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Bearbeitung, zuletzt am 24. Mai 2005, durch: A. Tschentscher; Marcel Schröer | |||
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Beschluß |
des Ersten Senats vom 17. Juli 1984 |
-- 1 BvR 816/82 -- |
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Das Urteil des Amtsgerichts Kempten (Allgäu) vom 30. Oktober 1981 -- Ls 20 Js 12 777/80 -- und der Beschluß des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 30. April 1982 -- 5 St 91/82 -- verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes und werden, soweit sie ihn betreffen, aufgehoben. Das Verfahren wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Kempten zurückverwiesen. |
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten. |
Gründe: | |
A. | |
Gegenstand
der Verfassungsbeschwerde ist die Frage, ob eine Verurteilung wegen
Beleidigung im Rahmen eines politischen Straßentheaters vor der
Kunstfreiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG Bestand hat.
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I. | |
1.
Der Dichter Bertolt Brecht schuf 1947 in Anlehnung an das 1819/20
entstandene Gedicht von Percy Bysshe Shelley "The Masque of Anarchy.
Written on the Occasion of the Massacre in Manchester", welches eine
Reaktion Shelley's auf die blutige Niederwerfung des Arbeiteraufstandes
von Peterloo darstellte, das Gedicht "Der Anachronistische Zug oder
Freiheit und Democracy". Darin beschreibt er einen Zug durch das in
Trümmern liegende Deutschland, der sich hinter zwei alten Tafeln mit
den Inschriften "Freiheit" und "Democracy" bewegt. Teilnehmer des Zuges
sind neben anderen: ein Pater, der unter einem Kreuz schreitet, dessen
Haken überklebt sind; Herren der Rüstungsindustrie; Lehrer, die für das
Recht eintreten, die deutsche Jugend zur Schlächtertugend zu erziehen;
Mediziner, die Kommunisten für ihre Versuche fordern; Planer der
Vergasungslager; in hohen Ämtern sitzende "entnazte" Nazis;
Pressefreiheit fordernde ![]() ![]() | 2 |
In
der "Hauptstadt der Bewegung" schließen sich sechs "Parteigenossen" dem
Zug an: Unterdrückung, Aussatz, Betrug, Dummheit, Mord und Raub, welche
ebenfalls Freiheit und Democracy verlangen, und die Bertolt Brecht mit
folgenden Versen schildert:
| 3 |
Knochenhand
am Peitschenknauf Fährt die Unterdrückung auf. In'nem Panzerkarr'n
fährt sie Dem Geschenk der Industrie. Groß begrüßt, in rostigem Tank
Fährt der Aussatz. Er scheint krank. Schämig zupft er sich im Winde
Hoch zum Kinn die braune Binde. Hinter ihm fährt der Betrug Schwenkend
einen großen Krug Freibier. Müßt nur, draus zu saufen Eure Kinder ihm
verkaufen. Alt wie das Gebirge, doch Unternehmend immer noch Fährt die
Dummheit mit im Zug Läßt kein Auge vom Betrug. Hängend überm Wagenbord
Mit dem Arm, fährt vor der Mord. Wohlig räkelt sich das Vieh Singt:
Sweet dream of Liberty. Zittrig noch vom gestrigen Schock Fährt der
Raub dann auf im Rock Eines Junkers Feldmarschall Auf dem Schoß einen
Erdball. ![]() ![]() | 4 |
2. Dieses Gedicht Brechts diente im Bundestagswahlkampf 1980
politischen Gegnern des damaligen Kanzlerkandidaten der CDU/CSU, des
Bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, als
Anknüpfungspunkt für ein politisches Straßentheater. Nach dem ihm
zugrunde liegenden Regiebuch mit dem Titel "Ein Zug zur Rettung des
Vaterlandes oder Freiheit und Democracy" sollte einem aus Fahrzeugen
und Fußgängern bestehenden Zug das Gedicht Brechts als Vorbild dienen,
wobei der Zug auch ohne das Gedicht "Beschreibung heutiger
Wirklichkeit" sein sollte. Bei der Fahrt durch die Bundesrepublik in
der Zeit vom 15. September bis zum 4. Oktober 1980 sollten -- wie es
auch geschehen ist -- in Ortschaften und Städten Szenen gespielt und
auch das Gedicht gesprochen werden.
