S. 256 27 Derrida (1983) betont die Untrennbarkeit der Linearisierung der Schrift und dem Phonologismus. (S. 126) 28 Ong (1987) formuliert, daß das Schreiben als ein sekundär formendes System bezeichnet werden kann, das von dem älteren primären System der Sprache abhängt. (S. 16) 29 Ong (1987): S. 37 30 Foucault (1994): S. 70 31 Foucault (1994): S. 71 145 Was Foucault als Entwicklung des 16. Jahrhunderts beschreibt, radikalisiert sich im 20. Jahrhundert. Jacques Derrida bezieht sich sehr konkret auf die Ausführungen Leroi-Gourhans und leitet aus der Dominanz der linearen Schrift den Logozentrismus der Metaphysik, den es zu dekonstruieren gilt, ab.32 Phonologismus und Linearismus seien untrennbar miteinander verbunden, das gesprochene Wort gehorche einem linearistischen Konzept.33 Er rekurriert auf die Schrift als ‘abgeleitete Hilfsform der Sprache’, als Signifikant des Signifikanten und möchte sie programmatisch aus dieser Situation herausführen.34 „Im Hinblick auf diese Einheit (von Sinn und Laut, Anm. K.K.) wäre die Schrift immer eine abgeleitete, hinzugekommene, partikulare, äußerliche, den Signifikanten verdoppelnde – phonetische Schrift. ‘Zeichen der Zeichen’, sagten Aristoteles, Rousseau und Hegel.“35 Es geht also um die Rettung der Schrift, vor Saussure, vor der Linguistik, die der Schrift im allgemeinen lediglich Repräsentationsfunktion zuschreibt.36 Die Linguisten und die jüngere Mündlichkeitsforschung wollen ihrerseits die Sprache von der Dominanz des Textes befreien37 und Derridas Vereinnahmung entziehen: „Das Denken ist in die Sprache eingebettet, nicht in Texte, welche sämtlich mittels der Referenz des sichtbaren Symbols ihre Bedeutung aus der Welt des Klanges er- halten.“38 Die Forschung zu Literalität und Oralität rechtfertigt beide Argumentationen, fordert jedoch meist eine eindeutige Stellungnahme zu Sprache oder Schrift. In Platons Phaidros – ein mündlicher Dialog, schriftlich fixiert – findet man die Grundlage für spätere Argumente angelegt und eine elegante Lösung der Unentscheidbarkeit.39 Derrida faßt diese Ambivalenz mit dem Begriff des ‘pharmakon’, der sowohl Heilmittel als auch Gift bedeuten kann und nutzt ihn als Mittel der Dekonstruktion aus dem Inneren des Dialoges.40 Zwei der häufig genannten Argumente für und wider die Schrift im Sinne des platonischen Dialogs, die mit dem Muster in Verbindung stehen, sollen an dieser Stelle benannt werden. Das erste Argument betrifft die Möglichkeit der Abwesenheit des Sprechers durch die visuelle Fixierung der Sprache. Im Phaidros überwiegt die negative Kritik an dieser Möglichkeit. Der Text gebe sich als Sprecher, könne sich aber nicht auf sein Gegenüber und die Situation einstellen.41 Dem wäre, als textile Randbemerkung hinzuzufügen, daß der anwesende Sprecher sich nicht nur verbal erklären kann, 32 Derrida (1983): S. 128. In seiner Vorbemerkung benennt Derrida neben Leroi-Gourhan M.-V. David mit einer Publikation über die Schrift und die Hieroglyphen als die Werke, die ihn zur ‘Grammatologie’ veranlaßt hätten. S. 7 33 Derrida (1983): S. 126 34 Derrida (1983): S. 17, 36 35 Derrida (1983): S. 53 36 Derrida zitiert Saussure: “Sprache und Schrift sind zwei verschiedene Systeme von Zeichen; das letztere besteht nur zu dem Zweck, um das erstere zu repräsentieren.“ Derrida (1983): S. 54 37 Ong (1987): S. 18 38 Ong (1987): S. 78 39 Heitsch (1993) 40 Derrida (1995): S. 84 41 Heitsch (1993): S. 62 (Phaidros 275de) 146 sondern seine Erscheinung, seine Kleidung, gleichermaßen beredt ist.42 Heitsch verweist auf einen anderen platonischen Dialog (Protagoras), in dem die Unent- scheidbarkeit hinsichtlich der Richtigkeit von Gedichtinterpretationen formuliert wird.43 „Nicht, daß der Text notwendigerweise immer und von jedem mißverstanden würde: Einen solchen Unsinn läßt Platon Sokrates nicht behaupten. Was dort, wo die Schrift zum Mittel der Vermittlung gemacht wird, verloren geht und angesichts der unterschiedlich geprägten Typen möglicher Rezipienten verloren gehen muß, sind auf Seiten der Rezipienten Eindeutigkeit und Sicherheit im Verstehen dessen, was der Autor mit seinem Text gemeint hat. Beides ist, wie Sokrates hinzufügt, bei schriftlicher Kommunikation nur dann gewährleistet, wenn der Empfänger an und für sich schon Bescheid weiß und nur erinnert zu werden braucht.“44 Die Schrift ist demnach nicht in der Lage, eindeutig und sicher Inhalte zu vermitteln. Das zweite platonische Argument betrifft die Möglichkeit der Informations- speicherung durch die Schrift. Der ägyptische Gott Theut präsentiert dem regierenden Ammon seine Erfindung, die ein Mittel für Gedächtnis und Wissen sei: die Schrift.45 Ammons erwiderte Schriftkritik bezieht sich auf die Differenz von Erinnerung und Gedächtnis. Als Mittel (pharmakon) der Erinnerung sei die Schrift in der Lage, Informationen zu speichern, dem Gedächtnis hingegen würde sie schaden, da sie zum Vergessen einlade.46 ‘La pharmacie de Platon’ bezeichnet im Französischen gleichermaßen die Wissen- schaft und den Ort dieser Wissenschaft, die Apotheke. Ob Gift oder Heilmittel scheint, wie in der Pharmazie, von der Dosierung abhängig zu sein. Hieran wird deutlich, wie schlüssig Derridas Wahl des ‘pharmakon’ als Leitfaden der Lektüre ist.47 Das Muster in Sprache und Schrift Die Schrifttheorie Derridas, die Grammatologie, der die genannte Publikation zu Platon vorausging,48 wird im folgenden auszugsweise nutzbar gemacht.49 Diese Nutz- barkeit ist ausgerichtet auf eine Hinwendung zum Muster, die keine Entscheidung zwischen Sprache und Schrift fordert, sondern auf ein Drittes, Kontinuitätsstiftendes, verweist. Der Linguist Christian Stetter konstatiert für Sprache und Schrift eine formende Wechselwirkung, die er mit ‘Kohabitation’ beschreibt. Diese Kohabitation, die nicht mehr Sprache und Schrift trennt, erzeuge unterschiedliche Schrifttypen, die wiederum 42 Durch die Einbeziehung der Kleidung, die wiederum Trägerin von Schrift sein kann, lassen sich zusätzliche Bedeutungsebenen einführen. Barber (1994) verweist auf den Zusammenhang von Analphabetentum im Mittelalter und der Verwendung von Symbolen und Zeichen. Ab dem 19. Jahrhundert werden zunächst Gebrauchstextilien wie Küchentücher oder Taschentücher mit Sinn- sprüchen oder politischen Nachrichten versehen. Im 20. Jahrhundert werden auch Bekleidungstextilien ‘beschriftet’, der Körper wird zum Schriftträger. 43 Heitsch (1993): S. 193, Anm. 425 44 Heitsch (1993): S. 193 45 Heitsch (1993): S. 61 (Phaidros 274e) 46 Heitsch (1993): S. 61 (Phaidros 275a) 47 Der Begriff taucht nur an wenigen Stellen auf und wird von Ernst Heitsch mit ‘Mittel’ ins Deutsche übersetzt. Heitsch (1993): S. 14 (230e); S. 54 (268c); S. 61 (274e) 48 Derrida (1995) 49 Die verschiedenen Positionen zu Oralität und Literalität werde ich an dieser Stelle nicht rezipieren. Die Publikationen von Ong (1987) und Stetter (1999) bieten einen Überblick über den Forschungsstand und verfügen über ausführliche Bibliographien. 147 unterschiedliche Denkformen hervorbrachten.50 Stetter rezipiert Derrida und stimmt mit ihm in wesentlichen Punkten überein. Die Isolierung der chirographischen und der typographischen Geste stellt die Text- produktion als ein Eigenständiges in den Vordergrund. Das ‘Handeln am Text’, das durch das Schreiben erst möglich wird, habe kein Analogon in der Rede.51 Diese Handlungen (Unter- und Durchstreichen, Umstellen, Ergänzen, Auswahl der Schriftart etc.) erzeugen die Gestalt des Textes. Prominentestes Beispiel (weil konzeptual-programmatisch genutzt) einer rein graphisch wahrnehmbaren Differenz ist der von Derrida geprägte Differenz-Begriff mit seinen zwei Schreibweisen (différence/différance).52 Hiermit bewegt er sich jedoch weiter in dem engen, nämlich eindimensionalen Handlungsspielraum der Schrift. Er tut dies unter Berufung auf Leroi-Gourhan. Beide Autoren erkennen in den neuen Medien den Beginn eines neuen Zeitalters, das mit dem Ende des Buches, und damit dem Ende der linearen Schrift einhergeht. Dabei vernachlässigen sie, daß der Schritt vom Buch zum Computer genauso bedeutend wie der von der Handschrift zum Buchdruck ist, jedoch ebensowenig an der Linearität der Schrift verändert hat. Derrida will offensichtlich auch keine Prognosen für ein schriftloses Zeitalter geben, als vielmehr eine weitere Methode der Textinterpretation liefern und den Beginn einer neuen Epoche mit veränderter Schreibweise postulieren. „Es geht auch nicht darum, der Buchhülle noch nie dagewesene Schriften einzuverleiben, sondern endlich das zu lesen, was in den vorhandenen Bänden schon immer zwischen den Zeilen geschrieben stand. Mit dem Beginn einer zeilenlosen Schrift wird man auch die vergangene Schrift unter einem veränderten räumlichen Organisationsprinzip lesen.“53 Was man sich unter dieser zeilenlosen Schrift vorzustellen hat und woran Derrida den schon begonnenen Wandel festmacht, bleibt unklar. Ulmer schreibt, Derrida konstatiere, daß alle philosophischen, natur- und literaturwissenschaftlichen Revolutionen des 20. Jahrhunderts als Erschütterungen interpretiert werden könnten, die das lineare Modell sukzessive zerstörten. Die Zeichen der Veränderungen verwiesen auf einen Paradigmenwechsel von der Sprache hin zur Schrift.54 Konkreteres erfährt man auch hier nicht. Lediglich ‘Das Programm’ enthält einen Hinweis auf eine Erweiterung des Schriftbegriffs: „[...] Kinematographie, Choreographie, aber auch ‘Schrift’ des Bildes, der Musik, der Skulptur usw.“ – generelle ‘Ein-schreibungen’, die nicht der Stimme verpflichtet sind.55 Derrida macht die Rede zu einer Form der Schrift. Demzufolge gäbe es eine ge- sprochene und eine graphische Schrift. Bedingung der Rede als auch jeglicher anderer Schrift sei die archi-écriture.56 Die Iterabilität als Bedingung jedes Zeichens 50 Stetter (1999): S. 9 51 Stetter (1999): S. 296 52 Derrida (1990): S. 77. Der Begriff der Differenz hat hier exemplarische Funktion, wird an anderer Stelle jedoch noch einmal aufgegriffen. 53 Derrida (1983): S. 155 54 Ulmer (1985): S. 9 55 Derrida (1983): S. 21 56 Culler (1988): S. 110–114. Culler expliziert die Derridaschen Begriffe der Schrift und des Logozentrismus. Den Begriff der archi-écriture, der Ur-schrift, beschreibt Derrida in der ‘Grammatologie’. Derrida (1983): S. 99 148 bildet eine weitere strukturelle Gleichheit, die sprachliches wie schriftliches Zeichen zu gleichwertigen Signifikanten machen.57 Auch der Altphilologe Eric A. Havelock wählt Platon als Referenztext und postuliert die Medienabhängigkeit des Denkens vor Derrida und McLuhan. ‘The medium is the message’ wird als Kurzformel des Paradigmas meist McLuhan zugeschrieben.58 Jan und Aleida Assmann führen das Werk Havelocks ein und weisen auf seine denkanstoßende Rolle hin. „Nicht die Sprache, in der wir denken, sondern die Medien, in denen wir kommunizieren, modellieren unsere Welt. Medienrevolutionen sind Sinnrevolutionen, sie re-modellieren die Wirklichkeit und schaffen eine neue Welt.“59 Hieraus leitet sich die Frage nach dem Verstehen des Denkens ab, dem „fremden Denken – der Existenz einer primitiven Mentalität bzw. prälogischen Denkens“ und dem eigenen Denken, dem abendländisch-logischen.60 Sprache und Sprachen sowie die unterschiedlichen Schriften verweisen jenseits ihrer Inhaltlichkeit auf eine bestimmte Denkweise.61 Diese Erkenntnis, hier exemplarisch durch einige Autoren vertreten, hat zu zahlreichen Untersuchungen geführt. Die Gefahr hierbei besteht in der je eigenen Denkweise der Autoren und dem Medium, dessen sie sich bedienen.62 Die Schriftkritik mit Hilfe der Schrift stellt eine Form der Selbstbezüglichkeit dar, die ich als erste seltsame Schleife kennzeichne. Ein Ausweg aus dieser Situation könnte die Hinwendung zu einem allgemeineren Zeichenbegriff sein.63 Barbara Stafford schreibt, daß wir gegenwärtig in unserer postindustriellen und postmanuellen Gesellschaft einen Umbruch erleben. Die Schrift würde demnach zu einem visuellen Zeichen unter anderen und müsse ihre zentrale Stellung aufgeben.64 Dem folgend, was auch als ‘pictorial’ oder ‘iconic turn’ bezeichnet wird, führe ich das Muster als Attraktor der Wahrnehmung in diesen Diskurs ein. Hierbei geht es nicht darum, die Sprache und die Schrift auszuschließen und zu entwerten, sondern um eine Betrachtung anhand der Begriffe der Repetition und der Dimensionalität. Jan Assmann schreibt, das Grundprinzip jeder konnektiven Struktur sei die Wiederholung.65 Die Repetition ist somit konstitutiver Bestandteil dessen, was Assmann als Kultur bezeichnet. Die Konstruktion von Vergangenheit ist eine Form der Konnektion. „Repetition und Interpretation sind funktionell äquivalente Verfahren in der Herstellung kultureller Kohärenz.“66 Assmann unterscheidet nun zwei Formen der Erzeugung kultureller Kohärenz: die rituelle und die textuelle. Auf Havelock, Goody und Ong bezugnehmend, wird den oralen Kulturen eine Art 57 siehe hierzu auch: Ulmer (1985): S. 58 58 McLuhan (1995); Erstauflage 1964. Teil 1 ist überschrieben mit ‘Das Medium ist die Botschaft’. Auch McLuhan weist auf die Bedeutung der ‘linearen Strukturierung unseres rational orientierten Lebens’ hin. (S. 134) 59 Havelock (1990): S. 3 60 Havelock (1990): S. 3 61 In welcher wechselwirkenden Abhängigkeit sich Sprache und Denken befinden, ist in der Linguistik ungeklärt. FAZ 14.04.99, Nr. 86, N6 62 Stetter (1999) führt dies besonders präzise und kritisch aus. (S. 43) 63 „Instead of fomulating unconvincing arguments about handaxes and syntax, perhjaps archaeologists should pursue the more promising approach of general semiotics.“ Gibson/Ingold (1993): S. 403 64 Stafford (1991): S. 476 65 Assmann (1992): S. 17 66 Assmann (1992): S. 89 149 ‘Wiederholungszwang’ nachgesagt und den literalen mittels der Schrift die Kunst der Auslegung, die Hermeneutik, zugedacht. Ong schreibt, das Denken müsse sich in mnemonischen Mustern vollziehen, die Gedanken in Form von tief rhythmischen Mustern entstehen, um ohne schriftliche Hilfe memoriert werden zu können. Die bilaterale Symmetrie des Menschen und seine Körperrhythmen werden gleichermaßen genutzt.67 Das Muster dient hier dem Memorieren, die rituelle Wiederholung bildet das Fundament der Kultur, ist eine strukturelle Notwendigkeit.68 Die textuelle Kohärenz hingegen beruht auf Interpretation und Variation. Diese strikte Trennung von Assmann werde ich relativieren. Auch die Schrift bedarf der Wiederholung, um Kohärenz zu erzeugen. Florian Coulmas schreibt: „Schrift ist Wiederholung. Wiederholung in mehrfachem Sinn: Wiederholung der immer gleichen Formen und Wieder-holung einer Form mittels einer anderen.“69 Diese Repetition ist eine strukturelle im Sinne von wiederkehrenden Mustern. Bis heute nicht zu entziffernde Schriftzeugnisse sind die besten Beispiele für die Be- deutung der Repetition: Die Verbindung ist abgebrochen, ihre Lesbarkeit und Interpretierbarkeit sind nicht mehr gegeben. „Eine Schrift, die nicht über den Tod des Empfängers hinaus strukturell lesbar – iterierbar – ist, wäre keine Schrift.“70 Wenn die Wiederholung als strukturelles Merkmal von Sprache und Schrift konstatiert wird, bleibt die Frage nach der Form der Wiederholung. Die Psycholinguistik beschäftigt sich u.a. mit der sprachlichen Mustererkennung und Musterbildung. „Die Zahl wohlgeformter sprachlicher Muster ist unbeschränkt. Als wohlgeformt bezeichnen wir ein sprachliches Muster, das Sprachbenutzer als mögliches Muster in ihrer jeweiligen Sprache ansehen.“71 Grammatiken werden in diesem Zusammenhang als rekursive Systeme verstanden, die die Grundlage der unendlichen Produktion sprachlicher Muster sind. In Verbindung mit akustischen Variationen und Kontextabhängigkeit ergibt sich eine infinite Menge von möglichen Sätzen. Die Anzahl der Elemente dieses generativen Systems sind jedoch endlich: die Phoneme und die lexikalen Einheiten, die das mentale Lexikon bilden.72 Dieses mentale Lexikon enthält die Muster. Um seine Funktionsweise zu untersuchen, verwendet Levelt akustische, bildliche und schriftliche Reize. Ohne dies zu explizieren, beziehen sich die von Levelt durchgeführten Untersuchungen auf Sprachen, die über eine alphabetische Schrift verfügen. Das Erkennen von gesprochenen und geschriebenen Wörtern erfährt keine Differenzierung. Die Frage richtet sich vielmehr auf die Differenz von Worterkennung und -produktion und die ihnen zugrundeliegenden Strukturen. Die Arbeitsweise des mentalen Lexikons ist eine wiederholende und kontextualisierende. Das Muster bezeichnet hierbei für Sprache und Schrift die Einheit, die es zu vergleichen und zu wiederholen gilt. 67 Ong (1987): S. 40 68 Assmann (1992): S. 98 69 Coulmas (1981): S. 133 70 Derrida (1988): S. 298 71 Köhler (1992): S. 358. Darin: Willem Levelt: „Sprachliche Musterbildung und Mustererkennung“, S. 357–370 72 Köhler (1992): S. 359. Darin: Willem Levelt: „Sprachliche Musterbildung und Mustererkennung“, S. 357–370 150 Sprache und Schrift bedienen sich des Musters, seiner repetitiven Eigenschaft, zur Erzeugung kultureller Kohärenz. Die Schrift als visuelles Medium wird in seiner Ausformung als Text noch genauer untersucht. Die Linearität ist ein anderes ver- bindendes Moment von Schrift und Sprache, das zuvor betrachtet werden soll. Mit Derrida und Leroi-Gourhan läßt sich eine Prägung des Denkens durch einen Linearismus, der sich in der Schrift visualisiert und gleichermaßen in der Sprache aktualisiert, konstatieren. Dem ist die Sequentialität des menschlichen Werkzeug- gebrauchs hinzuzufügen.73 Ein Herstellungsprozeß wird anhand der sequentiellen Anordnung der einzelnen Handlungsschritte erlernt und memoriert. Dieses Nach- einander des Tuns wurde von Gatewood als ein ‘pattern of thinking’ identifiziert.74 Das Bild, das er für die Organisationsform bemüht, ist ein textiles: ‘string-of-beads’.75 Der lineare Zeitbegriff, der den literalen Völkern zugeschrieben wird,76 verbunden mit der Irreversibilität der Zeit, ist ein weiterer Hinweis auf die Dominanz der Linie. Die Linearität des Denkens und Handelns ist an neurologische und motorische Körperstrukturen gebunden.77 Der Linearismus ist dementsprechend keine kulturelle Erfindung. Seine Instrumentalisierung hingegen verweist auf die Herausbildung kulturspezifischer Verhaltensweisen. Leroi-Gourhan spricht bei der gegenwärtigen Entwicklung von einer ‘Regression der Hand’, die möglicherweise zu einer Rückkehr zum vieldimensionalen Denken, im Gegensatz zum analytischen, wissenschaftlichen Denken, das sich am ‘Faden der Typographie’ bewegt, führen könnte.78 Sehr viel deutlicher – und mehr als 30 Jahre später – schreibt Mihai Nadin, daß Sprache und Schrift einen logischen Diskurs bilden, der in seinem Wesen dualistisch ist. Diese bivalente Logik gehöre zu den unsichtbaren Grundlagen der Schriftkultur.79 Neue, leistungsfähige Technologien, hiermit meint er vor allem Mittel der Visualisierung, seien in der Lage, Sprache und Schrift weitestgehend zu ersetzen und das Prinzip der Linearität annähernd zu verdrängen. Nichtlinearität und Fuzziness als Schlagworte neuester wissenschaftlicher Erkenntnis demonstrieren die Abkehr von Linearität und Determinismus. Unsere Schriftkultur erweise sich als eine schlechte Grundlage für eine multivalente Logik.80 Die Fähigkeit des Musters, sich mehrdimensional auszudehnen, wird von mir weiterhin als Modell der Erkenntnis und als Zeuge von Kontinuität genutzt. Das Denkmuster der Linearität hat, wie gezeigt werden konnte, sehr weit getragen. Das der Nichtlinearität (bemerkenswerterweise hat man hierfür diesen Negativbegriff gebildet) werde ich noch darstellen. 73 Gibson/Ingold (1993): S. 392 74 Gibson/Ingold (1993): S. 394 75 Gibson/Ingold (1993): S. 393 76 Goody (1986): S. 131 77 Leroi-Gourhan (1988) betont die ‘enge Synchronie’ zwischen der Entwicklung der Technik und der Sprache und die Verknüpfung von Hand und Stimme im Ausdruck des Denkens. (S. 268f) 78 Leroi-Gourhan (1988): S. 492f 79 Nadin (1999): S. 135. Mihai Nadin ist Professor für ‘Computational design’. Er hat u.a. Philosophie und Informatik studiert. 80 Nadin (1999): S. 135 151 Das Muster soll hiermit nicht als zukünftiger Ersatz für Sprache und Schrift vorge- stellt werden. Die Sprache wurde hier lediglich dargestellt, um die Verbindung von ‘Hand und Wort’ und die Bedeutung des Mediums aufzuzeigen. Leroi-Gourhan schrieb ‘Le geste et la parole’81 etwa gleichzeitig zu Havelocks medienwissenschaftlicher Schrift und beschreibt darin die Bedeutung des Vorgangs der Exteriorisierung des Gedächtnisses durch die Schrift, der das analytische Denken ermöglicht habe. Die Erhöhung der Speicherkapazität, heute wie damals zentrales Thema, ist die Voraussetzung für eine Weiterentwicklung, für Fortschritt.82 Die Weiterentwicklung in bezug auf die Aufzeichung akustischer Signale und ihre Folgen deutet Leroi-Gourhan an. Die Formen akustischer Wahrnehmung und ihre Musterhaftigkeit werden nicht weiter thematisiert, da die visuelle Wahrnehmung bzw. die Produktion visuell wahrnehmbarer Muster im Zentrum meiner Untersuchung stehen. Die Diskussion um die Implikationen von Oralität und Literalität, die interessanterweise mit Verbreitung der neuen Medien unter weniger oppositionalen Argumenten geführt wird, wird dementsprechend nicht weiter verfolgt.83 Abschließend verschränke ich die Betrachtungen der textilen und kognitiven Ein- dimensionalität. Den Aspekt der Eindimensionalität der Sprache und der Schrift in den Vordergrund zu stellen, erlaubt die Konstatierung struktureller Gleichheit. Die Linearität bestimmt die Richtung und gewährleistet hierdurch das Verständnis.84 Das Muster wurde als ein der Sprache und Schrift Inhärentes beschrieben. Der Preis einer solchen Abstraktion ist der vorübergehende Verlust der kulturellen Praxis. Die beschriebenen Analogiebildungen, z.B. von Flusser, lassen jedoch eine getrennte Untersuchung ratsam erscheinen. Die textile Produktion, respektive ihre Ergebnisse haben die Konstruktivität des Eindimensionalen, bzw. die Dominanz der Linearisierungsidee, die eine nachträgliche ist, gezeigt. Die angenommene Gleichzeitigkeit der Entstehung von Sprache und Technik läßt sich durch die Abstraktion stützen. Eine Untersuchung der Sprache, ihre Wörter als kulturelles Gedächtnis begreifend, könnte weitere Hinweise auf die Verbindung von Sprache und Technik liefern. Hierbei sollte der technische Aspekt, d.h. das Handeln und Bewegen des Menschen, in den Vordergrund gestellt werden. Die Etymologie könnte helfen, Grundmuster der Bewegung, wie beim Weben, zu erkennen, darf aber nicht dazu führen, den Text als eine evolutionäre Folge des Textilen zu benennen. Die Betrachtung des Eindimensionalen hat gezeigt, daß die textile Produktion auf das engste mit der kognitiven Entwicklung des Menschen verbunden ist. Die Ausbildung 81 Havelock schrieb ‘Preface to Plato’ 1963 (Cambridge MA) und Leroi-Gourhan ‘Le geste et la parole’ 1964 (Paris); dt. Übersetzung (1988) 82 Leroi-Gourhan (1988): S. 322f; Stetter (1999): S. 291 83 Formen der Massenmedien wie Radio und Fernsehen, vor allem aber das Internet zeigen, wie stark Schrift und Sprache miteinander wechselwirken und strikt trennende Definitionen von Schriftlichkeit und Mündlichkeit unmöglich machen. Hybridformen wie sekundäre Oralität oder Postliteralität zeugen hiervon. 84 Hodder (1989): S. 73 152 komplexerer textiler Techniken – auch das Gewebe – geht der ‘Erfindung’ der Schrift zeitlich voraus.85 Die Materialisation, die sich mit Erreichen der zweiten Dimension einstellt, geht wieder vom produzierenden Menschen aus und verknüpft die textile und die kognitive Dimension intensiver. 1,5-d Literale Fraktalität „Ich knüpfe an. Wenn Sie kritzeln und ich auch, dann ist das immer auf einer Seite, und es ist mit Linien, und damit sind wir gleich eingetaucht in die Geschichte der Dimensionen. [...] Bloß, da Sie fortlaufend schreiben, kommt es Ihnen nicht in den Sinn, die Linie zu unterbrechen, ehe sie auf eine andere trifft, um sie drunter durchgehen zu machen, oder vielmehr um anzunehmen, daß sie drunter durchgeht, denn in der Schrift handelt es sich um etwas ganz anderes als den Raum mit drei Dimensionen.“86 2-d Die zweidimensionale Herstellung der Wirklichkeit Sprache und Schrift wurden mit Linearisierung, mit der Reduktion auf eine Dimension charakterisiert. Die konkrete Visualisierung geschieht jedoch in der Fläche. Die Formen der zweidimensionalen Notation werden in vier großen Ab- schnitten vorgestellt: das Bild, der Text, die Karte und die Zahl. Bewußt wurde der Begriff der Notation gewählt, da die Geste des Notierens mit der Zweidimensionalität verbunden ist.87 Für die Untersuchungen von Notationsformen ist die Trägerfläche meist nicht entscheidend, noch nicht einmal, wenn sie eigentlich keine Fläche ist.88 Dreidimensionale Objekte werden für die Betrachtung gewöhnlich in die Fläche zurückgelesen, d.h. als reine Oberfläche wahrgenommen. Die Materialität der Notation gewinnt nur in bezug auf ihre zeitliche Dimension Bedeutung. Hierbei geht es in erster Linie um die Memorierungsfunktion der Notation und dementsprechend um die Beständigkeit des Materials.89 Der Wert des Materials und die damit verbundene Materialhierarchie kann sekundär zur Aus- zeichnung des Besonderen genutzt werden.90 Erst seit den späten 1980er Jahren, d.h. mit dem Gewahrwerden der Veränderungen durch die neuen Medien, werden auch die alten Medien neu gesehen.91 85 Leroi-Gourhan (1980): S. 303; Boucher (1997): S. 23, 31 86 Lacan (1991): S. 131 87 Flusser (1996) beispielsweise verwendet den Begriff des ‘Codes’ für Systeme von Symbolen (S. 75), die auch Fotografie und Film beinhalten. Unter dem Begriff des ‘Bildes’ subsumiert er Landkarten und zweidimensionale Modelle. (S. 111) Bei Assmann (1999) werden Schrift und Bild, aber auch Körper und Orte als Medien des kulturellen Gedächtnisses behandelt. (S. 20) 88 Auf diesen Umgang werde ich je im Zusammenhang eingehen und Beispiele benennen. 89 Aleida Assmann (1999) beschreibt den technologischen Übergang, den wir in bezug auf die Speicherung unseres kulturellen Gedächtnis zur Zeit erleben: „Das Modell eines materiellen Fortbestehens weicht dem Modell einer dynamischen Reorganisation von Daten.“ (S. 355) Hierauf wird im Zusammenhang mit den ‘neuen Medien’ zurückzukommen sein. 90 Daß diese Ebene der Interpretation nur selten thematisiert wird, wurde bereits ausgeführt und die Publikation von Raff (1994) als Ausnahme eingeführt. 91 Gumbrecht/Pfeiffer (1988) 153 Die Bedeutung der Trägerfläche wurde modellhaft anhand der textilen Dimensionen beschrieben. Das Textile ist eines unter anderen ‘Transportmitteln’, es hat besonders vielfältig Techniken ausgebildet, um das Bild (z.B. als Nadelmalerei), die Karte und den Text (z.B. als Stickerei) und die Zahl (z.B. in Form von arithmetischen Beziehungen von Flechttechniken) abzubilden bzw. immanent zu erzeugen. Der Materialität der Trägerflächen werde ich jedoch im folgenden nicht systematisch oder modellhaft nachgehen, vielmehr ist es im Gegenteil die Vielfalt und Beliebigkeit, die dokumentiert werden soll, um die zusammenführende Funktion des Musters zu verdeutlichen. Das Muster wird meist als Flächenphänomen, als typisch Zweidimensionales aus- gewiesen. Die beiden folgenden Definitionen zeugen von dieser Beschränkung: „A pattern is formed by the replication of a symmetry group in such a manner as to cover a plane with no gaps and no overlaps.“ „A pattern is easily recognised because it is based on a design that is repeated in two dimensions.“92 Die von mir formulierte Definition begreift das Muster hingegen als ein Mehrdimensionales. Es wird im folgenden nicht darum gehen, das Muster als eine Notationsform neben anderen zu untersuchen, sondern das Muster als Bestandteil der Notationen zu identifizieren und seine jeweilige Funktion zu benennen. Entsprechend geht es vor allem um strukturelle Aspekte der jeweiligen zwei- dimensionalen Ausdrucksformen.93 Die Wahl der Medien/der Visualisierungsform hat immer einen Bedeutungshintergrund, hierauf wird an gegebener Stelle ver- wiesen.94 Im allgemeinen versteht man unter einer Notation die schriftliche Aufzeichnung von Informationen. Der Begriff der Schrift wird hierfür sehr weit gefaßt, integriert Zeichen und Symbole, die wiederum Bilder und Zahlen beinhalten.95 Der lineare Verlauf der meisten Notationen und ihre Ausdehnung auf einer Fläche, meist Papier, erklärt die definitorische Nähe zur Schrift. Da der Gebrauch der Begriffe Sprache und Schrift im allgemeinen und auch im Zusammenhang mit Notationssystemen nicht einheitlich ist,96 werde ich im folgenden einige Begriffe auf der Grundlage semiotischer und kognitionswissenschaftlicher Forschung definieren. Gleichzeitig mit der Einführung der Begriffe wird eine Verortung des Musters innerhalb dieser beiden Gebiete vorgenommen. „Die Semiotik untersucht alle kulturellen Prozesse als Kommunikationsprozesse.“97 Eine neuere, erweiterte These definiert Kultur als Zeichensystem. Die Semiotik, als 92 Bier (1995): S. 32; Walker/Padwick (1977): S. 3 93 Eine wissenschaftshistorische Einordnung der Notationsformen kann in diesem Rahmen nicht geleistet werden. 94 Greenblatt (1998) schreibt in seiner Untersuchung zur ‘Erfindung des Fremden’, daß Repräsentationspraktiken immer eine ideologische Bedeutung haben. (S. 13) 95 Goodman (1995) wählt den Begriff des Symbols um „Buchstaben, Wörter, Texte, Bilder, Diagramme, Karten, Modelle und mehr“ in seiner Symboltheorie zusammenzuführen. (S. 9) 96 Krämer (1994) schreibt, daß die „Konzentration auf die phonographische Schrift“ den Schrifttypus, der mißverständlich als ‘formale Sprache’ gekennzeichnet würde, der „Verdrängung des genuinen Schriftcharakters dieser Symbole“ Vorschub leiste. (S. 91) Ähnliches läßt sich auch im Gebrauch anderer Begriffe wie Tanzschriften, Gebärdensprache, Musiknotation etc. nachvollziehen. 97 Eco (1972): S. 38 154 Wissenschaft von den Zeichen, sei das richtige Instrumentarium, um das Wesen der Kultur zu erforschen.98 Auch Jorna schlägt eine Erweiterung der Definition vor, die Informationsverarbeitungssysteme miteinbezieht, und stellt somit eine Verbindung zur Kognitionswissenschaft her.99 Krämer nähert sich der Problematik von seiten der Informatik und bemerkt, daß die Sprachen nicht nur der Kommunikation dienten, sondern auch „wirkmächtiges Instrument der Kognition“ seien.100 Der Symbolbegriff ist in der Kognition zentral, bildet das Symbol doch gemäß verschiedener Definitionen die Grundlage der Repräsentation oder, zugespitzt, allen intelligenten Verhaltens.101 Das Symbol als Basis von Gedankensystemen setzt eine zugängliche Notation voraus.102 Der Beliebigkeit, die durch die Verwendung des Symbolbegriffs für Texte, Bilder, Diagramme, Modelle, Karten etc.103 entstanden ist, werden innerhalb der Kognitionswissenschaft spezialisierte Definitionen entgegengesetzt. Schrift- und Zahlsysteme (Notationsformen) werden von Goschke als ‘externe Symbolsysteme’ bezeichnet. Ihre Entwicklung habe „zur Bereitstellung neuer Repräsentationsformen geführt, in denen gegebene Probleme einfacher darstellbar sind und mit geringerem Aufwand an kognitiven Operationen gelöst werden können.“104 Diese ‘neuen Repräsentationsformen’ sind eng mit dem Begriff des Musters verbunden. Externe Zeichen- oder Symbolsysteme hätten demzufolge die Aufgabe, Informationen schlußfolgernd zu visualisieren, logische in perzeptuelle Probleme zu transformieren. Die Fähigkeiten menschlicher Kognition beziehen sich vor allem auf Mustererkennung, auf den Vorgang des ‘pattern matching’.105 Der Kognitionswissenschaftler Douglas B. Hofstadter spitzt diese Aussage noch zu, indem er sagt, daß „im Zentrum der Intelligenz das Aufspüren von Mustern (steht), wenn es nicht sogar dieses bildete.“106 Das Muster ist demnach weder Zeichen noch Symbol, es bildet ein System, ist komplex, ist vieldimensional. Die einzelnen Musterelemente können Zeichen oder Symbole sein, die ‘Dekodierung’ eines Muster erfolgt jedoch nicht durch das Buchstabieren dieser einzelnen Elemente. Es geht vielmehr um die Muster- bildungsprozesse, um die Relationen und die Bedingungen. Deshalb können Muster auch nicht unter dem Begriff des Codes subsumiert werden. Flusser wählt eine textile Metapher, um in seiner Theorie der Kommunikation (Kommunikologie) die konstitutiven Begriffe des Symbols und des Codes zu definieren. Jegliche menschliche Kommunikation besteht demnach aus zu Codes geordneten Symbolen.107 98 Mit der Erweiterung der These will Posner auch Indikation und Signifikation, die nicht notwendig einen Sender benötigen, miteinbeziehen. Posner (1991): S. 39f 99 Jorna (1990): S. 13 100 Krämer (1993): S. 74 101 Jorna (1990): S. 14 102 Jorna (1990): S. 14 103 Nelson Goodman (1995) verwendet den Symbolbegriff in dieser Weise als „einen sehr allgemeinen und farblosen Ausdruck“. (S. 9) 104 Goschke (1990): S. 40 105 Goschke (1990): S. 41 106 Hofstadter (1996): S. 23 107 Später gibt er eine formale Definition des Begriffs: „‘Symbol’ sei jedes Phänomen genannt, das laut einer spezifischen, ausdrücklichen oder impliziten Konvention ein anderes Phänomen vertritt, es ersetzt und vorstellt; und ‘Bedeutung’ jenes Phänomen, welches vom Symbol vertreten, vorgestellt und ersetzt wird.“ Flusser (1996): S. 250 155 Diese Codes weben eine Hülle, die den Menschen vermittelnd umgibt: die Kultur.108 Als Symbol könne prinzipiell jedes Phänomen verwendet werden, das Ordnen zu Codes bediene sich zahlloser Methoden, die Ergebnisse seien mehrdimensional.109 Im folgenden beschreibt und analysiert er zwei der wichtigsten Codes: Bilder und Texte. Letztlich gehe es jedoch nicht um die Art der Codierung, sondern um den Vorgang des Codierens, der dem Ordnen diene.110 Dieses Ordnen, das Erzeugen von Regelhaftem, ist dem Muster zugehörig. Und hier wird die Differenz deutlich: Das Muster ist kein Code, es kann die ordnungsstiftende Grundlage für die Bildung eines Codes sein. Diese Funktion des Musters wird im folgenden überprüft. Die Bestandteile des Musters bzw. seine Ausformungen (externe symbolische Systeme sind bei Krämer: Sprache, Bild und Schrift) werden hier als Notationsformen mit der Betonung der Zweidimensionalität vorgestellt. Die Funktionen der Notation sind gemäß ihrer zahlreichen Artikulationsformen vielfältig, lassen sich jedoch auf die Exteriorisierung des Gedächtnisses und die Kommunikation zurückführen.111 Das Charakteristische der Notation ist ihre Wiederholbarkeit. In dieser Wieder- holung liegt die oben angesprochene Funktionalität begründet: Das Archiv (Ge- dächtnis) und die Botschaft (Kommunikation) können Zeit und Raum überbrücken. Man notiert etwas, um es wiederholen zu können. Um es notieren zu können, muß es etwas Wiederholbares sein, d.h. es muß ein Muster erkannt werden, eine zu isolierende Einheit. Die Isolation bedeutet einen ersten Schritt der Abstraktion, die Umwandlung in ein zu Notierendes den zweiten. Die Notation ist also keine Form der Nachahmung.112 Die abstrahierende Verkürzung ist integraler Bestandteil ihres Vorgehens. Um hieraus ein lesbares Notationssystem zu schaffen, müssen die Re- duktionen standardisiert und ein Bezugssystem geschaffen werden.113 Die vor- genommenen Reduktionen betreffen die Dimensionen, können als Komplexitäts- reduktion bezeichnet werden. Gleichzeitig schaffen sie den Raum für die Inter- pretationen beim Lesen der Notation.114 108 Flusser (1996): S. 74 109 Flusser (1996) zählt punktartige (Mosaike), geradlinige (Alphabete), oberflächige (Teppiche), vierdimensionale (Tanz) Codes auf. (S. 77) 110 Flusser (1996): S. 257 111 Die Funktionen der Notation sind nicht explizit Gegenstand meiner Untersuchung, sie werden nur in Hinblick auf gestalterische Auswirkungen benannt. Die Begriffe Gedächtnis und Kommunikation rufen eigene Wissenschaftszweige auf, innerhalb derer die verschiedenen Mittel beschrieben und analysiert werden. Assmann (1999) gibt eine umfassende Darstellung der Gedächtnisformen mit zahlreichen Literaturhinweisen. Die Publikationen zu Kommunikationsmitteln sind umfangreich, um nicht zu sagen unüberschaubar, da sich unter diesem Begriff Zahlloses subsumieren, bzw. auch unter anderen Begriffen, z.B. der Medientheorie, auffinden läßt. 112 Jorna (1990): S. 21. „Das Vorliegen von Ähnlichkeit ist allenfalls Folge einer Repräsentation, nicht aber ihre Ursache.