Hochschulbildung und unternehmerische Rationalität
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2011-09-12
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Unter den gegenwärtigen gesamtgesellschaftlichen Veränderungen, die oftmals mit den Schlagwörtern
„Wissensgesellschaft“ und „Globalisierung“ verbunden werden, sehen sich die Hochschulen vor neue
An- und Herausforderungen gestellt. Damit die Hochschulen ihre Funktion in der „globalisierten Wissensgesellschaft“
angemessen erfüllen können, bedarf es nach Meinung der InitiatorInnen und ProtagonistInnen
der gegenwärtigen Reform des Hochschulwesens, eines ubiquitären Wettbewerbs, eines
professionelles Hochschulmanagements und effizienter Leitungsstrukturen. Die Implementierung neuer
Steuerungsinstrumente, die den Kriterien betriebswirtschaftlicher Unternehmensführung entlehnt
sind, zeugt von einer tiefgreifenden Transformation. Zielvereinbarungen, Ranking, Kosten-/Nutzen-
Rechnungen, Controlling, Effizienzmessungen, Berichtswesen, Budgetierung, Benchmarking etc. bilden
den neuen Gestaltungswillen der Organisation des Hochschulsektors. Auch die Hochschul(
aus)bildung erfährt im Zuge des Bologna-Prozesses eine deutliche Akzentverschiebung. Die
Forcierung von Konzepten wie beispielsweise Employability verweist auf einen Bedeutungsverlust der
Persönlichkeitsbildung zugunsten einer Aufwertung der Berufsvorbereitung als Ziel der hochschulischen
Bildung.
Von den ApologetInnen eines am humanistischen Bildungs- und Universitätsideal orientierten Hochschulsystems
wird die Hochschul- und Studienstrukturreform als eine „Ökonomisierung der Wissenschaften“
und ein „Ausverkauf der Bildung“ kritisiert. Die Auslieferung des Hochschulsektors an
kurzfristige gesellschaftliche Erfordernisse und wirtschaftliche Verwertungsinteressen, so die Befürchtung,
ziehe den Verlust des humanistischen Ideals einer zur kritischen Reflexion befähigenden und am
Gemeinwohl orientierten Bildung nach sich.
Die vorliegende Untersuchung geht von der Annahme aus, dass die Berufung auf eine „echte“ und
„ursprüngliche“ Bildungsidee, auf Bildung als Selbstzweck oder als Wert an sich, wie sie insbesondere
durch die Humboldtschen Ideale formuliert worden ist, nicht als Maßstab gegen ihre missbräuchliche
Vereinnahmung fungieren kann, da dabei die grundlegende Machtverwobenheit der Bildungsidee
verkannt wird. Auf der Grundlage der epistemologischen Implikationen des Poststrukturalismus zeigt
die Untersuchung zunächst in genealogischer Sicht, dass das humanistische Bildungsideal ein historisch-
kontingentes Machtdispositiv im Foucaultschen Sinne darstellt, welches die für die Moderne
typische Subjektzentriertheit zur Geltung bringt.
Basierend auf dieser Dekonstruktionsarbeit zielt die Untersuchung darauf ab, die gegenwärtige Neuordnung
der höheren Bildung aus einer dispositiv- und gouvernementalitätsanalytischen Forschungsperspektive
zu beleuchten. Statt theoretisch zu klären, was Bildung ist bzw. was sie keinesfalls ist,
statt die Subjektwerdung durch Bildungsprozesse vor dem Hintergrund der Angemessenheit bzw. Unangemessenheit
mutmaßlicher Annahmen über das allgemein Menschliche zu erörtern, richtet die
Analyse den Fokus auf die konkreten diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken im Feld der Bildung,
um zu zeigen, wie Bildung gegenwärtig als Korrelation zwischen Wissensformen, Machttypen
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und Selbsttechnologien konstituiert wird. Fünf strategische Macht-Wissen-Komplexe bilden dabei den
Gegenstand der Analyse: 1. die Utilitarisierung des Wissens, 2. die Pädagogisierung der Lebensspanne,
3. die Individualisierung des Lernens, 4. die Merkantilisierung der Hochschulen und 5. die Kommerzialisierung
und Privatisierung des Studiums.