| 5 |
Der
Zug sollte mit einem Fahrzeug, das eine große Glocke mit der Aufschrift
"Freiheit und Democracy" trug, beginnen. Ihm sollten unter anderem ein
Kübelwagen mit einem "General", ein Militärlaster mit einer Rakete und
einer Militärkapelle, drei schwarze Limousinen (mit Kennzeichen
SIE-MENS, FLI-CK, THYS-SEN), ein Wagen mit "Mitgliedern des
Volksgerichtshofs" und ein Wagen mit schwarz uniformierten Angehörigen
eines privaten Sicherheitsdienstes folgen.
| 6 |
Anknüpfend
an die Wahlkampfparole der CDU/CSU "Freiheit statt Sozialismus" waren
für den Zug Transparente mit Aufschriften wie "Freiheit statt Butter",
"Für den Sieg im Dritten Weltkrieg", "Freiheit statt Kommunismus", "Für
Deutschland in den Grenzen von 1937", "Freiheit statt Politik", "Für
das Recht auf eine Bild-Zeitung", "Freiheit statt Enteignung",
"Freiheit für uns", "Freisler statt Spandau" vorgesehen. Das Ende des
Zuges bildete der sogenannte Plagenwagen, zu dem es im Regiebuch
wörtlich heißt: ![]() | 7 |
![]() | 8 |
Bei
Nennung der Stichworte (Unterdrückung, Betrug usw.) sollten sich die
entsprechenden Puppen (Plagen) erheben und von dem Darsteller des
Bayerischen Ministerpräsidenten wieder -- zunächst erfolgreich -- auf
ihren Platz zurückgedrückt werden, bis kurz vor Schluß des Gedichts
alle sechs Figuren aufstehen, den Blick auf diesen verstellen und nur
das von ihm hochgehaltene Schild mit der Aufschrift "Freiheit und
Democracy" sichtbar bleiben lassen sollten. Das Regiebuch bemerkt
hierzu:
| 9 |
"Der
Charakter des Kampfs wie auch sein anzunehmender Ausgang (eine Politik,
die die 'Vorteile' des Hitlerfaschismus haben will, ohne seine
Nachteile aufzuweisen, ist nicht möglich, sondern würde nur in eine
noch größere Katastrophe führen) mag dadurch besonders deutlich werden,
daß dieser Kampf stattfindet zwischen einem Menschen mit Strauß-Maske
einerseits und sich mechanisch, maschinenmäßig bewegenden Figuren
andererseits, also Figuren, von denen zu erwarten ist, daß sie immer
wieder aufstehen werden, auch wenn sich ein Strauß noch so sehr
anstrengt zu beweisen, daß er 'der Bessere' ist." ![]() | 10 |
![]() | 11 |
Am
25. September 1980 erreichte der Zug Kassel. Während er sich vor Beginn
der Rezitation des Gedichts formierte, wurde das Verdeck des letzten
Wagens wieder abgenommen, so daß die Puppen für die umstehende
Menschenmenge sichtbar wurden. Der Beschwerdeführer stand neben dem
Fahrer im Wagen und trug wiederum die weiße Maske.
| 12 |
II. | |
Diesen
Sachverhalt würdigte das Amtsgericht als Beleidigung des Bayerischen
Ministerpräsidenten, der Strafantrag gestellt und sich dem gegen den
Beschwerdeführer eingeleiteten Strafverfahren als Nebenkläger
angeschlossen hatte, in zwei sachlich zusammentreffenden Fällen und
verurteilte den Beschwerdeführer sowie die mitangeklagte Veranstalterin
des Zuges zu Geldstrafen.