“ 113 Goodman (1995) schafft eine streng elementarlogische Theorie der Notation, die diese nur innerhalb eines formalisierten Rasters (Bezugssystem) lesbar macht. Fehlt dieses Bezugssystem, ist die Notation nicht lesbar oder infolge eines logischen Ausschlußes nie eine Notation gewesen. Kap. IV, S. 125–166 114 Sennett (1995) schreibt, daß ‘wegen der Indirektheit der Notation’, der Differenz zwischen Notiertem und einem ‘andersgearteten Handeln’, ein Interpret notwendig sei. (S. 256) 156 Die Mustererkennung ist demzufolge die Voraussetzung der Notation. Der Er- kennung der Informationsträger folgt die Transformation.115 Diese Transformation, die mit einer Dimensionsveränderung einhergeht, dient der Weltstrukturation, beinhaltet die Erkenntnis, im Sinne der Medienabhängigkeit des Denkens,116 bzw. Notationsformenabhängigkeit des Denkens.117 Die Darstellung der zweidimensionalen Notationsformen verfolgt diese Trans- formationen und die Instrumentalisierung des Musters. Die vorgenommenen Trennungen zwischen den einzelnen Formen in Bild, Text, Karte und Zahl entspricht den üblichen Zuordnungen zu Wissenschaftsdisziplinen. Es wird sich jedoch zeigen, daß die Übergänge fließend sind, bzw. die Notationen sich verschiedener Formen simultan bedienen. Die Auswahl der Darstellungen ist nicht repräsentativ veranlagt und folgt nicht etablierten Systematiken oder einer Chronologie. Es handelt sich vielmehr um eine exemplarische Auswahl, die den Anteil des Musters an der Konstruktion visueller Wirklichkeit und die Historizität dieser Konstruktionen aufzeigt. Das Bild „Was ist ein Bild?“ Gernot Böhme möchte diese Frage mit einer ‘Theorie des Bildes’ beantworten, die die Wahrnehmung, die Bildpragmatik, die Semiotik und die Phänomenologie miteinbezieht.118 Hiermit folgt er der Entwicklung der bildenden Kunst, eine ‘innere Reflexion des Visuellen’ zu betreiben. Dies führt ihn am Ende dazu, eine Epochenteilung vorzunehmen: Die Klassik des Bildes, definiert durch den Referenten und gebunden an einen Träger, wird abgelöst von der gegenwärtigen Befreiung der Bilder durch die digitalen Medien.119 Doch was ist nun ein Bild? Svetlana Alpers paraphrasiert Alberti, dessen Definition des Bildes zu einem ‘allgemein verbreiteten, dauerhaften Modell’ geworden sei, folgendermaßen: „[...] eine gerahmte Fläche oder Scheibe in einer bestimmten Ent- fernung vom Betrachter, der durch sie hindurch auf eine zweite, künstliche Welt blickt.“120 Die Definition Vilém Flussers konkretisiert dies: „Ein Bild ist eine Reduktion der ‘konkreten’, vierdimensionalen Verhältnisse auf zwei Dimensionen.“121 Das Bildermachen ist also eine Tätigkeit, die Dimensionen reduziert. Der Bildermacher wählt einen Ausschnitt (Rahmen) und konstruiert gemäß seiner Absicht, seiner Wahrnehmung, seiner historischen Disposition ein 115 Der Begriff der Transformation erscheint in diesem Zusammenhang neutral. Der Begriff der ‘Übersetzung’ ist mit der Sprache konnotiert: ob intra- oder interlinguistische Übersetzung oder intersemiotische Übersetzungen, die sich auf Zeichen beziehen. Auch die ‘Codierung’ steht in zu engem Zusammenhang mit der Semiotik und der Kognitionswissenschaft. Vgl. Strohner (1995): S. 75. Die Coderelation transformiert ein Zeichensystem in ein anderes Zeichensystem, wie z.B. das Binärsystem oder den Morsecode. 116 Krämer (1994) spricht allgemein von „Techniken, die ihre Spuren hinterlassen werden, in der Art und Weise, in der wir denken“ und von der Aufgabe des Medienmaterialismus, diese Spuren zu sichern. (S. 90) 117 Wie oben erwähnt, geht es um die implizite Zweidimensionalität der Notation. Die jeweiligen Medien als Materialität werden nur exemplarisch Erwähnung finden, bzw. wurde das Textile als ein Medium bereits dargestellt. 118 Böhme (1999): S. 11 119 Böhme (1999): S. 130–133 120 Alpers (1985): S. 25 121 Flusser (1996): S. 111 157 zweidimensionales Bild. Alpers’ Formulierung des ‘Handwerk des Beobachtens’ bezeichnet die Verbindung von Hand und Auge.122 Sie legt ausdrücklich Wert auf den Ausdruck ‘Bildermachen’ statt ‘Bild’, um die Herstellung miteinzubeziehen.123 Das Bildermachen wird hierdurch zu einer handwerklichen Gestaltung einer Ober- fläche.124 Da es im folgenden um die visuelle Herstellung der Wirklichkeit geht, wird dieser Bildbegriff und Überlegungen zur Wahrnehmung übernommen.125 In Anbetracht der Fülle von Bildern, die das menschliche Auge aufnimmt, ist eine Selektion notwendig. Das Muster wird im folgenden als ein mögliches, selektives Moment expliziert. Diese Funktionalisierung des Musters betrifft sowohl den Mensch als Betrachter als auch den Mensch als Bildermacher. Perspektive Die Perspektive ist ein zentrales Thema der Bildwissenschaften und hat entsprechend umfassende Bearbeitung erfahren. Diese Schriften wurden ausschließlich in Hinblick auf den Aspekt des Musters gelesen. Die Perspektive als kulturelles Phänomen ist ein historisches und konstruiertes.126 Die abgebildeten Muster zeugen von dieser Konstruktivität und von der Historizität der Wahrnehmungsgewohnheiten. Die Darstellung der textilen Muster im vorangehenden Kapitel hat den Übergang von mittelalterlicher Bedeutungsperspektive über eine kombinierte Form im 15. Jahrhundert zu einer perspektivischen Darstellung im 16. Jahrhundert gezeigt. Die Raummuster folgen der perspektivischen Darstellung vor den Textilmustern, eine ähnliche Form des Übergangs ist hier für das 14. Jahrhundert zu benennen. Als Raummuster sind vor allem die Bodenfliesen zu benennen, Architekturelemente mit sichtbarem Mauerwerk oder Kassettendecken zeigen weitere Muster. Robin Evans’ Ausführungen zur Entwicklung der perspektivischen Malerei legen es nahe, diese Reihenfolge auch der Bildproduktion zugrunde zu legen. Alberti habe mit der Perspektive begonnen, da man das Haus bauen müsse, bevor die Leute einzögen.127 Das Schachbrettmuster wirkt für diese Räume konstituierend, macht die Perspektive deutlich sichtbar. Zudem habe es nahegelegen, das Gitternetz der Hilfslinien in eine Pflasterung umzuwandeln. Evans beschreibt, welchen Anteil die Perspektivkonstruktion an dem Abgebildeten hat. Hierbei unterscheidet er Dürers Apparaturen und Albertis Konstruktionen, die ohne Bezug zur Realität Bilder produzierten.128 Ein Hilfsmittel, das Dürer in der ‘Underweysung der Messung’ 122 Alpers (1985): S. 147 123 Alpers (1985): S. 79 124 Alpers (1985): S. 15. Wolfgang Kemp weist einleitend auf das Innovative einer solchen Sicht innerhalb der Kunstgeschichte hin. 125 Alpers Ziel nachzuweisen, daß Sinn und Bedeutung der Bilder nicht hinter der Bildfläche versteckt sind, „sondern vielmehr zeigen, daß Sinn und Bedeutung ihrem Wesen nach in dem wurzeln, was das Auge aufnehmen kann“, kann hier nicht umfassend dargestellt werden. Alpers (1985): S. 33 126 Stafford (1991): S. 477; Gurjetwitsch (1978): S. 92–97. Gurjewitsch beschreibt den Übergang vom Mittelalter zur Renaissance, die Ablösung des theozentrischen Weltbildes durch eine ‘subjektiv- anthropozentrische Position’. Gombrich beschreibt die Unterscheidung zwischen physikalischer Optik und visueller Wahrnehmung und die Implikationen für die Malerei. Bis zu einem gewissen Grad sei das menschliche Auge in der Lage, intuitiv zu kompensieren. Gombrich (1994): S. 93f 127 Arch+ (1997): S. 42 128 Arch+ (1997): S. 43 158 beschreibt, ist ein Rahmen, dessen Binnenraster das ‘Abmalen’ der Wirklichkeit erleichtern soll. Das orthogonale Muster dient Dürer der Orientierung, dem Ordnen der Wirklichkeit in ein Koordinatensystem. So unterschiedlich Methoden und Ergebnisse sind, das Muster dient hier jeweils der Erschließung des Raumes und der Relationsbildung (Personen). Mit der Erweiterung des für den Menschen erfahrbaren Raumes wird im allgemeinen die Aufgabe der perspektivischen Darstellung begründet. Die Beschleunigung der Bewegung und die Aviatik werden im Abschnitt über die Karte besprochen. Eine naheliegende Funktionalisierung des Musters für die Bildproduktion ist seine Verwendung als Motiv. Als bildbeherrschendes Thema ist das Muster ein Topos des 20. Jahrhunderts. Das Serielle ist in der Kunst als Methode, aber nicht als eigenständige Kategorie veranlagt. Künstler der Pop-art nutzen das Serielle als ein Mittel der Verfremdung, die Musterbildung (z.B. Andy Warhols Bild ‘One hundred Campbell’s Soup Cans’. Das Muster wurde später auch für ein Minikleid aus bedrucktem Papier verwendet129) ist hierbei jedoch nicht das vorrangige Ziel. Die Optical Art spielt gezielt mit der visuellen Wahrnehmung, den häufig thematisierten Moiré-Effekt werde ich an anderer Stelle explizieren. Neben diesen Kunstrichtungen sind einzelne Künstler zu benennen, deren Werke einen je eigenen Umgang mit dem Muster zeigen. Escher, Thomkins, Hucleux Der niederländische Graphiker Maurits C. Escher (1889–1972) setzt sich in seinem Werk zentral mit der Struktur der Fläche und des Raumes und dem Konflikt zwischen Raum und Fläche in der Darstellung auseinander. Viele seiner Bilder zeugen von der Beschäftigung mit dem Problem der regelmäßigen Flächenaufteilung (dem Parkettierungsproblem, das in anderem Zusammenhang schon angesprochen wurde). Er selbst schreibt, er habe seinen ersten ‘periodischen Holzschnitt’ 1922 gemacht, bevor er etwas von der wissenschaftlichen Kristallographie wußte und bevor er die Alhambra besuchte.130 Caroline MacGillavry hat zahlreiche Zeichnungen Eschers zusammengestellt und zeigt systematisch die verschiedenen Symmetrieformen und deren mathematische Konstruktion daran auf,131 obgleich Escher selbst sich stets als mathematischen Laien bezeichnete.132 Da Eschers Interesse an den Mustern weder didaktischer noch naturwissenschaftlicher Natur war, fragte er sich, was ihn dazu gebracht habe, so viele Bilder dieser Art zu zeichnen. Ein befreundeter Psychologe habe ihm diese Vorliebe mit einem primitiven, archetypischen Instinkt zu erklären versucht. Escher war unzufrieden mit dieser Antwort, seine eigene Erklärung besteht in der Beschreibung seines Vorgehens. „In the beginning I puzzled quite instinctively, driven by an irrestistible pleasure in repeating the same forms, without gaps, on a piece of paper. [...] The dynamic action 129 Steele (1997): S. 61. „The Souper Dress“ entstand fünf Jahre nach dem Bild. 130 MacGillavry (1976): S. VII (Vorwort von M.C. Escher) 131 MacGillavry (1976) 132 Ernst (1994): S. 24 159 of making a symmetric tessellation is done more or less unconsciously.“133 Das Muster scheint demzufolge eine inhärente Kraft zu besitzen: Das repetitive, das dynamische Element schafft eine fruchtbare Verbindung von Hand und Auge. Betrachtet man das Gesamtwerk Eschers weiterhin vom Muster her, erscheinen seine Auseinandersetzung mit der Unendlichkeit und den Dimensionen als logische Konsequenz. In den Metamorphosen II (Holzschnitt 1939/40) durchläuft der Betrachter eine Verwandlung eines Ausgangsmusters über mehrere Stadien in sich selbst zurück. Escher interpretiert hier die Unendlichkeit des Musters auf andere Weise: das Zurückbiegen auf sich selbst. Sein Bild Zeichnen (Lithographie 1948) stellt die Vollendung einer solchen ‘seltsamen Schleife’134 dar: Eine rechte Hand zeichnet eine linke Hand, die wiederum im Begriff ist, die rechte zu zeichnen. Eine weitere Ebene ist implizit durch die naturalistische Wiedergabe der Zeichensituation geschaffen: Der Zeichner Escher ist auch anwesend.135 Die Unmöglichkeit der zeichnenden Hände liegt in der Hierarchie begründet, in anderen Bildern thematisiert Escher den Konflikt zwischen Raum und Fläche, das Problem der Darstellung eines Dreidimensionalen auf einer zweidimensionalen Fläche. Treppauf, treppab (Lithographie 1960) oder Wasserfall (Lithographie 1961) zeigen unmögliche Perspektiven, Welten, die nur auf dem Papier existieren können. Escher spielt mit dem Wahrnehmungsmuster der Zentralperspektive, der Deformation gemessener Proportionen. „In a sense, central perspective makes things look right by representing them wrong.“136 Die Reduktion um eine Dimension, das perspektivische Zeichnen, wird hier zur Bedingung der Möglichkeit der Suggestion bzw. der Schaffung mehrdimensionaler Welten. Der Schweizer Künstler André Thomkins (1930–1985) kannte das Werk Eschers und bewunderte es. Seine Umsetzung in Form einer geschlossenen Werkgruppe ‘Rapportmuster’ löst sich von dem Vorbild, ist nicht mathematisch basiert. Thomkins schafft eine regelmäßige lineare Grundstruktur, die über die ganze Fläche wiederholt wird, diesem Gefüge schreibt er „aufgrund reflektierender Betrachtung und Interpretation Details ein, welche die Musterfläche durchbrechen und eine neue irritierende räumliche Dimension erzeugen.“137 Für Thomkins liegt der Reiz von regelmäßig konstruierten Mustern in der „Öde des wiederholten Motivs, aus dem man ausbrechen will“.138 Die Monotonie der Repetition wird zum Motor, erzeugt Energie, erweckt Assoziationen. Er selber beschreibt diesen Vorgang folgendermaßen: „muster mustern, mausern, als eine art bebrütung.“139 Für den französischen Maler Jean-Olivier Hucleux eröffnet die Monotonie der Repetition eine andere Möglichkeit. Er fertigte 1975/76 ein fotorealistisches Porträtbild des Sammlerehepaars Ludwig an. Das Besondere und die Motivation für 133 MacGillavry (1976): S. VII–VIII 134 Auf den Begriff der Seltsamen Schleife, auf die Selbstreferentialität, wurde bereits hingewiesen. Es wird in anderen Zusammenhängen darauf zurückzukommen sein. 135 Hofstadter (1985): S. 17 136 Washburn (1983): S. 3 137 Heusser u.a. (1999): S. 409 138 Heusser u.a. (1999): S. 94 139 zitiert nach Heusser u.a. (1999): S. 94, aus: ‘100 fragen an andré thomkins’ 160 dieses Bild sei der Malvorgang, nicht das Thema gewesen.140 Hucleux hat diesen Vorgang schriftlich und bildlich dokumentiert.141 Der Maler selbst wählte die Kleidung des Ehepaares aus: Irene Ludwig trägt ein knielanges Hemdblusenkleid mit einem kleinteiligen ‘Phantasiemuster’. Das Hahnentrittmuster des Anzugs von Peter Ludwig wird durch Hucleux’ Beschreibung zum zentralen Bildmotiv. „Die zu malende Oberfläche von einem halben Quadratmeter Anzugstoff wird Motiv für Motiv in 5000cm2 Hahnentritt umgesetzt. [...] Als das Schlimmste jedoch beschreibt Hucleux das Problem bei den Motiven, die scheinbar gleich sind, die aber niemals identisch sind, da die kleinste Falte eine Deformation bewirkt, die Struktur aufbricht und den Perspektivgesetzen unterliegt. In seiner Rechnung kommt er allein auf über 10000 malerische Eingriffe, die notwendig waren, um nur allein die oberflächliche Erscheinung des Stoffes zu erreichen.“142 Die Repetitivität des Hahnentrittmusters und des Malvorgangs führten zu einer Form der Eigenhypnose, der Trance, der sich der Maler nur durch einen reglementierten Tagesablauf und körperliche Bewegung habe entziehen können. Die Besonderheit des Malvorgangs entsteht u.a. durch die Materialität des Musters: Der sich in Falten legende Stoff verzerrt die einzelnen Motive auf je unterschiedliche Weise. Ein eigentümliches Spiel des Immergleichen und Immerverschiedenen, das auf unserer rekonstruktiven, erfahrungsgeleiteten Wahrnehmung beruht. Der Maler rekonstruiert minuziös ein Motiv nach dem anderen. Der Weber hingegen nimmt ein Hahnentrittmuster als orthogonales System zweifarbiger Kett- und Schußfäden wahr, dessen Musterung in Reihen entsteht. Die sich beim Betrachten automatisch vollziehende Rücklesung in die Fläche macht das Muster erst zu einem Muster im Sinne unendlicher Repetition. Das Muster in der Bildwissenschaft Das Muster als Motiv des Bildermachens gibt es in vielfältiger Form. Die Instrumentalisierung textiler Muster wurde bereits beschrieben. Unter Berücksich- tigung der Quellenlage können für abgebildete textile Muster ähnliche Aussagen ge- troffen werden. Da das Muster hier ausschließlich in seinen strukturellen Eigenschaften betrachtet wird, sei noch einmal daran erinnert, daß jedes Bild als Motiv Bestandteil eines Musters werden kann.143 Die Bildproduktion orientiert sich an Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Beobachtungsmustern. Die anschließende Bildbetrachtung, -analyse, -interpretation sucht in den Artefakten in mehr oder weniger bewußter Weise die Muster auf. Die Kunstgeschichte als Bildwissenschaft nutzt das Muster als kategorienbildendes und ordnungsstiftendes Mittel. Das Muster, bzw. in diesem kunsthistorischen Zu- sammenhang meist als Ornament bezeichnet, wird als Indikator eines Stils identifiziert, und daraufhin wird eine Zuordnung getroffen. Diese Auffassung des Musters als Ausdruck eines bestimmten, epochalen Kunstwollens geht vor allem auf 140 Uelsberg (1994): S. 83 141 Uelsberg (1994) bezieht sich auf Hucleux’ Text aus dem Ausstellungskatalog des Centre Pompidou, Paris 1979. 142 Uelsberg (1994): S. 84 143 Absurde Ausformungen dessen lassen sich vor allem im Bereich des Merchandising auffinden. 161 Alois Riegl zurück.144 Neben epochalen Kategorien werden auch geographische gebildet oder bestimmte Werkstätten identifiziert. In diesem Zusammenhang lassen sich auch genuin textile Zuordnungen auffinden, die von wechselseitigem Interesse zeugen. Der Maler Hans Holbein d.J. (1497–1543) malte ein bestimmtes Stickmuster – ein verdoppelter Vorstich meist in Rot oder Schwarz auf weißem Grund ausgeführt – besonders gerne und häufig. Dieser Stickstich wurde in der Folge als Holbeinstich benannt.145 Holbeins Vorliebe für Teppiche und ihre Folgen wurden bereits erwähnt. Brigitte Klesses Untersuchung gemalter Textilmuster des Trecento führt exemplarisch eine kunsthistorisch durchgeführte Stilbestimmung vor. In Verbindung mit den Kenntnissen der Stoffmuster und der führenden Werkstätten einer Epoche kann das Muster zur stilistischen Beurteilung von Gemälden beitragen, Werkstatt- und sogar Händezuweisungen getroffen werden. Ein Muster könne gleichermaßen zu einer Art Signum eines Malers werden.146 Wählt man ein diachrones Verfahren und verfolgt beispielsweise die Entwicklung des Paisleymusters, erhält man Einblicke in wirtschafts- und technikhistorische Zusammenhänge.147 Für diese Art der Zusammenführung ist das Bild, das Motiv, ausschlaggebend. Das Muster – seine Ikonographie – wird erkannt und benannt, Konstruktion, Rapport, Trägerfläche sind zweitrangig. Eine besondere Art der Zuordnung verfolgt die Bildtheorie Aby Warburgs, die „das Problem des Bildes als Gedächtnismedium erhellen sollte.“148 Die wiederkehrenden Bildformen nannte er ‘Pathosformeln’. Formeln einer isolierten Bewegung, einer Gebärde, eines ‘Grundmusters von Affekten’.149 Warburgs Interesse galt zunächst der Verbindung der italienischen Renaissance mit der klassischen Antike. Das Projekt ‘Mnemosyne’ führt die Bilder der Pathosformeln über einen Zeitraum von der Antike bis in die Gegenwart zusammen. In der Rezeption wurde die Pathosformel zu einer Art ‘Suchkategorie’, das Alltägliches und Hochkunst verbindet und dem „künstlerischen Sehen seinen rezeptiven Ort im Feld einer Gesamtkultur“ zuweist.150 Warburgs Interesse an Bewegung, Gesten und Körperhaftem fokussierend, wird sein Begriff der Pathosformel auch für die Analyse des Tanzes genutzt. Brandstetter schafft hierfür den Begriff der Toposformel.151 Das Formelhafte, das die Wiederkehr bezeichnet und die Qualität der Memorierung beinhaltet, stellt die Verbindung zum Muster her. Wahrnehmungs- und Bewegungsmuster, die sich über lange Zeiträume verfolgen lassen, werden benannt und ihre Konstanz mit einer Sinnvermutung versehen. 144 Riegl (1893); s.a. Kroll (1987): Kap. VI 145 Stradal/Brommer (1990): S. 50; Grönwoldt (1993): S. 268 Die von Lucas Cranach gemalten Muster wurden schon in Schönspergers ‘New Modelbüch’ von 1524 als Cranach-Bordüren vereinheitlichend benannt. Abegg (1978): S. 22 146 Klesse (1967): S. 21, 484 147 Das Palmettenmuster, das die Kashmir-Shawls, die im 18. Jahrhundert nach England gebracht wurden, schmückte, wird in Europa als Paisleymuster bezeichnet. Benannt nach dem Ort in Schottland, in dem die meisten Kashmir-Shawls imitiert wurden. Reilly (1987): S. 10–13; Irwin (1974): Chap. 1 148 Assmann (1999): S. 226 149 Brandstetter (1995): S. 99 150 Kunstforum (1991): S. 215 151 Brandstetter (1995): S. 30 162 Die Konzeption einer Informationsästhetik des Wissenschaftstheoretikers Max Bense (1910–1990) beinhaltete eine konkrete Umsetzung von Kunstwerken in mathematisch erfaßbare Muster, sollte also Kunst meßbar machen.152 Diese und ähnliche Versuche scheiterten an der Komplexität der Kunstwerke, wobei die Komplexität vor allem im Kontext, der mit dem Betrachter wechselt, aufzusuchen ist. Aufgrund des nicht nachweisbaren Gehirncodes zur Verarbeitung von Bildinformation wird die Informationstheorie immer nur einen Teilbereich ästhetischer Zustände verorten können.153 Dieser Bereich gehört der Mustererkennung, der Suche nach Ordnung, an. Die Form der Mustersuche ist in einen wissenschaftshistorischen Zusammenhang zu stellen, ist auch kontextabhängig. Die Digitalisierung hat den sehr konkreten Umgang mit Mustern, mit meßbarer Ordnung, angeregt. Das Kunstwerk als Psychogramm, als materialisiertes Zeichen des Unbewußten bildet gewissermaßen den Gegenpol. Es ging an dieser Stelle jedoch vielmehr darum, die Mustersuche als konstitutiven Bestandteil der Bildverarbeitung zu konstatieren und Artikulationsformen innerhalb der Kunst(-geschichte) zu benennen.154 Festzuhalten ist, daß das zweidimensionale Bild in der Lage ist, mehrdimensionale Sachverhalte darzustellen, indem es Dimensionsreduktionen vornimmt. Die Möglichkeiten der sinnhaften Dimensionserweiterung, die letztlich dem Wesen der Kunst als interpretierter Wirklichkeit entsprechen, sind nicht Thema dieser Arbeit. Arabesken Die ‘Macht des Bildes’, die Kraft der Visualisierung, macht sich auch in Sprache und Schrift bemerkbar. So sucht die Literaturwissenschaft im Text, in der Erzählung Bilder in Form von rhetorischen Figuren auf: Topoi, Metaphern, Tropen. Der Einfluß von Gesten und Gebärden wird in Sprichwörtern (Parömiologie) und Redewendungen (Phraseologie) deutlich. Eine Übersetzung der Gebärden in Piktogramme wird häufig als Ursprung der Schrift angenommen155 oder als Herkunftsnachweis eines Teils der Zeichen.156 Diese Bilder sind jedoch in der Schrift und im Text nicht sichtbar, es sind imaginierte Bilder der Autoren und Interpreten, die kategorienbildend, also ordnend wirken. Die Arabeske als genuin Bildhaftes ist beispielhaft für die Verwendung einer Figur/eines Mustertyps in unterschiedlichsten Bereichen. Die Arabeske in der Kunst – gemeinhin wird sie hiermit zuerst assoziiert – gehört definitorisch zu den stilisierten Blattrankenornamenten.157 Im 19. Jahrhundert erlangt sie als ‘zentrales Strukturprinzip der romantischen Allegorie’ eine Bedeutung, die sie über eine ‘bloße Ornamentform’ hebt.158 Werner Busch beschreibt ausführlich diesen Wandel und das damit verbundene, von ihm postulierte Ende der Ikonographie. Von der Last, etwas 152 Rötzer (1993): S. 306 153 Rötzer (1993): S. 310f 154 Es ließen sich noch viele andere Künstler oder auch Kunststile benennen, die sich direkt oder indirekt, zentral oder marginal, mit Mustern, mit Ordnungssystemen, mit Rastern, mit dem Seriellen beschäftigen. Diese hier aufzulisten und zu untersuchen, ist in Hinblick auf die Fragestellung nicht vorgesehen. 155 Schmitt (1980): S. 3 156 Haarmann (1990): S. 79 157 vgl. beispielsweise Jahn (1989): s.v. ‘Arabeske’ 158 Busch (1985): S. 13 163 zu symbolisieren, befreit, bzw. als Ornament nie mit Bedeutung aufgeladen, erhält die Arabeske Verweisungscharakter.159 Besonders in der Literatur wird die Arabeske zu einem zentralen Begriff, mit dem auf mehreren Ebenen operiert wird. Als konkrete Form wird die Arabeske in der Romantik auf Teppichen, Gemälden und Tapeten als Muster beschrieben. „Wird die Arabeske dagegen in den Blick genommen, wie es Romanfiguren in der romantischen Literatur tun, so erscheint das Oszillieren zwischen rahmender Arabeske und eingefaßtem Bild nicht mehr als räumliches Nebeneinander, sondern als sukzessiver Wechsel, bei dem die Arabeske sich zu einem Bild belebt, das aus ihr hervorgeht [...].“160 Das der Arabeske eignende Bewegungsprinzip wird hier wirksam: das Oszillieren, das wahrgenommen wird, und schließlich das Heraustreten aus der Fläche. In Ludwig Tiecks ‘Arabesken’ betrachtet der Protagonist Wilhelm Lovell die ihn umgebenden Teppiche und Tapeten: „Wie Tapeten voll seltsame Geschichten gewirkt, hing die ganze Natur um mich her. [...] Alles Sichtbare hängt wie Teppiche mit gaukelnden Farben und nachgeahmten Figuren um uns her.“161 Eine andere Erzählung wird schließlich von den aus der Wandtapete heraustretenden Figuren bevölkert. Die Raumqualitäten und die potentielle Mobilität von Textilien wird in Literaturanalysen meist vernachlässigt. Die Beschreibungen des Protagonisten legen es jedoch nahe, das textile Element zu beachten. Die Lebendigkeit des Gewirkten ist bedingt durch seine sichtbare Struktur und die Hängung der Textilien, die keine ebene Fläche erzeugt, sondern Falten und Wellen, die etwas ‘vorgaukeln’. Die Arabeske als Strukturprinzip der Erzählung und des Romans erhebt die Form zum Inhalt. Das ironische Aufheben des Ausgangspunktes, das Umkreisen als Form, führen in das Reich der Phantasie, in das Chaos, in die Unendlichkeit.162 Friedrich Schlegels Ausführungen zu einer ‘Theorie des Romans’ muten selber arabesk an, sich in einer scheinbar unendlichen ‘seltsamen Schleife’ befindend: „Eine solche Theorie des Romans würde selbst ein Roman sein müssen, der jeden ewigen Ton der Fantasie fantastisch wiedergäbe, und das Chaos der Ritterwelt noch einmal verwirrte.“163 Schlegel bezeichnete Laurence Sternes ‘Tristram Shandy’ als Arabeske. Die charakteristische selbstreflexive Erzählweise wird bei Sterne durch die Visualisierung der Erzählstruktur durch den fiktiven Autor in Form von mäandernden Linien ein weiteres Mal potenziert.164 In dieser Zeichnung offenbart sich die Verbindung zwischen Text und Ornament bzw. einem bestimmten Ornamentverständnis: Das Lineare bestimmt die Erzählstruktur, ein fortlaufendes Nacheinander gewährleistet das Verständnis. Die Arabesken der Musik und des Balletts sind in ihren deutlichsten Ausformungen auch Erscheinungen des romantischen 19. Jahrhunderts. Ihre Interpretation ist weniger vielfältig als die in der Literatur beschriebene. In beiden Fällen sind Figurationen und Verzierungsformen benannt, die genausowenig wie die literarischen Arabesken die ursprüngliche Form nachzubilden versuchen. 159 Gumbrecht/Pfeiffer (1993): S. 106 160 Gumbrecht/Pfeiffer (1993): S. 113 161 Gumbrecht/Pfeiffer (1993): S. 118 162 Busch (1985): S. 44f 163 zitiert nach: Gumbrecht/Pfeiffer (1993): S. 116 164 Sterne (1996): S. VI, 149 164 Die äußere Form eines Textes kann jedoch auch gestaltet werden. Der Text als sichtbare Notationsform und dessen weitere Verbindung mit dem Bild werden im nächsten Abschnitt beschrieben. Der Text Die Linearität der Schrift und die damit verbundene Form des Denkens wurden dargestellt. Die Schrift kann zwar die Linie nicht verlassen, aber sie hat trotzdem Möglichkeiten, sich von der Sprache zu emanzipieren und ihre spezifische Aus- drucksform zu finden, Bedeutung auf einer weiteren Ebene zu generieren. Gemeinhin ist mit dieser Ausdrucksform der Text, in seiner engen Definition als Wortlaut eines Schriftstückes, gemeint.165 Die Gestaltung des Textes birgt die Möglichkeit, über den Wortlaut hinauszugehen. Der Text erlangt durch die Ausdehnung in die zweite Dimension Eigenständigkeit gegenüber der Eindimensionalität der zeilenförmigen Schrift, die lediglich das zeitliche Nacheinander der Sprache wiedergibt. Die folgende Aufzählung von Textgestaltungsmöglichkeiten greift exemplarisch Textformen, die als Denk- oder Kunstformen interpretiert werden können, auf. Das Muster hat auch hier wieder verschiedene Funktionen: die Erzeugung visueller Ordnung (die einen Bedeutungsgehalt hat und/oder dekorativ sein kann) und das Bereitstellen einer Wiederholungsvorschrift, im Sinne einer Grammatik, eines Regelkanons. Textuelle Wissensmuster Die Musterelemente des Textes sind einzelne Buchstaben (Zeichen), einzelne Wörter oder schon in Zeilenform geordnete Wortfolgen. Die Herausbildung verschiedener Schriften und Alphabetformen wurde bereits kurz skizziert. Neben der Linearisierung der Schrift geben auch die Schriftzeichen selber Hinweise auf unterschiedliche Denkformen.166 Die Form ist Inhalt, bildet eine Rahmenbotschaft, wie Douglas Hofstadter es formuliert.167 Als ein Beispiel für Rahmenbotschaften hat Hofstadter eine Schriften-Collage zusammengestellt: Es geht zunächst nicht darum, die Schrift entziffern oder übersetzen zu können, sondern „die Notwendigkeit für einen Entschlüsselungsmechanismus“ zu erkennen.168 Demnach ist es die Form, die uns einen Hinweis darauf gibt, daß Bedeutung vorhanden ist. Sie verweist auf einen intentionalen Akt eines Senders. Ihre Merkmale sind – laut Hofstadter – Geometrie und erkennbare Muster, also Regelhaftes. Daß die Entschlüsselung nicht immer als eine Übersetzung, wie es die Schriftbeispiele von Hofstadter nahelegen, vorzustellen ist, beschreibt Florian Coulmas. Er unterscheidet Schrift von skripturaler Kunst, die sich zwar der formalen Ähnlichkeit – Linearität und Artikulation – bedienen würde, aber in desemantisierter Form.169 Die Form ist nun nicht mehr Rahmenbotschaft, sie wird als Inhalt wahrgenommen. Die Kalligraphie, Coulmas untersucht speziell die japanische, sei zwischen Malen und 165 Im Gegensatz zu sehr viel weiter gefaßten Definitionen, wie beispielsweise innerhalb der Semiotik, die jegliches Artefakt mit kodierter Bedeutung als Text einer Kultur begreift. Vgl. Posner (1991): S. 46 166 Die schon zitierte Publikation von Stetter (1999) formuliert den intrinsischen Zusammenhang von formalem Denken und Alphabetschrift als These. (S. 13) 167 Hofstadter (1985): S. 180 168 Hofstadter (1985): S. 178 169 Coulmas (1981): S. 132 165 Schreiben anzusiedeln. Das Oszillieren zwischen diesen beiden Polen eröffnet die Möglichkeit der komplexen visuellen Materialisierung von Sprache.170 Die islamische Kunst verwendet die Schrift als „ornamentale Grundform“, die – im Fall der heiligen Schrift – die ‘Geometrie der Seele’ visualisiert.171 Oleg Grabar, dessen Interesse der islamischen Kunst des Mittelalters und insbesondere der Ornamentik gilt, widmet der Kalligraphie und den intermediären Möglichkeiten der Schrift ein eigenes Kapitel.172 Die Abbildungen 20 und 21 zeigen exemplarisch die Verwendung von Schrift (als Wort oder Buchstabe) als Muster- element. Die Keramikschale aus dem Iran erfordert vom Betrachter lediglich eine Transformation vom Zirkulären in ein Lineares, um die Schrift lesen zu können. Die arabische Schrift selber ist in der Lage, viele Formen anzunehmen, ohne ihre Lesbarkeit zu verlieren. D.h. nicht nur der Schriftzug kann einer Form angepaßt, sondern auch die Schrift kann geometrisiert, gespiegelt, ‘verflochten’ werden und hierdurch Muster generieren.173 Sonia Delaunays ‘L’Alphabet’ von 1947 trägt im Titel schon den Hinweis auf das Motiv: den Buchstaben ‘T’ als musterbildendes Element. Brandstetter bezeichnet dieses ‘Alphabet’ als tanzende Buchstaben und bringt sie mit den ‘Lettres dansantes’ der belgischen Tänzerin Akarova in Ver- bindung.174 Die Avantgarde des Tanzes und des Theaters der 1920er Jahre habe „Zeichen- und Schrift-Kinesis analog zur Buchstaben- und Laut-Poesie“ inszeniert.175 Die ‘Lettres dansantes’ seien die ‘konkrete Poesie’ des Tanzes.176 In beiden Fällen wird also die lineare Anordnung der Schrift aufgebrochen, um ein Muster zu erzeugen. Das Beibehalten der Zeilenanordnung verweist auf einen Bedeutungsgehalt der Schrift als visualisierte Sprache, als ‘unverfälschendes’ Medium. Im folgenden wird gezeigt, welchen Anteil die Textform an der Inhaltlichkeit haben kann. Der Historiker Ivan Illich beschreibt die Entstehung des modernen Schriftbildes, den Übergang vom Lesbaren zum Sichtbaren als Kommentar zu Hugos ‘Didascalion’.177 Hugo habe das Lesen als Lese begriffen und die Herleitung Plinius’ gekannt, die das Blatt (pagina) mit dem Spalier (espalier) verbindet. Die Zeilen auf einer Seite entsprechen den Verstrebungen der Spaliere in einem Weinberg.178 Das Lesen und die Lese folgen also einer strengen Struktur, einer orthogonalen Organisation, die die Bewegung bestimmt. Die ‘scriptio continua’ ohne Wort- und Satztrennung erfordert lautes Lesen, eine Tätigkeit, die den ganzen Körper beansprucht und einen auditiven und sozialen Raum schafft.179 Das leise Lesen, der Text als gestaltete Seite und das sich herausbildende Individuum datieren in das 12. Jahrhundert. Das Einfügen einer Lücke, des Nichts, zwischen den Wörtern ermöglicht das leise Lesen, reduziert die 170 Coulmas (1981): S. 146 171 Gumbrecht/Pfeiffer (1993): S. 110 172 Grabar (1992): Kap. 2 ‘The intermediary of writing“ 173 Albarn (1974): S. 36 174 Brandstetter (1995): S. 430. Der Name ‘Akarova’ ist gleichermaßen ein – anagrammatischer – Tanz der Buchstaben. (S. 428) 175 Brandstetter (1995): S. 432 176 Brandstetter (1995): S. 432 177 Illich (1991). Der Titel der französischen Ausgabe lautet: Du lisible au visible. La naissance du texte (Paris 1991) 178 Illich (1991): S. 58 179 Illich (1991): S. 60, 86 166 Bewegung auf die des Auges.180 Illich bezeichnet diesen Vorgang als Übergang vom monastischen zum scholastischen Lesen.181 Die Klangmuster der Worte werden durch visuelle Formen, durch die Ordnung der Zeichen ersetzt. Aus einem dreidimensionalen Raumerleben innerhalb des sozialen Gefüges wird ein zweidimensionales Flächenerleben als „individualistische Tätigkeit [...] zwischen einem Selbst und einer Seite.“182 Die ‘scriptio continua’ wird ihrer Kontinuität beraubt und erfährt hierdurch eine Emanzipation von der mündlichen Rede. Die kontinuierliche Zeile, der Faden, wird zerschnitten. Gleichermaßen wird der Text, das Gewebe, zerschnitten. Der Schnitt ist Mittel der Analyse in den Sektionen der Anatomie (ana-temnéin bedeutet aufschneiden), ist Mittel der Gestaltung von Bekleidung und Methode der modernen Wissenschaft mit Ockham als Urvater mit dem Messer. Leerstellen, Absätze, Stichwort- und Inhaltsverzeichnisse, Schriftart und -größe, Kapitelüberschriften, Glossen, Kommentare, Fußnoten etc. schaffen eine optische Gliederung des Textes.183 Diese Gestaltungsmittel, die größtenteils im 12. Jahrhundert ‘erfunden’ wurden (z.T. Wiederentdeckungen der Antike), bezeichnet Illich als „geistig geordnete und quantifizierte Wissensmuster“, die auf eine Seite projiziert würden.184 Für den Leser erzeugt das wiedererkennbare Muster, die Ordnung, die notwendig ist, um einen Text schnell(er) zu erfassen. Für den Autor bieten diese Konventionen eine weitere Ebene, seine Absichten zu vermitteln. Die folgenden, sehr heterogenen Beispiele für die Interpretationsqualität von Text- gestaltung können ihre Möglichkeiten nur andeuten. Das Kinderbuch ‘Die unendliche Geschichte’ von Michael Ende erlangt die postulierte Unendlichkeit durch ein simples, visuelles Mittel: den Druck in zwei Farben. Die Rahmengeschichte beschreibt einen Jungen, der ein Buch findet und es zu lesen beginnt. Die beiden Erzählebenen sind durch unterschiedliche Farben getrennt. Der lesende Junge wird Teil der Geschichte, so wie der lesende Leser durch das auf eine Farbe reduzierte Schriftbild sich seiner Rolle bewußt wird und diese Geschichte fortsetzt. Diese Konstruktion der Geschichte folgt der Form der ‘seltsamen Schleife’, um Unend- lichkeit zu evozieren. Die Absicht von Figurgedichten ist gleichermaßen performativ, äußert sich jedoch gänzlich anders: das Schriftbild zeichnet den Inhalt des Gedichtes nach oder kommentiert ihn. Die konkrete Poesie als moderne Form des Figurgedichtes reduziert häufig den Wortgehalt, arbeitet mit dem Mittel der Repetition und stellt die Gestalt in den Vordergrund. Der englische Begriff der ‘pattern poetry’ erweist sich hierin als schlüssiger. Die Abbildung 22 des Figurgedichtes von Ernst Jandl zeigt, in welcher 180 Laut Saenger (1998) waren es irische Mönche, die die optischen Trennungen ins Schriftbild einfügten. 