Wiederaufbau des ländlichen Raumes unter den besonderen Bedingungen der Krise in Kurdistan / Irak
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2012-01-16
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Wiederaufbau ist eine räumlich soziale Tätigkeit, die meist einem Krieg oder einer
Naturkatastrophe folgt. Kriegerische Auseinandersetzungen verursachen räumliche
Zerstörungen; darüber hinaus stellen sie meist eine Zäsur in der Entwicklung einer
Gesellschaft dar. Diese Zäsur bedeutet eine komplexe Veränderung nicht nur im Hinblick
auf die räumliche Struktur. Auch die soziale Struktur der betroffenen Gesellschaften
wird starken Veränderungen unterworfen. Die anschließende Zeitperiode ist durch eine
Suche gekennzeichnet, die äußerst kompliziert verlaufen kann. Dabei überlagern sich
viele Prozesse, die sich aufgrund der weggebrochenen Herrschaftsstrukturen (Weber,
Politik und Gesellschaft, 2006) nicht selten widersprechen. Diese Anomie (Parsons,
the structure of social action, 1969), mit anderen Worten der Kampf aller gegen alle,
bezeichnet die Periode eines undefinierten Überganges, eine liminale Phase (Turner, das
Ritual, 2005) im Leben der betroffenen Gesellschaften nach der Krise.
Diese Liminalitätsperiode stellt bezüglich der gesellschaftlichen Entwicklung
eine große Herausforderung für die Gesellschaft dar; insbesondere das Fehlen der
Herrschaftsstrukturen erschwert die räumliche Gestaltung, weil die Orientierungen
(policies) entweder unvollständig sind oder ganz fehlen. Bei Nachzügler-Gesellschaften
(Bendix, 1969) ist die Krise ein Beschleuniger des sozialen Wandels (social change); wenn
die Gesellschaften vom Traditionellen in die Moderne streben und dabei kriegerische
Auseinandersetzungen erleben, entstehen Unklarheiten bei der Herausbildung neuer
Strukturen, die oft durch eine Kulturdiffusion (Parsons) aber auch durch direkte
Interventionen beeinflusst werden.
Die Entwicklung in den kurdischen Gebieten im Nordirak ist ein Beispiel dafür. Die
gesellschaftliche Entwicklung wurde durch massive Eingriffe von außen in einer Weise
beeinflusst, dass diese Gesellschaft eine Zwangsmodernisierung erleben musste, in
deren Folge ihre angestammte soziokulturelle Lebenswelt (Habermas) fast vollkommen
zerstört wurde. Diese Zwangsmodernisierung schuf eine neue Lebenswelt, die wiederum
durch Eingriffe von außen eine radikale Veränderung erfuhr. Noch die Erfahrungen aus
ihrer alten Lebenswelt in Erinnerung, aber doch mit einer unverkennbaren Akzeptanz
ihrer neuen Lebenswelt, kehrten mehrere hunderttausend Menschen in ihren zerstörten
früheren Lebensraum zurück. Im Spannungsfeld dieser traditionellen und modernen
Lebenswelten wurde ein Wiederaufbau begonnen, der klare Orientierungshilfen
und Entscheidungen verlangte, die aber aufgrund der zusammengebrochenen
Herrschaftsstrukturen (state failure) fehlten.
Die Rückkehr der ehemals Deportierten in ihre vollkommen zerstörten Heimatgemeinden
wurde durch die internationale Gemeinschaft auf die Art begleitet, dass
zwar die Grundversorgung sichergestellt wurde, die politischen Strukturen jedoch
unbeachtet blieben und so sich selbst überlassen wurden. Dies hatte den Fortbestand
der charismatisch-traditionalen Herrschaft im Irak zur Folge, während in den kurdischen
Teilen des Landes der Aufbau einer demokratisch orientierten Herrschaftsstruktur
angestrebt wurde. Dieser Dualismus schuf eine besondere Konstellation, die beispiellos
ist und die Frage aufdrängt, wie in ein und demselben Herrschaftsgebiet sich
widersprechende Herrschaftsstrukturen gleichzeitig existieren können?
Eine weitere Besonderheit ist, dass der Prozess des ländlichen Wiederaufbaus
durch diesen Versuch, auch eine demokratisch legitimierte Herrschaft aufzubauen,
überlagert wurde. Da diese Herrschaft eigentlich den Rahmen für den Wiederaufbau
hätte liefern sollen, aber dazu nicht imstande war, fand letzterer buchstäblich in einem
leeren, ja fast strukturlosen Herrschaftsraum statt. So hat der ländliche Wiederaufbau
seinen eigenen Weg gesucht, indem die Rückkehrer ihre Strategie des kurzfristigen
Überlebens fortgesetzt haben. Die neu entstandenen Ortschaften waren damit keine
überlebensfähigen Siedlungen und nicht Bestandteile übergreifende Strukturen. Das
nach der Krise entstandene Machtvakuum, „die Suspendierung des Alltagslebens“
(Dahrendorf), stellt eine besondere Konstellation der sich überlagernden Prozesse nach
der Krise in Kurdistan 1991 dar. Insbesondere der soziale Übergang vom Traditionellen
zur Moderne (Aufbau einer modernen Autonomie) und der Neuaufbau des ländlichen
Raumes (Wiederaufbau der Dörfer) fordern die beteiligten externen (Alliierten-Kräfte,
UN-Organisationen, internationale Hilfswerke) und einheimischen (kurdische Politik)
Aktore heraus: Wie kann eine zukunftsfeste räumliche Neugestaltung aussehen und
woher sollen die dafür notwendigen Orientierungsentscheidungen stammen? Dies ist
die eigentliche Untersuchungsfrage und damit der Schwerpunkt dieser Arbeit. Das
Gebiet, auf das sich diese Untersuchung bezieht, umfasst die Gebiete Amadiya Ost,
Barzan, Berwari Bala, Nahle, Welati Jeri und Zebar. Das bergige Gebiet bietet mit seinen
fruchtbaren Tälern, Almen und vielen Wasserquellen eine gute Grundlage für eine
bäuerliche Tätigkeit.