| 13 |
Die Verurteilung stützte es auf folgende Erwägungen:
| 14 |
Der
Beschwerdeführer habe zwar erklärt, der Nebenkläger sei ihm --
allerdings nicht auf politischer Ebene -- persönlich vollkommen egal
und er habe sich nach besten Kräften bemüht, die ![]() ![]() | 15 |
Diese
Einlassung entlaste den Beschwerdeführer jedoch nicht. Das Gericht habe
sich zunächst in den Stand eines unvoreingenommenen, besonnenen
Straßenpassanten versetzt, der jeweils vor Beginn der eigentlichen
Aufführung des Gedichts den Wagen mit den Puppen und den
Beschwerdeführer mit der weißen Maske sehe. Einem solchen Betrachter
vermittle sich engste Zusammengehörigkeit des Nebenklägers mit den
Führern des Dritten Reiches dadurch, daß er sie zusammen "in einem
Boot" sitzen sehe. Die weitere Assoziation, der Nebenkläger sei
aufgrund dieses einträchtigen Zusammensitzens den NS-Größen
gleichzusetzen und habe sich deren politische Ziele zu eigen gemacht,
werde auch nicht dadurch unterbrochen, daß der Beschwerdeführer ein
Schild mit der Aufschrift "Hitler muß einmal tot sein" in der Hand
gehalten oder auf dem Beifahrersitz stehend und über den Puppen erhöht
posiert habe. Das könne auch dahin verstanden werden, daß mit der
Diskussion über Hitler und das Dritte Reich einmal Schluß sein müsse,
oder daß sich der Nebenkläger zwar den Exponenten des Dritten Reiches
überlegen fühle, sich aber nicht deutlich von ihnen distanziere,
sondern in der heutigen Zeit eher die Galionsfigur für deren
Gedankengut spiele. Ohne Bedeutung für eine Nichtidentifizierung des
Nebenklägers mit den NS-Größen sei der Umstand, daß dieser während der
Rezitation der letzten Strophe des Gedichts die Puppen bekämpfe und
immer wieder hinunterdrücke, denn in beiden Fällen sei es zu dieser
Aufführung noch nicht gekommen. Der Beschwerdeführer könne sich auch
nicht darauf berufen, der gesamte "Anachronistische Zug" stelle als
szenische Darstellung des Brecht'schen Gedichts eine Kunstform dar, die
unter den Kunstvorbehalt des Art. 5 Abs. 3 GG falle. Das könne
allenfalls für die Aufführung selbst, möglicherweise noch für das
Fahren des Zuges über Land gelten, keineswegs aber für die hierfür
notwendigen Vorbereitungen wie das Aufstellen des Zuges. Der Wagen ![]() ![]() | 16 |
Die
Revision des Beschwerdeführers und der mitangeklagten Veranstalterin,
mit welcher insbesondere eine Verletzung des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG
gerügt wurde, verwarf das Bayerische Oberste Landesgericht als
offensichtlich unbegründet.
| 17 |
III. | |
1.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die
Verletzung seiner Grundrechte aus den Art. 5 Abs. 3 Satz 1, Art. 5 Abs.