181 Saenger (1998): S. 101 182 Saenger (1998): S. 86 183 Illich (1991) beschreibt diese Phänomene ‘sichtbarer Ordnung’ ausführlich im Kapitel 6. Leroi- Gourhan (1988) parallelisiert diese Präsentationsformen des Textes mit der Funktion des äußeren Gedächtnisses. (S. 328) Foucault (1994) bemerkt die Verkettung der Wörter und ihre Anordnung im Raum als Mittel der Ordnungserzeugung, der Weltrekonstruktion. (S. 70) 184 Illich (1991): S. 105 167 Form Worte zu Gestaltungs-, zu Musterelementen werden können.185 Eine weniger künstlerisch-literarisch als wissenschaftlich ambitionierte Form der Seitengestaltung weist Pierre Bayles Wörterbuch aus dem 18. Jahrhundert auf (Abbildung 23). Simultaneität und Komplexität scheinen die – sehr modernen – Leitgedanken der Erstellung dieses Systems von Fußnoten und Glossen gewesen zu sein. Textilunterricht mit Jacques Derrida186 Derridas Schrift ‘Glas’ hat eine ähnliche optische Anmutung wie die Enzyklopädien.187 (Abbildung 24) Die Absichten erweisen sich jedoch als viel kom- plexer als ihre äußere Form, ich werde sie im folgenden ausführlich behandeln und Aspekte der Linearität und Dimensionalität aufgreifen. Die bereits besprochene Schrift Derridas, die ‘Grammatologie’, beschäftigt sich mit der Loslösung der Schrift von der gesprochenen Sprache und der Entdeckung und Entwicklung der Potenzen der Schrift.188 Hierbei geht es um zwei verschiedene Tätigkeiten, die Lektüre bestehender Texte und die Textproduktion nach ‘neuen’ Gesichtspunkten, die beide von schneidenden Bewegungen bestimmt sind. „Ein Text ist nur dann ein Text, wenn er dem ersten Blick, dem ersten, der daher kommt, das Gesetz seiner Zusammensetzung und die Regel seines Spiels verbirgt.“189 So beginnt das kurze (eine Seite lange) Vorwort zu Derridas, schon erwähnter Schrift, ‘Platons Pharmazie’. Das anschließende erste Kapitel beginnt mit dem Hinweis, daß eigentlich schon alles gesagt, daß zumindest die Lexik ausgeschöpft sei.190 Diese Lexik ist eine textil geprägte, und die auferlegten Grenzen sind gleichermaßen textil: „zwischen der Metapher des histos und der Frage nach dem histos der Metapher.“191 Es geht also um Texte und um Textilien, deren Nähe bereits von mir thematisiert wurde. Bei Derrida wird noch einmal sehr deutlich, daß diese Nähe sich weitest- gehend – etymologisch sehr konsequent – auf das Weben beschränkt, andere textile Techniken ausschließt. Die Verschleierung des Textes ist eine Geste des Umhüllens: Gewebe umhüllt Gewebe. Jede Lektüre hinterläßt eine Spur, ist ein schneidender Vorgang, dem ein ‘regenerierendes Weben’ nachfolgen muß.192 Will man dem Gelesenen etwas hinzufügen, muß man sich auf die Ordnung einlassen, „dem 185 Weitere Autoren von Figurgedichten und Konkreter Poesie sind beispielsweise Hugo Ball, Guillaume Apollinaire, Lewis Caroll, Christian Morgenstern, Kurt Schwitters. 186 Die, durch was auch immer motivierte Vorliebe für textile Bilder und Begriffe Derridas bedürfte einer eigenen Analyse. An dieser Stelle mußte eine beschränkte Auswahl getroffen werden. 187 Derrida (1974). Der französische Titel ‘Glas’ bedeutet Totenglocke. 188 Ulmer (1985): S. 68. „Theoretical grammatology, I have argued, is a repetition, a retracing at a conceptual level, of the history of writing. Its purpose is to desentangle in that history the nature (or the absence of an essence) of writing from the ideology or metaphysics of voice which has dominated and restricted writing, in order to reassess the full potential of, and alternative directions for, a new writing practice.“ 189 Derrida (1995): S. 71 190 Derrida (1995): Auch wenn schon alles gesagt ist, umfaßt der Text weitere 120 Seiten, die sich ‘aufs Spiel verlegen’, ‘also ein wenig schreiben’. (S. 73) 191 Derrida (1995): S. 73. Die Fußnote gibt den Hinweis auf die etymologische Verbindung von griech. histos und Gewebe: Die eigentliche Bedeutung – aufgerichteter Gegenstand – habe u.a. der ‘senkrechten Walze’ (dieser Begriff wird nicht näher erklärt, Kett- oder Warenbaum befinden sich nie in senkrechter Position, können also nicht gemeint sein. Vermutlich wird hiermit ein Teil des vertikalen antiken Hochwebstuhls bezeichnet) des Webstuhls den Namen gegeben und hiervon zu den Ableitungen Webstuhl, Einschuß und Gewebe, Stoff geführt. 192 Derrida (1995): S. 73 168 gegebenen Faden folgen“.193 Derrida wählt für das ‘hinzudichten’ das französische Wort ‘broder’, das ‘Verzieren, Ausschmücken einer Erzählung’, aber vor allem ‘Sticken’ bedeutet. Wie oben beschrieben wurde, wird meistens auf einem Gewebeuntergrund gestickt, dessen Ordnungsgefüge die Stickerei, den Stickstich bestimmt. Dieses Sticken – als Supplement des Supplements – ist jedoch nicht das Ziel der Lektüre, sondern das Erkennen des verborgenen Fadens. Die dekonstruktive Forderung, die sich dem anschließt, lautet: „Es gälte also, in einer einzigen, aber zweigeteilten Geste, zu lesen und zu schreiben.“194 Das Trennende – der Schnitt – dient hierzu und ist gleichzeitig Grundvoraussetzung des Neuzusammensetzens, der Collage. Dieses Prinzips bedient sich Derrida in ‘Glas’, einer Doppellektüre von Hegel und Genet (Abbildung 24). Diese optische Doppellektüre setzt sich auf der inhaltlichen Ebene fort und wird durch weitere Einfügungen von Textabschnitten vervielfacht.195 Warum er dies tut, ‘ein Messer zwischen zwei Texte jagen, zwei Texte auf einmal schreiben’, beantwortet Derrida mitten in einem der Texte. Man wolle die Schrift ungreifbar machen, indem man die Linie durcheinanderbringt und den Leser durch die permanente Vergegenwärtigung der Entscheidung für einen Text seiner Dominanz beraubt.196 Die Textgestaltung erhält hiermit eine inhaltliche Dimension, die Schrift entwickelt eigene Ausdrucksmöglichkeiten. Um diese Art des Arbeitens zu erklären, führt Derrida den Begriff der ‘Navette’ ein. „La navette est le mot. C’est d’abord celui que je cherchais plus haut pour décrire, quand une gondole a croisé la galère, le va-et-vient grammatique entre langue et lagune (lacuna). [...] D’abord parce que c’est un terme d’église et que tout ici se trame contre une église. [...] Ensuite la navette du tisserand. Il la fait courir. Va-et-vient tramé dans une chaîne.“197 ‘Navette’ bedeutet Schütze, Schiffchen, Pendelbus und Weihrauchgefäß, die Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Bedeutungen dieses Begriffes liegen in der Bewegungsform des Hin und Her. Das nun einsetzende Mißtrauen Derridas gegen- über der textilen Metapher bezieht sich auf das Originäre des Webens als ‘primäre’ textile Technik. Das Nähen als artifiziellere Tätigkeit, die von geschnittenen Teilen ausgeht, erscheint ihm passender. In der Parallelisierung werden Text- und Näharbeit zu einem Formbaren, einem nie endenden Prozeß, einem immanent Unab- geschlossenen. Er beschreibt die Couture als ein Verräterisches und Betrügerisches, die wie der Text Verbergen und Täuschen könne. Eine Konsequenz, die daraus zu ziehen wäre, ist, niemals nähen zu lernen.198 Ulmer mißtraut scheinbar nicht nur der textilen Metapher, sondern auch den textilen Kenntnissen Derridas bzw. seinen eigenen. Er spricht von der Nähe der Handwerke und daß es letztlich um die Berührung ginge, um die sensuelle Nähe von Text und 193 Derrida (1995): S. 72 194 Derrida (1995): S. 72 195 Derrida (1974). Die eine Textspalte beschäftigt sich mit einer Analyse des Familienbegriffs bei Hegel, die andere mit dem Literaten Jean Genet, beide werden immer wieder von Einschüben und Zitaten (‘incise, tatouage, incrustation’, S. 4) in Spaltenform unterbrochen. 196 Derrida (1974): S. 76. „Pourquoi faire passer un couteau entre deux textes? Pourquoi, du moins, écrire deux textes à la fois? Quelle scène joue-t-on? que désire-t-on? Autrement dit, de quoi a-t-on peur? qui? de qui? On veut rendre l’écriture imprenable, bien sûr. Quand vous avez la tête ici, on vous rappelle que la loi du texte est dans l’autre, et ainsi à n’en plus finir. A engrosser la marge – plus de marge, plus de cadre – on l’annule, on brouille la ligne, on vous reprend la règle droite qui vous permettrait de délimiter, découper, dominer.“ 197 Derrida (1974): S. 232f 198 Derrida (1974): S. 234. „[...] Je m’empêchai d’apprendre à coudre.“ 169 Textil, um ‘action by contact’.199 Derrida sei insbesondere an der Bewegungsform des Nähens und des Webens interessiert, die er mit ‘navette’ umschreibe. Hier gilt es jedoch einzuwenden, daß das Nähen nicht in seiner Bewegung pendelt, sondern eine Richtung verfolgt. Eine Naht, als Ergebnis des Nähens, führt zu einer dauerhaften Verbindung, die den Schnitt durch das Gewebe auf die linke Seite verlegt. Sie dient dem Verschließen der Lücke, dem Verstecken des Schnittes, dem Erzeugen einer neuen Fläche und möchte im Normalfall nicht bemerkt werden.200 Demzufolge ist das Mißtrauen gegenüber textilen Metaphern durchaus berechtigt, bezieht sich jedoch vielmehr auf die vermeintlichen Kenntnisse ihrer Autoren und Interpreten. Die einzelnen Texte Derridas entsprechen Gewebefragmenten, die er zusammen- setzen möchte. Das Bild des Patchworks, das er durch die Einführung der nähenden Tätigkeit evoziert, ist wenig stimmig. Es soll an dieser Stelle auch nicht mit textiler Kenntnis neu gezeichnet werden, ist der Erkenntnisgewinn solcher Bilder doch fragwürdig. Harlizius-Klück schreibt, auch der Strukturalismus sei nicht in der Lage, die ‘Bild- lichkeit der Gewebe’ zu erfassen, da das Sehen gar nicht zur Struktur gehöre, die Sprache und Denken ist.201 Die Struktur jedoch ist erfaßbar, und hier ist die Nähe von Text und texere (und eben nicht Text und textil) zu finden: in der Bewegungsform der Produktion und in der Orthogonalität, die auch in der paradigmatischen und syntagmatischen Anordnung auf einer weiteren Ebene zu finden ist. Aber schon die Parallelisierung von Bindungslehre und Grammatik muß an den so unterschiedlichen Materialien scheitern. Die Musterfähigkeit von Texten ist aufgrund der Gebundenheit an die Linie sehr eingeschränkt. Derrida versucht diese Beschränkung durch die Arbeit am Wort, in seiner visuellen, geschriebenen Form (op-writing), zu konterkarieren. Ulmer stellt hierbei über die Lektüre Gombrichs Bezüge zum Muster und zum Ornament her.202 Das Wesen des Ornaments sei dekorativ und parergonal und in diesem Sinne den Zielen von Derridas op-writing sehr nahe. Das Muster, hier dem Ornamentwerk untergeordnet,203 diene dem Rahmen und Füllen von Flächen, ist also Beiwerk.204 Die Beschäftigung mit dem Beiwerk – dem Parergon – ist eine das Zentrum, den Logozentrismus verlassende Bewegung.205 In Derridas Schrift ‘Parergon’ wird das Fragmentarische und die Konzentration auf die Rahmung, auf das Dazwischen durch optische Mittel betont. Jeweils zwei sich diagonal gegenüberstehende Winkel lassen den Raum zwischen den Textfragmenten (deren Fragmentariät durch Kleinschreibung 199 Ulmer (1985): S. 48 200 Eine Ausnahme bildet die Stoßnaht, bei der die Schnittkanten gegeneinanderstoßen und der Stich sichtbar auf der rechten Seite ausgeführt wird. Diese Art der Nahtführung wird vor allem bei der Verarbeitung von Einlage, die später nicht mehr sichtbar ist, angewendet. Es ist kaum zu vermuten, daß Derrida oder Ulmer an diese Art der Naht gedacht haben. 201 Harlizius-Klück (1): S. 26 202 Ulmer (1985): S. 40f nimmt Bezug auf Gombrich (1982) 203 Wie bereits ausgeführt, ist der Gebrauch der Begriffe Muster und Ornament uneinheitlich, so auch bei Gombrich, Derrida und Ulmer. 204 Ulmer (1985): S. 43 205 Ulmer (1985): S. 40 170 der Anfangswörter sichtbar ist) gerahmt erscheinen.206 Das intensive Studium der Parerga Derridas läßt sich, Ulmer zufolge, anhand Gombrichs Autonomie-Postulat des Ornaments als Studium der Strukturalität der Struktur verstehen. Op-writing als Methode der Grammatologie könne aus dem Ornamentschatz der Geschichte schöpfen.207 Ein anderes, genuin textiles Muster, dem sich Derrida widmet, ist das Moiré.208 Durch das Übereinanderlegen von Gittern oder Rastern entsteht ein vibrierendes, ein sich bewegendes Muster. Dieser Moiré-Effekt basiert auf rein geometrischen Prinzipien, seine wissenschaftliche Nutzung als Modell betrifft die Optik und die Untersuchung der Wahrnehmung.209 Sein ästhetischer Reiz bestehe darin, aus scheinbarem Chaos Ordnung zu erzeugen. Diese Ordnung ist eine symmetrische und läßt sich mathematisch beschreiben. Die Abbildung 25 zeigt ein Moiré-Muster, das durch die Überlagerung von zwei Liniensystemen erzeugt wird. Hargittai gibt hierzu die relationale Verbindung der Parameter mit einer Formel an.210 Das Moiré-Muster des ‘bauhaus-druckstoffes’ von 1932 (Abbildung 26) ist nicht textiltechnisch erzeugt worden. Die Vorlage des Stoffmusters ist eine zeichnerische. In der Kunst fand dieser Effekt seine Anwendung in der Op-Art der 1960er Jahre. Als Stoffmuster ist der Moiré seit dem 16. Jahrhundert bekannt. Der Vorgang der Mustererzeugung bzw. die Mitwirkung von Wasser gaben dem Effekt seinen Namen: ‘moirer’ bedeutet ‘wässern’. Zwei Stoffbahnen, oder eine gefaltete Stoffbahn, werden in angefeuchtetem Zustand zwischen zwei Walzen gegeneinander verzogen.211 Hierzu werden Seidentafte oder Ripse verwendet, die eine Leinwandbindung (das Gitter) aufweisen. Der zweidimensionale Stoff erhält hierdurch eine Oberflächenbewegung, die in die Dreidimensionalität verweist. Ein genuin textiles Muster erreicht durch eine optische Täuschung eine dimensionale Wirkung: das Verlassen der Fläche, die Bewegung. Es ist genau diese Bewegung, die Derrida als textgenerierende Funktion des ‘Ornaments’, des Moiré-Musters, nutzen möchte. Und es ist auch die Bewegung, der Begriff der Bewegung und die konkrete Vorstellung der Bewegung, die einen Zugang zu Derridas Texten bietet. Das Konzept der différence/différance rekurriert auf die dem Unterscheiden inhärenten Bewegung. Das Verb ‘différer’ bedeutet sowohl aufschieben in einem temporalen Sinne als auch unterscheiden im Sinne von Nicht-identisch-sein, also einer Verräumlichung.212 Das Übereinanderlegen solcher Bedeutungsgitter erzeugt Bewegung, eine oszillierende Denkbewegung, ein Moiré-Muster. Das Besondere der französischen Begriffe der différence und der différance ist ihre phonologische Gleichheit. Nur die Schrift, die visuelle Wahrnehmung offenbart das Spiel.213 Das 206 Derrida (1992): S. 31–176 207 Ulmer (1985): S. 44 208 Der Moiré-Effekt wird nicht zwangsläufig mit Textilien in Verbindung gebracht. Gombrich erwähnt in seinem Werk über Ornamente den Moiré-Effekt und bezeichnet ihn als Muster. Gombrich (1982): S. 105 209 Hargittai (1986): S. 329 210 Hargittai/Hargittai (1986): S. 362 211 Hofer (1994): S. 330 212 Derrida (1990) 213 Derrida (1990): S. 78 171 Konzept der Einführung und Bildung von Homonymen dient gleichermaßen der Bewegungserzeugung. Das Vibrierende ist hier eher geistig als visuell, bedarf der Erklärung. Letztendlich erklärt Derrida fortwährend diese Begriffe der doppelten Markierung, die doppelte Lektüre und die zweifache Schrift.214 Die Spur, die Differenz, auch der Moiré-Effekt und vor allem die Aufpfropfung (greffe) werden hierfür in Dienst genommen. Sein verwirrendes Begriffsinstrumentarium der Dekonstruktion lädt dazu ein, Konkreta, nämlich Begriffe, aufzugreifen: Der Moiré-Effekt erzeugt auf zwei Stoffbahnen ein spiegelsymmetrisches Muster, das sich nicht wiederholt. Der einmalige Vorgang produziert eine Identität ohne Repetition und nicht wie bei Derrida eine Repetition ohne Identität.215 Die Aufpfropfung ist ein anderer Begriff, den Derrida mit der Näherei verbindet. In ‘Dissémination’ führt Derrida zwei Texte in ‘aufpfropfender’ Weise zusammen und erklärt dieses Vorgehen im vorletzten Abschnitt unter der Überschrift ‘Les greffes, retour au surjet’.216 Das Konzept des Homonyms nutzend, werden ‘les greffes’ zweifach in die Textarbeit eingeführt. Die Verwendung des Plurals läßt den sinntragenden – nicht ins Deutsche zu übersetzenden – Genuswechsel im Singular zu: la greffe bedeutet die Aufpfropfung, le greffe die Gerichtsschreiberei. „Schreiben heißt aufpfropfen.“217 Das Aufpfropfen von Texten bewirkt Transformationen und Deformationen, die Naht soll hierbei den Ort der Regeneration darstellen.218 Derrida spricht jedoch nicht einfach von einer Naht, sondern von ‘surjet’, von einer überwendlichen Naht. Diese Form der Naht, die im eigentlichen Sinne keine Naht ist, sondern der Sicherung offener Schnittkanten dient, verbindet nichts. Die Wahl dieser Nahtform ist also nicht schneidertechnisch, sondern sprachlich geleitet: die Nähe der französischen Wörter ‘surjet’ und ‘sujet’ (Subjekt)219 verleiht der Überschrift mehr Sinn als das textile Umfeld von Bordüre und repetitiver Tätigkeit. Die Rückkehr zum Subjekt, dem schreibenden Subjekt, ist die eine Bewegungsrichtung. Auch das Denkmodell ‘Aufpfropfung’ beinhaltet also eine doppelte Bewegung: die Rückkehr zum (schreibenden) Subjekt durch eine Art der Katalogisierung, der Systematisierung der textuellen Aufpfropfungen220 und ein Verfahren der Textproduktion mit Einfügungen und Wucherungen wie Derrida sie selbst anwendet in ‘Tympanon’, ‘Glas’ oder ‘Dissémination’.221 214 Sehr klar – er selbst nennt es ‘sehr trocken’ – formuliert Derrida die Bewegung der Dekonstruktion in ‘Signatur Ereignis Kontext’: „Die Dekonstruktion kann sich nicht auf eine Neutralisierung beschränken oder unmittelbar dazu übergehen: sie muß durch eine doppelte Gebärde, eine doppelte Wissenschaft, eine doppelte Schrift eine Umkehrung der klassischen Opposition und eine allgemeine Verschiebung des Systems bewirken.“ Derrida (1988): S. 313 215 Derrida (1995): S. 12 216 Derrida (1995): S. 402. ‘Aufpfropfungen, Rückkehr zur überwendlichen Naht’ 217 Derrida (1995): S. 402. An anderer Stelle (in ‘La double séance’) erklärt Derrida diesen etymologischen Zusammenhang mit der gemeinsamen Wurzel ‘graphion’. Derrida (1995): S. 230 218 Derrida (1995): S. 230. „Abgestützte und diskrete Gewalt eines unscheinbaren Einschnitts in die Dichte des Textes, kalkulierte Insemination des zur Vermehrung geeigneten Allogens, wodurch die beiden Texte einander transformieren und deformieren, sich in ihrem Inhalt kontaminieren, mitunter bestrebt sind, sich abzustoßen, elliptisch ineinander übergehen und sich dabei in der Wiederholung, entlang der Einfassung (bordure) einer überwendlichen Naht (surjet) regenerieren.“ 219 Derrida (1995): S. 433. Auf diesen Zusammenhang weist der Übersetzer in der Anmerkung 53 hin. 220 Derrida (1995): S. 230 221 ‘Tympanon’ in: Derrida (1988): S. 13–29; ‘Glas’ Derrida (1974); ‘Dissémination’ in: Derrida (1995): S. 323–416 172 Es scheint also nicht angebracht, die Begriffe222 in Konkretion zu verfolgen, sondern sich auf die generelle Bewegung der Dekonstruktion einzulassen, die über eine Relationserzeugung223 Erkenntnis produziert und dabei das Widersprüchliche, das Nicht-Ernsthafte und das Anarchische nicht ausschließt.224 Derrida selbst schreibt, die Dekonstruktion bestehe nicht darin, von einem Begriff zum anderen überzugehen, sondern eine „begriffliche Ordnung ebenso wie die nicht-begriffliche Ordnung, an der sie sich artikuliert, umzukehren und zu verschieben.“225 Die zu dekonstruierenden Begriffe bilden Gegensatzpaare, deren Gegensätzlichkeit als metaphysische und ideologische Konstruktion und die damit verbundene Hierarchisierung und Wertung (Logozentrismus) es aufzudecken gilt. ‘Umkehren’ und ‘Verschieben’ sind Tätigkeiten, die sich im Raum vollziehen, ein Aspekt, der im Kapitel über die Karte aufgegriffen wird. Wie auch immer man zur Dekonstruktion Derridas stehen mag – und eine solche Theorie hat stark polarisiert – die Schrift hat sie nicht von ihrer Linearisierung befreien können. Die Musterfähigkeit der linearen Schrift und des Textes sind be- schränkt. Linie und Fläche schränken den Text ein, verhindern seine Ausdehnung in den Raum. Andere Konzepte der Textinterpretation, wie die Theorie der Inter- textualität oder des Kontextualismus, beziehen sich auf die Referentialität von Texten bzw. auf sinnstiftende Relationen. Sie versuchen die Rücklesung, die Re-konstruktion des Raumes auf andere Art, die jedoch auch dem Textualen verhaftet bleibt.226 Die Unzulänglichkeit der linearen Schriftform als Mittel der Beschreibung von Weltkomplexität wird auch von Naturwissenschaftlern angemerkt.227 Die Gestaltung des Textes, das Ausdehnen in die Fläche, schafft dem, wie wir gesehen haben, nur wenig Abhilfe. Ein System von Fußnoten, Anmerkungen, Indexen und anderen Verweisungen schafft eine Struktur, die lediglich räumliche Tendenzen hat. Ein Buch, das sich ein System von Verweisungen bewußt zugrunde gelegt hat, stammt aus dem Jahr 1936.228 Die Autoren haben ein Handbuch zur Selbsterkenntnis geschrieben, 222 Hier wurde nur den textilen Begriffen, deren häufiges Auftauchen im Werk Derridas auffällig ist, nachgegangen. Ob das Aufgreifen von Begriffen aus marginalisierten Bereichen Methode hat – botanische Begriffe wie ‘dissémination’ und ‘greffe’ sind nicht unbedingt geläufig –, wäre zu untersuchen. 223 Diese Relationen sind begrifflicher Art und gründen auf phonetischen, graphischen, morphologischen, etymologischen oder semantischen Verbindungen. 224 Culler (1988): S. 167 225 Derrida (1988): S. 314 226 Julia Kristeva hat den Begriff der Intertextualität entwickelt. Die interagierenden Texte schließen Gesellschaft, Kultur und Geschichte als Zeichensysteme ein. Kristeva (1996). Die dekonstruktivistische Lektüre Derridas arbeitet mit dem Intertext: Seine Konzeption beinhaltet das Postulat des Unabschließbaren eines Textes. Das Intertextuelle verweist auf ein Dazwischen, das Kontextuelle auf ein Zusammen. Die beschränkende und somit bedeutungsgenerierende Funktion des Kontextes bezweifelt Derrida jedoch und zeigt die ‘strukturelle Ungesättigtheit’ desselben auf. Derrida (1988): S. 292f. Der Kontextualismus als Theorie des sprachlichen Kontextes umfaßt sowohl Sprach- als auch Situationskontexte. Sprache sei hier nicht formales System, sondern „part of the social process“. Helbig (1983): S. 109 227 Hargittai (1986): S. 21. Der Autor Alan L. Mackay schreibt in seinem Artikel über Kristallographie, daß es notwendig sei, sich einer ‘philosophy of structuration or structuralism based on the scientific rather than on the literary culture’ zuzuwenden, um das Lineare zu überwinden. Er verweist auf das hier kurz eingeführte Buch von Loewenstein und Gerhardi. 228 Loewenstein/Gerhardi (1964) 173 dessen ‘einzigartiger Wesenszug’ in seiner ‘inneren Maschinerie’ liege.229 Sie unternehmen den Versuch, die Schalttafeln eines Elektronengehirns nachzubilden, indem der Leser das Buch nicht von der ersten bis zur letzten Seite durchliest, sondern sich gemäß seiner Antworten zu einem nächsten Abschnitt begibt. Die Persönlichkeit eines Menschen auf diese Art kennenlernen zu wollen, beruht auf der Annahme, der Mensch bestehe aus einzelnen Elementen, die zu einem ‘grundlegenden Persönlichkeitsmuster’ zusammengefügt werden können.230 Die Abbildbarkeit verläßt an dieser Stelle den Text und wendet sich ‘Plänen’ und ‘Zeichnungen’ zu, die jedoch das komplexe Netz von Verflechtungen auf zwei Dimensionen reduzieren und der räumlichen Struktur nicht gerecht werden können. Ein ähnliches Anliegen verfolgt Marvin Minsky, Pionier der Computerwissenschaft und der Künstlichen Intelligenz, mit seinem Modell des menschlichen Gehirns, das er ‘Mentopolis’ nennt. Das Verständnis über das Funktionieren des Geistes soll sich beim Leser einerseits über die Inhalte und andererseits über die Struktur des Buches erschließen. Jede Buchseite bildet ein Geschlossenes, so daß nicht ein aufbauendes Nacheinander erforderlich ist, sondern das Herstellen von Querverbindungen durch den Leser möglich, bzw. gewünscht ist.231 Die bereits erwähnte Schrift von Deleuze/Guattari trägt den Untertitel ‘Tausend Plateaus’. Das Anlegen der Plateaus stellt den Versuch dar, das Lineare zu hinter- gehen. Sie schreiben, das Ideal eines Buches wäre die Ausbreitung seiner Ideen auf einer Fläche. Die Plateaus, die Mannigfaltigkeiten, ihres Buches sollen miteinander über Mikro-Fissuren kommunizieren, performativ die Arbeitsweise des Gehirns zeigen.232 Die Linearität der Schrift, die Zweidimensionalität des Textes und vor allem die Sozialisation des Lesers stehen den Anliegen der genannten Bücher entgegen.233 Es bleibt bei dem Bemühen, Texte durch das Arbeiten mit Indexen, Verweisen, mehreren Textspalten und verschiedenen Schrifttypen zu verräumlichen und zu erweitern. Hypertextualität Mit dem Hypertext soll eine Verräumlichung des Textes und ein umfassender Prozeß der Inklusion erzielt werden.234 Das Internet als Ort bzw. Nicht-Ort des Hyper- textuellen stellt für Viele die Möglichkeit grenzenloser Interaktivität dar. Auf der Grundlage der ‘medienphilosophischen Analyse des Internet’ von Mike Sandbothe sollen diese Möglichkeiten benannt und überprüft werden. Sandbothe schreibt, das Charakteristische des Hypertextes sei das Geflecht von Sprache, Bild und Schrift.235 229 Loewenstein/Gerhardi (1964): S. 5 230 Loewenstein/Gerhardi (1964): S. 6 231 Minsky (1990) 232 Deleuze/Guattari (1992): S. 19, 37 233 Ian Hodder hat beispielsweise die in einem Buch publizierten Aufsätze nach dem Zufallsprinzip angeordnet. Der Leser solle hierdurch dazu gebracht werden, sein eigenes Buch zu erstellen. (Bernbeck 1997: S. 287) Dieser Leser erfährt dies jedoch nur, wenn er sich an erlernte Strukturen, an den Anfang des Buches, hält. 234 Münker/Roesler (1997): S. 45 235 Münker/Roesler (1997): S. 72. Sandbothe verfolgt die Idee der Hypertextualität bis in die 1930er Jahre zurück und den Begriff bis in die Mitte der 1960er Jahre. 174 Ein Buchtext würde unsere Gedanken künstlich linearisieren und hierarchisieren, die hypertextuelle Darstellung hingegen erlaube es , unsere komplexen Gedankenverflechtungen darzustellen. „Unter Hypertextbedingungen werden Schreiben und Lesen zu bildhaften Vollzügen. Der Schreibende entwickelt ein netzartiges Gefüge, ein rhizomatisches Bild seiner Gedanken.“236 Nicht nur Sandbothe fühlt sich durch den Umgang mit dem Immateriellen, dem Virtuellen des Internet dazu veranlaßt, ein Modell zu nutzen. Die Begriffe und Metaphern, die hierfür gefunden wurden, sind textile: das Netz (Internet), das Ge- webe (WorldWideWeb), das Geflecht (Hypertext). Das Rhizom wird als philosophisch aufgeladener Begriff verwendet und auch hier wieder mit dem Netz gleichgesetzt. Diese Begriffe werden genutzt, um die nicht sichtbaren Verbindungen zu erklären, indem ein Bild geliefert wird. Darüber hinaus wird jedoch das Bild des Netzes und des Rhizom als Bild für unser Denken eingesetzt und hierdurch Simultaneität suggeriert. Beide Bilder zeugen von Überschätzungen, sowohl des Menschen als auch des (von ihm geschaffenen) Internets. Das Internet in seinem gegenwärtigen Zustand ist nach wie vor von ‘linearen Organisationsformen’237 durch- drungen, und die Strukturen der Verweise und Verbindungen (links) entsprechen enzyklopädischen Textstrukturen. Der Hypertext als bildliche Vorstellung unserer kognitiven Vorgänge und dadurch gleichzeitig Mittel, diese zu veräußern, würde den Menschen kaum in den Stand gesetzt haben, ein solches Medium zu entwickeln.238 Die Linearität der Sprache in ihrem zeitlichen Nacheinander und der Schrift als Visualisierung dessen ist auch durch das Internet nicht abgelöst worden. Die Zwei- dimensionalität des Mediums ist gleichermaßen geblieben, nur die Zusammensetzung der Fläche hat sich geändert.239 Die Möglichkeiten der Interaktivität sind de facto äußerst beschränkt. Diese Beschränkung ist jedoch nicht technologisch, sondern gesellschaftlich begründet. Die Pluralisierung und Demokratisierung, die durch ein interaktives Kommunizieren erreicht werden soll,240 wird durch ein sehr restriktives, da ökonomisch motiviertes, Territorialverhalten verhindert. Die virtuellen Territorien stellen einen Wert dar und werden geschützt. Der Schutz durch Passwörter verhindert ein Eindringen und somit jede Form der Interaktivität. Die Orte der Kommunikation sind als solche gekennzeichnet und genau definiert. Karten, die die Verteilung der Internetzugänge weltweit zeigen,241 stellen eine Verbindung der virtuellen mit den realen Territorien dar und veranschaulichen mit den Mitteln des Internets seine eigenen Herrschaftsstrukturen. Die sogenannte erste Welt, in der Wissen, Geld und Macht sich verbinden, beherrscht offensichtlich die virtuelle Welt. Innerhalb der Industrienationen läßt sich ein weiteres Gefälle von Stadt zu Land ausmachen. Dies bedeutet, daß zumindest gegenwärtig das Internet die bestehenden Strukturen verstärkt und nicht globalisierend und demokratisierend diesen entgegenwirkt. 236 Münker/Roesler (1997): S. 73 237 Münker/Roesler (1997): S. 46 238 Mainzer (1997) 239 Flusser (1993): S. 47 240 Münker/Roesler (1997): S. 73. Sandbothe beschreibt euphorisch die Folgen der Interaktion via Internet. 241 http://www.telegeograhy.com/Publications/mapping.html; http://www.mappa.mundi.net/maps 175 Das Internet erscheint somit zur Zeit als ein multimediales Informationssystem, das die traditionellen Formen der Information übernommen hat und in seinen Strukturen ein Spiegelbild westlichen Gesellschaftsverhaltens ist. Der ‘Cybernaut’, der nicht, wie es der Name vermuten läßt, eine neue Spezies ist, ist ein Mensch, der seinen Besitz erwirbt, ihn schützt, sich in seinen Kreisen bewegt und Stabilität und Ordnung sucht. Der Hypertext als offenes System, d.h. in seiner idealisierten Form, wäre permanenten Veränderungen unterworfen und somit von äußerster Instabilität. Die Frage müßte demnach eher auf das Maß an Instabilität, die der Mensch vertragen kann, und auf die Mittel, mit denen er ihr begegnet, gerichtet werden. Das Muster als ordnungsstiftendes Moment kann hierbei von Bedeutung sein, wie noch zu zeigen sein wird. Die Verbindung von Bild und Text als Form der Dimensionserweiterung ist keine Erfindung des Internet. Gernot Böhme schreibt, die Anwesenheit von Schrift im Bild habe eine lange Tradition und lasse sich schon auf griechischen Vasen nachweisen.242 Svetlana Alpers untersucht diese Verbindung anhand von Bildern der holländischen Malerei.243 Der Blick auf Wörter sei ein moderner Zug in der holländischen Kunst, ist doch die Auflösung der Unterscheidung von Text und Bild eine Errungenschaft des frühen 20. Jahrhunderts.244 Die Bedeutung der Wörter ist ‘oberflächlich’: Sie sollen dem Betrachter mehr zu betrachten geben und ihn nicht auf ikonologische Spurensuche schicken.245 Der Maler ermöglicht dem Betrachter – über Zeit und Raum hinweg – ein Eintreten, ein ‘Einlesen’ in das holländische 17. Jahrhundert. Es ist die konkrete Lesbarkeit der Texte, die den Raum eröffnet, die uns mit dem Leser des 17. Jahrhunderts verbindet. Die Spruchbänder mancher Tapisserien bilden einen Gegensatz hierzu, sind die lesbaren Texte doch ein dem Bild nachträglich Zugeordnetes, das Sinn stiften soll. Eine andere, mögliche Verbindungsform von Notationen sind die Ornamente der mittelalterlichen Illuminationen. Illich untersucht in seiner bereits zitierten Publikation die Funktion der Miniaturen und Ornamente in mittelalterlichen Büchern und kommt zu dem Schluß, daß sie keine Illustrationen mit dokumentarischem Zweck im modernen Sinne seien.246 Er selbst wählt textile Bilder, um die Illuminationen zu beschreiben: Sie seien „wie feierliche Gewänder, die dem leibhaftigen Wort Gottes auf der Seite durch ihre Schönheit einen seiner Würde angemessenen Rahmen geben.“247 An anderer Stelle ‘säumen’ die Ornamente die Buchstabenreihen.248 Die Ornamente249 sind dem Text also äußerlich, rahmen ihn, 242 Böhme (1999): S. 56 243 Alpers (1985): Kap. 5 ‘Der Blick auf Wörter: Die Darstellung von Texten in der holländischen Kunst’, S. 287–364 244 Alpers (1985): S. 289 245 Alpers (1985): S. 316 246 Illich (1991): S. 115 247 Illich (1991): S. 114 248 Illich (1991): S. 116 249 Der Begriff des Ornaments wird an dieser Stelle von Illich übernommen. Viele der mittelalterlichen Illuminationen können jedoch gemäß der Definition als Muster bezeichnet werden. Er selbst spricht auch von Rankenwerk. Illich (1991): S. 116 176 begleiten ihn. Sie haben zum einen eine religiöse (die Förderung der sinnlichen Hingabe oder Frömmigkeit)250 und zum anderen eine mnemotechnische Funktion, indem sich akustische und visuelle Signale verbinden. „Miniaturen und Zeilen verweben Ohr und Auge in der Wahrnehmung der herrlichen Symphonie, die Dante das verführerische ‘Lächeln der Seiten’ nennt.“251 Der Zusammenhang zwischen Text und Bild wird also je neu hergestellt. Der (laut) Lesende nutzt das rhythmisierende Moment des Musters und verharrt (leise) in der Kontemplation der Miniaturen. Eine andere Notationsform, die häufig Text und Bild vereint, ist die Karte, der der nächste Abschnitt gewidmet ist. Die Karte „Anything that can be spatially conceived can be mapped.“252 Die verhältnismäßig junge Wissenschaft der ‘Geschichte der Kartographie’ postuliert den zitierten, sehr weit gefaßten Begriff der Karte und löst sie damit aus ihrer Stellung als reines Hilfsmittel für Historiker und Geographen. Die Karte wird als eine Form der menschlichen Kommunikation verstanden, die Kartographen als eine eigenständige Form der ‘graphischen Sprache’ bezeichnen.253 Der Geograph Brian Harley vergleicht die Entstehung der Karte mit dem Aufkommen der Literalität und der Einführung der Zahl.254 Er schreibt, die Karte habe eine Funktion als ‘force of change’ in der Geschichte des menschlichen Denkens.255 Dieses Verständnis der Karte als historisches, naturwissenschaftliches und künstlerisches Dokument datiert aus den 1970er Jahren.256 Eine institutionalisierte Beschäftigung mit der Geschichte der Kartographie sei jedoch die Ausnahme.257 Erst in den 1990er Jahren kulminiert das Interesse – zumindest in manchen Bereichen –, so daß von einem Paradigmenwechsel gesprochen wird. Ein Grund für dieses Interesse ist praktischer Natur: Politische Weltereignisse haben die Anfertigung neuer Karten erforderlich gemacht. Der Raum tauche nun als politische Kategorie und Erfahrungsbegriff auf, und deshalb müßten nicht nur die geographischen Karten, sondern auch die mentalen neu gezeichnet werden.258 Mit dem Begriff des ‘Mappings’ erhielt dieses Anlegen von Karten von Räumen aller Art eine vielfach anwendbare Bezeichnung. In bezug auf kulturelle Phänomene steht das Mapping für eine kognitive Kartographie.259 „Das Paradigma der Repräsentation wird heute durch ein Cultural Mapping als Leitvorstellung abgelöst.