Wissen über Diversität im Kontext schulischer Inklusion: Evaluation und Einsatz eines Tests zum deklarativen Faktenwissen von (angehenden) Lehrkräften

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2023

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Seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen in Deutschland im Jahr 2009 (Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, 2018) ist das Bemühen um Inklusion im Bildungssystem nicht nur in Bezug auf Menschen mit Behinderungen gestiegen. Ziel ist vielmehr die Förderung und Anerkennung aller Schüler:innen, unabhängig von ihren individuellen Hintergründen und Merkmalen (Grosche, 2015). Lehrkräfte gelten als wichtige Akteur:innen in der Umsetzung schulischer Inklusion, und die Bedeutung ihrer professionellen Kompetenz, und damit auch ihres Professionswissens (vgl. COACTIV-Kompetenzmodell; Baumert & Kunter, 2013a), wird sowohl innerhalb als auch außerhalb inklusiver Settings untersucht. Wer diverse Klassen unterrichtet, sollte eine solide Wissensbasis für die Diversität der Schüler:innen mitbringen – das erscheint plausibel. So weist auch die Forschung zum pädagogisch-psychologischen Wissen mit (in)direktem Bezug zu Diversität auf die praktische Bedeutung von Lerngelegenheiten für (angehende) Lehrkräfte (z. B. Sciutto et al., 2000; Sousa et al., 2017; Yin et al., 2019) und Zusammenhänge zum Berufserfolg von Lehrkräften hin (z. B. König et al., 2017; Lauermann & König, 2016; Voss et al., 2011, 2022). Bisherige Messinstrumente zum Wissen von (angehenden) Lehrkräften können wichtige Erkenntnisse für ihre Aus- und Weiterbildung liefern, haben aber zum Teil nur einen indirekten Bezug zu Diversität (Kunina-Habenicht et al., 2020) oder bilden nur einen isolierten Teil von Diversität ab (Ginsburg et al., 2021) und sind wenig ökonomisch (König et al., 2017) bzw. reliabel in Bezug auf die spezielle Diversitätsskala (Hohenstein et al., 2017), woraus sich zu schließende Forschungslücken ergeben. Um bestehenden Nachteilen zu begegnen, wurde in dieser Arbeit ein neuer Test vorgestellt, evaluiert und eingesetzt. In Studie 1 wurde dieser Test zum deklarativen Faktenwissen in einer Lang- (DiWi) und Kurzform (DiWi-K) mit den Subskalen sonderpädagogischer Förderbedarf (SPF) (1) emotionale und soziale Entwicklung (ESE) und (2) Lernen, (3) Teilleistungsstörungen, (4) Geschlecht und (5) kognitive Hochbegabung vorgestellt und in drei unabhängigen Lehramtsstudierendenstichproben (N1 = 395 Bachelor-Studierende, N2 = 462 Bachelor- und Master-Studierende, N3 = 113 Bachelor-Studierende) evaluiert. Der Reliabilitätsschätzer McDonalds Omega und die Retest-Reliabilität über einen Zeitraum von 3 Monaten ergaben zufriedenstellende Werte. Die 5-faktorielle Struktur des DiWi wurde durch die Daten in der ersten Studie gestützt, und das objektive Wissen hing mit weiteren wissensnahen Konstrukten zusammen (Abiturnote, selbsteingeschätztes Wissen, behandelte Diversitätsbereiche im Studium, Studienfach [sonderpädagogische Förderung vs. andere]). In der zweiten und dritten Studie bestätigten sich diese Ergebnisse für den DiWi-K, und es kamen die konvergenten Konstrukte Vorerfahrungen, Einstellungen, Selbstwirksamkeitserwartungen bezüglich schulischer Inklusion und pädagogisches Unterrichtswissen hinzu. Damit ist ein erstes nomologisches Netz (Hartig et al., 2020) rund um das Diversitätswissen gezeichnet, das Hinweise auf die Validität der Testwertinterpretationen gibt. Da die Ergebnisse aus Studierendenstichproben nicht automatisch auf Lehrkräfte generalisierbar sind, wurde der DiWi in Studie 2 in einer Stichprobe aus Lehrkräften verschiedener Schulformen (N = 139) weiter evaluiert. Außerdem wurden die Fehlannahmen (= was die Lehrkräfte fälschlicherweise zu wissen glaubten) ausgewertet. Auch hier hing das objektive Wissen mit den Einstellungen zu Inklusion, den Selbstwirksamkeitserwartungen im Unterrichten in einem inklusiven Schulsystem und dem Studienfach (sonderpädagogische Förderung vs. andere) zusammen. Hinzu kam eine positive Korrelation mit den selbstberichteten lernorientierten Unterrichtsinstruktionen. In Bezug auf den Besuch einer Fortbildung zu Inklusion zeigten sich keine eindeutigen Unterschiede im Wissen oder den Fehlannahmen. Die Lehrkräfte hatten ein höheres Wissen und mehr Fehlannahmen als die hinzugezogenen studentischen Vergleichsstichproben, die aus Studie 1 generiert wurden. In Studie 3 wurde das Wissen von Grundschullehrkräften mit Variablen auf Ebene der Schüler:innen in Verbindung gebracht. Mit dem Ziel, inklusive Prozesse – also die Förderung und Anerkennung aller Schüler:innen (Grosche, 2015) – unterstützen zu können, wurden die subjektiven Angaben zu der sozialen Partizipation und die objektiven Daten zu den Schulleistungen von Grundschüler:innen (N1 = 421, N2 = 715) und das Wissen ihrer 23 bzw. 39 Klassenlehrer:innen in 25 bzw. 40 Klassen mit Schüler:innen mit und ohne SPF ESE bzw. Lernen erfasst. Die Multilevel-Analysen ergaben geringere Leistungen der Schüler:innen mit SPF im Vergleich zu ihren Peers ohne SPF. Schüler:innen mit SPF ESE fühlten sich schlechter sozial integriert. Das Wissen der Lehrkräfte über den SPF ESE hing positiv mit der sozialen Partizipation und den Leistungen aller Schüler:innen (unabhängig von ihrem SPF) in Klassen mit Kindern mit und ohne SPF ESE zusammen. Ein entsprechender Zusammenhang zum Wissen über den SPF Lernen in Klassen mit Kindern mit und ohne SPF Lernen zeigte sich nicht. Zusammenfassend weisen die drei Studien auf die Eignung des Tests für den Einsatz in der Erforschung und Umsetzung der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften hin. Die genutzten Reliabilitätsschätzer legen eine adäquate Messgenauigkeit nahe und die inhaltliche Unterteilung der Skalen erwies sich als passend zu den empirischen Daten. Ein breites nomologisches Netz rund um das Diversitätswissen gibt Hinweise auf die Validität und ordnet das Konstrukt plausibel in das COACTIV-Kompetenzmodell (Baumert & Kunter, 2013a; Kunter, Kleickmann et al., 2013) ein. Die Ergebnisse schließen sich damit an vorherige Erkenntnisse zu Tests mit unterschiedlichen Schwerpunkten an (z. B. König et al., 2017; Pflanzl et al., 2013). Die Gesamtheit der mit dem hier gemessenen Wissen zusammenhängenden Konstrukte deutet darauf hin, dass das Diversitätswissen ein ökonomisch erfassbarer Teil des Professionswissen ist, der im Zuge schulischer Inklusion eine Relevanz für Lehrkräfte und Schüler:innen aufweist. Abschließend werden Fragestellungen für zukünftige Forschung, die sich für die Evaluation und Nutzung des Tests ergeben, und Implikationen für den praktischen Einsatz des Tests diskutiert.

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