1, Art. 3 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 GG. Er
bezieht sich auf die in Abschrift überreichte Verfassungsbeschwerde der
mitverurteilten Veranstalterin. In dieser wird ausgeführt, der
"Anachronistische Zug" habe das Gedicht Brechts darstellen und optisch
wiedergeben sollen. Seinem Inhalt entsprechend sei die Aufführung durch
die aktualisierte Wiedergabe gegenwärtiger Erscheinungen des
Rechtsradikalismus inszeniert worden. Das der Veranstaltung zugrunde
liegende Gedicht sei zweifelsfrei Kunst. Ebensowenig dürfte es
zweifelhaft sein, daß seine Inszenierung und Umsetzung mit den üblichen
Mitteln des Theaters auf einer Bühne als Kunst anzusehen seien. Allein
die Verlegung des Spielortes auf die Straße könne den einmal
angenommenen Kunstcharakter nicht beseitigen. Das angegriffene Urteil
trage nicht der Tatsache Rechnung, daß die Kunstfreiheit schrankenlos
gewährleistet sei. Es öffne vielmehr Tür und Tor für die beliebige
Bestrafung infolge eigenwilliger Interpretation eines Kunstwerks durch
die Gerichte, die sich nicht an kunstgerechte "Auslegungsmodi" hielten.
Bereits die Ermittlung des Aussagekerns stelle eine Verletzung des
Grundrechts aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG dar. Es sei fehlerhaft, den
Beurteilungs ![]() ![]() | 18 |
Ein
weiterer Verstoß liege darin, daß von mehreren denkbaren
Interpretationen nur die strafrechtlich belastende als zutreffend
angesehen worden sei. Die von der Veranstalterin gewünschte
Interpretation stelle keine Beleidigung dar. Die Kunstfreiheit sei
schrankenlos gewährleistet und ende erst dort, wo die Menschenwürde
oder ein vergleichbar hohes Persönlichkeitsgut unter mißbräuchlicher
Berufung auf sie verletzt werde. Das Urteil zerschneide den
Gesamtzusammenhang, um so dem Grundrecht des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG
aus dem Weg zu gehen. Moderne Theateraufführungen bezögen oftmals auch
die Vorbereitungshandlungen in die Spielhandlung mit ein und machten
sie zum Gegenstand der künstlerischen Darbietung.
| 19 |
2.
Der Bayerische Staatsminister der Justiz, dem neben dem Nebenkläger des
Ausgangsverfahrens Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden ist,
hält die Verfassungsbeschwerde für unzulässig, weil sie nicht
rechtzeitig substantiiert begründet worden sei. Die bloße Bezugnahme
auf eine in Abschrift überreichte andere Verfassungsbeschwerde reiche
nicht aus.
| 20 |
In
jedem Falle sei sie jedoch unbegründet, weil der Beschwerdeführer nicht
in Ausübung der Kunstfreiheit gehandelt habe. Selbst wenn sein
Verhalten noch in den Schutzbereich der Kunstfreiheit falle, wäre es
einer Bestrafung wegen Beleidigung nicht entzogen. Darstellungen, die
einen demokratischen Politiker mit Erscheinungsformen oder
Repräsentanten des Nationalsozialis ![]() ![]() | 21 |
B. | |
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
| 22 |
Obwohl
die Beschwerdeschrift selbst sich darin erschöpft, die angegriffenen
Entscheidungen und einige als verletzt bezeichnete Grundrechtsartikel
zu nennen, genügt die Verfassungsbeschwerde den Anforderungen des § 92
BVerfGG. Es ist zwar grundsätzlich nicht zulässig, zur Begründung einer
eigenen Verfassungsbeschwerde auf diejenige eines anderen
Beschwerdeführers zu verweisen (BVerfGE 8, 141 [143]). Dies kann aber
nur gelten, wenn das in Bezug genommene Schreiben der Beschwerdeschrift
nicht beigefügt ist, so daß ohne dessen Kenntnis der
Verfassungsbeschwerde nicht entnommen werden kann, worin die
Grundrechtsverletzungen gesehen werden. Im vorliegenden Falle bildete
die Beschwerdeschrift der mitangeklagten und mitverurteilten
Veranstalterin eine -- beigefügte -- Anlage der Verfassungsbeschwerde,
auf welche die Beschwerdeschrift Bezug nimmt.
| 23 |
C. | |
Die
Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die angegriffenen Entscheidungen
verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3
Satz 1 GG.