“260 Die Ausstellung ‘Atlas Mapping’, die 1998 im Kunsthaus Bregenz gezeigt wurde, stellt die Kartographie in den Mittelpunkt, als Objekt der Kunst und der 250 Illich (1991): S. 117 251 Illich (1991): S. 115 252 Harley/Woodward (1987): S. 4 253 Harley/Woodward (1987): S. 4, 33, 39 254 Harley/Woodward (1987): S. 5 255 Harley/Woodward (1987): S. 39 256 Harley gibt im ersten Kapitel eine Übersicht über die Entwicklung der ‘Geschichte der Kartographie’. Harley/Woodward (1987): S. 36 257 Harley/Woodward (1987): S. 36 258 Michael Jeismann: „Die Stunde der Platzanweiser“, in: FAZ 12. April 2000, Nr. 87 259 Böhme/Matussek/Müller (2000): S. 13 260 Atlas Mapping (1998): S. 2 177 Kulturwissenschaften. Die Metapher der Kartographie diene als Alternative zu den ‘großen Erzählungen’, biete die Möglichkeit, Singularitäten zu erkunden.261 Der Geograph Denis Cosgrove sieht den Grund für dieses Interesse am ‘Mapping’ in einem allgemeinen ‘spatial turn’ in Kunst und Wissenschaft.262 Eine Welt, deren Räume und Strukturen zunehmend instabiler werden, benötige eine Beschäftigung mit dem ‘Mapping’. Technische Errungenschaften des 20. Jahrhunderts hätten darüber hinaus dazu beigetragen, daß die Kartographie sich verändert hat, zum ‘Mapping’ wurde. Er nennt hier zum einen Luftbildaufnahmen und Filmtechnik, sowie gegenwärtige Möglichkeiten einer ‘kinetic cartography’.263 Die Verwendung des Begriffs ‘Mapping’ rechtfertigt sich durch seine größere Reichweite gegenüber der Kartographie, die vor allem das Technische, die Herstellung der Karten be- schreibt. Das englische Wort ‘map’ kann mit ‘Plan’ oder ‘Karte’ übersetzt werden, betont also das Plane, das ‘Oberflächliche’ einer Karte. Es geht zurück auf das Lateinische ‘mappa’, das Serviette oder Tuch bedeutet und zeugt von der Ver- wendung von Leinwänden als Trägerfläche.264 Der Begriff der ‘Karte’ verbindet sich materiell mit dem Papier, der Pappe. Ob es über diese etymologische Ebene hinaus eine Verbindung des Mapping mit dem Textilen gibt, wird sich zeigen. Mapping Für die folgenden Überlegungen wurde der Begriff des ‘Mappings’ in seiner weitesten Form gewählt: die Karte als Kommunikationsmittel,265 als ‘mediator’,266 als ‘interface’,267 als zweidimensionale Notationsform. Es wird vor allem um das ‘Karten-Machen’ als Geste der Raumaneignung gehen. Hierbei steht das ordnende Moment dieser Geste, als Grundanliegen des Mappings, im Vordergrund. Cosgrove spricht von einer ‘Autorschaft’, die jedes Mapping aufweise, die sich durch Aus- wahlverfahren, Auslassungen, Unbestimmtheiten und Intentionen bemerkbar mache.268 Auch der Historiker Paul Zumthor schreibt, daß jede Karte ihre eigene Logik besitze und gelesen und interpretiert werden müsse.269 Die Karte ist ein Mittel zur (Welt-)Ordnungserzeugung, in dieser Funktion wird sie im folgenden anhand weniger Beispiele betrachtet. Die Verbindungen zum (textilen) Muster leitete die Auswahl aus dem sehr umfangreichen Material, der Aspekt der textilen Materialität der Karte konnte hierbei nicht berücksichtigt werden.270 261 Atlas Mapping (1998): S. 2 262 Cosgrove (1999): S. 7 263 Cosgrove (1999): S. 5f 264 Pfeifer (1989); Duden (1963): s.v. ‘Mappe’ 265 Harley/Woodward (1987): S. 2, 4, 34; Cosgrove (1999): S. 10. Die Autoren verweisen auf die Verbindung von Kartographie und Semiotik, die die Karte als Zeichen und das Territorium als Bezeichnetes begreift. 266 Harley/Woodward (1987): S. 1 267 Cosgrove (1999): S. 24 268 Cosgrove (1999): S. 7 269 Zumthor (1993): S. 318f. Bemerkenswert ist hier auch die Auffassung der Karte als Text (S. 319), der gelesen werden muß. 270 Woodward (1998) weist darauf hin, daß Textilien, Keramiken und andere archäologische Funde als Quellen der Geschichte der Kartographie zu nutzen seien, bzw. daß Karten Gegenstand von inter- disziplinären Untersuchungen der ‘material culture’ sein sollten. (S. 2, 5) 178 Die Karte kann alle Formen der graphischen Visualisierung, deren Grundformen hier als Notationsformen beschrieben sind, in sich vereinigen: Cosgrove schreibt, die kartographische Repräsentation kombiniere „[...] geometry (in projection, measure, scale, gridding and plotting) and graphic images (mimetic and conventional signs, colour coding and calligraphy) with numerical and alphabetical inscriptions and texts.“271 Aufgrund dessen ist sie in der Lage, komplexe Sachverhalte abzubilden und unterschiedlichsten Wissensbereichen zu dienen. Zumthor postuliert aufgrund der verschiedenen ‘modes d’iconisation‘ einer Karte ihre Mehrdimensionalität.272 Dies steht dem formulierten Charakteristikum der Karte, ihrer Zweidimensionalität, entgegen. Den Formen der Dimensionsveränderung wird deshalb besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht. Im allgemeinen wird angenommen, daß Karten Schrift und Zahl vorausgehen, vom Bild jedoch nicht immer klar zu trennen sind.273 Leroi-Gourhan konstatiert eine grundlegende Differenz der Wahrnehmung des umgebenden Raumes, die sich graphisch äußert. Der dynamisch wahrgenommene Raum des paläolithischen Nomaden wird als Strecke oder Bahn, gekennzeichnet durch lineare Anordnung und Wiederholung, wiedergegeben.274 Der statische Raum des Seßhaften umgibt ihn, er konstruiert die Welt in konzentrischen Kreisen.275 Seßhaftwerden bedeutet Land be- Sitzen und es von dieser Position aus wahrzunehmen und zu formen, Natur zu kultivieren. Die Rhythmen der Seßhaften verändern sich: Sie sind geprägt von den Jahreszeiten und der hiervon abhängigen Landwirtschaft. Diese grundlegende Trennung von gehender und sehender Wahrnehmung schlägt sich in der Beschreibung des Raumes, in der Kartographie nieder. Michel de Certeau schlägt eine Unterscheidung von ‘Ort’ und ‘Raum’ vor, die hier übernommen werden soll. „Ein Ort ist die Ordnung, nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden.“276 Der Ort verweise auf Eigentum, auf definierte Bereiche, auf Stabilität. Der Raum hingegen sei ein ‘Resultat von Aktivitäten‘. „Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen.“277 Auch der Begriff des ‘Spazierens’ verweist auf diese Konnotation: Das Verb ‘spaziare’ leitet sich vom Lateinischen ‘spatium’ für ‘Raum’ ab und bedeutet ‘sich räumlich ausbreiten’.278 Demzufolge werden Orte – und nicht Räume – kartographiert: Von einem definierten Standpunkt aus wird die Welt wahrgenommen, geordnet und notiert. Der Ort ist ein kulturelles Produkt und die Karte seine zweidimensionale Notationsform.279 Das ‘Mapping-Projekt’ der Kulturwissenschaften versucht eine Neukartierung, die aus der ‘postmodernen Orientierungslosigkeit und Fragmentarisierung’ als ‘Folge des 271 Cosgrove (1999): S. 12 272 Zumthor (1993): S. 338. „La page n’est bidimensionelle qu’en apparence. [...] La carte est à la fois signe, indice et objet.“ 273 Zumthor (1993): S. 317 274 Der Raum wird nicht kartographiert, ob es sich bei den paläolithischen Darstellungen um Kosmogonien handelt, ist nicht geklärt. Vgl. Leroi-Gourhan (1988): S. 403 275 Leroi-Gourhan (1988): S. 402–405 276 Atlas Mapping (1998): S. 132 277 Atlas Mapping (1998): S. 132 278 Kluge (1995); Duden (1963): s.v. ‘spazieren’ 279 Assmann (1999): S. 21, 299. Die Ausführungen Assmanns implizieren eine ähnliche Auffassung der beiden Begriffe. 179 Zusammenbruchs der Vorstellungen von Raum und Zeit als aufklärerischer Formen der Weltbemächtigung und Expansion’ herausführen soll.280 Hierfür müsse die eurozentristische Zentralperspektive aufgegeben werden. Doris Bachmann-Medick verweist auf den postkolonialen Diskurs, der der Literatur einen neuen Ort zwischen den Kulturen gebe. Verräumlichung werde hier zu einem grundlegenden Konzept der Kulturwissenschaft.281 Im folgenden soll gezeigt werden, daß die moderne zweidimensionale Karte kein geeignetes Mittel der Verräumlichung ist, da sie immer einen Betrachterstandpunkt vorgibt und von einer territorialen Herrschaftsgeste zeugt, die den Raum zu einem Ort macht. Die Karte produziert also genau den Blick, der aufgegeben werden soll.282 Die Aneignung des Raumes durch die Karte ist immer eine Projektion – kann nie eine Bijektion sein –, die durch Dimensionsveränderung erzeugt wird. Der Vorgang der Dimensionsveränderung beinhaltet die kognitive Leistung. Die nun vorzustellenden Karten sind chronologisch geordnet und dem europäischen Kulturkreis entnommen, um bestimmte Entwicklungen aufzuzeigen und um Verbindungen mit Entwicklungen anderer Notationsformen herzustellen. Eine historische Darstellung der Karte, ihrer Mittel und Intentionen, ist nicht beabsichtigt. Karten anderer Kulturkreise werden an manchen Stellen eingefügt, um die Perspektive der Kartographie zu verdeutlichen. Ein Verlassen dieses Betrachter- standpunktes ist an dieser Stelle nicht möglich und nicht beabsichtigt. Die prähistorischen Karten, die durch eine sehr allgemeine Definition des Begriffes283 als Karte behandelt werden, werden vor allem als kosmologische oder auch Himmelskarten interpretiert. Diese Karten reduzieren nicht die Dimensionen, sondern verändern oder erweitern sie. Die Abbildung 27 zeigt eine goldene Prägefolienarbeit in Form eines Diskus (Durchmesser 15 cm) aus der Bronzezeit. Die Kreisscheibe ist durch konzentrisch angeordnete Ringe in sechs Bereiche aufgeteilt. Drei dieser Bereiche zeigen parallel angeordnete Linien, im Wechsel hierzu zeigen die anderen drei Bereiche unregel- mäßig geformte Grundflächen mit geometrischen Figuren (Dreiecke und Kreise). Archäologen bringen solche Artefakte (es existieren zahlreiche aus Zentraleuropa bis zu den britischen Inseln) mit dem Sonnenkult in Verbindung. Dieser Diskus von Moordorf wird als kosmologische Karte interpretiert: Ein zentrierter Kontinent ist umgeben von konzentrischen Ringen, die einen Ozean (parallele Linien), einen weiteren Kontinent mit sieben Bergen (Kreise) und einen weiteren Ozean mit 32 Inseln (Dreiecke) darstellen. Gemäß der Interpretation von Unger ist der zentrale Kontinent die Erde, eingeschlossen vom ‘Bitter River’, den himmlischen Bergen und schließlich dem himmlischen Ozean mit seinen Inseln.284 Ausgehend von dieser 280 Atlas Mapping (1998): S. 97 281 Atlas Mapping (1998): S. 95 282 Die beiden Publikationen (Atlas Mapping 1998; Cosgrove 1999), die Material zum Mapping aus verschiedenen Bereichen zusammengetragen haben, dokumentieren einen Kartenbegriff, der an Geographie und Geschichte, an einer bestimmten Form der Wissenschaftsvermittlung orientiert ist. Um diesen Konnotationen zu entgehen, müßte ein neuer Kartenbegriff geschaffen werden, bzw. vielleicht ein anderer Begriff gewählt werden. 283 Harley/Woodward (1987): S. 92. „[...] Permanent graphic images epitomizing the spatial distribution of objects and events [...].“ 284 Harley/Woodward (1987): S. 91 180 Interpretation, werden die dargestellten geometrischen Muster des Diskus zu einem Mittel der Weltaneignung. Der Mensch versucht die Welt, den Kosmos, zu ordnen, indem er sie geometrisiert und rhythmisiert und hierdurch Muster erzeugt. Er nimmt hierfür nicht einen definierten Betrachterstandpunkt ein, sondern imaginiert die Welt. Der Perspektivwechsel bzw. die Vernachlässigung der Perspektive sind hier Voraussetzung der Mustererzeugung. Die mustermäßige Darstellung der Welt verbindet Wahrnehmung und Imagination, sowie die Interpretation der Wahrnehmung in Form der stark rhythmisierten Darstellung des Wassers. Die Abbildung 28 zeigt die als älteste Landkarte der westlichen Welt bezeichnete Karte Spaniens im ersten Jahrhundert nach Christi Geburt. Diese Karte weist moderne Eigenschaften der Kartographie auf: Die Perspektive erlaubt eine objektivierte Sicht, und die Abstraktion dient der Notierung. Flüsse werden als gewellte Linien, Straßen als gerade Linien und Städte als schwarze Quadrate dar- gestellt. Diese zweite Karte soll an dieser Stelle nicht näher betrachtet werden, sondern dient der exemplarischen Einführung des zweiten Kartentypus. Im Mittelalter lassen sich diese beiden Kartentypen in Funktion und Darstellungs- weise besonders gut unterscheiden.285 Die merkantilen Karten sind vor allem lokaler oder regionaler Art, sie zeigen Städte und Wege. Hierzu würde auch die gezeigte Karte Spaniens gehören. Portolane werden gleichermaßen diesem Kartentypus zugeordnet. Die Mappaemundi gehören dem anderen Kartentypus, dem monastischen Umfeld an.286 Woodward schlägt eine Definition des Begriffes in Absetzung zu den planisphärischen Karten vor. Diese entspreche keineswegs der mittelalterlichen Auffassung, transportiere jedoch die Tatsache, daß die sogenannten Mappaemundi nicht geometrisch konstruiert sein müssen.287 Die Kategorien, die Woodward in Anlehnung an frühere Klassifikationssysteme bildet, orientieren sich an der Art der Aufteilung der Karten in Wasser- und Erdzonen.288 Die geometrischen Formen der Mappaemundi variieren zwischen rund, oval, rechteckig und mandorlaförmig, sie haben jeweils ihre symbolische Konnotation.289 Vorrangiges Ziel der Mappaemundi sei nicht geographische Genauigkeit, sondern die ‘visuelle Synthese’ zeitgenössischen Wissens gewesen. Hierfür werden Raum- und Zeitkonzepte miteinander kombiniert, historische Ereignisse in den geographischen Raum eingebunden und mehrdimensionale Weltbilder erzeugt.290 Diese mehrdimensionalen Weltbilder bedienen sich geometrischer Formen, um die Welt zu ordnen. Sie schaffen Formen, Muster, die der Wiedererkennung und somit der Orientierung dienen. Im 14. und 15. Jahrhundert verändern sich die Mappaemundi, sie beginnen, geo- graphische Züge zu tragen und bilden einen Übergang zu den Renaissancekarten.291 285 Harley/Woodward (1987): S. 291 286 Harley/Woodward (1987) widmen diesen mittelalterlichen Kartenformen jeweils einzelne Kapitel: ‘Medieval Mappaemundi’, ‘Portolan Charts from the Late Thirteen Century to 1500’, ‘Local and Regional Cartography in Medieval Europe’. (S. 283–502) 287 Harley/Woodward (1987): S. 287 288 Harley/Woodward (1987): S. 296. Woodward unterscheidet den ‘Tripartite Type’ (auch als T-O- Typus bekannt), den ‘Quadripartite Type’, den ‘Zonal Type’ und den ‘Transitional Type’. 289 Harley/Woodward (1987): S. 318 290 Cosgrove (1999): S. 63f 291 Diese Kategorie von Mappaemundi heißt bei Woodward dementsprechend ‘Transitional Type’. Harley/Woodward (1987): S. 296f 181 Die Form der vierdimensionalen Kartierung, die bezeichnenderweise keinen ein- heitlichen Namen besitzt, zeugt von einer ganzheitlichen Weltsicht, die mit der Fragmentarisierung in der Neuzeit aufgegeben wird.292 Die Wahrnehmung des Raumes verändert sich, und dies zeigt sich in der Malerei, die die mittelalterliche Bedeutungsperspektive zugunsten der Zentralperspektive aufgibt, und in Form der Kartierung, die von einer Kosmographie zu einer Geographie wird. Die Wieder- entdeckung und -belebung des antiken Wissens, insbesondere der Geographia Ptolemaios’, war hierfür entscheidend.293 Die mathematische Projektion, das Ver- messen und Quantifizieren steht nun im Vordergrund. Das Problem der Umsetzung einer gekrümmten Erdoberfläche in eine zweidimensionale Projektion wurde gleichermaßen mathematisch gelöst, Ptolemaios schlägt hierfür ein Gitternetz vor, ähnlich dem von Mercator benutzten. Alpers weist darauf hin, daß das kartographische Gitternetz sich von den perspektivischen Gitternetzen der Renaissance unterscheidet, da ihm der „fest lokalisierte Betrachter, der Rahmen und die Definition des Bildes als Fenster, durch das ein außenstehender Betrachter schaut“ fehlen.294 Neben diesem trennenden Moment ist das verbindende für uns von größerer Be- deutung: Die Gitternetze, die auf den Karten sichtbar sind, zeugen materialiter von einer ordnenden Weltsicht, die die Natur in ein orthogonales Koordinatensystem einfügt. Die geometrischen Grundformen mit symbolischem Gehalt werden nun von alles überziehenden Netzen abgelöst, die Orientierung und Wissenschaftlichkeit bieten. Die Dimensionsveränderung führt dementsprechend zu einem Gewinn an Objektivität – im Sinne einer Meß- und Vergleichbarkeit – und einem Verlust an Dimensionen. Die Aufgabe der Karten sei es gewesen, Raum und nicht Zeit zu überbrücken.295 Die Form der naturwissenschaftlichen Karte hat sich weiter durch- gesetzt und den anderen Kartentypus fast vollständig ersetzt. Die maßstäbliche Verkleinerung der Welt und ihre Fixierung auf die Fläche vermittelten den Eindruck der Beherrschbarkeit. Die Karten zeigen Besitz an, sichern territoriale Ansprüche und dienen der Kontrolle der Menschen wie auch der Natur – ein Herrschaftsinstrument par excellence, dessen sich die Monarchen bedienten. Die folgenden ‘königlichen’ Beispiele sollen das Vermögen des Mappings der visualisierten Raumbeherrschung illustrieren. König Njoya (ca. 1875–1933) vom Volk der Bamum aus dem mittleren Kamerun und Ludwig XIV. von Frankreich nutzten Karten als Mittel der Machtdemonstration. Der Blick auf das ‘indigenous mapmaking’ zeugt von einer doppelten Form des europäischen Einflusses.296 Die Abbildung 29 zeigt einen königlichen Teppich mit dem Grundriß des Königspalastes von Fumban. Die beigefügte Legende läßt eine Identifizierung der Räume des 292 Die Karten mancher Naturvölker sowie Mandalas oder Traumkarten sind die seltenen Ausnahmen noch existierender holistischer Weltsicht. Peat (1992): Kap. 1, S. 19f; Jung (1976): S. 375f 293 Die Ausführungen stützen sich größtenteils auf das Kapitel ‘Kartographie und Malerei in Holland’ in der bereits zitierten Publikation. Die Autorin arbeitet hier die Bedeutung der Kartographie als grundlegender Methode der holländischen Malerei heraus. Alpers (1985): S. 213–286 294 Alpers (1985): S. 242 295 Alpers (1985): S. 275 296 Der Titel des im folgenden zitierten Kapitels lautet: ‘Indigenous Mapmaking in Intertropical Africa’ von Thomas J. Bassett. In : Woodward (1998): S. 24–48. Woodward selbst konstatiert das Problem der ‘westlichen Perspektive’ und der ‘cross-cultural comparisons’. (S. 7f) 182 Palastes zu: Das geometrische Muster wird übersetzbar. Woodward interpretiert diesen Teppich als ein Zeichen des Ausmaßes der Institutionalisierung des Kartierens in Bamum.297 Unter der Leitung des Königs habe das Volk von Bamum eine Silbenschrift (die weniger geometrisch als ornamental ist) entwickelt und die Kartierung des Königreichs durchgeführt.298 Die Einflüsse der Kolonialmächte sei im Nachhinein nicht zu rekonstruieren, die Instrumentalisierung der Karte durch den König weise aber in jedem Fall europäische Parallelen auf. Der König läßt sich mit den Karten fotografieren, er setzt sie in Verhandlungen mit den Kolonialmächten ein und begreift sie als Repräsentationsmittel.299 Die gezeigte textile Karte dient der Demonstration königlicher Macht. Ihre aufwendige Herstellung macht sie zu einem Prestigeobjekt. Die Flexibilität des Materials erlaubt die Konstituierung eines königlichen Raumes, dort wo er benötigt wird. Das Textile dient hier also in zweifacher Weise der Überbrückung des Raumes und – Woodward zufolge als nostalgisches Zeichen vergangener Macht – auch der Überbrückung der Zeit.300 Die absolutistische Herrschaft Ludwig XIV. integriert die Repräsentationsfunktion des ‘Mappings’ in eine umfassende ‘Propagandamaschinerie’.301 Die Abbildung 30 zeigt Ludwig XIV. bei einem Besuch der Académie des Sciences 1671. Da dieser Besuch nie stattgefunden hat, hat dieses Bild keinerlei dokumentarischen, sondern ausschließlich repräsentativen Wert. Die Person des Königs soll mit Bildung und mit der Förderung wissenschaftlicher Forschung assoziiert werden.302 Dies geschieht durch seine Präsenz an der Akademie und durch die gezeigten Mittel der Weltaneignung. Die zahlreichen Karten, Globen, astronomischen Geräte und Modelle, die ihn umgeben, symbolisieren seine Macht in Form von Territorien, die über die Erde hinausgehen.303 Der Blick aus den beiden großen Fenstern zeigt einen typischen Barockgarten als eine besonders ausgeprägte Form der kulturell anverwandelten Natur. Die Gärten von Versailles markieren einen Höhepunkt vegetabiler Machtdemonstration. Für den geometrischen Schnitt der Eiben gibt es beispielsweise zeichnerische Vorlagen.304 Der Schnitt ist ein Mittel, die Natur zu dominieren und zu idealisieren. Die Pflanzen werden als ‘Parterre’ zu farbenfrohen Mustern angeordnet. Wörterbücher des 18. und 19. Jahrhunderts verwenden für diese Blumenparterre synonym den Begriff ‘Muster’.305 Diese Muster wurden zunächst gezeichnet und mit einem Raster versehen. Die Linien dieses Rasters wurden in Form von gespannten Fäden auf das Beet übertragen und anschließend das Muster selber in Form von Pflanzen.306 Die 297 Woodward (1998): S. 45 298 Woodward (1998): S. 41 299 Woodward (1998): S. 41–45 300 Woodward (1998): S. 45 301 Die Aufzählung soll an dieser Stelle exemplarischen Charakter haben und verzichtet deshalb auf eine weitergehende Einordnung. Ausführliches zur Inszenierung des Sonnenkönigs bei Burke (1995) und Apostolidès (1981 u. 1985) 302 Burke (1995): S. 80f 303 Alpers (1985) beschreibt den Nimbus des Wissens, der den Karten eigen sei, und bezeichnet sie als „eine Art Abbild von Prestige und Macht“. (S. 233) 304 vgl. Marie (1976): S. 347 305 Grimm (1885): s.v. ‘Musterordnung’ Bd. 6 , Sp. 2764. „bei den gärtnern die abtheilung dessen was in die muster gepflanzt wird“; Zedler (1739), s.v. ‘Muster’, Bd. 22 306 Neubauer (1966): S. 10 183 Gestaltähnlichkeit oder eigentlich Musterkonvergenz von Blumenparterren und Stickmustern wird in manchen Publikationen erwähnt und das Textile vom Vegetabilen abgeleitet.307 Das offensichtlich textile Handeln – das orthogonale Spannen der Fäden ergibt ein Raster, das einem zu bestickenden, leinwandbindigen Gewebe entspricht – scheint lediglich in dem auch verwendeten Terminus ‘Broderiebeet’ durch. Die Musterbücher, die für die Blumenparterre angelegt wurden, sollten auch anderen Handwerken (embroderie, tapestrie, carpenters etc.) als Vorlage dienen.308 Durch die Kleiderstoffe und die textilen Wandbespannungen fanden die Pflanzen auf dem textilen Wege lange vor den Zimmerpflanzen Eingang in die Innenräume.309 Teppiche können gleichermaßen als transportable Gärten interpretiert werden: Der Fond sogenannter ‘Perserteppiche’ wird ‘Erde’ und der Rand ‘Wasser’ genannt, die Flächen sind mit floralen Mustern ausgefüllt.310 Ein islamischer Garten sei ein künstliches Paradies, der kosmologische Konzepte besonders durch eine symmetrische Aufteilung repräsentiere.311 Die Garten-Teppiche zeichnen einen besonderen Raum aus und steigern die Wirkung von Architektur und Garten. Die schon erwähnte charakteristische Flexibilität des Textilen dient der Aneignung von Raum und dem Transport des Raumes, z.B. in den Innenraum, aber auch von einem zeitlichen Transport, in dem die Teppiche heute von der Gartenkunst ver- gangener Zeiten berichten.312 Die Wechselwirkungen zwischen der Gestaltung von Gärten und gestickten oder geknüpften textilen Mustern erscheinen sehr ausgeprägt. Die inszenierte, demonstrativ beherrschte Natur verleibt sich der Mensch als Textiles ein weiteres Mal ein. Anhand der Gärten von Versailles läßt sich auch zeigen, welche Bedeutung die Perspektive für das Mapping hat. Abgesehen von der zentralperspektivischen Nutzung der Gartenanlagen und des Schlosses, die einzig der Glorifizierung des Zentrums, nämlich des Königs dienen, existiert eine andere Sicht auf die Gärten. Ludwig XIV. schreibt zwischen 1689 und 1705 sechs verschiedene Versionen von der ‘Manière de montrer les jardins de Versailles’.313 Er gibt hiermit seine Sicht auf die Gärten vor, verordnet sie. Sein Blick ist hierbei nicht der eines Spaziergängers, der den Raum in Bewegung erfährt, sondern der eines Beherrschers, der den Raum in Momentaufnahmen fixiert und ihn sich hierdurch aneignet. Er führt dieses Eigentum zur Konsolidierung seiner Macht vor. Der Einsatz der monarchischen Perspektive in doppelter Hinsicht dient auch der Instrumentalisierung des Tanzes am Hof Ludwig XIV. Die Abbildung 31 zeigt den ‘Gran bal du roi’ nach einer Zeichnung des Tanzmeisters Pierre Rameau von 1725. Der König nimmt sowohl die zentrale Stellung innerhalb des Bildes als auch des 307 Abegg (1978): S. 129f 308 Abegg (1978): S. 130 309 Parallelen bzw. Vorläufer dessen bilden die schon erwähnten Mille-fleur Tapisserien, aber auch orientalische Gartenteppiche. 310 Neubauer (1966): S. 10 311 Albarn (1974): S. 50 312 Die Radiomeldung, Prince Charles habe die Silbermedaille für einen Gartenentwurf, der durch einen persischen Teppich inspiriert wurde, gewonnen, läßt diese Wechselwirkungen zwischen Teppich- und Gartengestaltungen fast zu einer Art seltsamen Schleife werden. 313 Hoog (1982) 184 Balles ein. Um dies zu erreichen, wird jeweils die Zentralperspektive, deren Wirkung durch die Rasterung des Tanzbodens verstärkt wird, eingesetzt. Die Sitzordnung, der Tanz, der Raum sind auf den König ausgerichtet. Er nimmt einen Platz ein, der es ihm gestattet zu kontrollieren, zu verstehen und vorauszusehen.314 Alle anderen Zuschauer müssen die Perspektive des Königs imaginieren – bedürfen seiner Augen –, um die Choreographie des Tanzes erfassen zu können. Die Choreographien dieser Tänze sind also auf einen idealen Zuschauer hin konzipiert – das klassische Ballett hat diese Orientierung bis heute beibehalten – und auf das Erzeugen exakter geometrischer Figuren.315 Diese Figuren, die erst die schriftliche Fixierung deutlich sichtbar werden läßt, bilden Bodenmuster, die denen der Blumenpaterre und Kleiderstoffe auf bemerkenswerte Weise ähneln.316 Tanzschriften Die folgenden Ausführungen zu einer sehr speziellen Form der Kartierung sollen das Verhältnis und die Wechselwirkungen zwischen Notation (Karte) und zu Notierendem (dem Tanz als Zeitkunst) aufzeigen. Hierbei werden die Schritte der Isolation und Abstraktion, die zur Notation führen, exemplarisch erläutert. Das Muster erweist sich als Mittel der Segmentierung und Disziplinierung des menschlichen Körpers, der menschlichen Bewegung, d.h. der Beherrschung seiner eigenen Natur. Claudia Jeschke definiert ‘Tanzschrift’ als eine Bewegungsschrift, die eine „Nieder- schrift von Tanzbewegung mit Hilfe von Zeichen“ ist.317 Der Tanz habe nie eine verbindliche Schrift entwickelt, beides – der Tanz und seine Schrift – sei immer dem historischen Wandel unterworfen gewesen, und deshalb könne man auch nicht von der Tanzschrift als einem primären ‘Mittel der Tradierung und Hilfe der Reproduktion’ sprechen.318 Laurence Louppe schreibt, Tanznotationen hätten nach allgemeiner Auffassung keinen definierbaren Status innerhalb der Kultur, besetzten keinen Autoritätsplatz und besäßen keine symbolischen Bezüge.319 Beide Autoren konstatieren den unerforschten Zustand ihres Themas und versuchen ihn auf un- terschiedliche Art zu beheben.320 Diese und andere Untersuchungen zum Tanz wurden den Ausführungen zugrunde gelegt, um die hier relevanten Aspekte herauszuarbeiten.321 Die frühesten Tanznotationen stammen aus dem 15. Jahrhundert und gehören in einen, wie Louppe bemerkt, typisch westlichen Zusammenhang, der die orale Tradition als primitiv verurteilt.322 Der Tanz dient in dieser Zeit zunehmend der 314 Braun/Gugerli (1993): S. 150 315 Zur Lippe (1988): S. 266 316 Taubert (1968): S. 101 317 Jeschke (1983): S. 44 318 Jeschke (1983): S. 17 319 Louppe (1994): S. 19 320 Jeschkes Anliegen ist ein historisch-systematisierendes, das die Tanznotation der Tanzgeschichtsschreibung als Quelle zugänglich machen soll. (Jeschke 1983: S. 18) Louppe hingegen betont die Nichtlinearität der Entwicklung der Tanznotationen (Louppe 1994: S. 23) und ist an Bewegungsspuren und Raumzuständen interessiert. 321 Brandstetter (1995); Schrifttanz (1991); Braun/Gugerli (1993) 322 Louppe (1994): S. 9, 22; Vgl. auch: Encyclopaedia Universalis (1990): s.v. ‘Choréographie’ 185 Disziplinierung des Adels.323 Die Tanznotationen, die zunächst nur die höfischen Tänze aufzeichneten, visualisieren die Mittel dieser Disziplinierung: Segmentierung und Geometrisierung als Grundlage der Kontrolle und Berechenbarkeit. Diese notationale Geste und ihre Nutzung des Musters gilt es zu bestimmen.324 Der Tanz ist eng verbunden mit den Begriffen der Schrift, der Sprache und der Spur, die im ersten Abschnitt den eindimensionalen Phänomenen zugeordnet wurden. Tanz als eine Form der Körper-Sprache hinterläßt Spuren und wird als Schrift notiert. Dem Schreiben folgt im allgemeinen die Lektüre und die Interpretation. Anhand dieser Begriffe wird deutlich, daß der tanzende Körper der Wissenschaft einverleibt wird, sie verweisen gleichzeitig auf Disziplinen und Methoden.325 Schrift und Sprache betonen das Lineare, die Notation impliziert das Zweidimensionale, wobei die Projektionsfläche (Bodenwege, Ansichten) nicht festgelegt ist. Die Tanzbewegung wird bestimmt durch Körper, Raum und Zeit, um sie notieren zu können, muß sie eine Dimensionsreduktion erfahren. Dieser Weg von der komplexen Bewegung zur Notation soll nun nachgezeichnet werden. Das Aufzeichnen des Tanzes dient der Bewahrung (Archivfunktion), der Vermittlung (Kommunikation) und der Komposition einer Choreographie (Entwurfsmethode). Tanznotationen dienen also der Wiederholung zu verschiedenen Zwecken. Um etwas Wiederholen zu können, muß ein Muster, müssen isolierbare Einheiten erkannt werden. Beim klassischen Tanz können definierte Schrittfolgen, beispielsweise ein ‘Pas de bourrée’, als Bewegungsmuster erkannt werden. Die einzelnen Bewegungselemente werden nun in abstrakter Form aufgezeichnet. Hierfür müssen der Körper, der Raum und die Zeit segmentiert sowie die Perspektive festgelegt werden. Die Perspektive, bzw. die Projektionsfläche, favorisiert entweder die Horizontale, das Fortbewegen des Körpers im Raum, oder die Vertikale, die Eigenbewegung des Körpers.326 Dies soll im folgenden an verschiedenen Abbildungsbeispielen gezeigt werden. Die Abbildung 32 zeigt Carosos ‘Ballerino’ von 1605, der als der erste überlieferte Ver- such gilt, die Bodenwege der Tänzer, ihre Spuren, graphisch darzustellen.327 Ohne diesen Hinweis könnte man diese Skizze auch als Ornament, als ein Rosettenfenster oder als Schmuckstück interpretieren. Die implizierte Bewegung, die diese Figur erst 323 Zur Lippe (1988): S. 15 324 Historische Implikationen werden hierbei weitestgehend unbeachtet bleiben, bzw. lediglich auf die entsprechende Literatur verwiesen. 325 Jeschke (1983) verwendet die Begriffe Zeichen, Codes, Schriften, Notationen, Schreibmethoden und bewegt sich in undefiniertem sprachwissenschaftlichen Gebiet. Laurence Louppes Titel ‘Traces of Dance’ verweist auf das Immaterielle des Tanzes und betont das Defizitäre der Zweidimensionalität in der Kapitelüberschrift ‘Imperfections in the paper’. Der Literaturwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter geht es in ihren ‘Tanz-Lektüren’ nicht um ein Entziffern historischer Tanznotationen, sondern um das Lesen des im Tanz bewegten Körpers, das neben das Lesen der Schrift tritt. (Brandstetter 1995: S. 22) 326 Diese Differenzierung in zwei Hauptgruppen erscheint für die hier durchzuführende ‘Mustersuche’ sinnvoll. Jeschke, die die Systematisierung der Tanznotationen verfolgt, unterscheidet fünf verschiedene ‘Zeichenarten’: Wortkürzel, Bodenpläne und Bodenwege, Strichfiguren, Musiknoten und abstrakte Zeichen. Diese Zeichenarten bilden für sich oder in Kombination untereinander verschiedene ‘Schreibmethoden’ heraus, die charakteristisch für die Sicht auf die Bewegung sind. Jeschke (1983): S. 63–107; 121–134 327 Zu sehen ist die Anfangsstellung dreier Tanzpaare (‘Dma’ steht für ‘domina’, die Dame und ‘Cva’ für ‘Cavaliero’, den Herren) und die vorgegebene Linie des Tanzes, die von innen nach außen getanzt wird, so daß sich die Blüte nach und nach entfaltet. Notenköpfe und griechische Versfüße (Spondeus und Daktylus) geben den Tanzrhythmus an. Jeschke (1983): S. 191, 73 186 konstituiert, und ihre Funktion als Wiederholungsvorschrift machen sie zu einem Muster. Caroso fasse den Tanz als räumliche Einheit, übersetze den zeitlichen Rhythmus in einen räumlichen ‘con vera mathematica’, ganz im Sinne des Humanismus, so seine Interpreten des 20. Jahrhunderts.328 Das vorrangige Interesse dieser Tanznotation, und somit im Rückschluß auch das der Tänze, gilt der Fort- bewegung im Raum, die ein bestimmtes Muster erzeugen muß. Daß die Symmetrie hierbei eine wichtige Rolle spielt, weist Arthur L. Loeb u.a. an der gezeigten Notation von Caroso nach. Die räumliche Symmetrie wird durch die Bodenwegszeichnungen offensichtlich, um die zeitliche Symmetrie zu erkennen, ist eine eingehendere Untersuchung – die Loeb durchführt – notwendig. Die Repetitionen der musikalischen Muster korrespondieren mit Tanzfiguren und bilden eine Form zeitlicher Symmetrien. Erst diese Rücklesung von einem statischen zwei- dimensionalen Muster in die Bewegung, die Loeb durchführt, macht diese Qualität des Tanzes sichtbar. Darüber hinaus bringen diese Tanzmuster Symmetrien hervor, die mit den klassischen Theorien der Raumsymmetrien nicht zu fassen seien.329 Die Defizite der zweidimensionalen Notation sind hier offensichtlich. Daß Tänze sich gleichermaßen in ein Koordinatensystem einfügen lassen, auf die gleiche Weise wie Pflanzen und die Textilien, macht die Abbildung 31 deutlich. Nur wenige Tanznotationen verweisen auf diesen Zusammenhang, indem sie eine dreidimensionale, also perspektivische Darstellung der Bodenwege geben. Die Ab- bildung 33 zeigt einen ‘Ground plan with figures’ von 1727.330 Auf das Einzeichnen der Bodenfliesen, wie bei anderen Darstellungen üblich, wurde verzichtet, ging es doch um den pädagogischen und nicht nur um den ästhetischen Aspekt. Die Tänzer und ihre Zuschauer nahmen jedoch diese Mustervielfalt, gesteigert durch Musterungen an Wänden, Decken und Bekleidung, wahr. Raoul Auger Feuillet veröffentlicht 1700 seine ‘Chorégraphie’, eine Tanznotation, deren Rezeption bis in das 20. Jahrhundert reicht. Auch er zeichnet die musterbildenden Bodenwege nach, gibt der Bewegung eine Richtung im Raum und – das ist das Neue – teilt den Körper entlang einer vertikalen Achse. Die Bewegungen der rechten und linken Körperhälfte werden entsprechend links oder rechts der Linie aufgezeichnet. Den beschriebenen Bodenwegsnotationen folgt eine Phase, die die vertikalen Notationsformen mit der Betonung des Körpers als Bewegungsträger bevorzugen. Hierfür wird der Körper in verschiedenen Ansichten abgebildet, die Notationen von Zorn oder Saint Léon sind hierfür beispielhaft.331 Im 20. Jahrhundert ist man bestrebt, 328 Jeschke (1983): S. 191. Oskar Bie hat mit seiner Publikation ‘Der Tanz’ (Berlin 1906) ein Standardwerk geschaffen, Jeschke zitiert hieraus eine Passage zu Caroso. Brigitte Garski gibt eine graphische Aufschlüsselung von Carosos Skizze, die Jeschke wiedergibt. (S. 459) 329 Loeb (1986): S. 639 330 Eine solche Darstellung hat zudem den Vorteil, die tanzenden Personen ‘sehen’ zu können. Die Frau trägt einen Rock, der ihre Beine und Füße vollständig verdeckt. Das Ziel des Erlernens komplizierter Schrittfolgen und Fußstellungen, nämlich die Disziplinierung des Adels, wird umso deutlicher. Ob bestimmte Tänze mit den Rocklängen korrelieren, müßten Einzeluntersuchungen zeigen. Die Mode zur Zeit Elisabeth I. könnte einen solchen Hinweis geben. Die Vorliebe der Königin für die Volta und die Gaillarde (Tänze mit vielen Sprüngen) sind bekannt, um diese entsprechend tanzen zu können, trug sie Röcke, die nicht bis zum Boden reichten. Die von ihr betriebene Instrumentalisierung des Tanzes und auch der Kleidung scheinen zumindest in England Einfluß gehabt zu haben. Braun/Gugerli (1993): Kap. 1 331 Jeschke (1983): S. 220–235 187 die beiden Projektionsflächen miteinander zu verbinden, das Werk Feuillets fortzusetzen, wie es Rudolf von Laban getan hat. Das Problem, vier Dimensionen auf zwei zu reduzieren, bleibt jedoch bestehen, und die simultane Abbildung der verschiedenen Perspektiven führt zu hoher Komplexität auf Kosten der Verständlichkeit und somit der Wiederholbarkeit, also dem eigentlichen Ziel. Inwieweit die neuen Medien diesen Problemen Abhilfe leisten können, wird sich zeigen. Der amerikanische Choreograph William Forsythe hat seine Form des Tanzens und Choreographierens multimedial als CD-ROM aufgezeichnet.332 Anhand dieser ‘Aufzeichnung’ läßt sich nicht nur seine Arbeits-, sondern auch seine Denkweise nachvollziehen. Die Grundlage seines Arbeitens ist das klassische Ballett. Er über- nimmt das Segmentieren des Körpers und des Raumes.333 Mit den einzelnen Fragmenten wird experimentiert und konstruiert. Dieser Vorgang kann nun multimedial nachvollzogen und vom Betrachter beeinflußt werden.334 Die Voraus- setzung seiner Choreographien ist also gerade das Bestehende, sind die Bewe- gungsmuster, die erst durch ihre Dekonstruktion oder potenzierte Repetition als solche gekennzeichnet werden. Er selbst zieht die Parallele zur Schrift, indem er von der Choreographie als einem Alphabet spricht und dem Körper als einem Schreibinstrument.335 Der Körper ist jedoch nicht nur Schreibinstrument, sondern auch Ort der Einschreibungen. Forsythe arbeitet mit diesen Einschreibungen, mit der Performativität des (tanzenden) Körpers.336 Auch hierin erweist sich die De- konstruktion als Methode, die sich des Musters bedient. Das Repetitive in seiner räumlichen und zeitlichen Ausdehnung ist für den Tanz konstitutiv und wird bei Forsythe in reflektierender Form schöpferisch genutzt. Anhand der Tanznotation soll des weiteren exemplarisch die postulierte Wechsel- wirkung von Notation und zu Notierenden aufgezeigt werden. Hierbei ist vor allem die Funktion der Notation als Entwurfsmittel zu nennen. Die Aufgabe der Tanznotation, die Rudolf von Laban ‘Bewegungsschrift’ nennt, sei das ‘Festhalten von Bewegungsfolgen und Tänzen’ und das Bereitstellen eines Analyse- instrumentes.337 Das künstlerische Ziel der Kinetographie sei jedoch nicht die Tanz- schrift, sondern der Schrifttanz.338 Die Entwicklung eines Tanzes, einer Choreo- 332 Im Museum des Deutschen Tanzarchivs Köln ist die CD-ROM ‘Improvisation Technologies’ installiert und steht dem Besucher zur Benutzung offen. Forsythe erklärt die Grundlagen der von ihm entwickelten Tanztechnik anhand zweier Stücke. 