Der Wiederaufbauprozess der ländlichen Regionen beinhaltet auch die Chance,
dass die ehemals Vertriebenen, getragen von Elan und Motivation der Rückkehr, ihre
Potentiale entfalten und durch Steigerung der Selbstorganisation den Wiederaufbau
in die Hand nehmen. Eine partizipative Planung bei der Entwicklung der Regionen
könnte so möglich werden, vorausgesetzt, der Organisationsgrad der Rückkehrer kann
gesteigert werden und so konkrete Formen annehmen. Die Arbeit des Dortmunder
Vereins DhK zeigt, wie diese Chancen auf regionaler Ebene genutzt werden können
und wie aus der traditionell starken Identität der Gebietszugehörigkeit regionale
Managementstrukturen herausgebildet werden können. Diese Gebietszugehörigkeit
bot die Grundlage für die Bildung einer Vertretung der Region (Gebietskomitee), die DhK
initiieren konnte. Damit wurde eine Plattform zum kommunikativen Handeln (Habermas,
1995) mit den Rückkehrern geschaffen.
Unter den oben geschilderten Bedingungen konnten jedoch diese Möglichkeiten
nicht zufriedenstellend und nicht in allen Regionen genutzt werden.
Die Überwindung des Machtvakuums, die Periode der Anti-Struktur, verlangt eine
gezielte Unterstützung von Seiten der internationalen Akteure, weil den einheimischen
Kräften für die Bewältigung der Transformation und des gleichzeitigen Aufbaus
von modernen Staatsfunktionen Know-how und Kapazitäten fehlen. Solange eine
strukturelle Orientierung nicht gegeben ist, kann der Wiederaufbauprozess der ländlichen
Regionen nicht zukunftsweisend gestaltet werden. Der Entfaltung der Potentiale und
der Umsetzung von raumplanerischen Konzepten werden damit Grenzen gesetzt, wie
die Entwicklung im Gebiet Berwari Bala zeigt. Insbesondere den Diskontinuitäten der
Besitzverhältnisse und den Kontinuitäten der traditionellen Werte der Vergangenheit
müssen neue Orientierungen entgegengesetzt werden.
Ein wesentliches Merkmal der Entwicklung in Kurdistan ist, dass sich die
Strukturierung eines völligen Neuanfangs von einem Prozess der Wandlung bestehender
Strukturen grundsätzlich unterscheidet. Der Neuanfang, wie in Berwari Bala, bietet
größere Chancen – er bedarf aber auch eines entschieden intensiveren Einsatzes von
materiellen, also sozialen und fi nanziellen (Weber), Ressourcen. Zur Entwicklung von
sozialen Ressourcen braucht es klare Vorstellungen über die »Modelle für Wirklichkeit«
(Geertz, 1987) und die Bereitstellung der notwendigen fi nanziellen Ressourcen.
Basierend auf den theoretischen Betrachtungen über den sozialen Wandel wurde
die Entwicklung in den wiederentstehenden Gebieten analysiert. Dabei wurde die
Rolle der Kulturdiffusion (exogene Anleihen) für den Wandel im Allgemeinen und die
Rolle der exogenen Kräfte im Besonderen für Kurdistan untersucht. Die Entwicklung
im Nachkriegsdeutschland, im Kosovo und in Timor-Leste wurde als Beispiel für eine
mögliche Herangehensweise und Assistenz durch externe Aktore betrachtet.
Neben der Notwendigkeit fehlender Assistenz ist hervorzuheben, dass die
Communitas nach der Krise in Kurdistan, hier die Rückkehrer, unorganisiert und damit
nicht in der Lage sind, die Entwicklung mitzubestimmen. Daher ist die Entfaltung eines
kommunikativen Handelns nicht möglich.
Ein grundsätzliches Problem der räumlichen Entwicklung entsteht durch die
geringe Größe vieler wiederaufgebauter Siedlungen. Die Vernetzung der verschiedenen
Produktions- und Versorgungsstrukturen kann die Schwächen der Kleinteiligkeit der
Siedlungen überwinden. Dies setzt voraus, dass Selbstverwaltungsstrukturen auf
„Nahiye“-Ebene, einem Kreis, der mehrere Dörfer umfasst, entwickelt und gestärkt
werden. Das ist auch im Sinne von gesicherten eigenen fi nanziellen Ressourcen.
Die oben beschriebene Phase der Nachkrisenperiode stellt eine enorme
Herausforderung für alle Aktore einer räumlichen Gestaltung dar, bietet aber auch
große Chancen und Handlungsmöglichkeiten, die noch weitgehend unerforscht sind.
Die besonderen Bedingungen des verdichteten sozialen Wandels dieser Periode wären
ein äußerst lohnender Gegenstand eines umfassenden Forschungsvorhabens.
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Table of contents
Keywords
Berwari Bala, DhK, Irak, Krise, Kurdistan, Ländliche Entwicklung, Liminalität, Social change, Sozialer Wandel, Transformation, Wiederaufbau