| 24 |
I. | |
Die
Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen strafrechtliche
Entscheidungen, welche hinsichtlich der Tatsachenfeststellung sowie der
Auslegung und Anwendung des Strafrechts vom Bundesverfassungsgericht
grundsätzlich nicht nachzuprüfen sind. Es hat jedoch sicherzustellen,
daß die ordentlichen Gerichte die grundrechtlichen Normen und Maßstäbe
beachten. Dabei hängen die Grenzen seiner Eingriffsmöglichkeit
namentlich von der Intensi ![]() ![]() | 25 |
Eine strafrechtliche Verurteilung ist als Sanktion kriminellen Unrechts
schon für sich allein betrachtet von größerer Intensität als eine
zivilrechtliche Verurteilung zu Unterlassung, Widerruf oder
Schadensersatz (BVerfGE 43, 130 [136]
-- politisches Flugblatt -). Bei der strafrechtlichen Sanktion einer
Handlung, für welche die Garantie der Kunstfreiheit in Frage steht,
kommt die Gefahr hinzu, daß die negativen Auswirkungen für die Ausübung
dieser wegen ihrer besonderen Bedeutung ohne Gesetzesvorbehalt
gewährleisteten Freiheit über den konkreten Fall hinausgehen. Bei
dieser Sachlage kann das Bundesverfassungsgericht seine Überprüfung
nicht auf die Frage beschränken, ob die angegriffenen Entscheidungen
auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung des
Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs,
beruhen. Ebensowenig können einzelne Auslegungsfehler außer Betracht
bleiben (vgl. BVerfGE 42, 163 [169]; 43, 130 [136 f.]; 54, 129 [136]; 66, 116 [131]). ![]() | 26 |
![]() | |
Die Veranstaltung des "Anachronistischen Zuges" fällt in den
Schutzbereich des Grundrechts der Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1
GG), an dem die angegriffenen Entscheidungen im dargelegten Umfang zu
messen sind.
| 27 |
1.
Diese Freiheitsverbürgung enthält nach Wortlaut und Sinn zunächst eine
objektive, das Verhältnis des Lebensbereichs "Kunst" zum Staat regelnde
Grundsatznorm. Zugleich gewährleistet die Bestimmung jedermann, der in
diesem Bereich tätig ist, ein individuelles Freiheitsrecht. Sie
betrifft in gleicher Weise den "Werkbereich" des künstlerischen
Schaffens als auch den "Wirkbereich" der Darbietung und Verbreitung
eines Kunstwerks, in dem der Öffentlichkeit Zugang zu dem Kunstwerk
verschafft wird (BVerfGE 30, 173 [188 f.]).
In das Grundgesetz ist die Gewährleistung unter dem Eindruck der
leidvollen Erfahrungen aufgenommen worden, die Künstler während der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft haben hinnehmen müssen. Dies
ist auch für die Auslegung des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG von Bedeutung:
Weder darf die Kunstfreiheitsgarantie durch wertende Einengung des
Kunstbegriffs noch durch erweiternde Auslegung oder Analogie aufgrund
der Schrankenregelung anderer Verfassungsbestimmungen eingeschränkt
werden (BVerfGE a.a.O. [191]).
| 28 |
2.
Der Lebensbereich "Kunst" ist durch die vom Wesen der Kunst geprägten,
ihr allein eigenen Strukturmerkmale zu bestimmen. Wie weit danach die
Kunstfreiheitsgarantie der Verfassung reicht und was sie im einzelnen
bedeutet, läßt sich nicht durch einen für alle Äußerungsformen
künstlerischer Betätigung und für alle Kunstgattungen gleichermaßen
gültigen allgemeinen Begriff umschreiben (vgl. BVerfGE a.a.O. [183
f.]).