333 vgl. beispielsweise: Peters (1991). Der klassische Tanz ist vollständig systematisiert und reglemen- tiert, bis hin zu ‘1/8 Linksdrehung der Körperfront’ oder dem ‘pas tricoté’, dem ‘gestrickten Schritt’, der sich aus einer Vielzahl an Kleinstbewegungen zusammensetzt. 334 Diese Beeinflussung bezieht sich vor allem auf den Wechsel der Medien, aber auch auf die zeitliche Dimension. Vgl. „Forsythe schickt seine Tänzer in den Computer“ von Edith Boxberger, in: FAZ 15. Januar 1995, Nr. 2, S. 25 335 Schulze (1999): S. 223, 226 336 Schulze (1999): S. 224f 337 Schrifttanz (1991): Heft 1, 7/1928, 1. Jg., S. 4. Rudolf von Laban (1878–1958) war Tänzer und Tanztheoretiker, er entwickelte die Kinetographie Laban (Labanotation). In Form der Vierteljahresschrift ‘Schrifttanz’, die von 1928–31 erschien, sollte die neue Notation Verbreitung finden. Laban war davon überzeugt, daß die Kinetographie Laban eine der Buchstabenschrift oder dem musikalischen Notationssystem vergleichbare Bedeutung habe. (S. 1) Auch wenn dieser Erfolg ausblieb und der ‘Schrifttanz’ eingestellt werden mußte, wurde die Labanotation in diesem Bereich die wichtigste Notationsform und dient der Theaterpraxis und der Wissenschaft. 338 Schrifttanz (1991): Heft 1, 7/1928, 1. Jg, S. 5 188 graphie sollte also nicht mehr im Raum mit einem tanzenden, experimentierenden Körper stattfinden, sondern auf der Fläche mit einer schreibenden Geste ausgeführt werden. Laban entwickelte mit seiner Kinetographie ein System, das Raum und Zeit einzubeziehen suchte. Der Körper, die Raumrichtungen und die Zeit werden auf einem Liniensystem simultan abgebildet. Dieses Liniensystem entspricht dem der Musiknotation, „um dem Umstand Rechnung zu tragen, daß viele Tänze und Übungsfolgen mit begleitender Musik aufgeschrieben werden müssen“.339 Den linearen Aufzeichnungen, die von links nach rechts ‘gelesen’ werden, können Bodenwegszeichnungen beigefügt werden, die die große von den Tänzern ausge- führte Raumbewegung zeigen.340 Das entstehende ‘Schriftbild’ zeugt von der Komplexität von Tanzbewegungen und der Verweigerung der sinnlichen Wahr- nehmung durch die graphische Abstraktion. Die Abbildung 34 zeigt lediglich einen Ausschnitt bzw. eine mögliche Ausgangsposition von sechs Tänzern, die sich die Hände reichen. Um die Bewegungen weiter aufzuzeichnen, müßten die fünf Linien (pro Tänzer) nach rechts verlängert werden. Die Abbildung 35 verdeutlicht einen Aspekt der Abstraktion, bzw. ein Mittel der Dimensionsreduktion: Der Körper wird in einer Art Explosionsdarstellung gezeigt, die ihn seiner vertikalen Dimension beraubt. Diese Dimensionsreduktionen, die mit der Tanznotation einhergehen respektive sie erst ermöglichen soll, sieht Laban als Gewinn, als hilfreiches Instrument. Die Kinetographie sei die Basis für die Präzisierungsarbeit, die eine Choreographie erfordere. Der ‘Tanzerfinder’ habe vermittels der Kinetographie den Tanz ‘übersichtlich vor Augen’ und könne hierdurch ‘Unklarheiten’ oder ‘Stilwidrigkeiten’ erkennen und Störungen der Linie beheben.341 Hier läßt sich ein den frühen Tanznotationen vergleichbares, pädagogisch- disziplinierendes Element feststellen. Laban ist um eine ‘kultivierte Tanzkunst’342 bemüht, die bestimmender Teil eines ‘Kultur- und Erziehungsprogrammes’343 sein soll. Die Disziplinierung des Körpers wird also nicht nur am tanzenden, fechtenden, turnenden Körper unmittelbar vollzogen, sondern über die Abstraktion (Linearisierung, Symmetrisierung und Geometrisierung) gesteigert. Die Schönheit der Linie, das durch die Aufzeichnung erkennbar gewordene Muster, werden zum Mittel der Segmentierung und Disziplinierung des menschlichen Körpers und der Gesellschaft. Auch in diesem Sinne läßt sich die Tanznotation dem Mapping zuordnen: Vor allem als Instrumentarium der Choreographie kann die Notation zur Herrschaftsgeste werden. Der Choreograph gibt dem Tanz durch das Notieren eine definierte Form, die seine Perspektive und Interpretation wiedergibt, er wird zu einem ‘Besitzenden’.344 Der notierende Blick läßt Territorien und Körper beherrschbar und manipulierbar erscheinen. Die Zweidimensionalität vermittelt das Gefühl der Handlichkeit der Welt: 339 Jeschke (1983): S. 133 340 Beschreibungen der Kinetographie finden sich bei Jeschke (1983): S. 399f oder von Laban in: Schrifttanz 1 (1991): S. 1–20. 341 Schrifttanz (1991): Heft 2, 10/1928, S. 19 342 Schrifttanz (1991): Heft 2, 10/1928, S. 19 343 Brandstetter (1995): S. 439 344 Louppe (1994): S. 26 189 Die Weite des Raumes wird eliminiert und maßstäblich verkleinert und die vierte Dimension ignoriert. Die Notation und insbesondere ihre musterproduzierende Form zeigen hier deutlich ihre Möglichkeiten des Mißbrauchs. Die Organisation der Massenbewegungen und die Instrumentalisierung der individuellen Bewegungen werden im Zusammenhang mit den bewegten Mustern im letzten Abschnitt behandelt. Architekturale Karten Die Tanznotationen bedienen sich also auch der Mittel der Linearisierung, um die Zeit und die Projektion, um den Raum abzubilden. Hierfür wird auch ein Gitternetz, ein Koordinatensystem, verwendet. Im folgenden sollen zwei Beispiele aus Architektur und Tanz eine andere Möglichkeit der Dimensionsreduktion aufzeigen, die dem zu Notierenden mit einer weniger herrschaftlichen Geste entgegentreten. Der schon erwähnten, von Rudolf von Laban entwickelten, Kinetographie gingen verschiedene Versuche der Tanznotierung voraus. Da Labans besonderes Interesse den Beziehungen zwischen Raum und tanzendem Körper galt, führten seine Über- legungen zunächst zu einer ‘Raumharmonielehre’.345 Der sich frei bewegende Körper – sich im ‘freien Tanz’ bewegende – beschreibe einen Umraum in Kugelform.346 Um innerhalb dieser Kugelform Richtungen eindeutig zuordnen zu können, mußte diese Form großer Symmetrie zugunsten des Ikosaeders, des kugelähnlichsten Körpers, aufgegeben werden. Mit Hilfe dieses aus dreieckigen Flächen aufgebauten Körpers konnte Laban nun die Bewegungsrichtungen als ‘Schrägenschrift’ notieren. Eine Verbindung mit anderen Notationselementen gelang ihm jedoch nicht, so daß die spätere Kinetographie die Schrägenschrift nicht explizit mit aufnimmt.347 Von einer ähnlichen Idee scheint Buckminster Fuller (1895–1983) geleitet gewesen zu sein, als er 1929 die ‘Dymaxion World’ entwickelte. Daß sein Projekt gelang, erklärt sich durch die weniger komplexe Aufgabenstellung: Es ging um die Notierung der Oberfläche der (Erd-)Kugel und nicht um die Bewegungen, die in ihrem Inneren stattfinden.348 Die ‘Dymaxion-World’ ist eine Projektion der Weltkarte, die von einem ausfaltbaren Globus ausgeht.349 Auch Fuller wählte die Form eines Polyeders, des Ikosaeders mit 20 gleichseitigen Dreiecken, um die Kugel greifbar, abwickelbar zu machen (Abbildung 36). Im Gegensatz zu anderen Formen der Körperabwicklung (beispielsweise die in Abbildung 36 gezeigte Mantelabwicklung der Mercator- Projektion) kann die entstandene zweidimensionale Karte auf verschiedene Weisen zusammengesetzt werden. Hiermit sucht er programmatisch die nationalistische und territorienbildende Orientierung der Kartographie zu umgehen. Den vorgegebenen Blick der Weltprojektionen bezeichnet er als „konzeptuell gefrorenen 345 Brandstetter (1995): S. 434 346 Jeschke (1983): S. 380 347 Jeschke (1983):S. 383 348 Hiermit ist keine Wertung hinsichtlich des Werkes von Buckminster Fuller intendiert, sondern lediglich der Vergleichbarkeit der beiden Ideen Rechnung getragen worden. 349 Der Begriff setzt sich zusammen aus DYnamic, MAXimum und IONs. Vgl. Atlas Mapping (1997): S. 227 190 Kartenreflex“.350 Aus diesem Kartierungsprojekt entwickelte Fuller, quasi in Umkehrung der Transformation, seine geodätischen Kuppeln. Er verläßt das cartesianische Koordinatensystem und ersetzt es durch ein System von Tetraedern. Diese tetraedische Geometrie bezeichnet Fuller aufgrund ihres prozessualen Charakters als vierdimensional. Fullers Form der Kartierung läßt sich der ‘cartesianischen Architektur’351 gegenüberstellen und mit dem Muster konkret verbinden. Mit ‘cartesianischer Architektur’ ist hier vor allem eine Architektur gemeint, die als Grundlage des Entwurfs Grundrisse, Aufrisse und Schnitte verwendet, also die Perspektive definiert.352 Eine solche Architektur setzt Flächen voraus, die mit einem Raster überzogen werden können. Architekten, die sich anderer Entwurfsmethoden be- dienen, wie beispielsweise Peter Eisenman, kritisieren diese Tabula-rasa-Mentalität, die die Natur, aber auch den städtischen Raum zweidimensional und hierdurch statisch denkt.353 Hier schließt sich nun der Kreis: Der Architekturprofessor Paul Virilio trägt der den Raum konstituierenden Bewegung durch seine Beschäftigung mit der Labanotation Rechnung: Um die Grundrisse und Schnitte zu ergänzen, schlägt er eine Qualifizierung des Raumes im Sinne Labans vor.354 Eine Studie, die die diversen Formen der Repräsentation von Architektur untersucht, fehlt bis heute.355 Auch hier geschahen nur Andeutungen, auf Buckminster Fuller wird zu- rückzukommen sein. Mnemotechnische Karten Wie sehr die Auffassung des Raumes als architektonisch gestalteter Ort, als kartographierbare Zweidimensionalität verinnerlicht wurde, zeigt sich in dem Be- dürfnis, die eigene Wohnung, eine Wegbeschreibung oder den geplanten Garten als Karte zu imaginieren. Der angebliche Erfinder der Gedächtniskunst – Simonides – erklärt dies mit seiner Erkenntnis, „daß eine planmäßige Anordnung entscheidend für ein gutes Gedächtnis“ sei.356 Mit dem Anlegen mnemotechnischer Karten beschäftigen sich verschiedene Wissenschaftsgebiete und zahlreiche Publikationen.357 Die Verbindung zum Muster soll im folgenden über die Idee des Gedächtnisortes und durch ein konkretes Beispiel einer mnemotechnischen Karte hergestellt werden. Die Geschichte, die Simonides von Keos (556–468 v. Chr.) zum ‘Begründer des Faches der Mnemotechnik’ gemacht hat, existiert in vielen Versionen.358 Sowohl 350 Arch+ 116 (1993): S. 56. Der Fuller-Experte Joachim Krausse stellt das Werk Fullers in Zusammenhang mit anderen ‘Gebauten Weltbildern’ dar. 351 Arch+ 116 (1993): S. 79 352 Hiermit ist noch nichts über die weitere Notation (ob als Mittel der Archivierung oder des Entwurfs) von Architektur gesagt. 353 Eisenman beschreibt in ‘Unfolding Frankfurt’ seine Entwurfsmethode, mit Hilfe der Idee der Falte die cartesische Ordnung aufzubrechen. Geib/Kohso (1991): S. 12 354 Arch+ 124/125 (1994a): S. 46 355 Grabar (1992): S. 174f, 274 356 Yates (1990): S. 11 357 Neben Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Geschichte beschäftigen sich Psychologie, Medizin und Kognitionswissenschaft mit diesem Thema. Die Publikationen von Yates (1990) und Assmann (1999) wurden den Ausführungen zugrunde gelegt; sie enthalten zahlreiche Literaturhinweise. Einen Überblick gibt Fleckner (1995). 358 Yates (1990): S. 35. Yates weist Simonidis diese Bedeutung zu und beruft sich u.a. auf Cicero, Quintilian, Plinius und Marcellinus. Simonidis habe zu Ehren seines Gastgebers ein Gedicht 191 Quintilian als auch Cicero leiten ihre Ausführungen zum künstlichen Gedächtnis mit ihr ein.359 Die Historikerin Frances Yates beginnt gleichermaßen mit dieser Geschichte und beschreibt in der Folge die lateinischen (Quintilian – Institutio oratoria, Cicero – De oratore und der anonyme Text Ad Herennium) und griechischen Quellen der Gedächtniskunst, um deren Rezeption im Mittelalter und ihre Bedeutung für die Renaissance, der das Hauptaugenmerk ihres Buches gilt, dar- zulegen. Sie schreibt, die allgemeinen Prinzipien der Mnemonik seien leicht zu verstehen. „Der erste Schritt war, dem Gedächtnis eine Reihe von loci, Orten, ein- zuprägen. Der gängigste, wenn auch nicht der einzige Typ des mnemonischen Ortssystems war der architekturale.“360 Diese Feststellung ist für uns entscheidend, da diese Idee der ‘topologischen Wissensorganisation’361 das Anlegen von Karten ermöglicht. Die Aneignung des Raumes kann aktiv oder fiktiv geschehen, die an- schließende mnemotechnische Nutzung macht ihn zu einem Gedächtnisort.362 Die Form der Darstellung, das Aussehen der Karte, variiert wie bei den geographischen Karten.363 Die abgebildeten Orte, die jeweils mit einem Bild verbunden werden364, bilden eine Reihe. Diese Ordnung garantiert die Memorierung, die Wiederholung als exakte Wiedergabe. Karten, oder andere abgebildete räumliche Vorstellungen als Mittel der Mnemonik zu nutzen, gehen von einer Überlegenheit des Gesichtssinns aus. Akustische und motorische Gedächtnisstützen werden zugunsten der visuellen Wahrnehmung vernachlässigt.365 vorgetragen und danach den Festsaal verlassen. In seiner Abwesenheit brach das Dach des Saales ein und tötete alle Gäste. Der Zustand der Leichen ließ keine Identifizierung zu, Simonidis konnte sich jedoch an die Sitzordnung erinnern und den Verwandten die Angehörigen zeigen. Dies habe ihn auf die Prinzipien der Gedächtniskunst gebracht. (S. 11) 359 Yates (1990): S. 27 360 Yates (1990): S. 12. Wie konkret diese architekturale Vorstellung war, zeigt sich beispielsweise in dem Begriff des ‘Thesaurus’, der in der Antike ein „kleines Gebäude in einem Heiligtum zur Aufbewahrung von kostbaren Weihgaben“ (Duden 1990) bezeichnete und heute die geordnete Sammlung von Wörtern eines Fachbereichs. 361 Assmann (1999): S. 28f. Dieser von Assmann geprägte Begriff dient der Charakterisierung der Gedächtnisorte, die Yates untersucht im Gegensatz zu den Orten des Erinnerns und der Identität, deren Ahnherr nicht Cicero, sondern Nietzsche sei. 362 Als aktiv wird hier die Methode bezeichnet, die sich bekannter, erlebter Orte bedient im Gegensatz zu den fiktiven Orten, die aus Mangel an wirklichen Orten neue konstruieren. Yates (1990): S. 16. Yates stellt eine Verbindung der Orte der Mnemonik zur Topik der Dialektik her: „Topik ist die Lehre von den Dingen oder Themen der Dialektik, die wegen der Orte, an denen sie aufbewahrt wurden, als topoi bekannt geworden sind.“ (S. 37) 363 Die Publikation von Yates (1990) zeigt verschiedene Abbildungen solcher Karten, die als Grund- risse, Schnitte oder perspektivische Darstellungen auftreten. Die Korrespondenzen zur Entwicklung der Kartographie müßten überprüft werden. 364 Yates (1990): S. 16f. Es müssen für das zu Memorierende Bilder gefunden werden. Yates beschreibt die verschiedenen Methoden. 365 Illich (1991) beschreibt solche von akustischen (textilen!) und motorischen begleiteten Vorgänge im monastischen Umfeld. „Schon nach wenigen Wochen wird das Kind das Rascheln der Kutten am Ende jedes Gebets mit dem Sich-Erheben der Mönche und dem gloria patri verbunden haben. Die rhythmische Wiederholung des Sich-Erhebens und Verbeugens und ihr Zusammenfallen mit einem kleinen Kanon kurzer Formeln waren für den Novizen leicht mit frommen Gefühlen und Praktiken assoziierbar, noch bevor er die Bedeutung der lateinischen Worte ausmachen konnte.“ (S. 69) Bezeichnenderweise ist hier implizit nicht das Memorieren, sondern das Erinnern gemeint. Yates (1990) bestätigt indirekt diese Differenz, indem sie schreibt: „Wer ist jener Mensch, der langsam in dem einsamen Gebäude umhergeht und mit angespannter Miene immer wieder stehenbleibt? Es ist ein Rhetorikschüler, der sich einen Vorrat an Gedächtnisorten aufbaut.“ (S. 16) Die Bewegung, das motorische Moment als solches hat bei dieser Technik keine Funktion, die Imagination der Bilder ist entscheidend. 192 Dieser Ausschluß entspricht laut Assmann dem Ziel der Mnemotechnik, nämlich Input und Output zu vollständiger Kongruenz zu bringen. Geräusche und Handlungen würden die Dimension der Zeit miteinbeziehen und somit eine Differenz erzeugen.366 Auf die Differenz von Erinnern und Gedächtnis wurde schon in Zusammenhang mit Platons Schriftkritik hingewiesen.367 Die Erfindung der Schrift führe demnach zu einer Vernachlässigung des Gedächtnisses. Das folgende Zitat soll nun auf das Muster und die Schrift in ihrer Eignung als mnemotechnisches Mittel hin gelesen werden. „Vier Dinge verhelfen einem Menschen zu einem guten Gedächtnis. Das erste: Er sollte die Dinge, die er im Gedächtnis behalten will, in einer bestimmten Ordnung ausbreiten. Das zweite: Er sollte mit Hingabe bei ihnen verharren. Das dritte: Er sollte sie auf außergewöhnliche Bildvorstellungen zurückführen. Das vierte: Er sollte sie in häufigem Überdenken wiederholen.“368 Diese vier Regeln auf die Schrift anzuwenden fällt schwer: Das zu Memorierende zu verschriftlichen bedeutet, es eben nicht auszubreiten und eine passende Ordnung zu finden, sondern es einer bestehenden Ordnung zu unterwerfen. Das Schreiben und Lesen durcheilt die Zeilen und verharrt selten um das Ganze zu betrachten. Die Bildvorstellungen werden durch die Beschreibung linearisiert und somit als Bilder zerstört. Und die Wiederholung ist genau das, was man sich mit der Schrift ersparen möchte. Das Muster erscheint im Vergleich hierzu als geeignetes Mittel der Gedächtniskunst: Eine Ordnung folgt einem definierten Muster, das mit dem Inhalt korrespondiert. Die Komplexität und die unendlichen Möglichkeiten des Musters laden zum Verharren ein. Die Außergewöhnlichkeit der Bildvorstellungen und ihre Repräsentationsform kann der Memorierende selbst bestimmen. Die Wiederholung ist das Charakteristikum des Musters, die Wahl des Musters als Mittel impliziert die Nutzung der Repetition. Die Abbildung 37 zeigt eine Form der mnemonischen Karte, die zwar mit Sicherheit nicht Thomas von Aquins Vorstellungen wiedergibt, sie jedoch für uns illustriert. Der Autor Thomas Bassett führt diese Kartenform als taktile und visuelle Hilfsmittel der Mythen- und Geschichtserzählung mancher Gesellschaften ein.369 Dem wäre die motorische und temporäre Komponente hinzuzufügen, da diese ‘Karten’ auch auf den lebendigen Körper in Form von Narbenzeichnungen aufgebracht werden.370 Die Rückenansicht der Holzfigur gibt den Verlauf des Migrationsweges der mythischen Vorfahren der Tabwa, eines Bantu-Volkes im Kongo, wieder. Das V-förmige Muster wird während eines Initiationsritus auf den Körper (auf Rücken und/oder Brust) aufgebracht. Die das V durchschneidende senkrechte Linie trennt Osten von Westen und Links von Rechts. Diese Trennung steht für eine grundsätzliche oppositionelle, 366 Assmann (1999) stellt demzufolge dem mnemotechnischen Verfahren des Speicherns den Prozeß des Erinnerns gegenüber. (S. 29) 367 Für eine vertiefende Zusammenführung dieser Aspekte muß auf die bereits zitierte Literatur verwiesen werden: Yates (1990), Assmann (1999), Assmann/Hardmeier (1983), Havelock (1990) 368 Giovanni di San Gimignano, Summa de exemplis ac similitudinibus rerum, Lib. VI, cap. xlii, zitiert nach: Yates (1990): S. 84. Yates schreibt, San Gimignanos Zitat der thomistischen Gedächtnisregeln sei das älteste (14. Jh.) bekannte. 369 Thomas J. Bassett: ‘Indigenous Mapmaking in Intertropical Africa’, in : Woodward (1998): S. 24–48 370 Die Publikation enthält eine Fotografie einer Tabwa-Frau, deren Rücken eine in der Linienführung identische Karte aufweist. Woodward (1998): S. 30 193 dichotomische Struktur. Die Linie selber verweist auf eine Nord-Süd-Ausrichtung der Migration der Tabwa, die sie für die Anlage ihrer Dörfer übernehmen.371 Diese Form der Kartierung erfüllt in besonderer Weise die Anforderung an eine Gedächtnishilfe. Die Ordnung ist eine geometrisch orientierte, die auf den dreidimensionalen Körper aufgebracht wird. Das Verharren bringt die Materialität dieser Karte mit sich: Die Narben bleiben lebenslang sichtbar, und der ‘Akt des Zeichnens’ selbst wird durch seine Ritualisierung zu einem zu Erinnernden. Die Bildvorstellungen nähren sich aus den Mythen und Sagen des Volkes, integrieren kosmische, geographische und religiöse Bilder. Die Wiederholung schließlich ist eine mehrfache: Die Ausgestaltung der Linien bildet eigene Muster, also Wiederholungen. Die Ritualisierung wiederholt den Vorgang des Musteraufbringens in der Zeit. Die erzählerische Wiederholung der Geschichten macht diese Karten zu Gedächtniskarten. Geometrie Die konkreten Verbindungen, die sich aus Fullers Beschäftigung mit der Vier- dimensionalität und den Tetraedern zum Muster und zum Textilen herstellen lassen, entstammen sehr unterschiedlichen Bereichen, ihr verbindendes Moment ist die Geometrie.372 Fullers Absicht, für die Dymaxion-Karte die sphärischen Daten der Erdkugel in die Fläche zu übertragen, orientierte sich an einem Großkreiskonzept der Projektion. Eine Form der Visualisierung dieser sphärischen Geometrie sind Flugbahnen moderner Flugzeuge. Die abstrakten Flugbahnen bilden Großkreismuster, die nicht nur Fuller inspirierten. Für ihn, der an Verlaufsformen und energetischen Strömungen interessiert war, stellten diese Großkreise „Verteilungsmuster von Energie“ dar und ihre Schnittpunkte „energetische Ereignisse“.373 Das entscheidende hierbei sei das Prozessuale, die Transformation, deren ‘patterns’ Fuller erforschen wollte. Das Muster wird hier als Mittel der Visualisierung dynamischer, komplexer Vorgänge genutzt. Auch der New Yorker Künstler John Tremblay nutzt das Muster in diesem Sinne, unter Berufung auf Fuller, Virilio und Albers. Die Form griechischer Labyrinthe, Pucci-Muster374, vor allem aber Flugbahnnotierungen inspirieren sein Werk. Die immateriellen Kreise sogenannter ‘airplane holding patterns’ oder die Zielflugbahnen von Raketen setzt er in Skulpturen oder betont flächige Muster um.375 Seine Rücklesung extrem bewegter Raummuster in zwei Dimensionen läßt diese Bewegungsdichte erst sichtbar werden. Die schon erwähnte tetraedische Geometrie Fullers könnte auch als Muster-Geo- metrie bezeichnet werden: „Er (Fuller, Anm. K.K.) sieht das Tetraeder nicht als Körper, sondern als ein Muster, das die Tendenz hat, aufzutauchen, sich auszubreiten, 371 Woodward (1998): S. 31 372 Es erscheint sinnvoll, den Abschnitt über die Geometrie der Karte zuzuordnen, geht es ihr doch vorrangig um Formen und ihre graphische Darstellung. Der Zahl ist ein eigenes Kapitel gewidmet. 373 Arch+ 116 (1993): S. 64 374 Die Arbeit von Emilio Pucci wurde bereits besprochen. Erwähnenswert ist in diesem Zusammen- hang, daß Pucci auch Pilot war und deshalb sowohl mit der Perspektive aus dem Flugzeug als auch mit den Flugbahnmustern vertraut war. 375 Wallpaper (2000): S. 67 194 wiederzukehren; er hat keine Problem zu sagen: ‘es tetraedert’.“376 Von seiner Arbeitsweise, der Suche nach Strukturen, und seinen Ideen inspiriert, entdeckten Chemiker in den 1980er Jahren Kohlenstoffmoleküle, die sie nach ihm benannten: die Buckminsterfullerene.377 Die dem Muster inhärente Dynamik wird noch thematisiert, an dieser Stelle galt das Augenmerk der innovativen Kraft des auftauchenden bzw. des wiederkehrenden Musters, wie Fuller oder die erwähnten Chemiker sie nutzten. Über den Begriff der Dimension geschieht abschließend die Rückbindung an das Thema dieses Kapitelabschnittes, die Karte. Die Karte wurde als Mittel der (Welt-) Ordnungserzeugung eingeführt, die den Raum ordnet, indem sie ihn zu einem Ort macht. Sie tut dies vermittels der Dimensionsreduktion. Die Reduktionsform läßt Rückschlüsse auf den Karten-Macher und seine Intention zu, ist als Schlüssel zur Interpretation einer Karte zu verstehen. Das Weltbild, die eingenommene Perspektive und damit verbunden das Verständnis von Geometrie spiegeln sich in den Karten wider. Die Entwicklung, die hierbei zu verfolgen ist, führt von ganzheitlichen, Raum und Zeit verbindenden Vorstellungen hin zu einer fragmentarischen, natur- wissenschaftlichen Sicht der Welt. Diese Entwicklung wird von einem ‘Bild des Gitters’378 begleitet: Die Perspektiven- gitter der Renaissancemaler bannten die Welt in einen Rahmen, Descartes faßte sie in ein Koordinatensystem. Die projektive und die cartesische Geometrie, die es erlaubte, Geometrie mittels Algebra zu betreiben, veränderten die Sicht auf die Welt grundlegend und führten zu einem naturwissenschaftlichen Weltbild. Wie gezeigt wurde, läßt sich die Idee des orthogonalen Gitters auf textile Techniken zurückführen, die Vermutung eines Zusammenhangs der Dominanz von naturwissenschaftlichem Weltbild und der Technik der Weberei wurde bereits ausgeführt. Das Einführen anderer Geometrien sowie die Suche nach den Ursprüngen der Geometrie diente dem Aufzeigen alternativer Modelle. Analog zu der Assoziationsreihe ‘rechter Winkel’ – Weberei – Zentralperspektive – geographische Längen- und Breitengrade – Koordinatensystem ließe sich eine andere aufbauen: 60°-Winkel – Flechten – Raumerzeugung – Dymaxion – variable Vernetzungen. Die Flexibilität und Variabilität der Netze bzw. der textilen Techniken eröffnen neue Wege, die sich die Architektur zunutze macht und die sich auch in neueren Forschungsbereichen, die im nächsten Abschnitt behandelt werden, auffinden lassen. Buckminster Fullers Architektur wurde bereits vorgestellt, er wählte das Tetraeder um das Koordinatensystem zu ersetzen.379 Virilios Beschäftigung mit der Labanotation weist in dieselbe Richtung: Der Raum soll nicht als Ort, der im kartesianischen System als Grundriß oder Schnitt festgehalten wird, sondern als Bewegung aufgefaßt werden. Die Beschäftigung mit den verschiedensten Karten hat gezeigt, daß Karten trans- formierte Wirklichkeit in zweidimensionaler Form wiedergeben. Die Karte stellt die komplexeste Form der zweidimensionalen Notationsformen dar, da sie die Integration anderer Notationsformen erlaubt und praktiziert. Louis Marin stellt aus diesem Grund 376 Arch+ 116 (1993): S. 64 377 Hargittai (1992): S. XV 378 Peat (1992): S. 29 379 Arch+ 116 (1993): S. 64 195 auch die Frage nach dem Umgang mit Karten, ob man sie lesend oder sehend wahrnehme. Um diese Frage zu beantworten, macht er aus der Karte zunächst einen Text, der mit der Metapher des Textilen greifbar gemacht werden soll. Hier ist es die kartographische Verbindung von Sprache und Bild, die ein Gewebe hervorbringt – eine beliebte Version der Gewebe-Metapher, die zwei Elemente als Kette und Schuß zusammenführt. Der Blick auf die Karten und auf die textilen Techniken hat jedoch einen anderen Zusammenhang als den von Marin erwähnten offenbart: das orthogonale System, das die Welt einem Gewebe gleich überzieht. In dieser Hinsicht erscheinen auch andere positive Wertungen des Mappings als kurzsichtig, bzw. fordern eine differenzierte Sicht auf die Karten. Die Hinwendung zum Raum als Ablösung vom Linearen ist positiv konnotiert und verbindet sich beispielsweise mit der Idee des Karten-Machens, des ‘Rhizom-Machens’, wie es von Deleuze/Guattari vorgeschlagen wird.380 Die Autoren beschreiben das Rhizom als Karte, deren Charakteristikum ihre Offenheit sei: „[...] sie kann in allen ihren Dimensionen verbunden, demontiert und umgekehrt werden, sie ist ständig modifizierbar.“381 Wie bereits erwähnt, verfolgen die Autoren diese Idee der unbegrenzten Dimensionsentfaltung auch in anderen Schriften und sprechen von Ebenen, Flächen, Karten und Plateaus und klagen hiermit die lineare Form des Buches an.382 Alle diese Begriffe verbinden sich jedoch mit dem Zweidimensionalen, ihre Modelle sind nicht in der Lage, rhizomatisch zu wuchern. Das Bild des Rhizoms hat sich trotzdem durchgesetzt und erfreut sich großer Beliebtheit. Wolfgang Welsch konstatiert die territoriale Geste, die historisch mit kartographischen Vorhaben einhergegangen sei, die aber heute aus Mangel an abgrenzbaren Territorien und Ländereien keine Gültigkeit mehr besitze.383 Die territoriale Metapher der Karte werde ersetzt durch das Gewebe, das Netz und das Rhizom.384 Wenn jedoch das Rhizom eine Karte ist und die Karte ein Gewebe, dann hat sich nichts geändert. Und das Netz gerät in eine metaphorische Beliebigkeit, die dem Textilen anzuhaften scheint. Da sich diese Arbeit unter anderem um eine präzisere Verwendung textiler Meta- phern bemüht, sollen hier einige Überlegungen angestellt werden. Für das Rhizom als Denkmodell eine Metapher zu suchen, ob im textilen oder einem anderen Bereich, erscheint nicht sinnvoll bzw. als eine unnötige Doppelung. Eine adäquate textile Entsprechung existiert nicht als etablierte Technik, als textiles Muster. Die Materialeigenschaften des Textilen würden jedoch eine Nachbildung eines Rhizoms erlauben, damit würde sich der Gehalt jedoch auf ein rein mimetisches Moment reduzieren. Im Zusammenhang mit der Geste des Kartierens läßt sich ein sehr viel weitergefaßter textiler Begriff, der des Schnittes, anwenden. Das Charakteristische der Karte, aber auch des Bildes, seit dem Mittelalter, ist ihre Begrenzung, das ausschnitthafte Sehen, der Verlust des Ganzheitlichen. Der Schnitt erscheint hier als ein Mittel der Reduktion. Im Text erfüllt er gleichermaßen die Aufgabe, einen leichteren Zugang zu schaffen. In der Geographie eröffnet er die Möglichkeit der 380 Cosgrove (1999): S. 5 381 Deleuze/Guattari (1977): S. 21 382 Deleuze/Guattari (1992): S. 19 383 Welsch (1995): S. 643, 942 384 Welsch (1995): S. 943 196 Mantelabwicklung. Ein ähnliches Abwickeln des Körpers ist die Grundidee von schnittechnischen Systemen des 19. Jahrhunderts. Dem voraus geht die Idee des Zuschnitts von Bekleidung.385 Das Schneiden erscheint hier als Voraussetzung zur Überführung eines Dreidimensionalen in ein Zweidimensionales. Mit der Wahr- nehmung dieser Reduktion als Verlust entsteht ein erneutes Verlangen nach Ganzheit. Aus dem Bereich der Kartierung seien ausblickend zwei letzte Beispiele genannt, die diesen Anspruch einzulösen versuchen. Cybergeographie Die verschiedenen Publikationen zum Mapping zeugen vom ‘spatial turn’ und sehen in der Karte das geeignete Medium für die Wende. Ähnlich den Hypertext- Vorstellungen soll das Mapping zu einer Möglichkeit werden, unterschiedlichste Räume zu betreten. „Der Kartenleser schlüpft in die vielschichtigen Identitäten, die wir potentiell in uns haben: Dem gleichen Raum gegenüber kann er mal zerstreuter Pendler, mal neugieriger Entdecker, mal Flaneur, mal Tourist, mal Stadtwanderer und mal ständiger Besucher sein.“386 Aber noch liest er eben die Karten, bedient sich eines zweidimensionalen Mediums. Ein noch junger Wissenschaftszweig, die Cybergeographie, untersucht den Cyberspace, beginnt, seine Begriffe zu definieren und Meßinstrumentarien zu entwickeln. Die begriffliche Durchdringung bzw. seine Konstitution durch Raummetaphern macht den Cyberspace zu einem Forschungsfeld der Geographie. Mit der Vermessung, als klassischer Aufgabe, wurde schon begonnen: Der ermittelte Durchmesser des WorldWideWeb beträgt 19 Klicks, es ist somit ein ‘small-world network’. Die zweite Aufgabe, deren praktischer Nutzen noch offen ist, ist nicht weniger klassisch: die Visualisierung des Netzes selber.387 Diese Karten zeigen die weltweite Verteilung des Internet seit dessen Beginn. Die letzte Karte aus dem Jahr 1997 zeigt, daß nur noch vereinzelte Länder (Somalia, Nord- Korea, Iran, Irak) nicht im Netz sind. Die neue Aufgabe sei nun, die ‘internet connectivity’ auf kleinerem Maßstab genauer zu untersuchen.388 Die Entwicklung dieser Wissenschaft und seine Nutzungsmöglichkeiten müssen zeigen, ob die begrifflichen Raumvorstellungen sich als ein theorien- und methodenbildendes Leitbild eignen und der Geographie als Chorologie bedürfen. Innerhalb der Geographie, als etablierte Wissenschaft der Erdvermessung und -be- schreibung, werden auch neue Wege beschritten und neue Medien genutzt, die die zweidimensionale Karte ablösen sollen. Ein im Jahr 2000 durchgeführtes, von der Presse vielbeachtetes Gemeinschaftsprojekt verschiedener Raumfahrtorganisationen dient der Erstellung einer dreidimensionalen Weltkarte von erhöhter Präzision. Die eingenommene Perspektive ist prinzipiell keine neue, die moderne Luftfahrt und die Filmkamera veränderten den wissenschaftlichen und kulturellen Blick im letzten Jahrhundert,389 der Gewinn liegt in der Datenmenge, die geliefert und verarbeitet wird. Die genaue Kenntnis der Welt ist nach wie vor also Ziel der Kartierung. 385 hierzu ausführlich: Kraft (2001) 386 Atlas Mapping (1997): S. 2 387 http://www.cybergeography.org; http://mappa.mundi.net; http://www.giub.uni-bonn.de 388 http://www.mappa.mundi.net/maps_011 389 Cosgrove (1999): S. 5 197 Besonders in ihrer militärischen Nutzung wird der Zweck solcher Karten, ihre territoriale Machtgeste noch einmal deutlich. Als dreidimensionale Karte macht sie die Erde virtuell erfahrbar, schließt jedoch die vierte Dimension aus, täuscht die Bewegung nur vor. Die Abbildung 38 zeigt eine gänzlich andere Form der dreidimensionalen Kartierung. Diese Holzschnitzerei aus dem 19. Jahrhundert wurde von den Ammassalik Eskimos, einer Gruppe grönländischer Inuit, angefertigt. Die Interpretation dieser unüblichen Karten ist vage und erklärt nicht ihre Dreidimensionalität.390 Die Zweigeteiltheit der Karte, das Küstenstück und die Inselreihe, ermöglichen die Darstellung der Bewegung, verdeutlichen die Sicht aus dem Schiff auf das Festland und die Inseln. Diese Manipulationsmöglichkeit und die Ausführung in Holz könnte dem Umstand Rechnung tragen, daß das Eis veränderlich ist, Eisberge sich bewegen, Fjorde von Eisschollen blockiert sein können. Dieser lange Blick auf die Karten, der fragmentarisch ist und sein muß, hat gezeigt, daß Karten der Darstellung von Raum zu bestimmten Zwecken dienen. Die Viel- fältigkeit des zu kartierenden Materials bedingt die Varietät der Karten, ihrer Materialität und Repräsentationsformen. Hieraus leitet sich gleichermaßen die Größe des nicht klar abgegrenzten Forschungsgebietes ab. Die gezeigten Beispiele beschränkten sich auf die Bedeutung des Musters und verweisen auf seine Indika- torfunktion. Die Verwendung von Mustern in der Darstellung von Raum zeugt von zwei unterschiedlichen Raumwahrnehmungen. Die eine soll hier als mehr- dimensionale Sicht charakterisiert werden: Sie versucht nicht nur den wahrge- nommenen dreidimensionalen Raum, sondern auch die Zeit, andere Räume (den Himmel, das Totenreich) und Ideen mitabzubilden. Dieses Abzubildende wird abstrahiert, z.T. geometrisiert und durch einen Repetitionsvorgang zum Muster gemacht. Die andere Sicht ordnet den Raum, indem sie eine Dimensionsreduktion vornimmt. Die Art der Rückführung zu identifizieren, die Perspektive des Kartenmachers zu erkennnen, dient der Interpretation einer Karte als Grundlage. Als Beschreibung der Erde, als geographische Karten, die die ‘naturgetreue’ Wiedergabe zum Ziel haben, bilden sie keine Muster ab (außer vielleicht in ihren Legenden, die Muster als visuelle Codierung nutzen), aber sie regen zur Erzeugung von Ordnung, zur Erzeugung von Mustern an. Das Anlegen eines Blumenbeetes und das Drehen von Pirouetten erscheint hier als ein vergleichsweise harmloser Eingriff in die Natur. Die Ausführungen haben jedoch gezeigt, daß neben dieser ästhetischen Nutzung auch immer eine herrschaftliche, dogmatische, unterwerfende möglich ist. David Gugerli und Daniel Speich zeigen am Beispiel der Schweiz, wie die Kartographie auch außerhalb feudalistischer Systeme instrumentalisiert wurde.391 Der Repräsentationsraum der kartographierten Schweiz diente der Identifikation und hierdurch der Bildung der Nation, der „Steigerung von Machtpotentialen des 390 Woodward (1998): S. 168. Diese Karte enthalte auch weniger offensichtliche Informationen, beispielsweise markiere sie Häuserruinen, die als Materialquelle dienen, und Kajaklandwege. 