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Berliner Spottgeburten eines Österreichers

20.05.2005

Magazin - Seite J97

Christian Bommarius

Die Kunst, die Dinge mit dem Strich auf den Punkt zu bringen, hat kaum einer so gut beherrscht wie Dieter Zehentmayr. Die Welt, wie er sie sah, war keine bewohnte Kugel, sondern das Aufmarschgebiet der Ignoranz, ein Ballon voll aufgeblasener Wichtigtuer, eine Sphäre des kollektiven und individuellen Wahns. Es war die Welt der Politiker, der Wirtschaftsführer, der Kirchen- und Gewerkschaftsfunktionäre, ein Blick, ein Strich von Zehentmayr hat genügt, das Bizarre, Skurrile, Groteske dieser Welt zur Erscheinung zu bringen. Ihren unvergleichlichen, oft bösen Witz bezogen die Geschichten, die Zehentmayr zumeist in nur einem Bild erzählte, aus der Diskrepanz zwischen der Bedeutung, die die Dargestellten sich selbst und ihrem Wirken beizumessen pflegen, und der Darstellung, mit der der Zeichner ihnen auf die Schliche kam. Im Prinzip gab es nichts von Bedeutung, was der Aufmerksamkeit des Karikaturisten entging, vor allem aber entging ihm kein Prinzip, das allzu bedeutungsvoll seine Aufmerksamkeit erheischte - am nächsten Morgen fand es sich als Dieter Zehentmayrs jüngste Spottgeburt in der Berliner Zeitung wieder.

Fast immer waren seine Bilder wortlos. Aber ihre Sprache wurde überall verstanden. Das galt nicht nur für Dieter Zehentmayrs Heimat Österreich, wo er seine Karriere begann. Nachgedruckt wurden seine Karikaturen in deutschen und führenden Blättern der Welt, in der Times, der New York Times oder im Corriere della Sera. Regelmäßig erschienen seine kleinen Meisterwerke in den vergangenen Jahren in der Wiener Zeitung Der Standard, und Tag für Tag, kaum und höchst ungern von Urlaub unterbrochen, hat Zehentmayr seit 1997 für die Berliner Zeitung gezeichnet. Mit seinen ebenso scharfen wie einfühlsamen Kommentaren zum politischen Geschehen ist er im Verlauf der Jahre zu einem der bedeutendsten Karikaturisten Europas geworden. Als Dieter Zehentmayr im Januar dieses Jahres nach kurzer, schwerer Krankheit mit erst 63 Jahren starb, verlor nicht nur die kleine Zunft der Karikaturisten eines ihrer begabtesten Mitglieder und die Berliner Zeitung einen ihrer wichtigsten Mitarbeiter, etliche Leser verloren mit ihm den täglichen Welt-Deuter, der sich im Respekt nicht gefiel, aber auch im Spott niemals verlor.

In einem Rückblick auf die Geschichte der Berliner Zeitung dürfen Zehentmayrs Karikaturen nicht fehlen. Alle ausgewählten Zeichnungen sind auch in Zehentmayrs letztem Buch "Strich drunter - Die besten Cartoons der letzten sieben Jahre" im Ueberreuter-Verlag (2003, 160 Seiten, 24,95 Euro) erschienen. (bom.)

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Foto: Karikaturist Dieter Zehentmayr

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Foto: (6) Im Testfieber / Immer neue Anschuldigungen / Hansdampf in seiner letzten Gasse / Auch das noch!