| 29 |
a)
Den bisherigen Versuchen der Kunsttheorie (einschließlich der
Reflexionen ausübender Künstler über ihr Tun), sich über ihren
Gegenstand klar zu werden, läßt sich keine zureichende Bestimmung
entnehmen, so daß sich nicht an einen gefestigten Begriff der Kunst im
außerrechtlichen Bereich anknüpfen läßt. ![]() ![]() | 30 |
b)
Die Unmöglichkeit, Kunst generell zu definieren, entbindet indessen
nicht von der verfassungsrechtlichen Pflicht, die Freiheit des
Lebensbereichs Kunst zu schützen, also bei der konkreten
Rechtsanwendung zu entscheiden, ob die Voraussetzungen des Art. 5 Abs.
3 Satz 1 GG vorliegen.
| 31 |
Soweit
Literatur und Rechtsprechung für die praktische Handhabung von
Gesetzen, welche "Kunst" als Tatbestandsmerkmal enthalten, Formeln und
Abgrenzungskriterien entwickelt haben, ist dies für die Auslegung der
Verfassungsgarantie nicht ausreichend, da die einfachrechtliche
Auslegung an den verschiedenen Zwecken der gesetzlichen Regelungen
orientiert ist.
| 32 |
Weitergehende
Versuche einer verfassungsrechtlichen Begriffsbestimmung treffen,
soweit ersichtlich, nur Teilaspekte; sie können jeweils nur für
einzelne Sparten künstlerischer Betätigung Geltung beanspruchen (vgl.
aus der umfangreichen Literatur z. B. Ropertz, Die Freiheit der Kunst
nach dem Grundgesetz, Diss. Heidelberg 1963; Erbel, Inhalt und
Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Kunstfreiheitsgarantie, 1966;
Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem,
1967; von Noorden, Die Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz [Art. 5
Abs. 3 Satz 1 GG] und die Strafbarkeit der Verbreitung unzüchtiger
Darstellungen [§ 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB], Diss. Köln 1969; Müller,
Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, 1969; Vogt, Die
Freiheit der Kunst im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland
und der Schweiz, Diss. Zürich 1975; jeweils mit zahlreichen weiteren
Nachweisen). ![]() ![]() | 33 |
3.
a) Das Bundesverfassungsgericht hat als wesentlich für die
künstlerische Betätigung "die freie schöpferische Gestaltung" betont,
"in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das
Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung
gebracht werden". Alle künstlerische Tätigkeit sei ein Ineinander von
bewußten und unbewußten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen seien.
Beim künstlerischen Schaffen wirkten Intuition, Phantasie und
Kunstverstand zusammen; es sei primär nicht Mitteilung, sondern
Ausdruck, und zwar unmittelbarster Ausdruck der individuellen
Persönlichkeit des Künstlers (BVerfGE 30, 173 [189]).
Ähnliche Versuche materialer, wertbezogener Umschreibungen in der
Literatur betonen ebenfalls die Merkmale des Schöpferischen, des
Ausdruckes persönlichen Erlebnisses, der Formgebung sowie der
kommunikativen Sinnvermittlung (vgl. Scholz in Maunz/Dürig/Herzog/
Scholz, GG, Art. 5 Abs. 3, Rdnr. 24, 29; Scheuner, Die Bundesrepublik
als Kulturstaat, in Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1977-1978, S. 113
[126]; Würtenberger, Vom strafrechtlichen Kunstbegriff, in Festschrift
für Eduard Dreher, 1977, S. 79 [89]; Geiger, Zur Diskussion über die
Freiheit der Kunst, in Festschrift für Gerhard Leibholz, 1966, S. 187
[191]).
| 34 |
Den
so umschriebenen Anforderungen genügt das Erscheinungsbild des
"Anachronistischen Zuges". Schöpferische Elemente sind nicht nur in dem
Gedicht Brechts, sondern auch in der Art seiner bildhaften Umsetzung zu
sehen. Das Gedicht und seine Darbietung können als hinreichend
"geformt" angesehen werden. Allgemeine und persönliche historische
Erfahrungen sollen -- bezogen auf die aktuelle politische Situation --
ausgedrückt und zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden.