391 Gugerli/Speich (1999) beschreiben den Synergieeffekt der beiden Repräsentationsräume Landes- ausstellung und Karte in der Schweiz des 19. Jahrhunderts. „Im (kartographisch) ausgestellten Land der Landesausstellung entstand die Nation.“ (S. 73) 198 Nationalstaates.“392 Die von den Autoren und hier benannten Elemente sind über- tragbar, da sie die Grundbedingungen des Kartierens betreffen: die intentionale Homogenisierung eines Heterogenen. Das Muster, sein repetitiver Charakter, indiziert den Ordnungswillen und damit verbunden den Willen zur Macht. Das orthogonale Muster, das Gitternetz, das Koordinatensystem erscheinen hier ein weiteres Mal als ‘Meta-Muster’. Das Muster kann demnach beim Mapping als Indikator oder als Parameter für die Form der Aneignung der Natur (die Natur des Menschen eingeschlossen) durch den Menschen fungieren. Die Zahl Der letzte Abschnitt über die zweidimensionalen Notationsformen beschäftigt sich mit den Zahlen. Diese Stellung innerhalb der Gliederung erhielt die Zahl nicht aus historischen Gründen, sondern aufgrund ihrer vielfältigen Möglichkeiten, die sie unter anderem dazu befähigen, den Übergang von der zweidimensionalen Notation zum mehrdimensionalen Muster zu vollziehen. Dieser Übergang entspricht einer bestimmten Auffassung, was Mathematik ist. Devlin schreibt, die Mathematik sei bis etwa 500 v. Chr. eine Wissenschaft der Zahlen gewesen, seit etwa zwanzig Jahren sei sie eine Wissenschaft der Muster.393 Die folgenden Ausführungen zur Zahl sollen zum einen die Zahl als Notationsform beschreiben und kontextualisieren und zum anderen ihre Rolle innerhalb der ‘Muster-Mathematik’, die im nächsten Kapitel behandelt wird, veranlagen.394 Quantität und Qualität Der Astronom John D. Barrow geht bei Menschen – und auch einigen Tieren – von einem natürlichen Sinn für Zahlen aus, mit dem die An- oder Abwesenheit kleiner Mengen von Dingen erfaßt werden könne.395 Der menschliche Körper dient hierbei nachweislich als Hilfsmenge. Insbesondere die Hand ist für die Vorgänge des ‘Zuordnens’ und des ‘Bündelns’ und somit für die Vorbegriffe des Zählens und der Entwicklung des Dezimalsystems (Pentadaktylie) von zentraler Bedeutung.396 Kerbhölzer dienten dazu, das mit den Fingern gezählte (zugeordnete) zu fixieren, unterschiedliche Formen der Kerbungen verweisen auf die Bündelung des Gezählten. Die ältesten Artefakte, die rhythmische Äußerungen als vergleichend zählende Notation interpretieren, stammen aus dem 35. Jahrtausend v. Chr.397 Aus dem 9. 392 Gugerli/Speich (1999): S. 53. Siehe auch: http://www.tg.ethz.ch/Forschung/dufour/measuring_the_land.htm 393 Devlin (1998): S. 2f 394 Eine chronologische oder historische Darstellung der Zahl kann hier nicht geleistet werden. Die Literatur zu diesem Thema ist mehr als umfangreich. Die hier getroffene Auswahl ist von der Argumentation und nicht von dem Ziel einer umfassenden Darstellung geleitet. 395 Barrow (1993): S. 19 396 Wehr/Weinmann (1999): S. 258–266 397 Barrow (1993): S. 22 und Devlin (1998): S. 13; Leroi-Gourhan (1988) bezweifelt diese Interpretation einer Art Buchführung der Jäger und betont die Rhythmik dieser Äußerungen. (S. 238) Begreift man diese Einkerbungen als „optisch sichtbare Darstellungen“ der Gedanken ohne sie zu interpretieren, finden sich 400000 Jahre alte Knochenartefakte. (Abbildung und Bericht in: FAZ 12. Juli 2000, Nr. 159, N2, Friedemann Schrenk: „Europa von den Hominiden in Schüben besiedelt“) 199 Jahrtausend v. Chr. ist der sogenannten ‘Ishongo-Knochen’ erhalten geblieben, der in einer Art Strichcode ein Kalender- oder Numerierungssystem wiedergibt.398 Einen weiteren Schritt zu einem abstrakten Zahlenbegriff belegen die von der Anthropologin Denise Schmandt-Besserat untersuchten Ton-Artefakte aus dem Nahen Osten aus dem 8. Jahrtausend v. Chr.399 Diese kleinen Tonformen repräsen- tieren die jeweils zu zählenden Objekte und dienen der Aufzeichung des Besitztums, der Planung und dem Tauschhandel. Die zunehmend komplexer werdende Gesellschaftsstruktur habe nach einer langen Nutzung dieser Form der ‘Buchführung’ (ca. 3000 Jahre) eine neue Zählform erforderlich gemacht. Eine dieser Formen wurde bereits im ersten Kapitel erwähnt: das Lochen und Auffädeln der Objekte. Das Zählen und auch das Rechnen würden hierdurch zu einer Form des Sammelns von Zerstreutem.400 Die zweite Zählform nutzt für die Aufbewahrung der Tonformen Tonbehälter, auf denen außen ihre Anzahl vermerkt wurde.401 Die Redundanz dieser Zählform zu erkennen und abzuschaffen dauerte lange und markiert die Erkenntnisleistung, die zu einem Verständnis der Zahl als abstraktem Objekt führte. Erst die Ära der griechischen Mathematik (ab ca. 600 v. Chr.) brachte einen allgemeinen Zahlbegriff und die Arithmetik hervor und machen die Mathematik zu einer Wissenschaft der Zahlen.402 Der Ausspruch „Alles ist Zahl“403 verdeckt in seiner sloganhaften Griffigkeit, daß der Zahlbegriff, der unser westliches Denken bestimmt, nicht auf die Pythagoreer zurückzuführen ist. Die Gewißheit der Mathematik, durch die Zahl das Instrument der Wahrheitsfindung entdeckt zu haben und das logische Instrumentarium bereitzuhalten, verdankt sie Aristoteles, dem „Kategorientheoretiker aus Stagira“, dem die pythagoreische Zahlentheorie ein Ärgernis war.404 In der Folge, Barrow ruft vor allem den Platonismus in der Mathematik auf, wird die Zahl zu einem universalen Mittel der Übersetzung des „Tatsächlichen in das Numerische“.405 In dieser Übersetzungsfunktion läßt sich die Zahl als Notationsform im oben definierten Sinne begreifen: Die Voraussetzung der Notation ist die Wiederholbarkeit. Diese Eigenschaft läßt sich in der Entwicklung des Zählens materialiter, in Form von Tonformen in einem Tonbehälter, nachvollziehen. Dem voraus mußte ein Akt der Abstraktion und des Vergleichs gehen: das Erkennen der zu zählenden Einheiten (z.B. Schafe und Lämmer) und die jeweilige Zuordnung zu einer 398 Zaslavsky (1973): S. 18f; Barrow (1993): S. 23f 399 Schmandt-Besserat (1978) interpretiert die von ihr untersuchten Ton-Artefakte als Vorläufer der Schrift. Dem widersprechen verschiedene neuere Publikationen, die sich mit der Entwicklung der Schrift (Haarmann 1990: S. 160) und den Ursprüngen der Zahlen (Devlin 1998: S. 13) beschäftigen. Ich schließe mich dieser Beurteilung an und führe deshalb Schmandt-Besserats Aufsatz im Zusammenhang mit den Zahlen und nicht im ersten Kapitel über die Schrift an. 400 Sommer (1999): S. 356 401 Barrow (1993) beschreibt einen solchen Ausgrabungsfund aus dem heutigen Irak: Die Markierung habe 21 Mutterschafe, sechs weibliche Lämmer, acht ausgewachsene Widder und vier männliche Lämmer ausgewiesen. Der Behälter enthielt 48 Tonkugeln. (S. 21f) 402 Devlin (1998): S. 15–17 403 hier als Zitat von: Davis/Hersh (1985): S. 98 404 Castella (1996): S. 92f. „Tertium non datur, Aristoteles eliminiert jeglichen Anspruch objektiver Relevanz aus der Dialektik, den Platon ihr noch beimißt, und der bei den Pythagoräern als Dualismus Prinzip ist. Dort ist das Eins nicht nur die Simultaneität von Unbegrenztem (apeiron) und Begrenztem (peperasmenon), ist Zahl, Ding, Begriff, Prinzip zugleich, der Pythagoräismus kennt darüberhinaus eine Vielzahl an Einsen, die er unterscheidet und also (gleiche) Quantitäten (verschieden) qualifiziert [...].“ 405 Barrow (1994): S. 11 200 bestimmten Tonform (Tonkugeln und -kegel). Die Notation auf dem Behälter stellt die abstrahierende Verkürzung und die Reduktion auf zwei Dimensionen dar. Die Standardisierung und die Schaffung von Bezugssystemen hat zu unterschiedlichen Zahlensymbolen und -systemen geführt.406 Und letztlich begann hiermit das Ausheben eines tiefen semantischen Grabens, dessen „Zugbrücke außer Betrieb“ ist.407 Die Herausbildung einer Fachsprache und einer eigenen Notation habe dazu geführt, daß die Mathematik sich den meisten Menschen verschließe.408 In der Folge bedeutet dies auch eine scharfe Trennung zwischen den Disziplinen. Enzensbergers Bild der Zugbrücke verweist auf einen Schuldigen, auf die Einseitigkeit des Mechanismus. Krämer hingegen sieht die Zahl als die Ausgegrenzte an. Die Zahl als ein Modus der Symbolisierung sei dem Medienmaterialismus, der sich ausschließlich mit der Sprache beschäftige, zum Opfer gefallen. Die gesamten Geisteswissenschaften seien durch eine Präokkupation der Sprache beherrscht und beschäftigten sich mit der Schrift als einer Transkribierung der Rede.409 Sogenannte formale Sprachen müssen sich jedoch einer operativen Schrift bedienen, die die Darstellung und das symbolische Operieren mit Gegenständen erlaubt. Die Notation besteht also aus zwei Elementen: der Zahl und den Symbolen für Operationen.410 Durch die Einführung von Symbolen ist die Zahl „[...] nicht länger Anzahl von etwas, sondern wird zum Referenzgegenstand eines Zeichenausdruckes [...]“.411 Es werden in der Folge Regeln aufgestellt, die die lineare Aufzeichnung festlegen und das Rechnen zu einem „[...] regelgeleiteten Akt schriftlicher Zeichenmanipulation [...]“ macht.412 Aus dem (Er-)Zählen wird ein zunehmend sprachloser Code für Spezialisten. George Steiner beklagt diesen ‘Rückzug aus dem Wort’, der mit der Verbreitung der mathematischen Wissenschaften und ihrer zu- nehmenden Unübersetzbarkeit einhergehe.413 Das Wort ‘Zahl’ trägt etymologisch in sich die Bedeutung von Aufzählung, Bericht, Rede. Die indogermanische Wurzel verweist auf das Einkerben als Zählhilfe.414 Andere Formen mnemotechnischer Verfahren wurden bereits angesprochen: das Auffädeln und das Knoten. ‘Geknotete Fäden’ dienten verschiedenen Arten von Buchführung, die die Mengen aufzeichnen und dadurch wieder-holbar machen (z.B. als Schuldzeugnis).415 Eine andere Form der Verbindung von Sprache/Buchstabenschrift und Zahl ist die Zahlenmystik oder -magie. Die Gematria ist eine Form der Zahlenmystik, die auf einer Zuordnung von Zahlenwerten zu 406 Barrow (1993) beschreibt die Entwicklung der Zahlsysteme und begründet die Durchsetzung der ‘indisch-arabischen’ Ziffern mit ihrer Erfindung der Null und des Stellenwertsystems. (S. 38f) 407 Hans Magnus Enzensberger beschreibt in einem Artikel mit diesem Titel das Verhältnis von Nicht- Mathematikern zur Mathematik. FAZ, 29. August 1998, Nr. 200, I 408 ebd. 409 Krämer (1994): S. 90f. 410 Stewart (1998): S. 48f. 411 Krämer (1994): S. 95 412 Krämer (1994): S. 96 413 Steiner (1973): S. 56 414 Kluge (1995) leitet über das Lateinische ‘dolare’ für ‘behauen, einkerben’ her. Vgl. auch: Duden (1963): s.v. ‘Zahl’ 415 Zaslavsky (1973): S. 94 201 Buchstaben der klassischen Alphabete beruht.416 Die Zahlen sollten hier verborgene Bedeutungen aufdecken und zu mystischen Erkenntnissen führen. Auch die Musik und die Gewebe mit ihren zählbaren Einheiten bieten die Möglichkeit, Zahlenmagie zu betreiben, bzw. dem Schöpfenden eine Beschäftigung mit ihr nachweisen zu wollen.417 Die Aufklärung wiederum nutzte die Zahl für ihre Zwecke, die der Mystifizierung entgegenstanden. Die Möglichkeit der Quantifizierung und Berechenbarkeit habe die Mathematik zur Grundwissenschaft der Aufklärung gemacht.418 Das ‘Vernünftige’ haftet der Zahl nach wie vor an und wird zunehmend instru- mentalisiert. Hierfür wird die Zahl scheinbar darauf reduziert, eine Anzahl anzu- zeigen. Die Quantifizierbarkeit von Mengen durch Zahlen suggeriert eine Objektivität, die das Wort nie erreichen kann. Die Zahl erscheint zum einen nüchtern und neutral und zum anderen ist sie für den Nicht-Mathematiker von einer wissenschaftlichen Unantastbarkeitsaura umgeben. Um dem Laien nun trotzdem die Information nahezubringen, wurden zahlreiche Formen der Visualisierung von Zahlen und Tabellen erfunden. Die Größe von Kuchenstücken zu taxieren, wurde von frühester Kindheit an geübt und die Frage nach dem ‘woher’ und ‘weshalb’ eines Kuchens nicht veranlagt. Auf diese Art und Weise erhält die Welt eine ‘scheinkonkrete Handlichkeit’419 und eine nicht in Frage zu stellende Wahrhaftigkeit. Nicht immer muß die Manipulation so bewußt eingesetzt und negativ beurteilt werden. Der zweifache Übersetzungsmodus (das Zählen und die Darstellung als Zahl, sowie die Visualisierung) bietet sich jedoch mit seinen Verschleierungsmöglichkeiten an. Die graphische Visualisierung von Zahlen entfernt das Dargestellte von der Wirklichkeit. Das Mapping in der Mathematik bezeichnet ein Denken in Variablen und Funktionen (functional thinking). Das allgegenwärtige Koordinatensystem zeigt diese Form der Übersetzung am anschaulichsten: Eine mathematische Funktion ist eine Zuordnungsvorschrift.420 Das Übertragen der Wirklichkeit in das Immaterielle, das Zweidimensionale (in Computergraphiken auch perspektivisch dreidimensional), verändert den Umgang mit der Wirklichkeit. Das Notieren wirkt sich auf das zu Notierende aus. Der Verlauf einer Linie, was auch immer sie repräsentiert, gefällt nicht oder die Ergebnisse lassen keine Regel erkennen. D.h. die Repräsentationsform ist nicht in der Lage, das erwartete Ergebnis zu zeigen. Es gibt nun verschiedene Möglichkeiten des Umgangs mit einem ‘häßlichen’ Ergebnis: Man sucht eine andere Repräsentationsform, man akzeptiert die Form, oder im schlimmsten Fall manipuliert man das Ergebnis. Hierbei spielt die Schönheit von Theorien eine große Rolle, wobei 416 Davis/Hersch (1985): S. 99. Der Begriff ‘Gematria’ leitet sich von ‘Geometrie’ ab. Ein Beispiel ist die Zahl 99, die sich häufig unter griechischen Bibeltexten für ‘Amen’ (1+40+8+50=99) findet. 417 Schleuning (1993) diskutiert in einem Exkurs über die Zahlensymbolik bei Joh. Sebastian Bach die verschiedenen Zahlen-Analysen, die an seinem Werk vorgenommen wurden. (S. 59f.) Barber (1994) beschreibt einen gewebten Gürtel aus der Bronzezeit, dessen Kettfadenanzahl und die Bündelung der Fäden auf das Runenalphabet mit 24 Buchstaben in drei mal acht Gruppen hinweise. (S. 159f.) 418 Welsch (1995): S. 78 419 Uwe Pörksen schreibt: „Die Ansicht ist Sicht geworden. Das Eigentümlichste an den ‘Synbildern’ ist ihr Status. Sie gehen auf in dem, was sie sagen sollen. Es fehlt der Abstand. Durchkalkuliert, errechnet, kommen sie unserer einfältigen Sinnenwelt freundlich entgegen.“ In: „Zahl ist Macht“, in: FAZ 23. Oktober 1993, Nr. 247 420 Hagen (1986): S. 22 202 sich diese Schönheit weniger auf die graphische Äußerungsform bezieht. Die Eleganz von Theorien, die in einer vom Menschen geschaffenen Sprache zutage tritt, als Wahrheitsbeweis von analysierten Naturvorgängen, erscheint nicht minder zweifelhaft. Der Einfluß ästhetischer Kriterien auf wissenschaftliches Handeln wurde bereits im Zusammenhang mit dem Symmetriebegriff thematisiert, nun geht es um die graphischen Äußerungen, die für den Laien leichter verständlich sind und deren ästhetischen Wert auch er zu erkennen vermag. Hierfür werden zwei Visualisierungen vorgestellt: die Musiknotation und die computergenerierten Bilder mathematischer Objekte. Die enge Verbindung von Mathematik und Musik, die sich u.a. häufig in Doppelbegabungen zeigt, beruht auf den die Musik konstituierenden Tonrelationen, die Zahlenverhältnissen entsprechen. Devlin führt weitere Ähnlichkeiten an: Beide verwenden eine abstrakte Notation und gehorchen strengen strukturellen Regeln. Der maßgebliche Unterschied sei jedoch, daß der Mensch kein Sinnesorgan besitze, um Mathematik ‘wahrnehmen’ zu können. Jeder könne hingegen Musik hören, auch wenn er nicht in der Lage ist, vom Blatt zu lesen. In einigen Teilen der Mathematik sind nun Methoden der Visualisierung entwickelt worden, die dem Laien optische ‘mathematische Symphonien’ vorführen.421 Im folgenden sollen nun die Visualisierungen von Noten und Zahlen betrachtet werden. Hierbei steht das musterbildende Moment als Folge der Notierung im Vordergrund. Musiknotationen „Das Element der Musik ist die Zeit ‘sie erklingt in der Zeit, verklingt aber zugleich und hat keinen Bestand’; die Musik gewinnt nur im Augenblick ihres Vollzugs Wirklichkeit, existiert also nur dadurch, daß sie ‘fort und fort wiederholt wird’.“422 Das Notieren von Musik ist kein Ersatz für ihr Erklingen, aber es steht in dienender Funktion zur Wiederholung.423 Darüber hinaus wirkt das Notieren auf das zu Notierende zurück. Eine sehr allgemeine Definition faßt die Musiknotation als eine visuelle Analogie musikalischer Töne, die als Gedächtnisstütze und als Kommunikationsmittel diene.424 Musikschriften seien ausschließlich in der Folge von Schriften, die die Sprache wiedergeben, entstanden und übernehmen u.a. Buchstaben und die Schreibrichtung der jeweiligen Schrift.425 Der Auffassung der Musik als Text entspricht auch die Bezeichnung der wissenschaftlichen Disziplin, die sich mit dieser Schriftform beschäftigt: die musikalische Paläographie.426 Was zunächst als ‘aide-memoire’ gedacht war, zeigte sich in der Lage, musikalische Abläufe anschaulich zu machen.427 421 Devlin (1998): S. 4–7 422 Guarda (1980): S. 72. Guarda zitiert aus Kierkegaards ‘Entweder – Oder II’. 423 Guarda (1980) merkt an, daß Adorno die emanzipatorische Bedeutung der Notenschrift für die Musik konstatiert habe und Kierkegaard scheinbar diesen Einwand ahnend formulierte, daß die Musik nur im uneigentlichen Sinne vorhanden sei, wenn sie gelesen wird. (S. 170) 424 The New Grove Dictionary of Music and Musicians (1980), Bd. 13, s.v. ‘Notation’, S. 333 425 The New Grove Dictionary of Music and Musicians (1980): S. 334, 336, 341 426 Schnürl (1996): S. 93 427 Interssanterweise werden die Anfänge der Melodieschriften als Aufzeichnung der Handbewegungen des Kantors, der den Sängern den Verlauf der Melodie anzeigte, gedeutet. D.h. die räumliche 203 Durch diese Darstellung war die Voraussetzung „für die Entfaltung einer kunstvollen Mehrstimmigkeit und großer musikalischer Formen“ und somit der abendländischen Musik geschaffen.428 Das Bestreben, das Notierte zu gestalten, zu ästhetisieren, sei eine Folge des Notierens. Schnürl beschreibt in seinem Aufsatz diverse Formen der Noten- und Notenbildgestaltung bis hin zur Verwendung von Zeichen der Notenschrift als universelle Symbole für Musik.429 Ähnlich der konkreten Poesie werden beispielsweise die Notenlinien eines Liebesliedes in Herzform aufgezeichnet oder in Form eines Fisches für ‘Fisches Nachtgesang’. Diese ‘ornamentale Gestaltung’430 trägt keine zusätzliche Information in sich, sondern erscheint als performative Geste, deren dekoratives Moment meist zugunsten der Lesbarkeit geht. Die Bedeutung der Muster – im Gegensatz zum Ornament – ist für die Musiknotation sehr viel größer. Die Begriffe der Repetition, des Rhythmus, der Dimension und der Symmetrie sind eng mit der Musik und ihrer Notation verbunden, sie bilden in unterschiedlicher Gewichtung die Basis der folgenden Überlegungen. Der Übersetzungsmodus, der Musik schreibbar macht, wurde schon angesprochen, die Übernahme der Schriftrichtung gleichermaßen. Die Musik erfährt also wie die Schrift eine Linearisierung und Dimensionsreduktion. Die graphische Ähnlichkeit des orthogonalen Notenliniensystems mit dem Koordinatensystem verweist ein weiteres Mal auf den glatten und gekerbten Raum Deleuze/Guattaris.431 Der metrische, gekerbte Zeit-Raum sei zählbar, der glatte Raum ermögliche die Entfernung und Setzung von Schnitten nach freiem Ermessen.432 Auf die verschiedenen Versuche zeitgenössischer Komponisten, den ‘gekerbten Raum’ zu verlassen und „hinweisende Notationen“ zu entwickeln oder das Bezugssystem gänzlich wegfallen zu lassen, kann hier nur hingewiesen werden.433 Der Refrain, der wiederkehrende Reim, ist wahrscheinlich die bekannteste Art der Verwendung der Repetition in der Musik. Als Eigenschaft der musikalischen Symmetrie ist sie weniger geläufig. Die Musikwissenschaftlerin Dana Wilson schreibt, daß die Symmetrie in der abendländischen Musik eine sehr große Rolle spielt: Der Akt des Komponierens läßt sich durch symmetrische Operationen von Basismustern beschreiben.434 Anhand von Beispielen zeigt die Autorin Translations-, Reflektions- und Rotationssymmetrien in ‘melodischem Material’. Die Wiederkehr Konnotation der Höhen und Tiefen von Tönen hat sich zunächst in der Bewegung verwirklicht. Vgl. Schnürl (1996): S. 93, Anm. 2 428 Schnürl (1996): S 93 429 Schnürl (1996): S. 101–111. Schnürl bezeichnet die Verwendung von Notenzeichen außerhalb ihrer eigentlichen Bestimmung als Meta- oder Paranotationen. 430 Diesen Ausdruck verwendet Schnürl (1996) für die meist gegenständlichen Formen der Notenbilder. (S. 96) Die vokale Ornamentik ist ansonsten in der Musik als Besonderheit der Barockmusik definiert, die als Kürzel die Verzierungen wiedergeben. Vgl. The New Grove Dictionary of Music and Musicians (1980), Bd. 13, s.v. ‘Ornamentation’ 431 Dem Musiktheoretiker Guido von Arezzo (ca. 992-1050) wird die Festlegung der Tonorte durch die Schaffung von Notenlinien und somit des entscheidenden Bezugssystems zugeschrieben. Vgl. Lug (1983): S. 249 432 Deleuze/Guattari (1992): S. 496. Die Autoren zitieren für ihre Ausführungen den Komponisten Pierre Boulez. 433 Arch+ 117 (1993): S. 30–33. Auf diesen Seiten werden Notationen von Klaus Hashagen (hinweisende Notation), Iannis Xenakis (Klangverläufe ohne Bezugssystem) und John Cage abgebildet und kurz kommentiert. 434 Wilson (1986): S. 101 204 (Repetition) einer Melodie (Muster) entspricht beispielsweise den Regeln der Translationssymmetrie. Für Johann Sebastian Bach haben Symmetrien als Strukturierungshilfen gedient, besonders Spiegelsymmetrien lassen sich häufig auffinden.435 Die verschiedenen Formen des Kanons und der Fuge weisen zahlreiche Symmetrien auf.436 „Die von [Bach] angewandte Form beruhte auf Beziehungen zwischen verschiedenen Teilen. Diese erstrecken sich von der vollständigen Identität von Passagen auf der einen Seite bis zur Rückkehr zu einem einzigen Ausarbeitungsprinzip oder bloßer thematischer Anspielungen auf der anderen. Die so entstandenen Muster waren oft symmetrisch, aber keineswegs immer. Mitunter bilden die Beziehungen zwischen den verschiedenen Themen ein Labyrinth miteinander verflochtener Fäden, das nur durch detaillierte Analyse entwirrt werden kann.“437 Die Abbildung 39 illustriert die Reflektions- und die Translationssymmetrie anhand der Prelüden von Debussy. Ein formalisierter Umgang mit Musik erlaubt nun, die Begriffe der Symmetrie, der Repetition und des Rhythmus zusammenzuführen. Rhythmus sei eine Folge re- gelmäßiger, wiederholter Intervalle, die symmetrische Muster bilden, so der allge- meine Konsens.438 Donnini widerspricht dem und differenziert zwischen Rhythmus und Symmetrie, analog der im Kapitel über die Strukturelemente des Musters explizierten Differenz von Rhythmus und Repetition. Rhythmus sei ein kreativer Akt, Symmetrie ein formales Ergebnis. Es seien die Abweichungen und Variationen, die den Rhythmus und damit die Musik konstituieren.439 Diese Differenzen werden uns im nächsten Kapitel beschäftigen. An dieser Stelle ging es in erster Linie um die Wahrnehmung von Mustern und Symmetrien in Musiknotationen, die wiederum Auswirkungen auf das Komponieren hat. Die Abbildung 40 zeigt abschließend eine andere Form der Visualisierung von Musik, der Donnini die Überlegung anfügt, ob die symmetrischen Frequenzmuster ein Hinweis auf die symmetrische Seele der Musik seien.440 Die bunte Welt der Zahlen Von Benoît Mandelbrot, dem ‘Erfinder’ der Fraktale, wird berichtet, daß er sich mathematische Probleme in Bilder übersetze.441 Dieser Hang zum Visuellen brachte Bilder hervor, deren Schönheit auch Nicht-Mathematiker begeistert. Als Julia- Mengen und Apfelmännchen populär geworden, haben diese Bilder Wieder- erkennungseffekt und gleichermaßen eine Inflation des Begriffs des Fraktalen und der Chaosforschung als Forschungsgebiet mit sich gebracht.442 Es wird hier nicht darum gehen, eine weitere Darstellung abzuliefern oder die Begriffe zu vereinnahmen, 435 Schleuning (1993): S. 54. Die Verwendung von horizontalen (Thema) und vertikalen (Satzfolge) Spiegelachsen habe der symbolischen Darstellung des Kreuzes gedient. 436 Hofstadter (1985) stellt u.a. über den Krebskanon, bei dem das Thema entsprechend der Fortbewegung des Krebses rückläufig gespielt wird (S. 9), eine Verbindung von Bach zu Eschers Werk her. Bach verwendet den Krebskanon in seinem ‘Musikalischen Opfer’ und Escher zeichnet einen Krebskanon. (Eine Abbildung findet sich bei Hofstadter auf S. 216) 437 Hans Th. Davis/Arthur Mendel: The Bach Reader, New York 1966, S. 40. Zitiert nach: Hofstadter (1985): S. 31 438 Donnini (1986): S. 448 439 Donnini (1986): S. 448 440 Donnini (1986): S. 463 441 Briggs/Peat (1995): S. 128 442 Bredekamp (1991): S. 278f 205 sondern die Visualisierung von Zahlen zu zeigen und nach ihrer Bedeutung zu befragen. Die Erzeugung von Bildern der fraktalen Geometrie kann nur mit Hilfe eines Computers geschehen. Mandelbrot iterierte einen einfachen algebraischen Ausdruck auf dem Computer und „schickte ihn auf eine Reise in jene unendliche zwei- dimensionale Mannigfaltigkeit von Zahlen, die man komplexe Ebene nennt.“443 Durch ein Programm wird nun festgelegt, mit welcher Farbe oder Schattierung die Ergebnisse – das Verhalten der Zahlen nach x Iterationen – sichtbar gemacht werden.444 Die Abbildung 41 zeigt, daß die ‘interessanten Orte’ eines solchen Apfel- männchens die Übergänge sind, die hier jeweils vergrößert werden, sie liegen zwischen den stabilen Zahlenmengen und weisen die für Fraktale charakteristische Selbstähnlichkeit auf. Der Nutzen fraktaler Bilder liegt in der Darstellung von Prozessen, deshalb ist die Bezeichnung ‘nicht-lineare Dynamik’ auch sehr viel ge- nauer, wenn auch weniger publikumswirksam als ‘Chaosforschung’. Das Chaos als eine verschlüsselte Form der Ordnung begreifend, machen sich die Wissenschaftler auf die Suche nach Mustern.445 Daß diese quantitativen Muster einen hohen Informationsgehalt in sich tragen und dynamische Prozesse abbilden, wird das nächste Kapitel zeigen. Der Hinweis auf dieses Forschungsgebiet sollte die Möglichkeit der Visualisierung von Zahlen und die Wirksamkeit zweidimensionaler Medien aufzeigen. Die Ähnlichkeit natürlicher Bilder und Muster mit den computergenerierten legitimierte die Forschung und machte ein Anwendungsgebiet offensichtlich. Die fraktale Geometrie kann der Beschreibung natürlicher Muster und der Beschreibung und Generierung ‘künstlicher’ Muster dienen. Für das textile Muster, als ein zweidimensionales Flächenmuster, wurden Anwendungsmöglichkeiten Iterierter Funktionensysteme (IFS) bereits untersucht.446 Hierbei ging es den Wissenschaftlern zum einen um die Datenkompression und zum anderen um die Möglichkeiten der digitalen Bildverarbeitung bei der Mustergenerierung und -erkennung, zwecks Beschreibung „realer textiler Oberflächen“ mit Hilfe einer „mathematischen Codierung“.447 Die Konstruktion der Fläche bleibt bei diesem Ansatz unberücksichtigt. Es war vor allem die Schönheit der Bilder – die als zweidimensionale Bilder in Aus- stellungen präsentiert wurden –, die Laien und Forscher überzeugte. Die Ver- öffentlichung der Formel ‘Z2 + C’ mit der Iterationsvorschrift hätte wohl kaum einen vergleichbaren Erfolg erzielt. Der Ordnung im Chaos wird also qua Schönheitsbeweis Sinn zugeschrieben. Jede Zeit und auch jede Wissenschaft besitzt ihr eigenes Schönheitsideal, wie die Mode auch. Der ästhethischen Qualität von Theorien 443 Briggs/Peat (1995): S. 139 444 Briggs/Peat (1995): S. 141f 445 Stewart (1998): S. 147 446 Textil-Praxis International (1992). Die fünfteilige Artikelserie führt die mathematischen Grundlagen und die Anwendungsmöglichkeiten der fraktalen Geometrie für das Textildesign ein und stellt das Iterierte Funktionensystem (IFS) vor. 447 Textil-Praxis International (1992): S. 743 206 Bedeutung beizumessen oder nicht, scheint gleichermaßen den Launen der Mode unterworfen.448 An dieser Stelle ist zweierlei festzuhalten: Das als schön wahrgenommene Muster und vor allem seine Regelmäßigkeit können der Theoriebildung als Grundlage dienen. Die Konstruktivität dieser Schönheit resultiert, wie gezeigt wurde, aus einem – z.T. mehrfachen – Übersetzungsmodus. Demnach entsteht die Schönheit aus einer Sprache heraus, die der Mensch geschaffen hat. Die Grenzen und Möglichkeiten dieser mathematischen Sprache beschreibt der Physiker und Wissenschaftspublizist David F. Peat in einem Aufsatz über Mathematik und die Sprache der Natur. Einerseits sei die Mathematik, ihre Zahlen und Symbole, sehr viel weniger als eine natürliche Sprache, da es ihr an Reichtum und Nuancierungsmöglichkeiten fehle. Andererseits habe sie der Sprache viel voraus, indem sie ‘a particular kind of visual and sensory motor thinking’ in sich trage. Dieses non-verbale Denken sei auf eine Art tiefer und primitiver als die natürliche Sprache und zeuge von einer prä-linguistischen mentalen Aktivität.449 Um diese Tiefen wird es im nächsten Kapitel gehen. Die Darstellung des Textes, des Bildes, der Karte, der Zahl und ihrer verschiedenen Transformationen als zweidimensionale Mittel zur Herstellung von Wirklichkeit hat gezeigt, daß die Funktionalisierung des Musters äußerst vielfältig ist. Diese Vielfalt benenne ich noch einmal zusammenfassend: Die mnemotechnische Funktion äußert sich in der rituellen Wiederholung, die Assmann als Fundament der Kultur erkennt, und generell in der Verwendung von Mustern als Mittel des Memorierens. Das Muster ist zum einen Motiv der Kunst und zum anderen Mittel der kunsthistorischen Identifikation. Nicht nur in bezug auf Texte liefert das Muster eine ordnungsstiftende Instanz der Codebildung. Das geometrische und rhythmisierende Moment des Musters dient, wie am Beispiel der Kartographie gezeigt wurde, der Anverwandlung von Welt. In bezug auf den menschlichen Körper werden diese Momente zu seiner Disziplinierung und Segmentierung genutzt. Die in der Darstellung zutage getretene Dominanz des Zweidimensionalen läßt sich gleichermaßen als ein besonders geeignetes Mittel der Weltaneignung interpretieren. Die Erkenntnis des Musters und seine instrumentalisierte (Re-)Produktion in der Fläche gehen eine Allianz ein, schaffen eine Handhabbarkeit der Welt, die vor allem hegemonialen Zielen dient. 2,5-d ‘Neue Medien’ Die Simulation des Raumes, der Dreidimensionalität, ist mit Hilfe der sogenannten ‘Neuen Medien’ perfektioniert worden. Hypertext, Digitalisierung der Bilder, Cybergeographie und nicht-lineare mathematische Systeme gehören dem Computerzeitalter an und deuten auf ein Verlassen der Fläche hin. Wie gezeigt werden konnte, sind die Strukturen der neuen Medien noch weitestgehend den ‘alten’ 448 Hinweise zur Bedeutung der Schönheit der Theorien enthält das Kapitel ‘Die strukturelle Dimension des Musters’. 449 Peat (1990) 207 Medien verhaftet. Diese Form des Übergangs wird hier durch eine reflektierende Zusammenführung in einem ’fraktalen’ Kapitel gekennzeichnet. Die Rekonstruktion dreidimensionaler Welten (Cyberspace) beruht auf Berech- nungsvorgängen und Perspektivgesetzen, die die physiologischen Vorgänge des Auges nicht identisch reproduzieren können.450 Der Eintritt in diese ‘zu perfekte’ (im Sinne einer berechneten Idealisierung) Welt bedarf der Vermittlung, die gleichzeitig eine Distanzierung bewirkt. Zur Zeit erfolgt das Betreten des Cyberspace vermittels einer zweiten Haut, also Textilien. Die Verräumlichung des Textes, das Verlassen der Fläche soll vermittels des Hypertext erreicht werden. Der Hypertext zeigte sich jedoch in seiner gegenwärtigen Verfassung für den Benutzer als wenig interaktiv und den Strukturen des Buches stark angepaßt. Besonders die Cybergeographie macht die Denkstrukturen, die Sichtweise auf die Welt deutlich erkennbar. Als Ortsungebundenes und Immaterielles erfährt es eine wissenschaftliche und visuelle Rückbindung an die reale Welt, bzw. an die geographischen Karten, die auch schon eine vermittelte Weltsicht darstellen. Aleida Assmann beschreibt die Folgen des Einsatzes der neuen Medien in bezug auf das kulturelle Gedächtnis. Die Zeitanfälligkeiten (in technologischer und materieller Hinsicht) vieler Medien führe zu einer ‘Transmigration der Daten’. „Das Modell eines materiellen Fortbestehens weicht dem Modell einer dynamischen Reorganisation von Daten.“451 Assmann interpretiert diesen Vorgang vor allem hinsichtlich einer nun erkennbaren Begrenztheit der Schrift als Medium. Das Archiv sei mit der Schrift entstanden, seine Erweiterung um Analogmedien und die Digitalisierung habe dazu geführt, daß man nun von einem „System der Selbst- organisation von Daten“ sprechen könne.452 Der materielle Aspekt des Wissens und der Ort der Wissensspeicherung gehen hierdurch verloren. Die Implikationen dieses Verlusts darzustellen ist nicht meine Absicht. An dieser Stelle bleibt der Verlust der Materialität, und hiermit verbunden eine Funktionsverschiebung der Hand, und die zunehmende Bedeutung der visuellen Wahrnehmung zu konstatieren. 3/4-d „Die Magie hinter der Magie ist das Muster.“453 In den vorangegangenen Kapiteln wurden Schrift, Sprache und verschiedene Notationsformen gemäß ihrer topologischen Zuordnung als Weltstrukturationsmittel vorgestellt. Hierbei ging es um das Aufsuchen von Mustern und die Benennung ihrer Funktionen. In diesem letzten Teil werden Muster dargestellt, die als dynamische Systeme wahrgenommen werden. Entsprechend der raumzeitlichen Dimension geht es um Prozessuales. Die Untersuchung der Natur, des Lebendigen, wird gemeinhin als Aufgabe der Naturwissenschaften angesehen. Deshalb wird das Muster in erster Linie als Gegenstand unterschiedlicher naturwissenschaftlicher Disziplinen vorgestellt. Der 450 vgl. Mainzer (1997): S. 210 451 Assmann (1999): S. 355 452 Assmann (1999): S. 358 453 Hofstadter (1988): S. 174 208 Umgang mit den Mustern und die Form ihrer Darstellung werden dabei besonders berücksichtigt, um auch hier eine Funktionsbestimmung des Musters anzuschließen. Da das Muster als Attraktor der visuellen Wahrnehmung aus erklärtem Grund vorrangig behandelt wurde, werden auch die folgenden Ausführungen zu den dynamischen Prozessen des Gehirns, zur Kognition und zur Wahrnehmung das Visuelle fokussieren. Konstruktive Wahrnehmung Das Muster ist für die visuelle Wahrnehmung, die Kognition und die Funktionsweise des menschlichen Gehirns auf verschiedenen Ebenen von Bedeutung. Auf die Konstruktivität der menschlichen Wahrnehmung wurde bereits hingewiesen. Demzufolge kann die visuelle Wahrnehmung nicht nur als rein neurobiologischer Vorgang beschrieben werden, sondern auch als kognitiver. Das komplexe Sehen ist eine Fähigkeit, die sich der Mensch auf der Grundlage von angeborenen Gesetzmäßigkeiten in den ersten Lebensmonaten aneignet. Darüber hinaus wirken sich individuelle Unterschiede der Sinnesorgane auf das ‘Produkt’ aus. Donald D. Hoffman weist nach, in welchem Ausmaß das Gehirn und kognitive Vorgänge an der Konstruktion unserer Umgebung beteiligt sind. Er berichtet von einer Schlaganfallpatientin, deren Fähigkeit, Bewegung wahrzunehmen, als Folge der Krankheit verloren ging. Hieraus ist zu schließen, daß auch die Bewegung ein Konstrukt der visuellen Intelligenz ist.454 Das Sehen, bzw. jegliche Wahrnehmung sind nicht von dynamischen Prozessen des Gehirns zu trennen.455 Um die Bedingungen der Konstruktivität kennenzulernen – meist mit dem Ziel der künstlichen Rekonstruktion – gibt es verschiedene Ansätze, die Synergetik und die Emergenz sind hier exemplarisch zu benennen. Die Begriffe der Selbstorganisation und der Selbstreferentialität sind in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung. Gerhard Roth zeigt in seinem Aufsatz zur Kognition, daß „alle Gehirne notwendig bedeutungserzeugende und konstruktive Systeme sind, unabhängig von ihrer Komplexität.