Die Ergebnisse der Analyse zeigen, dass die fünf untersuchten Strategien - zwar jede auf ihre spezifische
Weise, sich aber auch wechselseitig bedingend und verstärkend - zur Durchsetzung, zur Etablierung
und zur Akzeptanz einer neoliberalen Regierungsrationalität im hochschulischen Bildungssektor
beitragen. Die Kopplung zwischen Regierungstechniken und Technologien des Selbst, die mit dem
Konzept der Gouvernementalität erfasst und die unter dem Blickwinkel von Macht als Führung von
(Selbst-)Führungen kenntlich gemacht wurde, folgt dabei den Maßgaben einer unternehmerischen
Logik. Insbesondere zwei wesentliche der für die neoliberale Gouvernementalität charakteristischen
Regierungstechniken konnten in unterschiedlichen Bereichen des hochschulischen Bildungssektors
nachgewiesen werden.
1. Die Aufforderung an Sektionen (Verwaltung, Fakultäten, Fachbereiche) und Mitglieder der Hochschule
sowie an die Studierenden, sich unternehmerisch zu verhalten, erfolgt vor allem durch das für
die neoliberale Kunst des Regierens spezifische Arrangement von Freiheit. Durch Deregulierungsprozesse,
in deren Folge sich die Rolle des Staates vom Vorsorgestaat zum aktivierenden Staat verschiebt,
wird individuellen und kollektiven Akteuren ein höheres Maß an Autonomie, Souveränität, Entscheidungsbefugnissen
und Handlungsoptionen gewährt. Gleichzeitig wird somit auch vermehrt Unsicherheit
produziert, da die Verantwortung für Risiken in den individuellen Zuständigkeitsbereich delegiert
wird. Aktiviert und mobilisiert werden sollen so vor allem die Selbststeuerungskapazitäten von kollektiven
Einheiten und von Individuen, die nunmehr unternehmerisch mit ihren Ressourcen umgehen
sollen. Gerade für den/die Einzelne(n), so die Argumentation, diene Bildung als Risikoversicherung
und -prävention
2. Verdeutlicht werden konnte zudem eine verstärkte Ausrichtung des Hochschulwesen an den neoliberalen
Leitprinzipien Markt und Wettbewerb. Diese fungieren als Anreizsystem zur Entwicklung und
Förderung unternehmerischer Potentiale der Hochschulen. Sowohl hochschulintern als auch zwischen
den Hochschulen wird somit eine Konkurrenzsituation geschaffen, in der erfolgreiches Wirtschaften
auf dem universitären Markt und im hochschulischen Wettbewerb protegiert wird. Im Kontext der
Reorganisation des Hochschulsektors wird somit schließlich ein marktreguliertes, auf Angebot und
Nachfrage basierendes Hochschulsystem etabliert, in dem Hochschulen als Dienstleistungsunternehmen
um Drittmittel und Studierende konkurrieren und Studierende die Rolle der nachfragenden KundInnen
übernehmen sollen.
Die Frage, ob und wie sich eine widerständige Praxis gegen die neoliberale Vereinnahmung des hochschulischen
Bildungssektors und die Appellation zu einer unternehmerischen Selbstführung gestalten
kann, wird in der Untersuchung aufgrund der epistemologischen Grundannahmen unbeantwortet gelassen.
Ihr Ziel ist es lediglich, für die Ambivalenz des Bildungskonzepts zu sensibilisieren und seine
Kontingenz und Machtverwobenheit zu verdeutlichen, so dass die Möglichkeit eröffnet wird, zum
analysierten Gegenstand und damit zu sich selbst in ein anderes Verhältnis treten zu können.
Description
Table of contents
Keywords
Bildung, Enterprising self, Foucault, Gouvernementalität, Hochschulreform, Macht, Neoliberalismus, Poststrukturalismus