| 35 |
b) Sieht man das Wesentliche eines Kunstwerkes darin, daß bei formaler, typologischer Betrachtung die Gattungsanforderun ![]() ![]() | 36 |
c)
Auch wenn man das kennzeichnende Merkmal einer künstlerischen Äußerung
darin sieht, daß es wegen der Mannigfaltigkeit ihres Aussagegehalts
möglich ist, der Darstellung im Wege einer fortgesetzten Interpretation
immer weiterreichende Bedeutungen zu entnehmen, so daß sich eine
praktisch unerschöpfliche, vielstufige Informationsvermittlung ergibt
(vgl. von Noorden, a.a.O., S. 82 ff.), ist dieses Merkmal beim
"Anachronistischen Zug" erfüllt. Schon die beschriebene, besondere Form
des Straßentheaters führt dazu, daß Distanz zum Zuschauer hervorgerufen
wird, er sich beim Betrachten klar darüber ist, daß ihm eben "Theater"
vorgespielt wird. Das an sich schon vielfältig interpretationsfähige
Gedicht wird durch seine Aktualisierung und die Anspielung auf
zeitgenössische Personen und Ereignisse in seiner Zielrichtung zwar
eindeutiger, bleibt in seiner Aussage aber nach wie vor vieldeutig,
zumal diese Aussage nicht unmittelbar, sondern wiederum mittelbar aus
verschiedenen Elementen zusammengesetzt ist (beispielsweise plakative
Texte, Puppen, verkleidete Personen, Personengruppen).
| 37 |
d)
Fällt damit die Veranstaltung des "Anachronistischen Zuges" in den
Schutzbereich von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, kann daran auch die
vordergründige und eindeutige politische Absicht ![]() ![]() | 38 |
III. | |
1. Die Kunst in ihrer Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit ist
durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG vorbehaltlos gewährleistet; weder die
"Schrankentrias" des Art. 2 Abs. 1 Halbsatz 2 GG noch die Schranken des
Art. 5 Abs. 2 GG gelten unmittelbar oder analog (BVerfGE 30, 173 [191 f.]).
Hingegen kann auch die Kunstfreiheit Grenzen unmittelbar in anderen
Bestimmungen der Verfassung finden, die ein in der Verfassungsordnung
des Grundgesetzes ebenfalls wesentliches Rechtsgut schützen. Dies gilt
namentlich für das durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG
geschützte Persönlichkeitsrecht. Allerdings zieht die Kunstfreiheit
ihrerseits dem Persönlichkeitsrecht Grenzen. Um diese im konkreten Fall
zu bestimmen, genügt es mithin im gerichtlichen Verfahren nicht, ohne
Berücksichtigung der Kunstfreiheit eine Beeinträchtigung des
Persönlichkeitsrechts -- hier in der Form einer Beleidigung --
festzustellen: Es bedarf der Klärung, ob diese Beeinträchtigung derart
schwerwiegend ist, daß die Freiheit der Kunst zurückzutreten hat; eine
geringfügige Beeinträchtigung oder die bloße Möglichkeit einer
schwerwiegenden Beeinträchtigung reichen hierzu angesichts der hohen
Bedeutung der Kunstfreiheit nicht aus. Läßt sich freilich eine
schwerwiegende Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts zweifelsfrei
feststellen, so kann sie auch nicht durch die Kunstfreiheit
gerechtfertigt werden.