“456 Er beschreibt diese Konstruktion schrittweise, ausgehend von der Retina als Ort der Abbildung des visuellen Reizes. Auf dieser Ebene könne man zwar noch nicht von visueller Wahrnehmung als Erkennen sprechen, aber von einer ersten Lokalisierung aufgrund der Disparitäten des binokularen Sehens.457 „Zugleich ist aber das, was etwa auf der Netzhaut passiert, eine notwendige Voraussetzung für unsere visuelle Wahrnehmung. Man kann daher durchaus sagen, daß die Ordnung der visuellen Welt, die wir wahrnehmen, in der retinalen Aktivität implizit vorhanden ist und vom nachge- schalteten visuellen System ‘extrahiert’ wird. Dabei ist jedoch zu beachten, daß ‘Extraktion von Ordnung’ gleichbedeutend mit ‘Konstitution von Ordnung’ ist [...].“458 Die Erzeugung von Ordnung sei ein intentionaler und bedeutungsgenerierender Vorgang. Dieser Vorgang lasse sich jedoch weder auf physiko-chemischer, noch auf der Bewußtseinsebene erklären. Begreife man den Vorgang als emergentes Phänomen, liefert die selbstreferentielle Struktur der neuronalen Netze die Antwort. 454 Hoffman (2000): S. 184f 455 Mainzer (1997): S. 41 456 Roth (1992): S. 108 457 Roth (1992): S. 119 458 Roth (1992): S. 120 209 Das Gehirn greife auf die Prinzipien komplexer Systeme, die zur Selbstorganisation ohne ‘zentrale Programmsteuerung’ fähig seien, zurück.459 Die Wissenschaft hat für diese Aussagen Modelle entwickelt, bzw. nutzt die Erkenntnis der makroskopischen Mustererzeugung aufgrund mikroskopischer Teilchenbewegungen. Der von Hermann Haken als Wissenschaftsdisziplin geprägte Begriff der Synergetik beschreibt die Folgen solchen Zusammenwirkens. Die Synergetik fragt nach einheitlichen Prinzipien für das Entstehen von Strukturen und Mustern.460 Hierbei gehe es nicht nur um statische Muster als Ergebnis der Zelldifferenzierung (z.B. ein Schmetterlingsflügelmuster), sondern auch um dynamische Muster, wie die Bewegungsmuster des Menschen. Hakens Untersuchungen haben ergeben, daß es sich bei diesen Vorgängen um Systeme handelt, die aus vielen einzelnen Teilen bestehen und durch die Wechselwirkung eine Form der Selbstorganisation und die einer neuen Struktur ausbilden. Durch Simulationen am synergetischen Computer weist Haken nach, daß der kognitive Apparat die Welt nicht widerspiegelt, sondern konstruiert. Diese Konstruktion erfolgt anhand einiger Merkmale, aus denen ein Gesamtbild, das einem bestimmten Erregungsmuster im Gehirn entspricht, erstellt wird.461 Das Muster, seine repetitive Eigenschaft, wird genutzt, um ein Wieder-erkennen zu ermöglichen. Hakens Untersuchungen beschreiben die Wirkweise im einzelnen, für uns ist die gemeinsame Erkenntnis von Emergenz und Synergetik von Bedeutung: Das Erkennen von Mustern in komplexen, nicht-linearen Vorgängen der Natur gibt Hinweise auf Musterbildungsprozesse, die wiederum für das Verständnis der Natur und für die Rekonstruktion (Computer, künstliche Intelligenz) wichtig sind. Einige Beispiele sollen dies veranschaulichen, die Unterscheidung Hakens in statische und dynamische Muster wird hierfür aufgegeben und alle Prozesse als lebendige und somit dynamische begriffen. Mathematische Morphologie „Wenn Mathematik überhaupt etwas ist, dann die Kunst, für dieses oder jenes abstrakte Muster die eleganteste allgemeine Formulierung herauszufinden.“462 Dieses – neuere – Verständnis von Mathematik wurde bereits erwähnt: Mathematik als Wissenschaft von Mustern.463 Verbunden mit der Aussage „Wir leben in einem Universum voller Muster“464 erhalten wir eine Welt, bzw. ein Universum, das sich ausschließlich mathematisch begreifen ließe. „Es gibt kaum ein Lebensgebiet, das nicht mehr oder weniger von der Mathematik als der Wissenschaft von den abstrakten Mustern beeinflußt wird. Denn abstrakte Muster bilden die eigentliche Essenz der Gedanken, der Kommunikation, aller Berechnungen, der Gesellschaft und des Lebens schlechthin.“465 Daß sich unsere Welt als eine Welt voller Muster organisiert, dürfte die bisherige Darstellung gezeigt haben, ob die Mathematik das Denksystem 459 Mainzer (1997): S. 123 460 Köhler (1992): S. 54 461 Köhler (1992): S. 70 462 Devlin (1998): S. 8 463 Devlin (1998): S. 238 464 Stewart (1998): S. 11 465 Devlin (1998): S. 9 210 schlechthin ist, um „Muster erkennen, klassifizieren und ausnutzen zu können“466, bleibt zu fragen. Ian Stewart ist davon jedenfalls überzeugt und schreibt, die einfachste Methode, Muster in der Natur zu finden, sei die Numerologie.467 Carl von Linné legte seiner Klassifikation beispielsweise die Anzahl der Staub- und Fruchtblätter zugrunde. Die Blattstellungsmuster bei Pflanzen (Phyllotaxie) werden häufig hinsichtlich ihrer numerischen Eigenschaften untersucht. Hierbei lassen sich verschiedene Zahlen der Fibonacci-Folge immer wieder belegen.468 Am leichtesten läßt sich diese Regelhaftigkeit an der Anzahl der Blütenblätter nachweisen. Die Stellung der Blätter wiederum ist auch durch Fibonacci-Zahlen beschreibbar (z.B. die Anzahl der Spiralen bei den Scheibenblüten von Sonnenblumen). Die entscheidende Zahl, der ‘goldene Winkel’ ist nur durch Berechnungen aufzufinden. Dieser Winkel bezieht sich auf die Anordnung der Blätter, Blüten oder Samen, die in der Ausbildung als Primordien um die Spitze des Sprosses (Vegetationspunkt) liegen. Die Winkel zwischen den Primordien entlang der generativen Spirale beträgt 137,5°. Durch eine Rechenoperation auf der Grundlage der Fibonacci-Folge kann dieser Winkel berechnet und die ‘goldene Zahl’ bestimmt werden.469 Die Begründung für die Ge- genwart des goldenen Winkels ist wiederum eine deskriptive: die Packungsdichte, d.h. die möglichst platzsparende Anordnung der Elemente.470 Neuere Forschungen beziehen die Dynamik, d.h. das Wachstum der Pflanzen ein. Der goldene Winkel wird hierdurch zu einer Konsequenz einfacher dynamischer Regeln und die Phyllotaxis zu einem Ergebnis physikalischer Selbstorganisationsprozesse.471 Konchyliomanie Die Musterung von Tieren ist ein weiteres Thema, das die Naturwissenschaften beschäftigt und zu Publikationen mit solchen und ähnlichen Titeln veranlaßt: ‘Wie das Zebra zu seinen Streifen kommt’472 oder ‘Wie Schnecken sich in Schale werfen’473 oder ‘How the leopard got its spots’474. Als Objekte des Sammelns, Tauschens, Auffädelns und Schmückens haben Schnecken und Muscheln den Menschen scheinbar ‘schon immer’ fasziniert. Leroi-Gourhan berichtet von fossilen Funden der jüngeren Altsteinzeit als ersten Hinweis auf die Beachtung von Form. Er schreibt, das ästhetische Gefühl, das nach Formen (u.a. Muschelschalen) suche, gehöre einer tieferen Schicht menschlichen Verhaltens an. Die Wissenschaft beginne 466 Stewart (1998): S. 11 467 Stewart (1998): S. 14 468 Die Fibonacci-Folge (Leonardo Fibonacci 1180–1250) beginnt mit der Zahl 1 und wird durch Addition gebildet: Jedes Glied entspricht der Summe der beiden vorangegangenen Glieder. (1, 2, 3, 5, 8, 13, 21) 469 „Der Bruch aufeinanderfolgender Fibonacci-Zahlen nähert sich immer mehr der Zahl 0,618034. [...] Der sogenannten goldenen Zahl, die oft mit dem griechischen Buchstaben Phi bezeichnet wird. [...] Der Winkel zwischen aufeinanderfolgenden Primoridien ist der ‘goldene Winkel’ von 360(1-phi)° = 137,5°.“ Stewart (1998): S. 166 470 s. hierzu: Köhler (1992): S. 298f. Peter Sitte führt sehr detailliert ein geometrisches Modell zur Erklärung der Grundlage der Blattstellungsmuster vor. 471 Goodwin (1997): S. 203; Stewart (1998): S. 169 472 Gould (1991) 473 Meinhardt (1997) 474 Murray (1993) 211 in allen Zivilisationen mit dem Sammeln von Kuriositäten. Die erstarrten Stoffe als erstarrter Reflex des Denkens wahrgenommen, bilde die Triebfeder für wissenschaftliches und ästhetisches Verhalten.475 Die Vielfalt und Schönheit der Muster, und im Fall der Muscheln die Spiralform, wirkt als Attraktor der Wahr- nehmung, bis heute. „Im Rokoko wurde die Rocaille und Schnecke zum ein- schlägigen Dekorationsmuster schlechthin. Es verkörperte sich darin das schöpferische Prinzip der Natur, das gleichermaßen der Struktur des Kosmos wie den Gestaltungsprinzipien der Kunst entspreche.“476 Paul Valéry schreibt über den Menschen und die Muschel, die für das Denken ein Geheimnisvolles sei.477 Sein Denken folgt nun den Windungen des Kalkes, von den mathematischen Eigenschaften der Muschel, hin zu ihren materiellen. Gedanken, die durch die Muschel hervorgerufen wurden, und, wie die Muschel selbst, keinen offensichtlich Nutzen haben.478 Mit dem letzten Satz des Essays enthebt Valéry sich weiterer Funktionsbestimmungen: „[...] So ruft vor dem menschlichen Blick dieser kleine, hohle, gewundene Körper aus Kalk viele Gedanken herbei, von denen keiner sich vollendet...“479 Valéry verbindet Mensch und Muschel zu einer seltsamen Schleife der Nutzlosigkeit und des wechselnden Betrachters. Gaston Bachelard ist an der Muschel als einem Bild der Wohnfunktion interessiert. Auch er schreibt, daß der Gestaltungsvorgang, nicht die Gestalt, die er phänomenologisch analysiert, ein Geheimnis bleibe.480 Ein Geheimnis, das die Wissenschaft nach wie vor beschäftigt. Auch wenn der Biologe Hans Meinhardt nicht von den Muschelgestalten als ‘Initialwirbeln des Lebens’ spricht, mißt er ihnen elementare Bedeutung zu und läßt eine Faszination erkennen, die Rousseau vielleicht auch schon als Konchyliomanie, als Muschelkrankheit, bezeichnet hätte.481 Meinhardt beginnt seine Publikation über die Muster tropischer Meeresschnecken mit einem Zitat von Thomas Mann, das Jonathan Leverkühn bei der Betrachtung einer Meeresschnecke beschreibt. Leverkühn fragt sich nach dem Sinn ihrer Zeichen, davon ausgehend, daß ‘Zier und Bedeutung’ immer zusammengehören.482 Meinhardt schreibt, daß man bis heute nicht wisse, wozu die Muster der Schnecken gut sind. Das Interesse der Wissenschaft beziehe sich auf die Erkenntnis, daß man anhand der Eigenschaft der Schnecken ein historisches Protokoll zu führen, komplexe nicht- lineare Musterbildung untersuchen kann.483 Dieser sehr spezielle Fall der Musterbildung in Raum und Zeit erlaubt eine genaue Beobachtung und Meinhardts Arbeiten mit Computersimulationen. Die Abbildung 42 soll einen visuellen Eindruck dieser Arbeiten geben, die Erklärung der Modelle würde an dieser Stelle zu weit führen. Ein weiteres Bild (Abbildung 43) läßt die Annahme einer mimetischen Funktion im Sinne einer handwerklich-künstlerischen Nachahmung dieser Muster zu. 475 Leroi-Gourhan (1988): S. 451–453 476 Aigner/Pochat/Rohsmann (1999): S. 64 477 Valéry (1993): S. 156 478 Valéry (1993): S. 168 479 Valéry (1993): S. 180 480 Bachelard (1992): S. 117 481 Aigner/Pochat/Rohsmann (1999): S. 64. Die Autoren erwähnen diesen Begriff in Verbindung mit der Ornamentik des 18. Jahrhunderts. 482 Meinhardt (1997): S. V. Zitat aus: Thomas Mann, Doktor Faustus, III. Kapitel. 483 Meinhardt (1997): S. VI, 172 212 Die differenzierte Kenntnis der Musterbildungsprozesse ist für die Wissenschaft jedoch in ganz anderer Hinsicht von Interesse. Die Muster der Muscheln werden hierdurch zu Erklärungsmodellen von dynamischen Systemen wie Grippewellen, Aktienkurse oder dem menschlichen Gehirn, deren Komplexität und Dynamik ihre Beobachtung und Interpretation so schwierig machen. Das Muster als Modell Neben den so augenfälligen Mustern der Muscheln gibt es andere Muster in der Natur, die erkannt und als Modelle genutzt werden. Ich werde diese Forschungen nicht im einzelnen vorstellen, sondern vielmehr Gemeinsamkeiten im Umgang mit den Mustern zeigen. Das Muster wird selten als disziplinenübergreifender Leitbegriff gewählt, die Symmetrie, die mathematische Repräsentation oder bestimmte Formen von Mustern dienen als zusammenführende Momente. Die folgenden Beispiele werden dies belegen. Die abschließenden Überlegungen richten sich auf die Funktionalisierung des Musters durch die Naturwissenschaften. Eine Grundform bzw. -richtung des Musters ist die Spirale. Benno Hess schreibt, sie gehöre zu den einfachsten Mustern der Natur, die man als stabile Form auf Schneckengehäusen oder in unseren Fingerabdrücken finden könne.484 Die Be- rechnungen solcher statischen Spiralen gehen auf Archimedes und wie oben erwähnt auf Fibonacci zurück. Hess’ Interesse gilt den dynamisch-dissipativen Spiralformen, die als Muster in jeder Größe anzutreffen sind: von zellulären biologischen Netzwerken im Mikrometerbereich bis zu den Spiralen meteorologischer Tief- druckgebiete. Als Entdecker chemischer Verbindungen, die räumliche, dynamische Muster hervorbringen, werden meist die russischen Forscher Belousov und Zhabotinsky genannt.485 Durch Beeinflussung der nach ihnen benannten BZ-Reaktion untersucht Hess räumliche Erregungsmuster. Die Bedeutung der Mechanismen dieser Reaktionen sind nicht vollständig zu klären. Man weiß, daß diese Muster mit ihren Übergängen von geordnetem in chaotische Zustände von vitaler Bedeutung sind.486 „Je nach der biologischen Funktion sind räumlich gestreckte oder zirkuläre Ausbreitungsmuster, physiologische oder pathologische Spiralmuster beobachtet worden. In jedem einzelnen Fall wird ein biologisches Territorium durch Propagation von Signalen kontrolliert.“487 Ein Beispiel ist der Lebenszyklus des zelligen Schleimpilzes, der in Wellenbewegungen verläuft, wie sie die BZ-Reaktion visualisiert. Demzufolge gehorchen dieser chemische Prozeß und die zellulären Wechselwirkungen demselben Prinzip. Goodwin untersucht diese Übereinstimmungen und schließt daraus, daß nicht die Moleküle und die Be- schaffenheit der Zellen verantwortlich sind, sondern „ihre Art der Wechselwirkung in Zeit (ihre Kinetik) und Raum (ihre relationale Ordnung)“.488 Diese Raum-Zeit- Dimension erzeugt Felder, die durch Selbstorganisation Muster generieren. 484 Köhler (1992): S. 75 485 Goodwin (1997): S. 83; Cramer/Kaempfer (1992): S. 44. Die Reaktion einer homogenen Lösung aus organischen und anorganischen Chemikalien verläuft diskontinuierlich. Es bilden sich konzentrische Ringe, die expandieren und sich an ihren Rändern gegenseitig vernichten. 486 Köhler (1992): S. 93 487 Köhler (1992): S. 93 488 Goodwin (1997): S. 92 213 Die Erklärung für diese scheinbar aus dem Nichts, spontan auftretende Musterbildung wird meist mit dem bereits beschriebenen Phänomen der Symmetriebrechung in Verbindung gebracht.489 Beschreibt man die BZ-Reaktion mit diesem Vokabular so befindet sich die flüssige Mischung in einem empfindlichen Gleichgewicht und besitzt eine hohe Symmetrie. Durch eine winzige Ursache, z.B. die Vibration eines Moleküls, wird die Symmetrie gebrochen, d.h. es entsteht ein Muster von blauen und roten Ringen.490 Stewart nennt weitere Beispiele, wie das Wellenmuster elektrischer Aktivität des Herzschlags oder die Entwicklung eines Frosches von einer kugelförmigen Zelle (Rotationssymmetrie) zu einem Lebewesen mit bilateraler Symmetrie. Ein solches Verständnis begreift das Leben als eine Reihe von Symmetrieerzeugungen, Formen der Replikation und somit der Repetition. Die Allgemeingültigkeit der Symmetriebrechung führt Stewart als Grund für die Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen zahlreicher Muster an. Demzugrunde liege dieselbe abstrakte Mathematik, d ie Mathematik a ls ‘Gipfel des Technologietransfers’.491 Grenander, der eine generelle Muster-Theorie geschrieben hat, geht gleichermaßen von der beherrschenden Idee der Mathematik aus und beruft sich auf Alfred North Whiteheads Diktum, daß „mathematics is the most powerful technique for understanding of patterns and for the analysis of the relations of patterns“.492 Sein Ziel ist die mathematische Repräsentation von Mustern, die dem logischen und computationalen Verständnis von Mustern dienen soll. In bezug auf die Muster der Weberei schreibt er, sei es leicht, morphogenetische Gleichungen aufzustellen, da die Parameter überschaubar und stabil seien. Die mathematische Beschreibung von rotierend erzeugten Formen, wie beim Töpfern, sei ungleich schwieriger und wird von ihm auch nicht durchgeführt. Die Gleichungen, die er für die Grundbindungen der Weberei und auch das Moiré-Muster ausarbeitet, sollen hier nicht besprochen, sondern lediglich auf das textile Muster aufmerksam gemacht werden.493 Eine disziplinäre Verbindung der Mathematik und der Biologie sind die ‘Bio- mathematics’, deren Aufgabe u.a. die mathematische Beschreibung der Musterungen von Zebras, Leoparden oder Schmetterlingsflügeln ist.494 Eine anschaulichere Form der Mathematik sind die Bilder des ‘symmetrischen Chaos’ von Michael Field und Martin Golubitsky (Abbildung 44 und 45). Hinter dieser Anschaulichkeit und den textilen Assoziationen verbirgt sich eine komplizierte Mathematik des Artifiziellen. Das Vorgehen zur Erzeugung dieser Bilder beschreiben die Autoren ausführlich.495 Die sichtbare Symmetrie ist die der Attraktoren, d.h. das Ergebnis einer Iteration (Rechenvorschrift) wird visualisiert. Ein seltsamer Attraktor repräsentiert das Langzeitverhalten von Gleichungen. Seine Symmetrie wird im Mittel dargestellt und erzeugt Muster. Die Überlegungen der Forscher verfolgen die Ähnlichkeiten, beispielsweise der symmetrischen Muster von Muscheln und der Attraktoren. Die 489 Cramer/Kaempfer (1992): S. 46; Stewart (1998): S. 100 490 Stewart (1998): S. 100 491 Stewart (1998): S. 108 492 Grenander (1993): S. 847 493 Grenander (1993): S. 95–99 494 Murray (1993) 495 Field/Golubitsky (1993): S. 3–39 214 Folgerung wäre, daß Muscheln oder andere Lebewesen mit symmetrischen Mustern ein Erzeugnis chaotischen Wachstums, das gemittelt wurde, sind.496 Symmetrie und Chaos – Ordnung und Unordnung – würden demnach innerhalb eines einfachen mathematischen Rahmens existieren (die Muster würden nur kompliziert aussehen, seien aber durch ein kurzes Computerprogramm beschreibbar).497 Die Muster der Masse Dynamische Systeme ganz anderer Art zeigen sich bei der Beobachtung des Ver- haltens von Lebewesen, die in Scharen oder Schwärmen auftreten. Der Biologe Kevin Kelly beschreibt unterschiedliche Schwärme mit dem Schlagwort ‘Mehr ist anders’.498 Ihm geht es hierbei vorrangig um die Umsetzung von Naturerkenntnis in komplexe, artifizielle Systeme, die „Vermählung des Geborenen mit dem Ge- machten“.499 Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz definiert die Schar als die primi- tivste Form der Vergesellschaftung: „Der Begriff der Schar ist dadurch bestimmt, daß die Individuen einer Art aufeinander mit Zuwendung reagieren, also durch Verhaltensweisen zusammengehalten werden, die ein oder mehrere Einzelwesen bei anderen auslösen. Deshalb ist es für Scharbildung kennzeichnend, wenn viele Einzelwesen in dichtem Verbande in gleicher Richtung wandern.“500 Genau dieses ‘Wandern in eine Richtung’, das aus Lorenz’ Sicht nicht von Interesse ist, ist das Besondere des Schwarms.501 Ein Schwarm von Vögeln, der bedroht wird, unternimmt eine Ausweichbewegung, die so schnell durch den Schwarm läuft, das die Reaktionszeit unter der des einzelnen Vogels liegt.502 Manche Fischschwärme formieren sich bei Gefahr zu einer Gestalt eines großen Fisches, ohne daß eine Verständigung über ein solches Bild des ‘großen Fisches’ existiert. Computer- simulationen legen die Vermutung nahe, daß das Schwarmverhalten von Lebewesen aus einem relativ einfachen Regelwerk hervorgeht.503 Trotzdem handelt es sich um Systeme größter Komplexität, deren Abläufe nicht vorhersagbar sind. Dies beruht auf ihren Eigenschaften der Selbstorganisation. „Massen erzeugen den erforderlichen Komplexitätswert für emergente Entitäten.“504 Das Modell der Ameisenkolonie soll demonstrieren, wie diese emergenten Eigenschaften visualisiert werden und das Muster hierfür genutzt wird. Goodwin beobachtet das Bewegungsverhalten von Ameisen und konstatiert eine Abhängigkeit von der Populationsdichte. „In dem Modell wiesen Kolonien aus einem Individuum oder wenigen Individuen chaotische Bewegungsmuster auf [...]. Oberhalb einer kritischen Populationsdichte kam es jedoch in der Kolonie zu einem Übergang zu rhythmischer Aktivität.“505 Um diese Rhythmen zu visualisieren, werden sie in 496 Field/Golubitsky (1993): S. 39 497 Stewart/Golubitsky (1993): S. 257 498 Kelly (1997): S. 37 499 Kelly (1997): S. 8 500 Lorenz (1983): S. 138 501 Lorenz’ Interesse gilt dem aggressiven Verhalten von Lebewesen, seine These bezieht die anonymen Scharen als Beispiel für nicht aggressives, da nicht an persönliche Bindungen gekoppeltes Verhalten mit ein. Lorenz (1983): S. 146 502 Kelly (1997): S. 21 503 Kelly (1997): S. 22 504 Kelly (1997): S. 37 505 Goodwin (1997): S. 124 215 Koordinatensysteme und anschließend in räumliche Muster übertragen. Auf diesem abstrakten Niveau zeigt Goodwin auf, daß die Ameisenkolonie als erregbares Medium definiert und ihr Verhalten auf andere erregbare Medien, wie das menschliche Gehirn oder künstliche neuronale Netze, übertragen werden kann.506 An dieser Stelle greift der Mensch in das Geschehen aktiv ein, Kelly spricht von der Form, das ‘Mehr’ zu strukturieren und unterscheidet dabei zwei Extreme. Das eine Extrem bilden die beschriebenen Schwarmsysteme, deren Vorteile Kelly benennt: Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit, Unbegrenztheit, evolutives Verhalten. Das andere Extrem, das sequentielle, mechanistische System, beschreibt Kelly nicht, über die Beschreibung der Nachteile der Schwarmsysteme läßt sich jedoch seine Vorstellung rekonstruieren. Für das mechanistische System liefert er das Bild des ‘langen Fadens aufeinanderfolgender Operationen’ und des ‘Fabrikfließbandes’.507 Die Vorteile solcher Systeme sind ihre Steuerbarkeit und die sich hieraus ableitende, mögliche, Effizienz und Direktheit. Das ihnen zugrundeliegende Kausalprinzip garantiert das Verständnis des Systems und seine Vorhersehbarkeit. Kelly liefert hierfür keine Beispiele, geht es ihm doch um die Schwarmsysteme. Diese sollen hier nachgeliefert werden: Das Muster als Visualisierung dieser Systeme führt zu einer Verbindung mit dem Phänomen der Masse beim Menschen. Elias Canetti unterscheidet vier Eigenschaften der Masse: ihr Streben nach Wachs- tum, die Gleichheit ihrer Einzelteile, ihre Dichte und Richtungsgebundenheit. Je nach Gewichtung dieser Charakteristika gelange man zu verschiedenen Einteilungen der Masse.508 In dem hier zu zeigenden Zusammenhang ist die von Canetti als rhythmische Masse bezeichnete von besonderem Interesse. Dichte und Gleichheit fielen bei ihr von Anfang an zusammen. „Alles hängt hier an Bewegung. Alle Körperreize, die zu erfolgen haben, sind vorausbestimmt und werden im Tanze wiedergegeben.“509 Der Tanz, die Aufmärsche und militärischen Paraden sind die Formen der rhythmischen Masse, deren Musterhaftigkeit im folgenden beschrieben wird. Die Gleichheit dieser Massen wird durch ihre Steuerung gewährleistet: Sie sind Ausdrucksmittel eines Willens. Die Instrumentalisierung des Tanzes durch Geometrisierung und Symmetrisierung in der höfischen Zeit wurde bereits dargestellt. Im 20. Jahrhundert sind es die Tänze der Revuetheater und Revuefilme, die das Muster nutzen.510 Die Tänzerinnen (bezeichnenderweise war die Tänzermasse weiblich) werden hierfür auf einen Rapport reduziert. Der Körper der Tänzerin wurde standardisiert.511 Hierdurch war es gleichermaßen möglich, die Körperteile als Rapport zu nutzen, aus rechten Beinen und linken Armen ein Muster zu bilden. Das bedeutet, daß eine große Anzahl an ‘Rapporten’ vorhanden sein muß, da das Muster durch eine räumliche und zeitliche 506 Goodwin (1997): S. 125 507 Kelly (1997): S. 37 508 Canetti (1980): S. 26 509 Canetti (1980): S. 27 510 In diesem Zusammenhang wird fast ausschließlich von Ornamenten gesprochen, ohne das der Begriff erläutert wird. Der vermischende Gebrauch mit dem Begriff des Musters konnte auch hier festgestellt werden. Vgl. Klooss/Reuter (1980); Kracauer (1977). Die Definition des Musters, wie sie hier eingeführt wurde, rechtfertigt den Gebrauch des Begriffs ‘Muster’. 511 Klooss/Reuter (1980): S. 63f. Das ‘Tanzmaterial’ ist genormt, die Körpermaße und die Form der Gliedmaßen wurden geprüft. 216 Wiederholung erzeugt wird. Für die räumliche Wiederholung bedurfte es vieler Girls: „Ein Girl gibt es nicht...Erst wenn sie ein Wesen mit vierundzwanzig Beinen geworden sind, führen sie den Namen zu Recht.“512 Dieses Wesen mußte sich in völliger Perfektion bewegen, Fritz Giese (1890–1935), Dozent für Eurythmik und industrielle Psychotechnik, spricht von einer Girltechnik.513 Die Bühne des Revuetheaters begrenzte die Möglichkeiten der Musterung. Die Revuetreppe als bühnentechnisches Mittel simulierte eine Aufsicht, die die Musterbildung in zweierlei Hinsicht begünstigte: Die Muster konnten nun auch in den Raum gestaffelt und aus mehr Tänzerinnen gebildet werden.514 Neben der von Klooss und Reuter betonten Vertikalisierung der Bühne durch die Treppe, läßt sich auch eine Dynamisierung und Rhythmisierung feststellen.515 Die Treppe führt die Diagonale als Bewegungsrichtung ein, die Treppenstufen strukturieren den Raum in der Horizontalen. Die Schritte, die Beine, werden hierdurch besonders exponiert und der Rhythmus wie auf Notenlinien sichtbar gemacht. Mit den Mitteln der Filmtechnik, und hier besonders die ‘top- shots’, läßt sich der Blick in besonderer Weise erweitern, nämlich als Reduktion auf die Fläche.516 Der Blick des Betrachters wird geführt, so daß er die Körper als flächiges Muster wahrnehmen muß. Das Körperhafte der Tänzerinnen wird nur noch für die Bewegung genutzt: Die Muster verändern sich, erschaffen immer neue Bilder. „Der Sprung in die Aufsicht radikalisiert das von den Revuen vorgeführte Massenornament, da er durch den Bruch mit der gewohnten Frontalansicht der Körper zugleich das Bewußtsein von deren Präsenz auslöscht. [...] Die Wiederherstellung der natürlichen Gestalt des Ornaments beweist das Gelingen dieser Operation, dieses Umschlags der Struktur in ein selbständiges Bild [...].“517 Die Natürlichkeit des Ornaments, die nun erreicht wurde, bezieht sich auf seine Zweidimensionalität, die Perspektive löscht die Natürlichkeit der Körper aus. Diese Beschreibung und Interpretation der ‘Menschenornamente’ stimmt mit den einleitend analysierten Definitionen des Ornaments überein, die es als Flächiges und Attributives ausweisen. Die Kamerafahrten in die Formen, die Perspektivwechsel, die Metamorphosen, die Berkeley durchführt, lassen jedoch eher den Begriff des Musters zu, den er auch selbst verwendet.518 Siegfried Kracauer verwendet in seinem berühmten Essay ‘Das Ornament der Masse’ beide Begriffe, den des Ornaments vorwiegend, aber auch den des Musters.519 Sein Interesse gilt den Oberflächenphänomenen, ob Ornament oder Muster. „Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst.“520 Der Physiker Murray Gell-Mann macht mehr als ein halbes Jahrhundert später folgende Aussage: „Oberflächenkomplexität erwächst aus 512 Alfred Polgar (1927), zitiert nach: Klooss/Reuter (1980): S. 62 513 Giese (1925): S. 19 514 Klooss/Reuter (1980): S. 62 515 Auf den Zusammenhang von Rhythmus, Rapport und Diagonale wurde bereits hingewiesen. 516 Klooss/Reuter (1980): S. 90f. Die Autoren beschreiben ausführlich die Arbeiten Busby Berkeleys, der die top-shots eingeführt hat. 517 Klooss/Reuter (1980): S. 91 518 Klooss/Reuter (1980) sprechen von ‘Menschenornamenten’ (auch im Untertitel der Publikation), Berkeley soll von sich behauptet haben: „Ich denke in Formationen und Mustern, das ist für mich ganz natürlich.“ (S. 90) 519 Kracauer (1977) spricht vom Massenornament, aber auch von der Bildung und Regelmäßigkeit von Mustern oder vom Stadionmuster. (S. 51, 54) 520 Kracauer (1977): S. 50 217 Tiefeneinfachheit.“521 Gell-Mann beschäftigt sich mit den Eigenschaften komplexer Systeme. Die Bewegungen der Massen als komplexe Systeme begreifend, lassen sich die beiden Aussagen verknüpfen. Kracauer beschreibt die Musterbildung aus der Masse: Der Mensch wird zum Massenglied, zum Bruchteil einer Figur. „Arme, Schenkel und andere Teilstrecken sind die kleinsten Bestandstücke der Komposition.“522 Diese Position bedingt, daß das einzelne Glied das Muster nicht mitdenken kann und sich nur in der Masse realisieren kann (es gibt nicht ein Tiller- Girl). Das Massenornament spiegele die Gesamtsituation, die Prinzipien des kapitalistischen Produktionsprozesses. Über die Tiller-Girls schreibt er in einem anderen Aufsatz: „Sie waren nicht nur amerikanische Produkte, sie demonstrierten zugleich die Größe der amerikanischen Produktion. [...] Wenn sie eine Schlange bildeten, die sich auf und nieder bewegte, veranschaulichten sie strahlend die Vorzüge des laufenden Bands; wenn sie im Geschwindtempo steppten, klang es wie: Business, Business; wenn sie die Beine mathematisch genau in die Höhe schmetterten, bejahten sie freudig die Fortschritte der Rationalisierung: und wenn sie stets wieder dasselbe taten, ohne daß ihre Reihe je abriß, sah man innerlich eine ununterbrochene Kette von Autos aus den Fabrikhöfen in die Welt gleiten und glaubte zu wissen, daß der Segen kein Ende nehme.“523 Die Analyse der schillernden Oberfläche, der Revuetheater mit den Tiller-Girls, verweist auf die Industrialisierung, die in dieser Zeit einen Höhepunkt erreicht. Ihre Tiefeneinfachheit besteht in der sequentiellen Anordnung der Prozesse, der Produktion linearer Muster: eindimensional (Fließband) und repetitiv (Taylorisierung). Der Begriff der Tiefeneinfachheit eignet sich auch für die Beschreibung faschistischer Propaganda: Die Simplizität scheint nicht mehr zu unterbieten und ihr Korrelat mit Brutalität nicht mehr zu überbieten zu sein. Die militärische Parade ist das Muster der Masse, das die Eigenschaften des mechanistischen Systems am offensichtlichsten trägt. Steuerbarkeit und Vorhersehbarkeit werden durch die Konzentration in einer führenden Person und der Eliminierung von Störfaktoren gewährleistet. Die Synchronisation der Bewegungen führt zu einem Einheitsgefühl, das zu einem gemeinsamen Gedanken werden soll. Die strengen Symmetrien und Repetition auf allen Ebenen erzeugen eine Monumentalität, die die Wirkung potenziert, die die „suggestiven Potentiale serieller Strukturen“ nutzt.524 Die Geomet- risierung des Körpers beginnt mit dem Training und wird durch die Uniformen perfektioniert. Jeder einzelne wird mit seinem symmetrischen Körper und seiner Uniform zu einem Teil des Rapports. Die Einheiten der Körper werden wiederum in strengen, einfachen Symmetrien, Reihungen, aufgestellt und bewegt. „Der Mensch als auswechselbare kleinste Einheit zum Endlosrapport gefügt, das ist die Ästhetik der ‘mustergültigen’ Barbarei. Über dieser Weltordnung wacht das Auge Gottes nicht mehr. [...] Wo Menschen zu repetierenden Ornamenten, zu Endlosspalieren, Kolonnen, Blöcken und seriellen Reihen gefügt werden, kann es keinerlei Freiheit geben.“525 521 Lewin (1993): S. 27 522 Kracauer (1977): S. 53 523 Kracauer (1977): S. 342 524 Hilmes/Mathy (1998): S. 179 525 Rosamunde Neugebauer, Der Holocaust in der Sicht deutsch-jüdischer Künstler und Künstlerinnen. Zitiert nach: Hilmes/Mathy (1998): S. 183 218 Das Muster wird zum Instrument totaler Herrschaft. Der Führer und die Masse stehen in einem eindeutigen Verhältnis zueinander.526 Die Massenmuster sind zugleich Macht- und Drohgebärde, die sowohl nach innen, also auf die Masse selbst, aber auch nach außen, auf die Gegner wirkt.527 „Man zwingt die Masse dazu, sich überall selbst zu erblicken (Massenversammlungen, Massenaufzüge usw.). Die Masse ist sich so immer gegenwärtig und oft in der ästhetisch verführerischen Form eines Ornaments oder eines effektvollen Bildes.“528 Militärische Paraden, organisierte Arbeitsabläufe und streng choreographierte Tänze hat es auch schon früher gegeben.529 Die Repetition materialisiert sich in den Menschenmustern, als Struktur der Einübung konstituiert sie auch Muster.530 Das Wiedererkennen, als Erfolg der Konditionierung, löst gezielt Handlungen aus. Die Wiederholung als Hauptcharakteristikum des Musters bestimmt wesentlich die Gewohnheit, ist ein Mittel der Macht und der Züchtigung. Die hier aufgeführten Beispiele aus den 20er und 30er Jahren stellen einen Höhe- punkt dieser Entwicklung dar, der mit dem Höhepunkt der Industrialisierung ein- hergeht.531 Die Konsumorientierung der Nachkriegszeit betont das Serielle als Zeichen der Fülle der Waren und nicht mehr als Zeichen ihrer Produktion. Die hier beschriebenen Muster der Masse sind exemplarisch für zwei Extremformen gewählt worden. Die Ausführungen Canettis und Kellys zeigen, daß es viele Hybridformen gibt.532 Diese Polarisierung diente der Verdeutlichung der Funktion des Musters. In einem Schwarmsystem entstehen Muster als emergente Phänomene aus dem Chaos. Das Muster als erkennbare Ordnung wird als Hinweis auf Sinn und Intelligenz gelesen, die die Wissenschaft sich zunutze machen will. In einem mechanistischen System wird das Muster zu einem Instrument der Macht. Das Muster dient der Disziplinierung der Massen. Der Aufbau des Musters ist strikt geregelt, die Auswahl seiner Teile definiert: Inklusion und Exklusion sind wesentliche Mittel dieses Vorgehens. Als Ganzes ist das Muster Ausdruck eines Willens, der sich via Repetition in Raum und Zeit auf die Masse überträgt. Kalkulationismus Viele der hier besprochenen Muster sind reine Zahlenprodukte, visualisierte Er- gebnisse von Rechenoperationen, die nur mit Hilfe der Rechengeschwindigkeit moderner Computer möglich sind. Das erklärte Ziel dieser Operationen sind Modellierung und Simulation von komplexem Verhalten.533 Grundlage dieser Idee 526 Dülmen (1998): S. 370. Hans-Ulrich Thamer weist auf das Geschlechterverhältnis hin: der männliche Führer, der die weibliche Masse manipuliert. 527 Canetti (1980): S. 32 528 Kracauer (1977): S. 340 529 Foucault (1994): S. 242. „Die politische Zeremonie war immer eine geregelte Entfaltung von Macht gewesen [...]. Ein ganz anderer Typ von Zeremonie entspricht der Disziplin: nicht die übermächtige Sichtbarkeit des Triumphes, sondern die Übersichtlichkeit der Parade. In dieser prunkvollen Spielart der Prüfung werden die ‘Subjekte’ als Objekte einer Macht zur Beobachtung vorgeführt, die sich nur durch ihren Blick kundtut. Sie empfangen nicht direkt das Bild der souveränen Macht, sondern bringen deren Wirkungen nur in ihren genau lesbar und gelehrig gewordenen Körpern zur Geltung.“ 530 Lefebvre (1992): S. 56 531 Ellwanger (1994): S. 21f 532 Canetti (1980): S. 26–28; Kelly (1993): S. 42 533 Wehr/Weinmann (1999): S. 249 219 sind die beschriebenen Zahlenmuster, die verblüffenden Übereinstimmungen, die schon Galilei konstatiert habe und sagte, das Buch der Natur sei in der Sprache der Mathematik geschrieben.534 Sitte schreibt, daß viele Wissenschaftler in diese Falle gegangen seien und Anhänger der Zahlenmystik wurden. „Denn immer liegt ihr der gleiche Zirkelschluß zugrunde: Daß man in der dinglichen Welt aufgefundene Regelmäßigkeiten durch ein mathematisches Gesetz besonders elegant ausdrücken kann, bedeutet keine Erklärung. Denn daß in einem transzendenten ideellen Sein die Ursachen für vordergründig Reelles liegt, ist zwar möglich, aber wir haben keine Möglichkeit, es zu beweisen.“535 Einen Anteil an dem Funktionieren der ‘Falle’ haben die Muster, genauer gesagt ihre Eigenschaften der Symmetrie, des Rhythmus und der Repetition. Hofstadter spricht von einer allgemeinen Empfänglichkeit für Muster und einer besonderen des Mathematikers: „Tatsächlich setzt die Art und Weise, wie Mathematiker miteinander kommunizieren, einen ‘objektiven’ oder ‘natürlichen’ ästhetischen Sinn für Muster voraus.