| 39 |
2. Die hieraus sich ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen hat das Amtsgericht verkannt:
| 40 |
a) Künstlerische Äußerungen sind
interpretationsfähig und interpretationsbedürftig; ein unverzichtbares
Element dieser Interpretation ist die Gesamtschau des Werks. Es
verbietet sich daher, einzelne Teile eines Kunstwerks aus dessen
Zusammenhang ![]() ![]() | 41 |
Zwar
kann die symbolhafte Darstellung durch Puppen und Transparente auch
außerhalb der Aufführung einen Erklärungswert haben. Das wurde aber von
den Veranstaltern gerade vermieden, indem der Zug bei Überlandfahrten
verhängt wurde. An dieser Beurteilung ändert sich auch nichts dadurch,
daß der Zug in Sonthofen nicht sofort seine Darstellung beginnen
konnte. Das hatten weder der Beschwerdeführer noch die Veranstalter zu
vertreten, sondern es beruhte auf ordnungsbehördlichen Anordnungen.
Auch ist ihnen das Fotografieren zur "Beweissicherung" durch die
Polizei nicht anzulasten. Aufnahmen durch Journalisten bewegen sich im
Bereich der werbenden Selbstdarstellung und sind Probenfotos, wie sie
am festinstallierten Theater üblich sind, vergleichbar.
| 42 |
Desgleichen
ist es, wie sich aus Vorstehendem ergibt, verfassungsrechtlich
verfehlt, bei der Feststellung einer Beleidigung nicht von der -- durch
Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geforderten -- Gesamtbetrachtung, sondern nur
von dem Plagenwagen auszugehen.
| 43 |
b)
Weiterhin hat das Amtsgericht verkannt, daß sich bei einer so gebotenen
Gesamtbetrachtung mehrere Interpretationsmöglichkeiten ergeben hätten.
| 44 |
Es
bedarf hier keiner endgültigen Entscheidung, von welchem Maßstab
auszugehen ist, wenn künstlerische Aussagen strafrechtlich gewürdigt
werden, zumal dies generell und für alle Kunstformen kaum möglich ist.
Ein in künstlerischen Erscheinungsfor ![]() ![]() | 45 |
Auch
dann wäre das Verständnis möglich, der Nebenkläger sitze mit den
Nazigrößen im selben Wagen, sei ihnen gleichzusetzen und vertrete deren
politische Ziele. Bei besonderer Berücksichtigung des Inhalts des
Gedichts könnte ebenso der Eindruck entstehen, es solle zwar ein Kampf
gegen diese Nazigrößen aufgeführt werden, der jedoch so scheinheilig
und lügenhaft sei, wie die im Brecht'schen Gedicht dargestellte
Distanzierung von der Nazivergangenheit.
| 46 |
Ein
anderer Beobachter könnte zu dem Schluß gelangen, der Nebenkläger
bekämpfe, wenn auch erfolglos, Verkörperungen des Nationalsozialismus.
Ähnlich würde ein Zuschauer, der mittelbar oder unmittelbar die
Absichten des Regiebuchs in den Vordergrund seiner Überlegungen stellen
würde, einen solchen Kampf sehen, allerdings mit der zusätzlichen
Überlegung, der Nebenkläger als einflußreicher, rechtsstehend
dargestellter Politiker habe diese Abgrenzung besonders nötig, und die
alten nationalsozialistischen Ideen würden sich wieder durchsetzen.
| 47 |
Es
geht jedenfalls nicht an, von diesen Interpretationsmöglichkeiten,
welche die Sachverhaltsschilderung des amtsgerichtlichen Urteils
nahelegt (weitere Möglichkeiten erscheinen dabei keineswegs
ausgeschlossen), sich mit Hilfe der Figur des "besonnenen Passanten"
allein für die strafrechtlich relevante zu entscheiden und nur auf
einen flüchtigen, naiven Beobachter abzustellen, der den "Kampf" mit
den Puppen ignoriert. Auch darin liegt ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3
Satz 1 GG.
| 48 |
3. Auf diesen Fehlern beruhen die angegriffenen Entscheidun ![]() ![]() | 49 |
Herzog Hesse Katzenstein Niemeyer Heußner Niedermaier Henschel![]() | |
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