“536 Das Wiedererkennen, die Regelmäßigkeit und die Schönheit wirken als Attraktor und gleichermaßen als Beweis. Die Konstruktivität dieser Muster wird hierüber meist vergessen oder vernachlässigt. Ian Stewart bedenkt diese Gegebenheiten in bezug auf die Symmetrie und schreibt, daß Symmetrie und Geometrie Erfindungen des Menschen seien, die Mathematik, die er zu ihrer Be- schreibung benötige, habe der Mensch jedoch aus dem Universum.537 Für Stewart läßt dies den Schluß zu, daß Gott symmetrisch denke, Hofstadter spricht von einem ‘Mathegott’.538 Für einen Atheisten bedeutet es vielleicht, daß die Zahlen vom Himmel gefallen sind. In jedem Fall gesteht diese Auffassung ausschließlich Mathematikern die Möglichkeit der Erkenntnis zu.539 Daß es auch andere Auffassungen gibt, verdeutlicht das Zitat von Hermann Weyl: „Die letzten Grundlagen und die eigentliche Bedeutung der Mathematik bleiben ein offenes Problem; wir wissen weder, in welcher Richtung seine Lösung zu finden ist, noch, ob überhaupt eine endgültige objektive Antwort erwartet werden kann. Vielleicht ist ‘Mathematisieren’, wie Musizieren, eine schöpferische Tätigkeit des Menschen, deren Produkte nicht nur formal, sondern auch inhaltlich durch die Entscheidungen der Geschichte bedingt sind und daher vollständiger objektiver Erfassung trotzen.“540 Dieser Hinweis auf Konstruktivität und Historizität der Wissenschaft, und letztlich auch der Konvergenz, ist in dieser Deutlichkeit selten. Für eine Untersuchung, die sich quer zu vielen Handlungsfeldern anhand eines Leitbegriffs bewegt, ist er von großer Bedeutung, da es von einer Aufgabe der Hierarchisierung der schöpferischen Tätigkeiten des Menschen zeugt. 534 Köhler (1992): S. 295 535 Köhler (1992): S. 295 536 Hofstadter (1996): S. 86 537 Stewart/Golubitsky (1993): S. 278, 285 538 Hofstadter (1996): S. 27 539 Henri Poincaré, ein berühmter Mathematiker (1854-1912) schreibt: „Ist die mathematische Analyse ... nur ein eitles Spiel des Geistes? Sie kann dem (Wissenschaftler) nur eine geeignete Sprache liefern; ist die nicht ein mittelmäßiger Dienst, auf den man, streng genommen, verzichten kann; und ist nicht sogar zu befürchten, daß diese künstliche Sprache ein Schleier sein könnte, der sich zwischen die Realität und das Auge des (Wissenschaftlers) legt? Weit gefehlt; ohne diese Sprache wären uns die meisten inneren Analogien der Dinge für immer unbekannt geblieben; und für alle Zeit hätten wir die innere Harmonie der Welt nicht bemerkt, die ... die einzige, wahre, objektive Realität darstellt.“ Zitiert nach: Winfree (1988): S. 171 540 Weyl (1990): S. 279 220 Die ‘Macht des Bildes’ hat an der Konstruktion von Weltwirklichkeit einen besonderen Anteil. Die Visualisierung von Daten erzeugt Daten und erfindet das, was sie vorgibt, objektiv wiederzugeben.541 Die Mediendiskussion endet dementsprechend nicht bei den Naturwissenschaften. Die Mittel ihrer Beobachtung sind hiervon gleichermaßen betroffen. Die Abbildungen 46 und 47 zeigen Aufnahmen aus einem Elektronenmikroskop. Auf den ersten Blick kann man das eine Bild für eine Perlenarbeit und das andere für eine unscharfe Aufnahme eines Fliesenmusters halten. Der zweite Blick wird nur dem spezialisierten Wissenschaftler Erkenntnis bringen. Die Musteranordnungen geben Hinweise auf physikalische und chemische Eigenschaften der Substanzen. Bei der Elektronenmikroskopie wird durch das Einstrahlen elektromagnetischer Wellen eine Wechselwirkung erzielt, die aufgezeichnet und in Daten umgesetzt wird. Für die Mustererkennung ist die Frage, ob es sich hierbei um „objektgetreue Abbilder oder um Scheinstrukturen handelt“, von großer Bedeutung.542 Zur Überprüfung der Daten werden Modellrechnungen simuliert, also wieder die Mathematik eingesetzt. Die Sinnvermutung, die das Muster auslöst, initiiert also zwei unterschiedliche Formen der Visualisierung als Beweis. Im Falle der Übereinstimmung ist die Neigung groß, die Konstruktivität beider Verfahren zu vernachlässigen. Die Superstringtheorie wird u.a. aufgrund der technischen Unmöglichkeit der Visualisierung angezweifelt. Die Strings sind so klein, daß sie mit gegenwärtigen Mitteln als Punkte und eben nicht als eindimensionale Filamente wahrgenommen werden.543 Auch hier kam die Schönheit der Theorie zu Hilfe: „Die mathematische Struktur der Stringtheorie war so schön und hatte so viele wunderbare Eigenschaften, daß sie auf irgendeine tiefere Wahrheit hindeuten mußte.“544 Das letzte Beispiel für das Bedürfnis des Menschen nach Erklärung durch Visualisierug und Sensualisierung betrifft ein aktuelles Thema: das Human- genomprojekt. Die ‘Entdeckung’ der physikalischen Struktur der DNS durch Watson und Crick 1953 bestätigte die Form der Spirale ein weiteres Mal als eine lebensspendende. Diese „Spirale aller Spiralen“545 sieht aus wie ein Makrameeknoten (Abbildung 48 und 49), daraus zu schließen, daß Gott nicht nur würfelt, sondern auch noch eine Schwäche für Knotentechniken hat, ginge nun doch zu weit.546 Da die Kenntnis der physikalischen Struktur allein noch keinen Hinweis auf die Funktionsweise des Genoms gibt, wurde weitergeforscht. Nun ging es um das Entschlüsseln eines ‘Codes’, das Entziffern der ‘Buchstabenkombinationen’. D.h. das Bild wird durch ein anderes Bild, nämlich das vertraute der Schrift, ersetzt. Ein Text, der Text der Menschheit, muß gelesen werden. Die DNS wird als Fadenmolekül mit linearem Aufbau beschrieben, die Information, die sie trägt, ist in drei Milliarden 541 Claus Pias: „Landschaften der Wahrscheinlichkeit“, in: FAZ 22. November 2000, Nr. 272, N6 542 Köhler (1992): S. 156 543 Greene (2000): S. 170. „Wir brauchten einen Beschleuniger, der die Materieteilchen mit Energien aufeinanderkrachen ließe, die mehrere Millionen Milliarden mal stärker als die Energien gegenwärtiger Beschleuniger wären [...].“ 544 Greene (2000) zitiert den Physiker John Schwarz. (S. 166) 545 Cramer/Kaempfer (1992): S. 285 546 Das Bild des würfelnden Gottes kam mit der Popularisierung der Chaosforschung auf und hält sich bis heute. Siehe bespielsweise: Mathias Bröckers: „Und er würfelt doch...“, in: taz, 25. Oktober 1989 oder: Richard Morris: Gott würfelt nicht, Hamburg/Wien 2001 221 Buchstaben verschlüsselt.547 Da die Entschlüsselung kompliziert ist, dauert sie lange und erlebt einen weiteren Modewechsel in der Wissenschaftsrepräsentation: das Mapping. Das Genom wird nun kartiert, die Lage bestimmter Gene lokalisiert. Eine Tagung zu diesem Thema hat u.a. gezeigt, wie unzutreffend dieses Bild der Karte ist. Die Genomsequenz spiegele nicht die Ordnung eines Organismus wieder, der Genotyp sei keine Karte des Phänotyps. Eine andere Form der Kartierung menschlicher Gene, es soll die Häufigkeit genetischer Merkmale auf geographischen Karten verzeichnet werden, wirft politische und gesellschaftliche Fragen nach dem Mißbrauch der Forschungsergebnisse auf.548 Eine weitere Methode, DNS erfahrbar zu machen, ist, sie zu Vertonen, eine DNA Suite zu komponieren. Die Übersetzung der Algorithmen in Töne soll der Identifikation von Strukturen dienen. „Thus the representational value of each musical idea was more important than its aesthetic consequence.“549 Diesen Verfahren, das Unsichtbare begreifbar – und kommerziell nutzbar – zu machen, ist eines gemein: die Suche nach Mustern. Komplexität Die hier nur exemplarisch, und verkürzt, dargestellten Phänomene werden in ver- schiedenen Gebieten der Naturwissenschaften (Chaosforschung, Emergenz, Synergetik, Synchronizität, Selbstorganisation etc.) untersucht. Die Komplexitäts- theorie möchte diese Gebiete unter dem Stichwort der nicht-linearen dynamischen Systeme zusammenfassen.550 Ihr erklärtes Ziel ist es, die Muster der Natur zu er- klären. „Die Komplexitätswissenschaft lehrt uns, daß die Komplexität, die wir in der Welt erblicken, ein Ergebnis fundamentaler Einfachheit ist. [...] Da einfache Systeme komplexe Muster erzeugen, haben wir eine echte Chance, diese Muster zu verstehen.“551 Ein interdisziplinärer Sonderforschungsbereich ‘Natürliche Konstruk- tionen’ existiert seit 1984 in Stuttgart, initiiert von Frei Otto. Der Grundgedanke ist auch hier „die Erkenntnis, daß sich die immense Formenvielfalt der Natur auf einige gemeinsame Konstruktionsprinzipien zurückführen läßt.“552 Eine Lesung der Schriften des Sonderforschungsbereiches benennt in Kurzform einige der hier dargestellten Charakteristika: Die Wiederentdeckung der Zeit, d.h. die Irreversibilität der Zeit kennzeichnet sie als ein Qualitatives. Die Natur wird als ein Schöpferisches verstanden, aus dem die Wissenschaft lernen kann. Gebrochene Dimensionen und Symmetrien erzeugen Komplexität und verweisen auf die Relativität der Stabilität. Die Rückkehr zur mesoskopischen Ebene. Die Einheit der Wirklichkeit wird nicht mehr reduktionistisch erzeugt, aber auch nicht durch eine Weltformel ausgedrückt. Die Existenz dynamischer Prozesse, die auf allen Ebenen Komplexität generieren, wirkt als vereinheitliches Moment.553 547 Christiane Nüsslein-Volhard: „Den Göttern gleich’ ich nicht!“, in: FAZ 23. Februar 2001, Nr. 46, S. 43 548 Achim Bahnen: „Wanderer, kommst du nach 7q31.2“, in: FAZ 7. März 2001, Nr. 56, S. 49 549 http://ndbserver.rutgers.edu/NDB/archives/MusicAtlas 550 Lewin (1993): S. 24 551 Lewin (1993): S. 236 552 Arch+ 121 (1994): S. 38 553 Arch+ 121 (1994): S. 42 222 Das Muster spielt in diesen Ausführungen keine zentrale Rolle, wie hier jedoch gezeigt werden konnte, ist das Muster als Leitbegriff geeignet und wird von einigen Wissenschaftlern zentral benannt. „Ich bin der festen Überzeugung, daß die Wahrnehmung, die Extrapolation und die Verallge- meinerung von Mustern den Kern der Kreativität bilden und daß man zu einem Verständnis dieser grundlegenden kognitiven Prozesse nur gelangen kann, wenn man sie in äußerst beschränkten und mit der allergrößten Sorgfalt entwickelten Mikrobereichen abbildet.“554 Der Erfinder der Quarks, Murray Gell-Mann, formuliert sehr prägnant: „Komplexe adaptive Systeme sind Mustersucher.“555 Demzufolge dienen Muster der Komplexitätsreduktion, die wiederum unser Überleben sichert. Mustersuche ent- spricht viablem Verhalten. Die Erkennung von Mustern gehört zur kognitiven Grundausstattung des Menschen. Die Vorgänge der Musterbildung und -suche sind Bestandteil lebender Systeme. Die Gesellschaft, die Kultur (und damit auch die textilen Erzeugnisse) oder auch das menschliche Gehirn sind komplexe adaptive Systeme, die Muster suchen. Die ‘Arbeit’ dieser Mustersucher wurde hier verfolgt. 554 Hofstadter (1996): S. 103f 555 Lewin (1993): S. 28 223 Die seltsame Schleife Die seltsame Schleife wurde als textiles Bild der Unendlichkeit selbstbezüglicher Systeme eingeführt. Die Unendlichkeit dieses resümierenden Kapitels bezieht sich auf verschiedene Phänomene: die Dimensionen, die Repetition, die Möglichkeiten der Musterungen und auf die seltsame Schleife. Selbstreferentialität, die Unendlichkeit produziert. Demgegenüber steht die gewünschte formale Endlichkeit einer wissenschaftlichen Arbeit. „Der Begriff der Seltsamen Schleife impliziert den der Unendlichkeit; denn was ist eine Schleife anderes als eine Methode, einen endlosen Vorgang mit Mitteln der Endlichkeit darzustellen?“1 Der Konflikt zwischen Endlichem und Unendlichem erzeugt ein Gefühl des Paradoxen. Kurt Gödels Entdeckung der seltsamen Schleife in der Mathematik wird von Hofstadter als Übersetzung eines uralten philosophischen Phänomens in die Mathematik beschrieben. Die Epimenides-Paradoxie ist ein Beispiel für eine einstufige seltsame Schleife. Der Kreter Epimenides sagt: „Alle Kreter sind Lügner.“ Gödel hat diese sprachliche Selbstbezüglichkeit in die Mathematik übertragen, das mathematische Denken als Methode zu seiner eigenen Erforschung angewandt.2 Das Ergebnis ist der Unvollständigkeitssatz, der besagt, daß „die einzigen Versionen der formalen Zahlentheorie, die ihre eigene Wider- spruchsfreiheit sichern, widerspruchsvoll sind.“3 Die Übertragbarkeit dieses Satzes ist beschränkt, seine Inspirationskraft hinsichtlich der Betrachtung der seltsamen Schleifen möchte ich für die Schlußbemerkung nutzen. Die Kennzeichnung der Gesellschaft und der Kultur als Mustersucher, als komplexe Systeme, hat den Menschen als Akteur zunächst nicht vorgesehen. Er ist jedoch nur scheinbar abwesend bzw. im Laborzustand der Wissenschaft häufig ausgesperrt. Diese Aussperrung ist notwendig bzw. Teil der Wissenschaftstradition des dualistischen Prinzips. Wird diese Trennung von Subjekt und Objekt, von Be- obachtetem und Beobachter aufgehoben, entsteht eine seltsame Schleife. Mit Ein- schränkungen vollzieht Hofstadter diese Parallelisierung des Gödelschen Unvoll- ständigkeitssatzes und der geistigen Repräsentation mit den Mitteln des Geistes.4 Die Unvollständigkeit bedeutet eine Begrenzung des Nachdenkens über das Nachdenken. Die Mustererkennung und -bildung als kognitive Grundausstattung, so wie sie von mir vorgestellt wurde, entzieht sich demzufolge in gleicher Weise einer vollständigen Repräsentation. Das Mustern des Musters wird zu einer seltsamen Schleife. Um dieser Schleife zu entgehen, habe ich einen definierten Beobachterposten eingenommen, von dem aus das Muster und die Beobachter des Musters beobachtet wurden. Auf die Eigenschaft der Selbstreferentialität wurde hingewiesen, abschließend soll sich ihr gestellt werden, d.h. das eigene Mustern des Musters einer Reflexion unterzogen werden. 1 Hofstadter (1985): S. 17 2 Hofstadter (1985): S. 19 3 Hofstadter (1985): S. 742 4 Hofstadter (1985): S. 741f 224 Dies soll im Rahmen konstruktivistischer Theorie und kognitionswissenschaftlicher Erkenntnis geschehen.5 Die Verschränkung des hier Dargestellten mit diesen Theorien dient der Rekonstruktion der Konstruktion anhand des Musters, wie sie bei Dux als Voraussetzung der Erkenntnis benannt wird.6 Besonders die Ausführungen zur visuellen Intelligenz haben gezeigt, daß die phänomenale Welt eine vom menschlichen Gehirn konstruierte ist. Diese Kon- struktivität ist umfassend, d.h. auch die Vorstellungen über das Gehirn und seine Funktionsweise sind Konstrukte. „Ebenso ist die grundsätzliche Untergliederung der phänomenalen Welt in drei Bereiche, nämlich die uns umgebende Welt, unseren Körper und unsere mentale Welt, eine Konstruktion unseres Gehirns. [...] Es ist eine der Hauptleistungen unseres kognitiven Systems während seiner Ontogenese, diese ‘ontologischen Bereiche’ zu konstituieren.“7 Wie ich gezeigt habe, ist das Muster Bestandteil aller drei Bereiche und veranlagt sich in gewisser Weise, als wechselwirkender Konstruktionsvorgang, selbst. Es ist an der Ontogenese beteiligt, indem es elementare Erfahrungen des Raumes vermittelt: nämlich das Innen und Außen und das Körperhafte. Die epistemologische Funktion des Musters konnte besonders im Hinblick auf die Mathematik gezeigt werden, die wiederum eine Form der mentalen Repräsentation darstellt. Eine (über-)lebensnotwendige Bedingung der Ontogenese ist die Trennung zwischen System und Umgebung, zwischen Innen und Außen, die bei bewußtseinsfähigen kognitiven Systemen eine zusätzliche Wiederholung (Ver- dopplung) im Innen des Systems erfährt. „Die Beziehung zwischen Geist und Gehirn erscheint uns rätselhaft, weil ihre Unterscheidung ein notwendiger Zustand der Selbstdifferenzierung unseres kognitiven Systems während der Konstitution von ‘Wirklichkeit’ ist, nämlich im Rahmen der Notwendigkeit, ‘wirklich Vor- handenes’ von ‘nur Gedachtem’ zu unterscheiden.“8 Für die Neurobiologie stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob die Beziehung zwischen Geist und Gehirn gemäß dieser Erkenntnis überhaupt analysierbar ist. Roth sieht eine Möglichkeit auf der Basis neuester technischer Möglichkeiten und der Einsicht in die emergenten Strukturen des Gehirns.9 Ihm geht es hier nicht um die Bedeutung der Muster für diese Prozesse, es konnte jedoch gezeigt werden, wie eng die Konzepte der Selbstorganisation und der Emergenz mit Musterbildungs- und Mustererkennungsprozessen verbunden sind. In diesem Zusammenhang wurde deutlich, daß das Auftauchen von Mustern, von Ordnung aus dem Chaos, immer mit einer Sinnvermutung einhergeht. Das Leben an sich kann Goodwin zufolge nur dort entstehen und überleben, wo ein gewisses Maß an Mustern, an Ordnung vorhanden ist. Diese Muster müßten jedoch als dynamische Systeme begriffen werden, ein statisches, reduktionistisches Modell, das alles auf die Gene zurückführe, könne keine „wahre wissenschaftliche Erkenntnis“ produzieren.10 5 Hierbei beziehe ich mich vor allem auf die Texte von Roth (1992), Dux (2000) und Hofstadter (1985) sowie auf einige Aspekte des radikalen Konstruktivismus, wie Heinz von Foerster (1993) ihn vertritt. 6 Dux (2000): S. 48 7 Roth (1992): S. 128 8 Roth (1992): S. 129 9 Roth (1992): S. 130 10 Goodwin (1997): S. 24, 275, 277 225 Aber auch die Erkenntnis und Beobachtung dynamischer und komplexer Muster ist nicht voraussetzungslos. Die Konstruktivität des Musters annehmend, verlieren die Sinnvermutungen und Objektivierungen ihre Grundlage. Ein Entrinnen aus der seltsamen Schleife scheint unmöglich. „Im konstruktiven Verständnis der menschlichen Daseinsform in der Moderne ist die Konstruktivität selbst nicht zu durchbrechen. Die Rekonstruktion der Konstruktion aus den Bedingungen lehrt jedoch, in welcher Weise die Konstrukte sachhaltig werden.“11 In dieser Weise sind meine Ausführungen zum Muster zu verorten. Ich habe die Muster als Konstrukte der Wahrnehmung, des Denkens, des Verhaltens und der Wissenschaft vorgestellt. Der Sinn der Konstruktion von Mustern besteht in ihrer Funktionalisierung, deren Varietät demonstriert wurde. Abschließend werde ich die wichtigsten Funktionen des Musters als Ergebnis meiner Mustersuche noch einmal benennen. Ich habe mich vor allem mit visuell und manuell erfahrbaren Mustern beschäftigt. Anhand des textilen Modells konnte die ontogenetische Funktion des Musters gezeigt werden. Die textilen Muster als Muster der Bewegung konstituieren das relationale Selbst im Raum. Die epistemologische12 Funktion des Musters ist eng mit seiner repetitiven Eigen- schaft verbunden. Die Wiederholungsvorgänge des Zählens haben dies gezeigt. Der Übergang vom Konkreten zum Abstrakten, der Erfindung der Zahl, beruht auf der Erkenntnis der Wiederholung. Auch das Erkennen und Nutzen der Symmetrie beruht auf der vorgängigen Erkenntnis der Wiederholung als Prinzip. Das Repetitive des Musters in den Vordergrund stellend, wird es zur Disziplinierung genutzt: textile Handarbeiten, Marschieren, höfische Tänze. Die Möglichkeiten der Instrumentalisierung der unterschiedlichen Disziplinierungsmaßnahmen beruhen auf dem Vorgang der Wiederholung. Die Repetition einer Bewegung (beim Tanz, Joggen oder dem oft zitierten Uhrpendel) kann jedoch auch zu einer Art Selbsthypnose, einem tranceartigen, meditativen Zustand führen. Die Kennzeichnung dieser beiden elementaren Funktionen des Musters, der onto- genetischen und der epistemologischen, als Bestandteil der kulturellen Praxis lassen eine Nutzung im didaktisch-pädagogischen Bereich zu. István Hargittai nutzt das textile Muster als Modell für die Symmetriegruppen: Die ungarischen Stickmuster dienen der Illustration.13 Paulus Gerdes rekonstruiert anhand textiler Techniken das mathematisch-geometrische Grundverständnis.14 In beiden Ansätzen kommt dem Textilen eine nachträgliche, erklärende Funktion zu. Das Erkennen und die Erzeugung textiler Muster könnte jedoch gezielt für den Wissenserwerb eingesetzt werden. Die Beispiele haben gezeigt, daß eine Form der ‘Textilmathematik’ ent- wickelbar ist. Das textile Muster kann der Erschließung des Raumes und seinen Dimensionen, dem Verständnis von Symmetrie, der Erfahrung von Rhythmus dienen. Als greifbares Phänomen, nämlich als auszuführende bzw. sich experimentell 11 Dux (2000): S. 480 12 Epistemologie wird von mir in der Foersterschen Weise als Theorie des Erkenntnis- und Wissenserwerbs verstanden. Foerster (1993): S. 50 13 Hargittai/Hargittai (1986): Kap. 8 14 Gerdes (1990); (1997) 226 anzueignende Technik, ist das Muster als Leitbegriff durch verschiedene Hand- lungsfelder geeigneter als Abstrakta. Das Muster, wie es für das Textile als konstitutiv-konstruierendes vorgestellt wurde, kann der konkreten Aneignung der Welt dienen: als eine Veräußerung, als Materialisation des Gedachten. Das Muster als Attraktor der visuellen Wahrnehmung regt zum Vergleich an. Der Vorgang des Vergleichens wiederum beinhaltet die Möglichkeit der Ordnungs- erzeugung, der Bildung von Klassen und Kategorien, die als fundamentale Aufgabe des Gehirns angesehen wird. Das Klassifizieren als biologische Konstante, das auch bei Tieren nachweisbar ist, ist lebensnotwendig. Die Mustererkennung, die das Klassifizieren und „fast jede kognitive Aktivität des Gehirns“ einschließt, ist dem- entsprechend von fundamentaler Bedeutung.15 Wie komplex die Vorgänge der Wahr- nehmung und Mustererkennung sind, wurde gezeigt. Die Prinzipien der Mustererkennung zu verstehen, würde den Menschen in den Stand setzen, intelligentere Maschinen zu bauen. Hierfür muß die Konstruktivität einbezogen, als Form der menschlichen Kontextualisierung begriffen werden. Die Beschäftigung mit Mustern führt zu den Begriffen der Komplexität und Prozessualität, die dem Reduktionismus und Kalkulationismus entgegenstehen. Die Unschärfe und die Dynamik menschlicher Wahrnehmung und menschlichen Denkens und Handelns findet hierüber Eingang in die Wissenschaft.16 Manuelle und visuelle Intelligenz zeichnen sich durch die Instrumentalisierung der Mustererkennung aus. Der Mensch als Teil der Gesellschaft sucht Muster und instrumentalisiert sie vor allem in der Musterproduktion. Das Muster als kognitive Grundausstattung des Menschen ist ein Mittel der Welt- aneignung. Die Intentionalität dieser Aneignung macht das Muster zu einem Be- deutungsträger und somit zu einem ‘Muster mit Wert’. 15 McNeill/Freiberger (1994): S. 317 16 McNeill/Freiberger (1994): S. 104. Das Forschungsfeld der Fuzzy Logic beschäftigt sich explizit mit Unschärfen und operiert deshalb u.a. mit sprachlichen und nicht mit exakten Zahlenwerten. 227 Abbildungsverzeichnis Titelblatt 1: Wallpaper* may/june 1999, The bull’s eye design, S. 82 Dieses Bild ist Teil einer Kampagne der Dayton Hudson Brands, Inc. unter dem Titel ‘The bull’s eye design’. Abb. 1: Die verschiedenen Symmetrieoperationen und ihre Kombinationen aus: Müller, Claus (1985): Symmetrie und Ornament, Opladen, S. 38 Abb. 2: ‘The seven symmetry classes of one-sided bands’ aus: Hargittai, István/Hargittai, Magdolna (1986): Symmetry through the eyes of a chemist, Weinheim/New York, S. 333 Abb. 3: ‘Illustration of the seven symmetry classes of one-sided bands by Hungarian needlework’ aus: Hargittai, István/Hargittai, Magdolna (1986): Symmetry through the eyes of a chemist, Weinheim/New York, S. 334–335 Abb. 4: Zwei von 17 möglichen zweidimensionalen Flächenmustern mit den Symmetrien ‘pmg2’ und ‘p4gm’ (internationale Notation). Beide Beispiele sind Stickmustervorlagen aus Ungarn, 19. Jh. aus: Hargittai, István/Hargittai, Magdolna (1986): Symmetry through the eyes of a chemist, Weinheim/New York, S. 349 Abb. 5: Parallelogrammatische Gitter aus: Mainzer, Klaus (1988): Symmetrie der Natur, Berlin/New York, S. 149 Abb. 6: Die Venus von Milo mit der Spindel aus: Barber, Elizabeth W. (1994): Women’s Work. The First 20000 Years, New York/London, S. 237 Abb. 7: Musterskizze eines durch Zettelbrief und Schußfolge in Tuchbindung gebildeten Hahnentrittmusters aus: Hofer, Alfons (1994): Stoffe 2, Frankfurt a.M., S. 471 Abb. 8: Leonardo da Vinci, Gewandstudie aus: Leonardo da Vinci (1990): Die Gewandstudien, Ausstellungskatalog, München/Paris/London, S. 53 Abb. 9: Stoffmusterentwurf ‘Fabrik’, 1930 Farbkopie vom Original, Privatsammlung der Galerie Ruf, Rastatt Abb. 10: Stofffragment ‘Internationaler Tag der Jugend’, 1929 Farbkopie vom Original, Privatsammlung der Galerie Ruf, Rastatt Abb. 11: Musterzeichnung aus Sibmacher, Newes Modelbuch In Kupffer gemacht, Nuremberg, 1604 aus: Abegg, Margaret (1978): Apropos Patterns, Bern, S. 105 Abb. 12: Mustervorlagen (Holzschnitt) aus Nüw Modelbüch. Allerley gattungen Däntelschnur, Zürich um 1561 aus: Earnshaw, Pat (1982): A Dictionnary of Lace, o.O. 228 Abb. 13: Emilio Pucci, Seidencape, 1965 aus: Kennedy, Shirley (1991): Pucci. A Renaissance in Fashion, New York/London/Paris, S. 105 Abb. 14: „Per Computer errechnetes ‘Schicksal’ eines imaginären Pendels. Die eingefärbten Muster illustrieren, über welchem von drei Magneten (Attraktoren) eine am Faden aufgehängte Eisenkugel schließlich endet.“ aus: GEO-Wissen. Chaos + Kreativität, 1993, S. 126 Abb. 15: Wandmalerei eines Giotto-Schülers, um 1340, Bozen, San Domenico aus: Pastoureau, Michel (1995): Des Teufels Tuch, Frankfurt a.M./New York, S. 26 Abb. 16: „Ralph Neville, Earl of Westmorland and his children, c. 1410–30“ aus: Boucher, François (1996): A History of Costume in the West, London, S. 214 Abb. 17: Bildnis der Herzogin Katharina von Mecklenburg von Lucas Cranach d.Ä., um 1514 aus: Thiel, Erika (1990): Geschichte der Mode, Augsburg, S. 173 Abb. 18: F. de Llano, Infantin Isabella Clara Eugenia, 1584 (Madrid, Prado) aus: Boucher, François (1996): A History of Costume in the West, London, S. 218 Abb. 19: Zwei Modelle aus der großen ‘Italia-Modenschau 59 burda-legler’ aus: burda Februar 1959, Verlag Aenne Burda, Offenburg, S. 28 Abb. 20: Keramikschüssel, Iran, 9.–10. Jh., Metropolitan Museum of Art, New York aus: Graber, Oleg (1992): The mediation of Ornament, Washington, S. 15 Abb. 21: Sonia Delaunay, ‘L’Alphabet’, 1947 aus: Brandstetter, Gabriele (1995): Tanz-Lektüren, Frankfurt a.M., S. 431 Abb. 22: ernst jandl, ‘streben: eine entwicklung’ aus: Siblewski, Klaus (Hg.) (1985): Ernst Jandl, Gesammelte Werke, Bd. 1: Gedichte, Darmstadt/Neuwied, S. 379 Abb. 23: Pierre Bayle, Dictionaire historique et critique, Rotterdam 1720 aus: Grafton, Anthony (1995): Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote, München, Abb. 7 Abb. 24: Eine beliebige Seite aus ‘Glas’ aus: Derrida, Jacques (1974): Glas, Paris, S. 69 Abb. 25: Moiré-Pattern aus: Hargittai, István/Hargittai, Magdolna (1986): Symmetry through the eyes of a chemist, Weinheim/New York, S. 362 Abb. 26: Druckstoff, Bauhaus Dessau, 1932 aus: Wichmann, Hans (Hg.) (1990): Von Morris bis Memphis. Textilien der Neuen Sammlung, Basel/München, S. 206 Abb. 27: Diskus von Moordorf, Bronzezeit Harley, J.B./Woodward, David (1987): The History of Cartography, Vol. 1, Chicago/London, S. 91 Abb. 28: Karte von Spanien im 1. Jh. n. Chr. aus: FAZ, 8. Dezember 1999 229 Abb. 29: Königlicher Teppich aus dem Palast in Fumbam (Legende nach Paul Gebauer) aus: Woodward, David/Lewis, Malcolm G. (Hg.) (1998): The History of Cartography, Vol. 2, Book Three, Chicago/London, S. 46 Abb. 30: Sébastien Le Clerc, Ludwig XIV. besichtigt die Académie des Sciences, 1671 aus: Burke, Peter (1993): Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs, Frankfurt a.M., S. 81 Abb. 31: Pierre Rameau, ‘Gran bal du Roi’, 1725 aus: Taubert, Karl Heinz (1968): Höfische Tänze, Mainz, S. 27 Abb. 32: Caroso ‘Nobilità di Dame’ (Il Ballerino), Venedig 1605 aus: Fritz Böhme: Ein Kapitel aus der Geschichte der Choreographie, in: Schrifttanz, Heft 1, 7/1928, 1. Jg., S. 7 Abb. 33: Kellon Tomlinson, Grand plan with figures, 1727 aus: Louppe, Lawrence (1994): Traces of Dance, Paris, S. 102 Abb. 34: Orthographie: Sechs Personen, die sich die Hände reichen aus: Laban, Rudolf von (1928): Schrifttanz, 1. Beiheft, S. 14 Abb. 35: Der Tanzkörper wird durch ein Fünfliniensystem aufgeteilt aus: Schrifttanz, Heft 2, Oktober 1928, S. 33 Abb. 36: Dymaxion-Projektion und Mercator-Projektion (jeweils mit Abwicklung) aus: Arch+. Zeitschrift für Architektur und Städtebau, Nr. 116: Gebaute Weltbilder, März 1993, S. 52 Abb. 37: Holzgeschnitzte Urfigur der Tabwa mit Mulalambo Linie und V-förmigem Muster aus: Woodward, David/Lewis, Malcolm G. (Hg.) (1998): The History of Cartography, Vol. 2, Book Three, Chicago/London, S. 31 Abb. 38: Dreidimensionale Karte der ‘Ammassalik Eskimo’ aus: Woodward, David/Lewis, Malcolm G. (Hg.) (1998): The History of Cartography, Vol. 2, Book Three, Chicago/London, S. 169 Abb. 39: Notenschrift, Debussy, Preludes aus: Hargittai, István (Hg.) (1986): Symmetry. Unifying Human Understanding, New York, S. 447 Abb. 40: ‘Das symmetrische Geheimnis der Seele der Musik’. Visualisierung von Tonfrequenzen aus: Hargittai, István (Hg.) (1986): Symmetry. Unifying Human Understanding, New York, S. 463 Abb. 41: ‘Apfelmännchen’ aus: GEO-Wissen. Chaos + Kreativität, 1993, S. 182 Abb. 42: „Bildung von Verzweigungen in Oliva porphyria. a) Viele Verzweigungen entstehen simultan an weit auseinanderliegenden Stellen. b) Im Modell wird ein homogen verteiltes Hormon (grün) angenommen, das von allen aktivierten Zellen produziert wird und das die Bildung von Verzweigungen steuert. c) Stoffverteilung am Ende der in b) gezeigten Simulation.“ aus: Meinhardt, Hans (1997): Wie Schnecken sich in Schale werfen, Berlin/Heidelberg, S. 98 Abb. 43: Schale von Ficus gracilis. Muster, das durch die Überlagerung von zwei Systemen ent- steht. Ein System bildet ein zeitstabiles Muster im Raum, das andere ein oszillierendes Muster. aus: Meinhardt, Hans (1997): Wie Schnecken sich in Schale werfen, Berlin/Heidelberg, S. 56 230 Abb. 44: Ein symmetrisches Fraktal aus: Field, Michael/Golubitsky, Martin (1993): Chaotische Symmetrien, Basel, S. 181 Abb. 45: ‘Pfeffer und Salz’. Ein Muster, das mit mathematischen Vorschriften berechnet wurde, welche die Symmetrien von quadratischen und sechseckigen Pflasterungen besitzen. aus: Field, Michael/Golubitsky, Martin (1993): Chaotische Symmetrien, Basel, S. 57 Abb. 46: „Dieses molekulare Blumenband entsteht spontan, wenn Nickel-Komplexe von Cyclam und Benzoltricarbonsäure in Wasser zusammengebracht werden. Die aus jeweils sechs Nickelkomplexen und sechs Säuremolekülen zusammengesetzten und durch Wasserstoff-brücken zusammengehaltenen Ringe bilden ein dreidimensionales Netz.“ aus: FAZ, 9. Juni 1999, N6 Abb. 47: Oberfläche eines Silizium-Kristalls aus: FAZ, 8. Januar 1997, N1 Abb. 48: DNA-Doppelhelix (Vergrößerung: 100 Ångström) aus: Morrison, Philip (1985): Zehn Hoch, Heidelberg, S. 85 Abb. 49: Geknüpfte Spirale aus Halbknoten (Makrameetechnik) aus: Lammèr, Jutta (1975): Werkkunstbuch, Ravensburg, S. 193 231 Erfassungsbogen Erfassung der Grunddaten: Titel: Aufbewahrungsort: Inventarnr.: Datierung: Herkunft: Technische Beschreibung: Objektbeschreibung: Größe: Material: Herstellungstechnik: Kunst-/Kulturhistorische Beschreibung: Muster Rapport: Motivgröße: Material (mustergenerierend): Herstellungstechnik: Kurzbeschreibung (Vorder-/Rückseite): Musterbeschreibung Musteranalyse Gruppe: Grundform: Musteranordnung: Symmetrie: Rhythmus/Bewegung: Farbe (Wirkung): Bemerkungen: Literatur: 232 Erfassungsbogen Erfassung der Grunddaten: Titel: Stoffmusterentwurf (‘russische Sammlung’) Aufbewahrungsort: Galerie Ruf, Rastatt Inventarnr.: -- Datierung: 29.3.1930 Herkunft: Rußland Technische Beschreibung: Objektbeschreibung: Mehrfarbiger, gezeichneter Entwurf auf Papier Die Art der Ausführung des Entwurfs ist nicht vermerkt. Größe: Es ist jedoch anzunehmen, daß den vorhandenen Textil- Material: fragmenten ähnliche Verfahren und Techniken geplant Herstellungstechnik: waren. Kunst-/Kulturhistorische Beschreibung: Muster Rapport: Höhe: 7,8 cm; Breite: 10,2 cm Motivgröße: Höhe: 3,7 cm; Breite: 3,8 cm Material (mustergenerierend): s.o. Herstellungstechnik: Kurzbeschreibung: Auf hellem Grund in versetzter Reihung Muster von (Vorder-/Rückseite) stilisierten Fabriken und rauchenden Schornsteinen in den Farben schwarz, mauve und zinnoberrot. Musterbeschreibung Musteranalyse Gruppe: Ebene Muster, Flächenornament Grundform: Vieleck; Dreiecke als Einzelelemente vorherrschend Musteranordnung: linear, Diagonale betonend Symmetrie: Translation; Verschiebung in zwei Richtungen Rhythmus/Bewegung: Diagonalen des Rauchs mit flachem Winkel erzeugen gemäßigte, kontinuierliche Bewegung Massencharakter durch Reihung (Repetition) Stilisierung und Farbigkeit erzeugt Leichigkeit Farbe (Wirkung): Antirealistisch Bemerkungen: Ein angedruckter Stoff ist nicht Bestandteil der Sammlung. Literatur: I. Jassinskaja: Russische Textildrucke der 20er und 30er Jahre, Tübingen 1983 Stichwort: Konstruktivismus, russ. Avantgarde 233 Literaturverzeichnis Abbott, Edwin A. (1929): Flächenland. Eine Geschichte von den Dimensionen erzählt von einem Quadrat, Leipzig/Berlin Abegg, Margaret (1978): Apropos Patterns, Bern Adams, Marie Jeanne (1969): System and Meaning in East Sumba Textile Design: A Study in Traditional Indonesian Art, New Haven, Conn. 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Abb. 5: Parallelogrammatische Gitter Abb. 6: Die Venus von Milo mit der Spindel Abb. 7: Musterskizze eines durch Zettelbrief und Schussfolge in Tuchbindung gebildeten Hahnentrittmusters Abb. 8: Leonardo da Vinci, Gewandstudie Abb. 9: Stoffmusterentwurf ‘Fabrik’, 1930 Abb. 10: Stofffragment ‘Internationaler Tag der Jugend’, 1929 Abb. 11: Musterzeichnung aus Sibmacher, Newes Modelbuch In Kupffer gemacht, Nuremberg, 1604 Abb. 12: Mustervorlagen (Holzschnitt) aus Nüw Modelbüch. Allerley gattungen Däntelschnur, Zürich um 1561 Abb. 13: Emilio Pucci, Seidencape, 1965 Abb. 14: „Per Computer errechnetes ‘Schicksal’ eines imaginären Pendels. Die eingefärbten Muster illustrieren, über welchem von drei Magneten (Attraktoren) eine am Faden aufgehängte Eisenkugel schließlich endet.“ Abb. 15: Wandmalerei eines Giotto-Schülers, um 1340, Bozen, San Domenico Abb. 16: „Ralph Neville, Earl of Westmorland and his children, c. 1410-30“ Abb. 17: Bildnis der Katharina von Mecklenburg von Lucas Cranach d. Ä., um 1514 Abb. 18: F. de Llano, Infantin Isabella Clara Eugenia, 1584 (Madrid, Prado) Abb. 19: Zwei Modelle aus der großen ‘Italia-Modenschau 59 burda-legler’ Abb. 20: Keramikschüssel, Iran, 9.-10. Jh., Metropolitan Museum of Art, New York Abb. 21: Sonia Delaunay, ‘L’Alphabet’, 1947 Abb. 22: ernst jandl, ‘streben: eine entwicklung’ Abb. 23: Pierre Bayle, Dictionaire historique et critique, Rotterdam 1720 Abb. 24: Eine beliebige Seite aus ‘Glas’ Abb. 25: Moiré-Pattern Abb. 26: Druckstoff, Bauhaus Dessau, 1932 Abb. 27: Diskus von Moordorf, Bronzezeit Abb. 28: Karte von Spanien im 1. Jh. n. Chr. Abb. 29: Königlicher Teppich aus dem Palast in Fumbam (Legende nach Paul Gebauer) Abb. 30: Sébastien Le Clerc, Ludwig XIV. besichtigt die Académie des Sciences, 1671 Abb. 31: Pierre Rameau, ‘Gran bal du Roi’, 1725 Abb. 32: Caroso ‘Nobilità di Dame’ (Il Ballerino), Venedig 1605 Abb. 33: Kellon Tomlinson, Grand plan with figures, 1727 Abb. 34: Orthographie: Sechs Personen, die sich die Hände reichen Abb. 35: Der Tanzkörper wird durch ein Fünfliniensystem aufgeteilt Abb. 36: Dymaxion-Projektion und Mercator-Projektion (jeweils mit Abwicklung) Abb. 37: Holzgeschnitzte Urfigur der Tabwa mit Mulalambo Linie und V-förmigem Muster Abb. 38: Dreidimensionale Karte der ‘Ammassalik Eskimo’ Abb. 39: Notenschrift, Debussy, Preludes Abb. 40: ‘Das symmetrische Geheimnis der Seele der Musik’. Visualisierung von Tonfrequenzen Abb. 41: ‘Apfelmännchen’ Abb. 42: „Bildung von Verzweigungen in Oliva porphyria. a) Viele Verzweigungen entstehen simultan an weit auseinanderliegenden Stellen. b) Im Modell wird ein homogen verteiltes Hormon (grün) angenommen, das von allen aktivierten Zellen produziert wird und das die Bildung von Verzweigungen steuert. c) Stoffverteilung am Ende der in b) gezeigten Simulation.“ Abb. 43: Schale von Ficus gracilis. Muster, das durch die Überlagerung von zwei Systemen entsteht. Ein System bildet ein zeitstabiles Muster im Raum, das andere ein oszillierendes Muster. Abb. 44: Ein symmetrisches Fraktal Abb. 45: ‘Pfeffer und Salz’. Ein Muster, das mit mathematischen Vorschriften berechnet wurde, welche die Symmetrien von quadratischen und sechseckigen Pflasterungen besitzen. Abb. 46: „Dieses molekulare Blumenband entsteht spontan, wenn Nickel-Komplexe von Cyclam und Benzoltricarbonsäure in Wasser zusammengebracht werden. Die aus jeweils sechs Nickelkomplexen und sechs Säuremolekülen zusammengesetzten und durch Wasserstoffbrücken zusammengehaltenen Ringe bilden ein dreidi- mensionales Netz.“ Abb. 47: Oberfläche eines Silizium-Kristalls Abb. 48: DNA-Doppelhelix (Vergrößerung: 100 Ångström) Abb. 49: Geknüpfte Spirale aus Halbknoten (Makrameetechnik)